DER FALKENFLUG

Ged erwachte und blieb eine Weile liegen, ohne sich zu regen. Er genoß es, überhaupt wieder zu erwachen, und er genoß das Licht, das ihn umgab, das helle, gewöhnliche Licht des Tages. Irgendwie hatte er das Gefühl, als schwebe er auf diesem Licht oder als treibe er in einem Boot auf stillen Gewässern. Endlich aber merkte er, daß er in einem Bett lag. Allerdings war es ein Bett, das ihm völlig fremd und ungewohnt war. Es lag auf einem Rahmen, der auf vier hohen, geschnitzten Beinen stand. Die seidenen Matratzen waren mit Daunen gefüllt, daher rührte wohl das Gefühl des Schwebens, und über allem breitete sich ein karminroter Baldachin, wohl um den Luftzug abzuhalten. Zu beiden Seiten des Bettes waren die Vorhänge zurückgebunden. Ged sah einen Raum, dessen Wände und Boden aus Stein waren. Durch drei hohe Fenster sah er das kahle, braune Moor, stellenweise schneebedeckt, im gedämpften Licht der Wintersonne liegen. Hoch mußte dieses Zimmer liegen, denn weit konnte er das Land überblicken.

Eine damastbezogene Daunendecke rutschte herunter, als Ged sich aufsetzte und das fürstliche Gewand aus silberschimmernder Seide wahrnahm, das man ihm angezogen hatte. Auf einem Stuhl neben dem Bett lagen Stiefel aus feinem Handschuhleder und ein mit Pellawipelz gefütterter Umhang. Eine Weile blieb er regungslos sitzen. Er fühlte sich benommen, als wäre er in einem Bann gefangen. Dann stand er auf und langte nach seinem Stab, aber er hatte keinen Stab mehr.

Seine rechte Hand, obwohl man sie mit Salbe bestrichen und verbunden hatte, war an der Innenfläche und an den Fingern verbrannt. Jetzt spürte er den Schmerz, und als er sich bewegte, kam ihm sein Körper wie gerädert vor.

Er erhob sich und stand wiederum regungslos. Dann flüsterte er leise, und wenig Hoffnung lag in seiner Stimme: »Hög… Hög…«, denn auch das kleine, eigenwillige und treue Geschöpf war verschwunden, das schweigende Seelchen, das ihn damals aus dem Reich des Todes zurück ins Leben geführt hatte. War es noch bei ihm gewesen, als er gestern Nacht geflohen war? Er wußte es nicht. Verschwommen und dunkel nur konnte er sich an das Gebbeth, den flammenden Stab, das Rennen, das Flüstern und das Tor erinnern. Er versuchte, sich alles ins Gedächtnis zurückzurufen, aber es blieb verschwommen. Noch einmal flüsterte er den Namen seines Gefährten, aber er wußte, daß er keine Antwort darauf bekommen würde. Tränen traten ihm in die Augen.

In der Ferne läutete eine Glocke. Eine zweite Glocke vor seiner Tür antwortete mit melodischem Geläut. Hinter ihm, am anderen Ende des Zimmers, öffnete sich eine Tür, und eine Frau trat ein: »Willkommen, Sperber«, sagte sie lächelnd.

Sie war jung, groß und schlank, in Weiß und Silber gekleidet, und ein Silbernetz hielt ihr Haar oben zusammen, das wie eine schwarze Kaskade über ihre Schultern fiel. Ged verbeugte sich steif.

»Ich glaube, Sie erinnern sich nicht mehr an mich.«

»Ich… sollte ich mich an Sie erinnern?« Nur einmal in seinem Leben war ihm eine ähnlich schöne Frau in ebenso kostbaren Gewändern begegnet: Die Herrin von O, die mit ihrem Gemahl zum Fest der Sonnenwende nach Rok gekommen und die ihm damals wie eine zarte, helle Kerzenflamme erschienen war; die Frau vor ihm war genauso schön, doch glich sie eher dem weißschimmernden Neumond.

»Ich habe mir gedacht, daß Sie sich nicht mehr an mich erinnern«, sagte sie lächelnd. »Aber das macht nichts. Obwohl Sie vergeßlich sind, heiße ich Sie hier als einen alten Freund willkommen.«

»Wo bin ich denn?« fragte Ged, der noch immer steif dastand und dem das Sprechen schwer fiel. Es war nicht so einfach, sie anzusprechen und den Blick wieder von ihr abzuwenden. Die fürstlichen Kleider, die er trug, waren ihm auch fremd, der Steinboden, auf dem er stand, war ihm ungewohnt, die ganze Atmosphäre hier war andersartig. Er war nicht sein altes Selbst, jedenfalls nicht derselbe, der er gewesen war.

»Diese Feste hier ist der Hof von Terrenon. Mein Gemahl, Fürst Benderesk, herrscht über dieses Land, vom Keksemtmoor bis zu den Bergen von Os im Norden. Er ist der Besitzer des wertvollen Steines, der Terrenon genannt wird. Mich nennt man Serret hier, das ist osskilisch und heißt Silber; und ich weiß, daß man Sie manchmal Sperber nennt und daß Sie auf der Insel der Weisen zum Zauberer gemacht wurden.«

Ged blickte auf seine verbrannte Hand und sagte nach einer Weile: »Ich weiß nicht, wer ich bin. Früher hatte ich Macht. Jetzt aber, glaube ich, habe ich sie verloren.«

»Keineswegs! Sie haben sie nicht verloren, es sei denn nur, um sie in zehnfacher Stärke wiederzugewinnen. Hier, mein Freund, sind Sie sicher vor dem, was Sie hierhergetrieben hat. Die Mauern dieser Feste sind gar mächtig, und nicht alle bestehen nur aus Stein. Hier können Sie sich erholen und Kraft schöpfen. Hier, wenn Sie wollen, können Sie eine andere Stärke erwerben und einen Stab, der nicht zu Asche zerfällt in ihrer Hand. Manchmal nimmt das Böse auch ein gutes Ende. Aber kommen Sie jetzt mit mir, ich zeige Ihnen unseren Besitz.«

So lieblich war ihre Stimme, daß Ged kaum auf ihre Worte hörte, sondern allem von ihrem betörenden Klang angezogen wurde und ihr folgte.

Wie er vermutet hatte, lag sein Zimmer hoch in dem Turm, der sich wie ein scharfer Zahn auf dem Hügel erhob. Er folgte Serret die marmorne Wendeltreppe hinab, durch reich ausgestattete Säle und Räume hindurch, an hohen Fenstern vorbei, die südlich, östlich, nördlich und westlich den Blick freigaben über niedrige, braune Hügel, die sich in monotoner Gleichförmigkeit, ohne Haus und Baum, in weiter Ferne unter dem klaren, sonnigen Winterhimmel verloren. Nur im Norden sah man winzige, weiße Gipfel am blauen Horizont, und weit im Süden lag unsichtbar das schimmernde Meer.

