DIE JAGD

Ged verliess Re Albi vor Sonnenaufgang, als die dunkle Winternacht noch über dem Land lag, und schlug den Weg ein, der hinunter zur Hafenstadt Gont führte, die er noch vor Mittag erreichte. Ogion hatte ihn mit praktischer gontischer Kleidung versehen, Gamaschen, Hemd und Weste aus Leder und Leinen, die er anstelle des Osskilischen Seidenzeugs trug, aber den fürstlichen, mit Pellawipelz gefütterten Umhang hatte er auf seine Winterreise mitgenommen. So bekleidet, mit leeren Händen, denn außer seinem dunklen Stab, der so groß wie er selbst war, führte er nichts mit sich, näherte er sich dem Landtor von Gont. Die Soldaten, die sich an die geschnitzten Drachen lehnten, erkannten ihn sofort als einen Zauberer und zogen ihre Lanzen zurück. Sie ließen ihn ungefragt eintreten und blickten ihm nach, als er die Straße von Gont hinunterschritt.

An den Piers und bei der Seezunft erkundigte er sich nach Schiffen, die nördlich oder westlich nach Enlad, Andrad oder Oranea fuhren. Überall wurde ihm das gleiche mitgeteilt: kein Schiff verließ jetzt, so nahe der Wintersonnenwende, den Hafen von Gont, und bei der Seezunft sagte man ihm, daß selbst Fischkutter bei diesem unbeständigen Wetter nicht durch die Festungsklippen hinaus aufs offene Meer führen.

In der Kantine der Seezunft lud man ihn zum Essen ein. Ein Zauberer muß selten um eine Mahlzeit bitten. Er setzte sich zu den Hafenarbeitern, Werftarbeitern und Wettermachern und hörte mit Vergnügen zu, wie sie sich bedächtig in langsam rollendem Gontisch miteinander unterhielten. Er fühlte ein großes Verlangen, hier auf Gont zu verweilen, alle Zauberei und Abenteuerlust an den Nagel zu hängen, seine Macht und all das Schreckliche zu vergessen und friedlich, wie andere Männer, hier auf dem Boden seiner geliebten Heimat zu leben. Das war sein Wunsch, sein Wille gebot ihm anders. Er hielt sich nicht lange im Haus der Seezunft und in der Stadt Gont auf, nachdem er herausgefunden hatte, daß keine Schiffe den Hafen in absehbarer Zeit verlassen würden. Sich nördlich haltend, folgte er dem Ufer der Bucht, bis er ins erste der kleinen Fischerdörfer kam, die sich der Küste entlang erstreckten. Er fragte herum, bis er einen Fischer fand, der ein Boot zu verkaufen hatte.

Er war ein mürrischer, alter Mann. Sein Boot, das ungefähr drei Meter lang und in Klinkerbauweise gezimmert war, sah ganz verzogen aus und leckte, so daß es kaum als seetüchtig betrachtet werden konnte. Trotzdem wollte der Alte einen hohen Preis dafür: einen Bann, der sein eigenes Boot, ihn selbst und seinen Sohn ein Jahr lang gegen alle Unbill des Meeres feite, denn die Fischer hier fürchten nichts so sehr wie die Tücken des Meeres.

Dieser gegen Stürme feiende Bann, auf den sie im nördlichen Inselreich so großen Wert legen, hat noch keinen Menschen vor Wind und Wellen des Sturmes gerettet, aber wenn er von einem Zauberer gewoben wird, der das Meer in der Gegend kennt und der über das Boot und die Geschicklichkeit des Schiffers Bescheid weiß, dann gewährt der Bann einen täglichen Schutz. Ged wirkte ihn sorgfältig und gewissenhaft, er arbeitete die ganze Nacht und den folgenden Tag daran, nichts ließ er aus, geduldig und sicher wob er ihn, obwohl seine von Furcht beschwerten Gedanken dunklen Pfaden folgten und ihm keine Ruhe ließen. Wiederholt versuchte er sich vorzustellen, welche Gestalt der Schatten jetzt angenommen haben mochte und wann und wo er auf ihn treffen würde. Als der Bann fertig und geschlossen war, fühlte sich Ged erschöpft. Die kommende Nacht schlief er in einer Hängematte aus Walfischdärmen und roch am nächsten Morgen wie ein getrockneter Hering. Er ging hinunter in die Bucht unterhalb des Katnordkliffs, wo sein neues Boot lag.