Bedienstete öffneten die Türen und traten zurück, um Ged und die Fürstin eintreten zu lassen. Es waren bleiche, grießgrämig aussehende Osskilianer. Auch Serret hatte eine helle Haut, doch im Gegensatz zu ihnen sprach sie fließend Hardisch, es schien Ged sogar, als habe sie manchmal den Akzent von Gont. Später am gleichen Tag führte sie ihn vor ihren Gemahl, Fürst Benderesk von Terrenon. Dieser war mindestens dreimal so alt wie seine Frau, knochendürr und knochenweiß. Er begrüßte Ged mit kalter, formeller Höflichkeit und schaute ihn durch halbgeschlossene Lider prüfend an. Er lud ihn ein, sein Gast zu sein, solang es ihm gefiele. Mehr sprach er nicht. Er fragte Ged weder über seine Reisen aus noch über den Feind, der ihn hierhergejagt hatte. Auch die Fürstin Serret berührte diese Dinge nicht.

Dies war seltsam genug, doch verglichen mit der Fremdheit dieses ganzen Hofes, war es nicht erstaunlich. Geds Sinne waren immer irgendwie umnebelt, er konnte die Dinge um sich herum nicht klar erkennen. Der Zufall hatte ihn in diese Turmfeste geführt, doch dieser Zufall schien geplant, oder es war ein Plan, der ihn hierhergelockt hatte, und doch hatte auch hier der Zufall seine Hand im Spiel gehabt. Er hatte sich nach Norden gewandt, ein Fremder in Orrimy hatte ihn hierhergeschickt, um Hilfe in seinem Kampf gegen den Schatten zu finden; ein osskilisches Schiff hatte auf ihn gewartet; Skihor war sein Führer gewesen. Wieviel davon war das Werk des Schatten, der ihn verfolgte? Nichts davon? Wurden sie beide, er und der Schatten, von einer anderen Macht geleitet? Er, Ged, ging in eine Falle, und der Schatten folgte ihm nach und nahm Besitz von Skihor, als sich die Gelegenheit dazu bot? So mußte es sich verhalten haben, denn der Schatten durfte bestimmt den Hof von Terrenon nicht betreten, das hatte Serret selbst gesagt. Seit er im Turm erwacht war, hatte er auch die lauernde Nähe des Schattens nicht gespürt. Aber was brachte ihn hierher? Denn dies war ganz bestimmt kein Ort, der auf des Zufalls Wegen lag, selbst sein langsam arbeitendes Gehirn vermochte das zu erkennen. Kein anderer Fremder klopfte an dieses Tor. Der Turm stand abseits und abgelegen, kein direkter Weg führte von hier nach Naschun, der nächsten Stadt. Kein Mensch kam zu dieser Feste, kein Mensch verließ sie. Ihre Fenster blickten hinaus auf ödes, unbewohntes Land.

Durch diese Fenster blickte Ged, der sich allein in sein Zimmer zurückgezogen hatte, und hier stand er nun tagaus, tagein, kalt, mit wundem Herzen und mit betäubten Sinnen. In diesem Gemäuer schien es immer kalt zu sein, trotz der Teppiche und der Wandbehänge, trotz der teuren Pelze und der wuchtigen Kamine aus Marmor. Die Kälte zog bis in die Knochen und setzte sich im Mark fest. Und in Geds Herz zog eine kalte Scham ein, die er nicht vertreiben konnte, denn immer wieder mußte er daran denken, wie er sich seinem Feind gestellt und wie er verloren hatte, denn er war vor ihm geflohen. Er bildete sich ein, daß alle Meister auf Rok versammelt waren, Genscher, der Erzmagier stand mit gerunzelter Stirn in ihrer Mitte, auch Nemmerle war dabei und Ogion und selbst das Zauberweib, das ihn seine ersten Zauberworte gelehrt hatte. Sie alle standen und starrten ihn vorwurfsvoll an, und er wußte, daß er ihren Erwartungen nicht entsprochen hatte. Dann begann er, sich mit Worten zu verteidigen: »Wenn ich nicht weggerannt wäre, hätte der Schatten von mir Besitz ergriffen; er hatte ja schon Skihors Stärke und einen Teil meiner Kraft, und ich konnte meine Macht nicht gegen ihn gebrauchen, denn er wußte ja meinen Namen. Ich mußte davonlaufen. Ein Gebbethzauberer wäre eine furchtbare Macht gewesen und hätte Schreckliches angerichtet. Ich mußte davonlaufen.« Aber alle, die ihn umstanden, blickten ihn nur weiterhin stumm an. Dann blickte er wieder hinaus und sah den feinen Schneeflocken zu, die unaufhörlich fielen und das leere Land zu seinen Füßen zudeckten, und in seinem Herzen wuchs eine bleierne Kälte, und eine dumpfe Erschöpfung bemächtigte sich seiner, bis er nichts mehr fühlte.

So verbrachte er viele Tage elend und allein. Wenn er herunterkam von seinem Zimmer, war er schweigsam und förmlich. Die Schönheit der Fürstin verwirrte ihn, und an diesem vornehmen, geregelten, seltsamen Hof fühlte er sich wieder wie ein einfacher, ungehobelter Ziegenhirte.

Sie ließen ihn in Ruhe, wenn er für sich sein wollte. Wenn er es nicht mehr aushielt, allein in seinem Zimmer zu grübeln und dem fallenden Schnee zuzuschauen, dann setzte er sich zu Serret in einem der halbrunden Säle weiter unten im Turm, die vom Kaminfeuer erhellt und mit Wandteppichen behangen waren, und unterhielt sich mit ihr. Ausgelassen fröhlich konnte die junge Fürstin nicht sein, noch nie hatte er sie laut lachen hören, aber lächeln sah er sie oft, und ein Lächeln genügte, um Geds Herz zu erwärmen… Wenn er mit ihr beisammen war, dann vergaß er seine Steifheit und seine Schmach. Es dauerte nicht lange, und sie trafen sich jeden Tag und plauderten lange und ausführlich, während sie am Kamin oder an einem der Fenster in den hohen Räumen des Turms saßen, etwas entfernt von den Dienerinnen, die Serret überallhin begleiteten.

Der alte Fürst hielt sich meist in seinen Gemächern auf. Nur jeden Morgen konnte man ihn sehen, wie er im verschneiten Innenhof der Feste auf und ab ging. Er sah dann aus wie ein alter Zauberer, der die ganze Nacht damit verbracht hatte, Zaubereien zusammenzubrauen. Manchmal nahm er die Abendmahlzeit gemeinsam mit Ged und Serret ein, schweigend saß er dann an der Tafel, doch hin und wieder warf er einen harten, begehrlichen Blick auf seine junge Frau. Ged fühlte dann immer Mitleid in sich aufwallen. Serret kam ihm dann vor wie ein eingesperrtes weißes Reh, wie ein weißer Vogel, dem man die Flügel beschnitten hatte, oder wie ein wunderbarer silberner Reif am gichtigen Finger eines alten Mannes. Für Benderesk war sie nichts weiter als ein Bestandteil seines Schatzes. War der dann gegangen, so versuchte Ged, sie mit Worten zu unterhalten, ihre Einsamkeit erträglicher zu machen und ihr den gleichen Dienst zu erweisen, den sie auch ihm erwiesen hatte.

»Was ist das für ein Edelstein, der diesem Turm den Namen gibt?« fragte er sie, als sie nach dem Mahle vor ihren leeren Goldtellern und Goldbechern im Kerzenlicht des riesigen Speisesaales plaudernd beisammen saßen.

»Sie haben noch nie davon gehört? Er ist sehr bekannt.«

»Nein. Ich weiß nur, daß die Fürsten von Osskil berühmt sind für ihre Schätze.«

»O ja, das stimmt, aber dieser Stein übertrifft alle anderen. Möchten Sie ihn gerne sehen? Kommen Sie mit, ich zeige ihn Ihnen.«

Sie schaute ihn an und versuchte mutig und herausfordernd zu lächeln, und es schien Ged, als hätte sie ein wenig Angst vor dem, was sie jetzt tat. Sie führte den jungen Mann aus dem Saal hinaus durch die engen Gänge des Erdgeschosses und weitere Treppen hinunter, die in unterirdische Gewölbe führten, bis vor eine verschlossene Tür, die er noch nie zuvor gesehen hatte. Mit einem Silberschlüssel schloß sie die Tür auf und schaute wieder auf Ged mit dem gleichen Lächeln, ihn auffordernd, ihr zu folgen. Hinter der Tür lag ein kurzer Gang und eine zweite Tür, die sie mit einem Goldschlüssel aufschloß, und dahinter war eine dritte Tür, die sie mit einer der großen Öffnungsformeln aufmachte. Diese Tür öffnete sich in einen Raum, der so klein wie ein Verlies war: Wände, Decke und Boden waren aus roh zugehauenem Stein. Sonst war nichts darin zu sehen.

»Sehen Sie ihn?« fragte Serret.

Als Ged seine Augen durch das Verlies schweifen ließ, fiel sein Blick auf einen Stein, der zwischen die anderen Steinplatten eingelassen war. Er sah nicht anders aus als die übrigen Steine, er war genauso grob zugehauen und feuchtdunkel, doch Ged fühlte die Macht, die von ihm ausging, so intensiv, als spräche er zu ihm. Der Atem blieb in seiner Kehle stecken, und für einen Moment befiel ihn Übelkeit. Vor ihm lag der Grundstein des Turmes. Hier war der Mittelpunkt, und es war kalt, bitterkalt, nichts konnte diesen kleinen Raum erwärmen. Uralt war dieses Ding, ein alter, furchtbarer Geist war in diesem Steinblock gefangen. Ged gab Serret keine Antwort auf ihre Frage, sagte weder ja noch nein, sondern stand regungslos. Sie deutete auf den Stein, indem sie ihm einen raschen, seltsamen Blick zuwarf: »Das hier ist der Terrenon. Wundern Sie sich, weshalb wir einen so seltenen Stein in unserer tiefsten Schatzkammer aufbewahren?«

Noch immer gab Ged keine Antwort, sondern stand stumm und abwägend. Es konnte sein, daß sie ihn nur prüfte, es konnte aber auch sein, daß sie keine Ahnung von dem wahren Wesen dieses Steines hatte, denn sie sprach so leichtfertig davon. Sie wußte wahrscheinlich nicht genug, um diesen Stein zu fürchten. »Erzählen Sie mir mehr von seiner Macht«, sagte er schließlich.

»Der Stein entstand, noch bevor Segoy die Inseln dieser Welt aus dem Meer emporsteigen ließ. Er bestand schon, als die Welt geschaffen wurde, und er wird bis ans Ende dieser Welt bestehen. Zeit ist ohne Bedeutung für ihn. Wenn Sie Ihre Hand darauf legen und eine Frage an ihn richten, wird er Ihnen Antwort geben, gemäß der Macht, die Sie besitzen. Seine Stimme wird von denen vernommen, die ihn verstehen können. Er weiß um die Geschehnisse der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft. Er hat Ihr Kommen vorausgesagt, lange bevor Sie dieses Land betreten haben. Werden Sie ihn etwas fragen?«

»Nein.«

»Er wird Ihnen Antwort geben.«

»Es gibt nichts, was ich ihn fragen wollte.«

»Er könnte Ihnen zum Beispiel sagen«, sprach Serret mit melodischer Stimme, »wie Sie Ihren Feind besiegen können.«

Ged gab keine Antwort.

»Fürchten Sie sich vor dem Stein?« fragte sie und schien ungläubig.

Er antwortete: »Ja.«

In der tödlichen Kälte und Stille dieser Zelle, die von den stärksten magischen Wänden umgeben und von Steinmauern umschlossen war, hier, im Licht einer einzigen Kerze, ließ Serret erneut einen Blick ihrer funkelnden Augen über ihn gleiten: »Sperber«, sagte sie, »Sie haben doch keine Angst!«

»Mit diesem Geist werde ich nicht sprechen«, sagte Ged. Dann faßte er Mut und blickte sie ernst und eindringlich an. »Fürstin, der Geist in diesem Stein ist eingeschlossen und gebunden in einem magischen Bann, der mit einem weiteren Bann verstärkt wurde. Er ist gebannt durch die großen Formeln des Verschließens und Verwahrens, er ist umgeben von dreifach verstärkten Festungswällen in einem leeren Land, nicht weil er wertlos ist, sondern weil er unsäglich Böses wirken kann. Ich weiß nicht, was man Ihnen sagte, als Sie hierherkamen. Aber Sie, die jung und weichherzig sind, sollten dieses Ding niemals berühren noch ihren Blick darauf ruhen lassen. Es kann Ihnen nichts Gutes bringen.«

»Ich habe ihn berührt. Ich habe auch mit ihm gesprochen und habe ihn reden hören. Er tat mir nichts.«

Sie wandte sich zum Gehen, und sie gingen zurück durch die Türen und Gänge, bis sie an die von Wandfackeln beleuchtete große Wendeltreppe des Turmes kamen. Hier blies Serret ihre Kerze aus, und sie trennten sich mit wenigen Worten.

Ged schlief nicht viel in dieser Nacht. Nicht der Gedanke an den Schatten hielt ihn wach, diese Furcht war verdrängt von dem Bild des Steines. Immer wieder tauchte es vor seinen Augen auf, und er grübelte über diesen Stein nach, der Grundstein dieses Turmes war. Und dazwischen sah er Serrets Gesicht, das ihm zugewandt war, das im Licht der flackernden Kerze abwechselnd hell und dunkel schien. Er spürte wiederum ihren seltsamen Blick auf sich ruhen, als er sich geweigert hatte, den Stein zu berühren. War es Verachtung, was er in ihrem Blick gelesen hatte, oder hatte er sie verletzt? Als er sich endgültig zum Schlafen umdrehte, schienen ihm die seidenen Bettbezüge noch kälter als gewöhnlich, und er wachte wiederholt in der Dunkelheit auf, von dem Bild des Steines und dem Ausdruck in Serrets Augen beunruhigt.