Er schob das Boot ins ruhige Wasser des seichten Ufers, und sofort stieg das Wasser im Innern des Bootes höher. Wie eine Katze so leicht sprang Ged ins Boot und begann, die verzogenen Planken geradezuziehen und die verfaulten Holznägel zu erneuern. Er arbeitete mit Werkzeug und Zauberformel, wie er es damals bei Peckvarry in Untertorning getan hatte. Die Bewohner des Dorfes sammelten sich um ihn, nicht zu nahe, schauten schweigend auf seine flinken Hände und hörten seiner ruhigen Stimme zu. Auch diese Arbeit verrichtete er sorgfältig und gewissenhaft, bis alles fertig war und das Boot abgedichtet und fahrbereit auf dem Wasser lag. Dann setzte er den Stab, den Ogion für ihn gemacht hatte, als Mast und festigte ihn mit Zauberformeln. Quer dazu brachte er eine kräftige meterlange Holzstange an, von der aus er auf dem Webrahmen des Windes ein viereckiges Segel wob, das so weiß wie der Schnee auf dem Gipfel von Gont war. Die zuschauenden Frauen seufzten vor Neid. Dann stellte er sich neben den Mast und zauberte einen leichten magischen Wind herbei. Das Boot bewegte sich hinaus aufs Meer und hielt auf die beiden Festungsklippen am Ende der großen Bucht zu. Als die Fischer, die Ged schweigend bei der Arbeit zugeschaut hatten, sahen, wie das Boot sich so sicher und geschwind bewegte wie ein Strandvogel auf seinen Schwingen, klatschten sie stürmisch Beifall, lachten und stampften mit den Beinen im kalten Wind, der über den Strand blies. Ged blickte kurz zurück und sah, wie sie ihm unter dem dunklen, vorspringenden Katnordkliff zuwinkten, über dem sich die Schneefelder des Berges hoch in die Wolken erstreckten.

Er segelte über die Bucht, durch die Festungskuppen, hinaus aufs gontische Meer. Er schlug einen nordwestlichen Kurs ein, der ihn an Oranea vorbeiführte und ihn zum Ausgangspunkt seiner letzten Reise zurückführte. Er folgte keinem Plan, er hatte kein festes Ziel, es sei denn, den Weg wiederzufinden, der ihn hierher geführt hatte. Wenn er seinen Falkenflug von Osskil zurückverfolgte, mußte er auf den Schatten stoßen, entweder direkt oder auf einem Umweg. Der Schatten konnte ihn, der so sichtbar übers offene Meer dahersegelte, nicht verpassen — außer er hatte sich wieder völlig ins Traumreich zurückgezogen.

Auf der offenen See wäre Ged ein Zusammentreffen am liebsten gewesen — wenn es schon dazu kommen mußte. Er war nicht sicher, warum er das vorzog, aber jedesmal, wenn er sich ein Zusammentreffen auf trockenem Land vorstellte, erfaßte ihn ein noch größeres Grauen. Das Meer gebiert Stürme und Ungeheuer, aber keine bösen Mächte: Das Böse entspringt der Erde. Und in dem finsteren Land, das Ged einst betreten hatte, gab es weder einen See noch eilig fließende Flüsse oder sprudelnde Quellen. Trockenes Land verheißt den Tod. Obwohl das Meer in dieser stürmischen, bitteren Jahreszeit gefährlich war, betrachtete Ged diese Gefahren, den schnellen Wetterumschlag, die Unbeständigkeit, die Stürme, nicht als Drohung, sondern eher als einen Schutz. Und wenn er dann am Ende dieses ganzen unsinnigen Unternehmens mit dem Schatten zusammentreffen würde, dann, so malte Ged sich aus, würde er dieses Unding mit seinem Körpergewicht hinunter in die Finsternis des Meers ziehen und dort mit dem Gewicht seines Todes für immer festhalten, damit es nie wieder emporsteigen konnte.

Dann würde er wenigstens im Tod dem Bösen, das er freigesetzt hatte, ein Ende bereiten.

Ged segelte über das vom Sturm wildbewegte Wasser unter tiefhängenden, treibenden Wolken, die wie riesige Trauerschleier aussahen. Er hatte keinen magischen Wind gerufen, sondern segelte mit dem Wind der Welt, der kräftig aus dem Nordosten blies. Solange er sein magisches Segeltuch aufrecht hielt — ein geflüstertes Wort ab und zu genügte —, mußte er sich nicht weiter ums Segeln kümmern: das Segel wendete und drehte sich allein und fing den Wind auf. Hätte er keine Magie verwendet, so wäre ihm das Segeln in diesem störrischen kleinen Boot auf dieser stürmischen See schwergefallen. Immer weiter entfernte er sich von Gont, scharf spähte er nach allen Seiten aus. Die Frau des Fischers hatte ihm zwei Laibe Brot und einen Krug voll Wasser mitgegeben, und nach einigen Stunden Fahrt, als er Kameberfels, die einzige Insel zwischen Gont und Oranea sichtete, aß und trank er und gedachte dankbar der schweigsamen Frau von Gont, die ihn mit Nahrung versorgt hatte. Ganz in der Ferne sah er Land liegen, aber er hielt nicht darauf zu, sondern kreuzte in mehr westlicher Richtung. Ein feiner, alles durchdringender Regen begann zu fallen, der über dem Land sicher als Schnee herunterkam. Außer dem Quietschen des Bootes und den Wellen, die an den Bug des Bootes klatschten, war kein Geräusch zu vernehmen. Kein anderes Schiff, keine Vögel waren zu sehen, nichts Lebendiges, nur das ewig ruhelose Meer und die fliehenden Wolken, an die er sich dunkel erinnerte, wie sie um ihn gewogt hatten, als er sie im schnellen Falkenflug, auf der gleichen Bahn, durchstoßen hatte; damals war er in östlicher Richtung geflogen, jetzt hielt er gen Westen; damals hatte er hinuntergeblickt aufs graue Meer, jetzt schaute er hinauf in den grauen Himmel.

Ged spähte scharf umher, doch die See um ihn herum war leer. Er stand auf, durchfroren und naß, er hatte das dauernde Starren ins leere, dunkle Nichts satt. »Dann komm doch her«, brummte er, »komm doch, worauf wartest du denn, Schatten?« Er erhielt keine Antwort, kein dunkleres Wesen hob sich von den dunklen Wellen im trüben Licht ab. Doch er spürte, daß das Unding nicht weit entfernt war, daß es sich blind an seiner kalten Fährte entlang bewegte. Plötzlich rief er laut: »Da bin ich, Ged, der Sperber, und ich gebiete meinem Schatten, zu erscheinen!«

Das Boot quietschte, die Wellen lispelten, der Wind zischelte im weißen Segel. Die Minuten verstrichen. Ged wartete. Mit der Hand hielt er sich am Stab aus Eibenholz fest, seine Augen durchbohrten den eisigkalten Regen, der in verzerrten Bahnen vom Nordwind übers Meer gepeitscht wurde. Die Minuten verstrichen. Dann sah er, im Regen über dem Wasser, den Schatten von weitem auf sich zukommen.

Er trug nicht mehr den Körper des osskilischen Ruderers Skihor, aber auch als Gebbeth war er Ged nicht durch Wind und Wetter gefolgt, auch nicht in der Tiergestalt, in der er auf dem Rokkogel erschienen war und Ged in seinen Träumen heimgesucht hatte, und doch hatte er eine Gestalt, er war jetzt selbst im Tageslicht sichtbar. Während der Verfolgung von Ged und im Kampf mit ihm hatte er ihm von seiner Macht entwendet und in sich aufgesogen; möglich ist auch, daß Geds lautes Gebieten im hellen Tageslicht ihm einen Körper, oder doch die Spur eines Körpers, verliehen oder aufgezwungen hatte. Nun war er unbestreitbar menschenähnlich, obwohl er, als Schatten, selbst keinen Schatten warf. Und so bewegte er sich übers Wasser, aus dem Rachen von Enlad kommend und auf Gont zustrebend, ein kaum sichtbares, ungefüges Wesen, das unsicher und halbblind über die Wellen tappte, das kein Hindernis für den Wind darstellte, der ungehindert durch dieses Wesen blies.