Am nächsten Tag suchte er die Fürstin in dem halbrunden Saal aus grauem Marmor auf, in den das Licht der tief im Westen stehenden Sonne fiel. Hier hielt sie sich beim Spiel oder am Webrahmen gern mit ihren Dienerinnen auf. Er sprach sie an: »Frau Serret, ich habe Sie gestern beleidigt und möchte mich entschuldigen.«

»Nein«, sagte sie nachdenklich, und wiederholte: »Nein…« Dann schickte sie ihre Dienerinnen fort, und als sie allein waren, wandte sie sich zu Ged: »Mein Gast, mein Freund«, sagte sie, »Sie schauen weiter und sehen mehr als andere Menschen, aber vielleicht erkennen Sie doch nicht alles, was gesehen werden kann. In Gont, in Rok, dort werden hohe Zauberkünste gelehrt. Hier aber befinden wir uns in Osskil, dem Land der Raben: dies ist kein hardisches Land. Magier haben hier wenig zu sagen, man kennt sie auch kaum. Und hier geschieht manches, worüber die Zaubermeister im Süden schweigen, und Dinge gibt es hier, die nicht auf der Liste des Meisters Namengeber stehen. Was man nicht kennt, fürchtet man gewöhnlich. Aber Sie haben hier, am Hof von Terrenon, nichts zu fürchten. Ein Mann mit geringerer Macht, der hätte wohl Grund zur Sorge. Sie nicht — Ihnen ist die Macht angeboren, mit der Sie das, was wir im verborgenen Raum hier halten, sich unterwerfen können. Dessen bin ich ganz gewiß. Darum sind Sie ja hier.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Weil Fürst Benderesk, mein Gemahl, nicht ganz offen mit Ihnen sprach. Aber ich werde Ihnen alles sagen. Kommen Sie, setzen Sie sich her zu mir.«

Er ließ sich neben ihr auf der niedrigen, gepolsterten Fensterbank nieder. Die untergehende Sonne warf ihre Strahlen schräg durchs Fenster, und alles war in einen goldenen Glanz getaucht, der keine Wärme verbreitete. Auf dem schon halb in den Schatten sinkenden Moor unten lag der ungeschmolzene Schnee der vergangenen Nacht und bedeckte wie ein stumpfweißes Leichentuch die Erde.

Noch weicher als gewöhnlich war der Klang ihrer Stimme, als Serret jetzt zu ihm sprach: »Benderesk ist Herr und Erbe des Terrenon, aber er kann sich seiner nicht ganz bedienen, er kann ihn nicht ganz beherrschen. Auch ich kann es nicht, weder allein noch zusammen mit ihm. Ihm und mir, uns fehlt es an Geschick und an der Macht. Sie aber verfügen über beides.«

»Woher wissen Sie das?«

»Von dem Stein selbst natürlich! Ich habe Ihnen doch gesagt, daß er Ihr Kommen vorausgesagt hat. Er weiß, wer sein Meister ist. Er hat auf Ihr Kommen gewartet. Noch bevor Sie geboren wurden, hat er schon gewartet, weil Sie ihn beherrschen können. Und derjenige, dem der Terrenon antwortet, der wird zum Meister seines eigenen Schicksals. Er wird so stark sein, daß er jeden Feind, ob menschlich oder übermenschlich, überwinden kann. Wissen, Reichtum, Macht und die Gabe des Sehens wird er gewinnen und über eine Zauberkraft verfügen, die selbst die Kraft des Erzmagiers in den Schatten stellt. Sie können alles gewinnen oder nur ganz wenig davon nehmen, das liegt ganz in Ihrer Hand, Sie müssen nur danach fragen.«

Sie hob ihre rätselhaften, funkelnden Augen und durchbohrte ihn mit einem Blick, der ihn innerlich zusammenschauern ließ, als ob ihm kalt sei. Doch Furcht lag auch in ihrem Blick, so als suche sie Hilfe bei ihm und sei zu stolz, ihn darum zu bitten. Sie hatte ihre Hand leicht auf die seine gelegt, er spürte sie kaum, schmal und hell lag sie auf seiner dunklen, starken Hand. Er blickte sie eindringlich an und sprach: »Serret! Solche Macht, wie Sie glauben, besitze ich nicht, was ich einmal besaß, habe ich weggeworfen. Ich kann Ihnen nicht helfen, ich nutze Ihnen nichts. Das aber kann ich Ihnen versichern: die uralten Mächte der Erde, die dürfen nicht von den Menschen gebraucht werden. Sie wurden uns niemals anvertraut, sie richten nur Unheil an in unseren Händen. Und wie Sie wissen: schlechte Mittel führen zu schlechtem Ende. Mich zog nichts hierher, ich wurde getrieben, und was mich trieb, will mich zerstören. Ich kann Ihnen nicht helfen.«

»Derjenige, der seine Macht wegwirft, erlangt oft eine Macht, die weit stärker ist«, sagte sie lächelnd, als wäre seine Furcht und sein Bedenken kindisch. »Vielleicht weiß ich besser als Sie selbst, was Sie hierherbrachte. Sprach nicht ein Mann mit Ihnen in den Straßen von Orrimy? Er war ein Bote, gesandt vom Terrenon. Vor Zeiten war er selbst ein Zauberer, aber er warf seinen Stab fort, um einer Macht zu dienen, die weit größer ist als die eines Magiers; und als Sie nach Osskil kamen, versuchten Sie, mit Ihrem Stab aus Holz gegen einen Schatten zu kämpfen; und nur mit Mühe konnten wir Sie noch retten, denn das Ding, das Ihnen folgte, ist verschlagener, als wir dachten, und hatte Ihnen schon viel von Ihrer Stärke weggenommen… Mit Schatten nur kann man gegen Schatten kämpfen, mit der Dunkelheit nur kann man das Dunkle besiegen. Sperber, was brauchen Sie, um den Schatten zu bezwingen, der außerhalb dieser Mauern auf Sie lauert?«

»Ich brauche das, was mir zu wissen versagt ist: seinen Namen.«

»Der Terrenon, der jede Geburt und jedes Sterben, der alle Namen vor und nach dem Tode, das Ungeborene und Unsterbliche, die helle und die dunkle Welt kennt, der wird auch diesen Namen wissen.«

»Und welchen Preis muß ich dafür bezahlen?«

»Keinen Preis, glauben Sie mir. Er wird Ihnen gehorchen, er wird Ihnen als Ihr Sklave dienen.«

Im Tiefsten erschüttert und gequält saß Ged und blieb stumm. Sie hatte seine Hand mit beiden Händen ergriffen und schaute ihm voll ins Gesicht. Die Sonne war hinter den grauen Nebeln am Horizont verschwunden, die Luft war trüb geworden, doch das Lob, das sie auf ihn häufte, und der Triumph, den sie in sich fühlte, als sie seinen Willen wanken sah, verliehen ihrem Gesicht einen hellen Glanz: »Der Mächtigste der Menschen werden Sie sein, ein König unter ihnen. Herrschen werden Sie — und ich mit Ihnen.«

Plötzlich erhob sich Ged und tat einen Schritt vorwärts, so daß er um die Kurve der langen Wand blicken konnte. Dort, neben der Tür, stand der Fürst von Terrenon, der alles mit angehört hatte, und lächelte.