Weil der Schatten vom Tageslicht geblendet war und weil er ihn gerufen hatte, sah ihn Ged zuerst. Er erkannte ihn, genau wie der Schatten Ged erkannte und wie sie sich beide immer erkennen würden, überall, unter lebendigen und schattenhaften Wesen.

In der trostlosen Einsamkeit des winterlichen Meeres stand Ged und sah das, was er so sehr fürchtete. Der Wind schien es vom Boot wegzublasen, die Wellen eilten unter ihm dahin und verwirrten Geds Augen, doch stetig kam es übers Wasser näher. Ged konnte nicht feststellen, ob es stillstand oder sich bewegte. Jetzt hatte es ihn gesehen. Obgleich alle seine Sinne mit Entsetzen und Grauen vor einer Berührung erfüllt waren, obgleich er den kalten, schwarzen Schmerz wieder fühlte, der das Leben aus ihm sog, trotzdem stand Ged unbeweglich und wartete. Dann, plötzlich, rief er den magischen Wind herbei, der sofort seine Segel prall füllte, und sein Boot schoß über das bleierne Wasser direkt auf das Wesen zu, das schief im Wind hing.

Der Schatten hing noch einen kurzen Augenblick da, dann — zögernd — drehte er sich um und floh.

Gegen den Wind eilte er, in nördlicher Richtung. Gegen den Wind raste Geds Boot, Schattenhuschen gegen Magierkunst. Dem Regen waren beide ausgesetzt. Ged feuerte sein Boot, sein Segel, den Wind und die Wellen mit lauten Worten an wie ein Jäger, der seine Meute hetzt, wenn der Wolf in voller Sicht davonläuft. Er füllte seine Segel mit einem magischen Wind, der so stark war, daß er jedes von Menschenhand gewobene Segel zerrissen hätte, und der sein Boot wie einen Schaumfetzen übers Wasser jagte; er kam dem Gejagten immer näher.

Jetzt wandte sich der Schatten um und beschrieb einen Halbkreis; er sah plötzlich unbestimmter und undeutlicher aus, weniger menschlich, mehr wie Rauch, der vom Wind zerblasen wurde und der mit dem Wind im Rücken auf Gont zutrieb.

Mit Hand und Zauberwort drehte Ged sein Boot herum. Wie ein Delphin sprang es aus dem Wasser und rollte bei der schnellen Drehung. Schneller als zuvor jagte er dahin, aber der Schatten vor ihm wurde immer schwächer. Regen, Hagel und Schnee schlugen Ged auf den Rücken und auf seine linke Wange, er konnte keine hundert Meter weit sehen. Es dauerte nicht lange, und er verlor den Schatten aus den Augen. Doch Ged war seiner Fährte so gewiß, als folge er einer Tierspur im Schnee, anstatt einer Spukgestalt übers Wasser. Obwohl er den Wind im Rücken hatte, behielt Ged den magischen Wind im Segel, der Schaum sprühte vom stumpfen Bug, und das Schiff schoß pfeilschnell durch die Wellen.

Lange hielten sie, Verfolger und Verfolgter, ihren spukhaften, rasenden Lauf durch. Der Tag war kurz, die Dunkelheit kam schnell. Ged vermutete, daß sie bereits südlich von Gont waren und sich jetzt auf Spevy oder Torheven zu bewegten, oder vielleicht schon an diesen Inseln vorbeigeeilt waren und sich im Außenbereich befanden. Er konnte nicht feststellen, wo sie waren. Es war ihm auch einerlei. Er jagte, er verfolgte, und die Furcht eilte ihm voraus.

Doch plötzlich sah er den Schatten ganz kurz, und nicht weit entfernt, vor sich. Der Wind der Welt hatte nachgelassen, der Hagel hatte aufgehört, statt dessen kamen kalte, immer dichter werdende Nebelfetzen auf ihn zu. Dazwischen sah er ab und zu den Schatten, der rechts abgebogen war. Ged sprach zu dem Wind in seinem Segel, während er das Steuerruder herumdrehte, und folgte dem Fliehenden, aber es wurde eine blinde Jagd: der Nebel wurde immer dichter, er brodelte und wogte, und wenn er auf den magischen Wind traf, dann teilte er sich und schloß sich um so fester um das Boot, eine bleiche Masse ohne Anhaltspunkte, die Licht und Sicht ausschloß. Als Ged schon im Begriff war, Worte des Lösens und Teilens zu sprechen, sah er wieder den Schatten. Er war noch weiter nach rechts abgebogen und bewegte sich jetzt langsamer vorwärts. Der Nebel blies durch die gesichtslose, verschwommene Form seines Kopfes, doch war er jetzt gestaltet wie ein Mensch, nur änderte er sich stetig, wie es menschliche Schatten tun. Ohne die Geschwindigkeit seines Bootes zu verringern, drehte Ged auch weiter nach rechts, überzeugt, daß er nun seinen Feind in Grund und Boden gefahren habe, aber jählings spürte er, daß sein Boot auf Grund gelaufen war und an den flachen Felsen, die der Nebel verdeckt hatte, zerschellte. Ged wurde beinahe über Bord geworfen, aber er klammerte sich an seinen Mast, bevor die nächste Welle über ihm zusammenschlug. Sie war riesig; sie hob das kleine Boot aus dem Wasser empor und zertrümmerte es auf einem Felsen, wie ein Mensch ein Schneckenhaus hochhebt und zermalmt.

Stark und zauberkräftig war der Stab, den Ogion geschnitzt hatte. Er brach nicht entzwei, sondern schwamm trocken und leicht auf den Wellen. Ged hielt sich daran fest und wurde von den Wellen, die vom flachen, felsigen Ufer zurückprallten, ins tiefe Wasser getragen und bis zur nächsten Welle vor dem Zerschellen an den Felsen bewahrt. Vom Salzwasser halb blind und erstickt, versuchte er, seinen Kopf übers Wasser zu halten und sich gegen den ungeheuren Sog des Meeres zu stemmen. Neben den Felsen hatte er ein kleines Stück sandiges Ufer erspäht und versuchte, sich vom Sog freizuschwimmen, während die nächste Welle sich erhob. Mit seiner ganzen Kraft und mit Hilfe des Stabes mühte er sich, das sandige Ufer zu erreichen. Aber es kam nicht näher. Die an- und abschwellenden Wogen warfen ihn hin und her wie einen Lumpen. Die Kälte der Meerestiefe zog die Lebenswärme aus seinem Körper und schwächte ihn derart, daß er bald seine Arme nicht mehr bewegen konnte. Er sah weder Fels noch Strand und wußte nicht mehr, in welcher Richtung er trieb. Um ihn brandete das Wasser, es war unter und über ihm, es nahm ihm die Sicht, es würgte ihn, es zog ihn in die Tiefe.

Unter den Nebelfetzen schwoll eine Woge an, die ihn packte, ein paarmal herumrollte und wie ein Stück Treibholz ans Ufer warf.

Hier blieb er liegen. Mit beiden Händen hielt er den Stab aus Eibenholz umklammert. Kleinere Wellen spülten über ihn hin. Sie zogen und zupften und versuchten, ihn vom Sand herunter zurück ins Meer zu schwemmen. Über ihm teilte sich der Nebel und schloß sich wieder. Kurz darauf trommelte Hagel und Regen auf ihn nieder.

Lange Zeit lag er so, dann begann er sich zu regen. Auf Händen und Füßen kroch er langsam den Strand hinauf, weg vom Wasser.

Es war pechschwarz, doch er flüsterte zu seinem Stab, und ein kleines Werlicht flackerte auf an seinem Ende. Bei seinem Licht schleppte er sich mühsam vorwärts, die Düne hinauf. Er war so erschlagen, so erschöpft und so durchfroren, daß das Kriechen im nassen Sand, in der heulenden, vom Donner des Meeres erfüllten Dunkelheit das Allerschwerste war, was er je in seinem Leben getan hatte. Ein- oder zweimal war es ihm, als sterbe der Wind ab, und der nasse Sand unter seinen Händen zerfiel zu trockenem Staub. Er fühlte fremde Sterne regungslos auf seinen Rücken starren: er aber hob seinen Kopf nicht, sondern kroch weiter, und nach einer Weile hörte er wieder seinen eigenen keuchenden Atem, und er spürte den eisigen Wind, der den Regen in sein Gesicht peitschte.