Wie Schuppen fiel es Ged von den Augen. Er blickte auf Serret hinab: »Licht überwindet die Dunkelheit«, stammelte er, »…nur Licht…«

Seine eigenen Worte leuchteten ihm wie ein Licht, und während er sprach, erkannte er, wie er hierhergezogen, hierhergelockt worden war, wie sie sich seine Furcht zunutze gemacht hatten, wie sie ihn, wenn er sich hätte fangen lassen, behalten hätten. Natürlich hatten sie ihn vor dem Schatten gerettet, denn sie wollten nicht, daß der Schatten von ihm Besitz ergriffe, bevor er Sklave des Steines geworden war. Wenn die Macht im Stein ihn aber gefangenhielte, dann würden sie den Schatten hereinlassen, denn ein Gebbeth war ein viel besserer Sklave als ein Mensch. Hätte er auch nur einmal den Stein berührt oder zu ihm gesprochen — er wäre unrettbar verloren gewesen. Doch — genau wie es dem Schatten nicht gelungen war, ihn ganz einzuholen, genausowenig war es dem Stein möglich gewesen, ihn an sich zu ziehen — nicht ganz jedenfalls. Fast hätte er nachgegeben — er war nahe daran gewesen. Seine Zustimmung hatte gefehlt. Und dem Bösen fällt es schwer, sich in einer Seele festzusetzen, die nicht mit ihm übereinstimmt.

Er stand zwischen den beiden, die nachgegeben, die übereingestimmt hatten, und er schaute von einem zum anderen. Benderesk trat vor.

»Ich habe es dir ja gesagt, Serret«, sagte der Fürst des Terrenon trocken zu seiner Frau, »daß er dir durch die Finger schlüpfen wird. Die Zauberer von Gont sind gewitzte Narren. Und du bist auch eine Närrin, du Weib von Gont. Du wolltest ihn und mich in deine Schlinge ziehen, uns beide wolltest du durch deine Schönheit blenden und beherrschen und dann den Terrenon für deine eigenen Zwecke nutzen. Doch ich, ich bin noch immer Herr des Steines, und das ist die Strafe, die ich über dich ungetreues Weib verhänge: Ekavror oe Oelwantar…« Er begann den Verwandlungszauber und hatte seine langen Hände erhoben, um die Frau, die angstvoll vor ihm kauerte, in irgendein Scheusal, ein Schwein oder einen Hund oder eine sabbernde alte Hexe zu verwandeln. Ged trat auf ihn zu und schlug seine ausgestreckten Hände mit seinen Händen nieder. Er sprach ein kurzes Wort. Obwohl er keinen Stab besaß und auf fremdem, unheilvollen Boden stand, im Bereich einer finsteren Macht, trotzdem siegte sein Wille. Benderesk rührte sich nicht. Seine umwölkten, haßerfüllten Augen blickten unverwandt auf Serret.

»Kommen Sie, Sperber«, sagte diese mit bebender Stimme, »kommen Sie, schnell, bevor er nach den Dienern des Steines ruft.« Doch wie ein Echo zu ihren Worten eilte ein Wimmern durch den Turm, durch die Steine des Bodens, an den Wänden entlang, ein trockenes, zitterndes Gemurmel, als ob die Erde selbst spräche.

Serret ergriff Geds Hand und rannte mit ihm durch die Gänge und Säle, die lange Wendeltreppe hinunter, hinaus in den Burghof. Letztes, silbernes Tageslicht verflüchtigte sich über dem schmutzigen, zertretenen Schnee. Drei finster blickende Bedienstete des Schlosses verstellten ihnen den Weg, als ob sie diese beiden eines Anschlags auf ihren Herrn verdächtigten: »Es wird dunkel, Fürstin«, sagte der eine, und der andere fügte hinzu: »Sie können nicht mehr ausreiten.«

»Geht mir aus dem Weg, Gesindel!« schrie Serret in der an Zischlauten reichen osskilischen Sprache. Die Männer wichen zurück und duckten sich, und sich zusammenkrümmend fielen sie auf den Boden, der eine schrie laut auf.

»Wir müssen durch das Tor, einen anderen Weg gibt es nicht. Können Sie es erkennen, Sperber? Können Sie es finden?«

Sie zupfte Ged am Ärmel, faßte ihn an der Hand und zog ihn mit sich, doch er zögerte: »Mit welchem Bann haben Sie die Männer geschlagen?«

»Ich ließ heißes Blei in ihr Knochenmark rinnen, sie werden daran sterben. Beeilen Sie sich, ich sagte Ihnen doch, er wird die Diener des Steines auf uns loslassen, und ich kann das Tor nicht erkennen … darauf liegt nämlich ein starker Zauberbann. Schnell!«

Ged wußte nicht, was sie meinte, denn das verzauberte Tor lag so klar wie der Torbogen des Hofes, hinter dem es sich befand, vor seinen Augen. Er führte Serret erst durch den Torbogen, dann über den unberührten Schnee des Vorhofes ans Tor, dort sprach er ein Zauberwort des Öffnens und führte sie durch das Tor, das in die Zauberwälle eingelassen war.

Serret verwandelte sich, als sie durch das Tor gingen und das silberne Dämmerlicht des Hofes von Terrenon hinter sich ließen. Sie war nicht weniger schön im trüben Abendlicht, das über dem Moor lag, doch etwas Wildes, Hexenhaftes hatte sich jetzt ihren Zügen beigemischt. Endlich erkannte Ged das Mädchen — es war die Tochter des Fürsten von Re Albi und der Zauberin von Osskil, die damals — es schien ihm schon ewig lange her zu sein — auf der grünen Wiese oberhalb Ogions Haus über ihn gespottet und ihn veranlaßt hatte, den Zauberspruch zu lesen, der den Schatten freisetzte. Aber er verweilte nicht lange bei diesen Gedanken, sondern schaute wachsam und mit angespannten Sinnen umher. Er suchte den Schatten, der irgendwo außerhalb der magischen Wälle auf ihn wartete. Vielleicht hatte er sich in die immer düsterer werdenden Schatten verzogen und wartete auf den Augenblick, da er seine Formlosigkeit mit Geds Leben vertauschen konnte. Ged spürte seine Nähe, doch konnte er ihn nicht sehen. Aber als er seine Blicke umherschweifen ließ, sah er ein kleines dunkles Ding, halb verdeckt vom Schnee, ein paar Schritte vom Tor entfernt liegen. Es war der Otak, dessen feines, kurzhaariges Fell mit Blut besudelt war und dessen kleiner, leichter Körper steif und kalt in seinen Händen lag.

»Verwandeln Sie sich! Verwandeln Sie sich, sie kommen!« schrie Serret, und nach seinem Arm greifend, deutete sie auf den Turm, der sich wie ein großer, weißer Zahn in der Dämmerung hinter ihnen erhob. Aus den schmalen Mauerluken am Fundament krochen schwarze Geschöpfe und schüttelten ihre langen Fittiche: wuchtig mit ihren Flügeln schlagend, erhoben sie sich in die Luft, kreisten über den Wällen und segelten auf Ged und Serret zu, die ungeschützt am Hang standen. Das hohle Wimmern, das sie in der Feste gehört hatten, war lauter geworden, war angeschwollen zu einem Beben und Seufzen der Erde, auf der sie standen.