Die Bewegung brachte etwas Wärme in seinen Körper, und als er zwischen den Dünen kroch, wo die Regenstöße weniger heftig waren, gelang es ihm, sich emporzuziehen und auf seinen Beinen zu stehen. Er sprach ein stärkeres Werlicht an seinen Stab, denn die Welt war stockfinster. Mit Hilfe seines Stabes, auf den er sich stützte, bewegte er sich langsam vorwärts, und stolpernd und strauchelnd, mit vielem Anhalten, legte er eine halbe Meile zurück. Schließlich stand er auf einer Düne und hörte das Meer so laut wie zuvor rauschen, aber nicht von hinten kam das Geräusch, sondern von vorne: die Düne neigte sich gegen einen anderen Strand. Er war auf keiner Insel gelandet, sondern auf einem Felsenriff, auf einer Handvoll Sand inmitten des weiten Ozeans.

Er war zu erschöpft, um zu verzweifeln. Er schluchzte einmal kurz auf, dann stand er, auf seinen Stab gestützt, eine lange Zeit regungslos und verloren da. Schließlich wandte er sich nach links, damit er den Wind im Rücken habe, und setzte beharrlich einen Fuß vor den anderen. So bewegte er sich die Düne hinunter und hielt Ausschau nach einer kleinen Vertiefung im hohen, eisbehangenen Schilf, die ihm wenigstens etwas Schutz gewähren würde. Als er den Stab hochhielt, um besser zu sehen, fiel sein Auge auf etwas stumpf glänzendes am Rande des Lichtkreises: eine Wand aus regennassem Holz.

Es war eine Hütte oder ein Verschlag, klein und wackelig, als ob es ein Kind gebaut hätte. Ged klopfte mit seinem Stab an die niedrige Tür. Sie wurde nicht geöffnet. Er stieß sie auf und trat ein. Er mußte sich tief bücken, und selbst drinnen konnte er nicht aufrecht stehen. Kohlen glühten rot im Feuer, und in ihrem schwachen Licht sah Ged einen alten Mann mit langem weißem Haar, der sich angstvoll zusammenkauerte und gegen die Wand preßte. Ein anderer, ob Mann oder Frau, konnte Ged nicht feststellen, spähte unter einem Haufen alter Lumpen und Felle auf dem Boden hervor.

»Ich tu euch nichts«, flüsterte Ged.

Doch sie antworteten nicht. Als er seinen Stab niederlegte, zog der unter den Lumpen seinen Kopf zurück und wimmerte. Ged streifte seinen vom Wasser und Eis schweren Umhang ab, zog sich nackt aus und setzte sich nahe ans Feuer. »Gebt mir etwas zu trinken«, bat er. Er war heiser und konnte kaum sprechen, seine Zähne klapperten, und lange Schauer schüttelten seinen Körper. Ob sie ihn verstanden hatten, wußte er nicht, keiner von beiden antwortete. Er streckte seine Hand aus und nahm einen Lumpen von der Bettstelle. Es mochte einmal ein Ziegenfell gewesen sein, vor vielen Jahren, jetzt war es zerrissen und starrte vor Schmutz. Der unter den Lumpen stöhnte vor Angst, doch Ged kümmerte sich nicht darum. Er rieb sich trocken und flüsterte dann: »Habt Ihr Holz? Schür das Feuer, Alter! Ich komme zu euch in großer Not. Ich tu euch nichts.«

Der alte Mann rührte sich nicht. Die Angst hielt ihn gefesselt, stumm starrte er Ged an.