In Ged stieg Wut hoch. Ein unbändiger Zorn packte ihn gegen das grausame, tödliche Getier, das ihn verführte, verfolgte und in Fallen lockte. »Verwandeln Sie sich!« Serret schrie ihm laut zu und haspelte selbst schnell eine Verwandlungsformel herunter: Sie erhob sich als eine graue Möwe und flog davon. Ged aber beugte sich zur Erde und riß einen Halm des wilden Grases aus, der trocken und zart aus dem Schnee ragte, dort, wo der tote Otak gelegen war. Diesen Halm hob er in die Höhe, und als er in der Ursprache zu ihm redete, wurde er immer länger und stärker. Als er geendet hatte, hielt er einen langen Stab, einen Zauberstab, in seiner Hand. Kein heiß loderndes rotes Feuer flackerte an diesem Stab entlang, als Ged auf das schwarze, flügelschlagende Getier vom Hof des Terrenon, das auf ihn niederstieß, einschlug: weiß brannte dieser Stab in kaltem magischem Feuer, das nicht verbrennt, sondern das Dunkle vertreibt.

Das Getier setzte von neuem zum Angriff an: mißlungene Geschöpfe, aus einer Zeit stammend, die vor Drachen, Vögeln und Menschen lag, vom Tageslicht längst vergessen, doch nicht von der uralten, arglistigen, boshaften, allwissenden Macht im Stein. Sie drangen auf Ged ein, stießen auf ihn herab. Er fühlte ihre Krallen wie Sensen über seinem Kopf, und Übelkeit stieg in ihm hoch von ihrem Aasgestank. Grimmig parierte er ihre Stöße und schlug auf sie ein mit seinem erschreckenden Stab, der aus Zorn und einem Grashalm gewachsen war. Plötzlich, wie Raben, die von sich regendem Aas erschreckt wurden, stoben sie in die Höhe und wandten sich flügelschlagend in die Richtung, die Serret, in der Gestalt der Möwe, eingeschlagen hatte. Ihre Riesenflügel schienen sich gemächlich zu bewegen, doch das täuschte, mit jedem Schlag ihrer mächtigen Schwingen schossen sie gewaltig vorwärts. Keine Möwe konnte bei dieser Schnelligkeit mithalten.

So schnell wie damals auf Rok nahm Ged die Gestalt eines mächtigen Falken an. Nicht den Sperber wählte er, dessen Namen er trug, sondern den Wanderfalken, der wie ein Pfeil, wie ein Gedanke dahinschießen kann. Mit gespreizten, scharfen und starken Schwingen flog er davon, die Verfolgenden verfolgend. Der Himmel verdunkelte sich, und Sterne begannen zwischen den Wolken zu funkeln. Vor sich sah er den schwarzen, mißlichen Haufen hinunterstoßen auf einen Punkt in der Luft. Jenseits des schwarzen Flecks sah er das Meer fahl im aschgrauen Licht des Tages liegen. Blitzschnell und pfeilgerade stieß der Falke Ged auf das Getier des Steines zu, und es zerstob wie Wassertropfen von einem geworfenen Stein. Doch es hatte schon seine Beute erreicht: Blutig war der scharfe Schnabel des einen, und weißgraue Federn waren in den Klauen eines andern. Keine Möwe war mehr zu sehen, die schwerelos Bahnen über der See zog.

Die Untiere wandten sich gegen Ged. Schnell und unförmig kamen sie auf ihn zu, ihre scharfen Schnäbel geöffnet. Er aber schwang sich in Spiralen in die Höhe und stieß den wilden Kampfschrei des Falken aus, dann schoß er über den flachen Strand von Osskil, über die Brandung des Meeres davon.

Das Getier vom Stein kreiste noch eine Weile krächzend, dann flog eins nach dem andern unbeholfen zurück über das Land. Die Urmächte überqueren nämlich keine Meere, sie sind an einen bestimmten Ort, eine Insel, Höhle, einen Stein oder sprudelnden Quell gebunden. Die schwarzen Mißgeburten flogen zurück zur Turmfeste, wo Benderesk, der Fürst des Terrenon, auf sie wartete. Vielleicht vergoß er Tränen bei ihrer Rückkehr, vielleicht auch lachte er. Ged flog weiter, falkenbeschwingt, falkenberauscht, wie ein Pfeil, der nicht herunterfällt, wie ein Gedanke, der nicht vergessen werden kann. Er flog über das Meer von Osskil, immer weiter nach Osten, dem Wind des Winters und der Nacht entgegen.


Ogion der Schweigsame war spät im Jahr von seinen Herbstwanderungen nach Re Albi zurückgekehrt. Noch schweigsamer, noch einsamer war er in den vergangenen Jahren geworden. Dem neuen Fürsten, der in der Stadt unten wohnte, war es nicht gelungen, auch nur ein einziges Wort aus Ogion herauszubekommen, obgleich er bis zu dessen Falkennest hinaufgeklettert war, um ihn um Hilfe in einer Piraterei gegen die Andraden zu ersuchen. Ogion, der mit den Spinnen in ihren Netzen sprach, den man beobachten konnte, wie er die Bäume höflich grüßte, sprach kein einziges Wort zu dem Fürsten der Insel und ließ ihn unzufrieden wieder hinuntergehen. Vielleicht bedrückten Sorgen und Kummer sein Gemüt, denn Ogion verbrachte den ganzen Sommer lang bis spät in den Herbst hinein allein hoch oben in den Bergen, erst jetzt, zur Wintersonnenwende, kehrte er zum eigenen Herd zurück. Am Morgen nach seiner Rückkehr stand er spät auf und ging zur Quelle unterhalb seines Hauses, um Wasser für eine Tasse Kräutertee zu holen. Eine dünne Eisschicht bedeckte die Ränder des kleinen munteren Quells, und das zarte Moos zwischen den Felsen war eine Spitze aus Eisblumen. Der Tag war schon voll angebrochen, und doch würde es noch eine Stunde dauern, bis die Sonne sich über den mächtigen Berggipfel erhob. Auf dem gesamten westlichen Gont, vom Strand bis hinauf zum Gipfel, lag keine Sonne, schweigend und klar umrissen lag das Land im morgendlichen Licht des Winters vor ihm. Als der Magier an der Quelle stand und seinen Blick über das sich neigende Land, den Hafen und die graue Ferne des Meeres schweifen ließ, hörte er Flügelschlag über seinem Haupt. Er blickte auf und hob den Arm etwas in die Höhe. Ein mächtiger Falke, laut mit den Flügeln schlagend, kam herunter und ließ sich auf sein Handgelenk nieder. Dort klammerte er sich fest wie ein abgerichteter Edelfalke, doch trug er keine zerrissene Kette, keinen Reif, keine Glocke. Die Klauen preßten sich tiefer in Ogions Gelenk; die Federn der Flügel zitterten, das runde, goldene Auge blickte stumpf und wild.

»Bist du ein Bote oder eine Botschaft?« fragte Ogion den Falken behutsam. »Komm mit mir…«, als er zu ihm redete, schaute ihn der Falke an. Ogion stand einen Augenblick, ohne zu reden. »Ich glaube, ich gab dir einst deinen Namen«, sagte er, schritt auf sein Haus zu und trat ein, den Vogel auf seinem Handgelenk mit sich tragend. Er setzte ihn in der Nähe des Herdes, in der Wärme des Feuers, ab und bot ihm Wasser zum Trinken an. Doch der Vogel wollte nicht trinken. Dann begann Ogion, ganz behutsam, eine magische Formel zu wirken. Er wob sie mehr mit seinen Händen, als mit Worten, und als der Bann geschlossen und gewoben war, sagte er sanft: »Ged…« ohne den Falken beim Feuer anzuschauen. Er wartete eine Weile, dann wandte er sich um, stand auf und ging auf den jungen Mann zu, der zitternd und stumpf blickend vor dem Feuer stand.

Ged war in kostbare, fremdartige Gewänder gehüllt, in Pelz, Seide und Silber, doch die Kleider waren zerrissen und steif vom Salz des Meeres. Er stand hager und gekrümmt, mit strähnigem Haar um sein vernarbtes Gesicht da.

Ogion nahm ihm den königlichen Umhang von den Schultern und führte ihn in das kleine Gemach, in dem er als Lehrling geschlafen hatte; dort legte er ihn auf das Bett, und leise einen Schlafzauber murmelnd, verließ er ihn. Kein Wort hatte er zu ihm gesprochen, denn er wußte, daß er jetzt keine menschliche Sprache besaß.

Als er ein Junge war, hatte Ogion, wie alle Jungen, geglaubt, daß es großartig wäre, sich durch die Kunst der Magie in jede Gestalt zu verwandeln, die einem gerade einfiel, Mensch, Tier, Baum oder Wolke, und ein Spiel der tausend Verwandlungen zu treiben. Aber als Zauberer kannte er den Preis dieses Spieles, nämlich die Gefahr, sich selbst zu verlieren, die Wahrheit zu verspielen. Je länger ein Mensch in einer anderen Gestalt bleibt, desto größer wird diese Gefahr. Jeder Zauberlehrling lernt die Geschichte des Zauberers Bordscher von Weg, dem es so großen Spaß gemacht hatte, sich in einen Bären zu verwandeln, daß er dies immer häufiger tat, bis der Bär in ihm so mächtig wurde, daß der Mensch in ihm abstarb. Als Bär im Wald tötete er seinen eigenen kleinen Sohn und wurde gejagt und schließlich erlegt. Und niemand weiß, wie viele Delphine, die sich im Innenmeer tummeln, einst weise Männer waren, die Weisheit und Namen über dem Spiel im ruhelosen Meer vergaßen.

Ged schlüpfte in die Falkengestalt in letzter Not und in rasendem Zorn, und als er Osskil verließ, trieb ihn ein einziger Gedanke: dem Stein und Schatten zu entfliehen, die kalte, unheilvolle Gegend hinter sich zu lassen, den Weg nach Hause zu suchen. Das wilde, trotzige Wesen des Falken war wie sein eigenes und wurde sein eigenes, sein Wille fortzufliegen, wurde der Wille des Falken. So war er über Enlad geflogen, nur kurz ließ er sich an einem einsamen Weiher im Wald nieder, um zu trinken, aber getrieben von der Furcht vor dem Schatten, der ihm folgte, hob er sich sofort wieder in die Höhe. Über die große Meerenge, die man den Rachen von Enlad nennt, immer weiter und weiter war er geflogen, sich südöstlich haltend. Rechts sah er blau die Hügel von Oranea liegen und blasser links die Hügel von Andrad, vor ihm lag nur das Meer; bis schließlich aus den Wellen sich eine erhob, die sich nicht änderte, die immer höher wuchs — der weiße Berggipfel von Gont. Im Sonnenlicht und in der Nacht, ununterbrochen hatte er auf diesem Flug die Schwingen des Falken getragen, durch die Augen des Falken geschaut, bis er schließlich keine eigenen Gedanken mehr hatte und nur noch die des Falken kannte: Hunger, Wind und Flugziel.

Er flog zum richtigen Hafen. Nur wenige in Rok, nur einer in Gont konnte ihm helfen, wieder ein Mensch zu werden.

Als er erwachte, war er benommen und redete nicht. Ogion sprach nicht mit ihm, sondern gab ihm Fleisch und Wasser und ließ ihn am Feuer sitzen, zusammengekrümmt, wie ein großer, grimmiger, trotziger Falke. Bei Nachteinbruch schlief er wieder. Am dritten Morgen kam er zur Herdstelle, wo Ogion saß und in die Flammen schaute, und sagte: »Meister…«

»Willkommen, Junge«, sagte Ogion.

»Ich kam wieder als der gleiche zurück, als der ich ausgezogen bin: ein Tölpel«, sagte der junge Mann, und seine Stimme war rauh und zögernd. Der Magier lächelte ein wenig, deutete mit dem Kopf auf den Sitz gegenüber am Herd und begann Tee aufzugießen.

Draußen fiel Schnee, der erste Schnee auf den unteren Hängen von Gont. Ogions Fensterläden waren fest geschlossen, aber man hörte den nassen Schnee aufs Dach fallen, und man fühlte die Stille des Schnees überall im Haus. Lange saßen sie am Feuer, und Ged erzählte Ogion alles, was sich seit seiner Abfahrt auf der Schatten zugetragen hatte. Ogion stellte keine Fragen, und als Ged fertig war, blieb er eine lange Weile nachdenklich sitzen. Dann erhob er sich, stellte Brot, Wein und Käse auf den Tisch, und sie aßen zusammen. Als sie gegessen und aufgeräumt hatten, sprach Ogion:

»Bittere Narben trägst du, mein Junge«, sagte er.

»Ich habe dem Ding gegenüber keine Macht«, antwortete Ged.

Ogion schüttelte den Kopf und schwieg lange. Schließlich sagte er: »Seltsam, deine Macht war groß genug, einen Zauberer in seiner eigenen Domäne in Osskil zu übertreffen. Du warst mächtig genug, den Lockungen und Angriffen einer Urmacht der Erde zu widerstehen. Und in Pendor hast du dich gegen einen Drachen behauptet.«

»In Osskil hatte ich Glück, nicht Macht«, sagte Ged und schauderte beim Gedanken an die tödliche Kälte am Hof von Terrenon. »Was den Drachen anbelangt, so wußte ich seinen Namen. Das furchtbare Ding, das mich verfolgt, hat keinen Namen.«

»Alles hat einen Namen«, sagte Ogion mit solcher Überzeugung, daß Ged nicht zu widersprechen wagte und die Worte des Erzmagiers Genscher nicht wiederholte, daß derartig unheimliche Wesen, wie das, welches Ged freigesetzt hatte, keinen Namen tragen. Der Drache von Pendor hatte zwar angeboten, ihm den Namen des Schattens zu sagen, aber er schenkte den Worten eines Drachen wenig Vertrauen; genausowenig hatte er Serrets Versprechungen geglaubt, daß ihm der Stein sagen könnte, was er wissen mußte.