»Verstehst du mich nicht? Sprecht ihr nicht hardisch?« Ged hielt inne, dann fragte er: »Kardisch?«

Bei diesem Wort nickte der alte Mann sofort, einmal nur, wie eine traurige, alte Marionette. Da es das einzige Wort war, das Ged in dieser Sprache kannte, nahm die Konversation ein endgültiges Ende. Er fand Holz, das an einem Ende der Wand gestapelt war, und legte selbst Scheite auf das Feuer. Dann gestikulierte er und bat um Wasser, denn es war ihm schlecht geworden von dem vielen Salzwasser, das er geschluckt hatte, und jetzt war seine Kehle ausgetrocknet. Sich krümmend, deutete der Alte auf eine große Muschel, die Wasser enthielt, und schob Ged eine andere Muschel mit Streifen von geräuchertem Fisch zu. Ged aß und trank ein wenig, und als er etwas gestärkt war und wieder klar denken konnte, begann er zu überlegen, wo er sich befand. Selbst unter magischem Wind konnte er nicht bis in die Länder von Kargad gesegelt sein. Dieses Felsenriff mußte im Außenbereich liegen, östlich von Gont, aber immer noch westlich von Karego-At. Es war seltsam, daß Leute so weit draußen wohnten, so einsam, auf einem Streifen Sand nur, aber er war zu erschöpft, um weiter darüber nachzudenken.

Ged hielt seinen Umhang von allen Seiten gegen das Feuer. Das silbrige Pellawifell trocknete rasch, und sobald der Wollstoff außen wenigstens warm — wenn auch nicht trocken — war, wickelte er sich in seinen Umhang und streckte sich beim Feuer aus. »Legt euch hin, ihr armen Leute«, sagte er zu seinen schweigsamen Gastgebern, und seinen Kopf auf den Sandboden legend, schlief er sofort ein.

Drei Nächte verbrachte er auf diesem namenlosen Eiland, denn als er am ersten Morgen erwachte, tat ihm alles weh, und er hatte Schüttelfrost. Wie ein Klotz aus Treibholz lag er den ganzen Tag und die kommende Nacht neben der Feuerstelle. Am anderen Morgen wachte er auf, steif und mit schmerzenden Gliedern, aber er war wenigstens nicht mehr krank. Er zog seine vom Salz verkrusteten Kleider wieder an, denn es gab nicht genügend Wasser, um sie zu waschen, und er trat hinaus in den grauen, windigen Morgen und ließ seine Blicke über diesen Ort schweifen, an den ihn der Schatten gelenkt hatte.

Die Insel war nichts weiter als ein halb mit Sand bedecktes Stück Fels, höchstens eine halbe Meile breit und nicht viel mehr in der Länge; sie war umgeben von Sandbänken und Felsenriffen. Die Hütte stand in einer Vertiefung zwischen den Dünen. Der alte Mann und die alte Frau lebten hier ganz allein in der erbarmungslosen Öde des weiten Meeres. Die Behausung war aus großen und kleinen Treibholzstücken gebaut oder vielmehr zusammengestapelt, eine spärliche Quelle neben der Hütte spendete Wasser, das salzig schmeckte. Sie ernährten sich von frischem und geräuchertem Fisch und Binsenkraut. Die zerrissenen Felle in der Hütte, die paar Nadeln und Angelhaken aus Bein und die Sehnen für Angel und Feuerbohrer stammten nicht von Ziegen, wie Ged ursprünglich angenommen hatte, sondern von Seehunden, denn dies war offensichtlich ein Ort, an dem Seehunde im Sommer ihre Jungen aufzogen. Sonst aber kam niemand hierher. Die beiden Alten fürchteten sich vor Ged, nicht weil sie glaubten, er sei ein Geist, oder weil er ein Zauberer war, sondern ganz einfach, weil er ein Mensch war. Sie hatten vergessen, daß es noch andere Menschen auf dieser Welt gab.

Die dumpfe Furcht des alten Mannes blieb bestehen. Wenn Ged so nahe kam, daß er ihn berühren konnte, humpelte er davon, und unter seinem strähnigen, schmutzigweißen Haarschopf warf er böse Blicke auf Ged. Die alte Frau, die zuerst gewimmert und sich unter ihren Lumpen versteckt hatte, als Ged gekommen war, hockte sich dann neben ihn, als er im Fieberhalbschlaf in der Hütte lag, und warf ihm seltsame, sehnsüchtige Blicke zu. Etwas später brachte sie ihm Wasser in einer Muschel zum Trinken. Als er sich aber aufsetzte und das Wasser von ihr nehmen wollte, bekam sie Angst und verschüttete alles; dann begann sie zu weinen und wischte sich mit ihren langen, weißgrauen Haarsträhnen die Augen.