»Wenn der Schatten auch einen Namen hat«, sagte er endlich, »dann bedeutet das immer noch nicht, daß er anhält und ihn mir mitteilt.«

»Nein«, sagte Ogion, »genausowenig wie du angehalten hast und ihm deinen Namen gesagt hast. Und doch kannte er ihn. Auf dem Moor in Osskil hat er dich bei deinem Namen gerufen, bei dem Namen, den ich dir gab. Es ist seltsam, seltsam.«

Wiederum grübelte er lange. Ged sagte schließlich: »Ich kam hierher, um Rat zu suchen, nicht um eine Zuflucht zu finden, Meister. Ich will nicht, daß der Schatten diesen Ort heimsucht. Wenn ich hierbleibe, wird er bald wieder hier sein. Einmal haben Sie ihn aus diesem Raum hier vertrieben…«

»Nein, das war nur die Vorahnung davon, der Schatten eines Schatten. Ich könnte ihn jetzt nicht mehr hervortreiben. Nur du kannst das tun.«

»Aber vor ihm bin ich machtlos. Gibt es keinen Ort…?« Seine Stimme verlor sich, bevor er die Frage vollendet hatte.

»Einen sicheren Ort gibt es nicht«, sagte Ogion gütig. »Verwandle dich nicht mehr, Ged. Der Schatten ist darauf aus, dein wahres Wesen zu zerstören. Fast wäre es ihm gelungen, als er dich dazu brachte, Falkengestalt anzunehmen. Nein, wohin du dich wenden sollst, weiß ich nicht. Doch habe ich eine Ahnung, was du tun sollst. Es ist schwer, dir das zu sagen.«

Geds Schweigen forderte zur Wahrheit auf, und Ogion sprach schließlich: »Du mußt umkehren.«

»Umkehren?«

»Wenn du weiter vorwärts gehst, wenn du weiter fliegst, dann wird, wohin du dich auch wendest, Gefahr und Unheil auf dich warten, denn der Schatten treibt dich, er wählt den Weg, den du beschreitest. Du mußt den Jäger jagen.«

Ged sagte nichts.

»An der Quelle der Ar gab ich dir deinen Namen«, sagte der Magier, »an einem Fluß, der vom Berg herunter ins Meer fließt. Ein Mann sollte das Ziel kennen, dem er entgegengeht, das aber kann er nur, wenn er umkehrt und zurückgeht zum Anfang und diesen Anfang in seinem Wesen festhält. Wenn er nicht wie ein Ast sein will, der vom Strom gedreht und gewirbelt wird, dann muß er selbst Strom werden, und zwar der ganze Strom, von der Quelle bis zur Mündung ins Meer. Nach Gont kamst du zurück, zu mir kamst du zurück, Ged. Jetzt wende dich weiter um und geh zurück zum Ursprung und suche, was vor dem Ursprung liegen mag. Dort nur kannst du hoffen, Stärke zu finden.«

»Dort, Meister?« fragte Ged, und seine Stimme bebte vor Furcht. »Wo?«

Ogion antwortete nicht.

»Wenn ich umkehre«, sagte Ged nach einer Weile, »wenn ich, wie Sie mir raten, den Jäger jage, dann, glaube ich, wird die Jagd nicht lange dauern. Sein ganzes Trachten ist ja nur, mich dazu zu bringen, daß ich mich ihm stelle. Zweimal gelang es ihm, und zweimal habe ich verloren.«

»Auf aller Dinge Drittem liegt magisches Gelingen«, sagte Ogion.

Ged ging ruhelos auf und ab, vom Herd zur Tür, von der Tür zum Herd. »Und wenn es mich ganz besiegt«, hielt er Ogion oder sich selbst vor, »dann nimmt es meine ganze Macht, mein ganzes Wissen und wird davon Gebrauch machen. Jetzt droht es nur mir. Aber wenn es in mich dringt und mich besitzt, dann wird es großes Unheil durch mich anrichten.«

»Das stimmt. Wenn es dich besiegt.«

»Doch wenn ich jetzt wieder davonlaufe, dann wird es mich ganz sicherlich wieder finden…, und ich verschwende meine ganze Kraft darauf, davonzulaufen.« Ged ging noch eine Weile im Zimmer auf und ab, dann wandte er sich plötzlich um, und sich vor dem Magier niederkniend, sagte er: »Große Zauberer habe ich kennengelernt, auf der Insel der Weisen habe ich geweilt. Sie aber, Ogion, sind mein wahrer Meister.« So sprach er, und Liebe und eine tiefe, ernste Freude lag in seinen Worten.

»Gut«, sagte Ogion, »jetzt weißt du es. Besser jetzt als niemals. Aber am Ende wirst du mein Meister werden.« Er stand auf und schürte das Feuer, daß es hell aufglühte, und hängte den Kessel über die Flammen, damit das Wasser koche. Dann zog er seinen Schafspelz über und sagte: »Ich muß nach meinen Ziegen schauen. Paß auf den Kessel auf, Junge!«

Als er zurückkam, bestäubt mit Schnee, und seine Stiefel aus Ziegenleder vom Schnee freistampfte, hielt er in seiner Hand einen langen, rauhen Stab aus Eibenholz. Den Rest des kurzen Nachmittags und nach dem Abendessen saß er beim Licht der Lampe und bearbeitete den Stab mit Messer und Bimsstein und Zauberworten. Wiederholt ließ er seine Hand den Stab entlanggleiten und suchte nach Unebenheiten. Manchmal sang er leise vor sich hin. Ged, der noch immer erschöpft war, hörte zu, und als er schläfrig wurde, kam es ihm vor, als sei er wieder ein Kind in der Hütte des Zauberweibes in Zehnellern. Draußen war alles verschneit, und drinnen brannte das Feuer in der Dunkelheit, die Luft war angefüllt vom Duft der Kräuter und von Rauch. Die Träume kamen und gingen, als er den langen Gesängen von Zaubereien und den Taten der Helden zuhörte, die gegen dunkle Mächte kämpften und gewannen oder verloren, auf fernen Inseln vor unendlich langen Zeiten.

»Nimm…«, sagte Ogion, und gab ihm den fertigen Stab. »Der Erzmagier gab dir Eibenholz, das war eine gute Wahl, und ich blieb dabei. Aus dem Stab wollte ich erst einen Bogen machen, aber nun fand er bessere Verwendung. Schlaf gut, mein Sohn.«

Als Ged, der keine Worte fand, um ihm zu danken, sich abwandte und in sein Schlaf gemach ging, sah Ogion ihm nach und sagte so leise, daß ihn Ged nicht hören konnte: »Oh, mein junger Falke, fliege wohl!«

Im kalten Morgengrauen, als Ogion aufwachte, war Ged bereits verschwunden. In echt zauberischer Weise hatte er einige silberne Runen auf dem Stein beim Herd hinterlassen. Sie verblaßten, noch während Ogion sie las: »Meister, ich gehe auf die Jagd.«

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