Jetzt schaute sie ihm zu, wie er drunten am Strand Treibholz und Bretter von seinem angeschwemmten Boot mit der primitiven Steinaxt des Mannes und mit Zauberformeln zu einem neuen Boot formte. Was er hier machte, war weder eine Reparatur noch ein Bootbau, denn es fehlte ihm an richtigem Holz, und was er nötig hatte, mußte er durch Zauberkunst aufbringen. Doch die alte Frau blickte weniger auf seine Arbeit als auf ihn, mit dem gleichen sehnsüchtigen Ausdruck in ihren Augen. Nach einer Weile verschwand sie und kam mit einem Geschenk zurück: einer Handvoll Miesmuscheln, die sie an den Felsen gesammelt hatte. Ged aß sie so, wie die Alte sie ihm gab — roh und noch naß vom Meerwasser, und er dankte ihr für ihre Gabe. Das schien ihr Mut zu geben, und sie ging in die Hütte zurück und brachte ein Bündel, das in Lumpen gehüllt war. Ged nicht aus den Augen lassend, begann sie schüchtern das Ding auszuwickeln und hielt es in die Höhe.

Es war ein Kinderkleid aus Seidenbrokat, ganz mit Perlen besetzt, befleckt vom Salz und vergilbt von den Jahren. Die Perlen des kleinen Oberteils waren in einem Muster gestickt, das Ged kannte: der Doppelpfeil der göttlichen Brüder des Kargadreiches, und darüber war eine Königskrone.

Die alte Frau, die verrunzelt und schmutzig in einem schlecht genähten Seehundfell vor ihm stand, deutete auf das Kinderkleid, dann auf sich und lächelte, unschuldig und ohne Falsch, wie ein Kind. Aus einer geheimen Tasche, die in den Rock des Kleides eingenäht war, zog sie einen kleinen Gegenstand hervor und hielt ihn Ged hin. Es war ein Stück dunkles Metall, ein Schmuckstück, die Hälfte eines zerbrochenen Ringes. Ged schaute es an, aber sie ließ ihm keine Ruhe und war erst befriedigt, als er es annahm, dann nickte sie und lächelte wieder: jetzt hatte sie ihm ein Geschenk gemacht. Doch das Kleid wickelte sie wieder sorgfältig in die Lumpenhülle und humpelte zur Hütte zurück, um das prächtige Gewand wieder zu verstecken.

Ged steckte den zerbrochenen Ring mit der gleichen Sorgfalt in sein Wams. Sein Herz war voll Mitleid. Jetzt ahnte er, wer diese beiden sein konnten: Die Kinder irgendeines königlichen Hauses des Kargadreiches, die ein Tyrann oder ein Usurpator, der Angst gehabt hatte, königliches Blut zu vergießen, auf dieser winzigen Insel, die auf keiner Karte verzeichnet war, ausgesetzt und sie dort, weit weg von Karego-At, ihrem Schicksal überlassen hatte. Das eine war ein acht- oder zehnjähriger Junge, das andere ein rundliches Baby, eine kleine, in Seide und Perlen gehüllte Prinzessin gewesen, und sie waren nicht gestorben, sondern hatten weitergelebt, allein und einsam, vierzig oder fünfzig Jahre lang, auf einem Felsen mitten im weiten Ozean — ein Prinz und eine Prinzessin der Trostlosigkeit.

Aber erst Jahre später, als Ged auf seiner Suche nach dem Ring von Erreth-Akbe in kargische Lande und zu den Gräbern von Atuan kam, wurde seine Vermutung bestätigt.

Geds dritte Nacht auf der Insel lichtete sich zu einem ruhigen, bleichen Sonnenaufgang. Es war der Tag der Wintersonnenwende, der kürzeste Tag des Jahres. Sein kleines Boot aus Holz und Magie, aus Überresten und Zauberformeln, lag bereit. Er hatte versucht, die beiden Alten zu bewegen, mit ihm zu kommen. Er hätte sie gerne in ein anderes Land, nach Spevy, Gont oder den Torriklen mitgenommen, er hätte sie sogar an irgendeiner einsamen Küste von Karego-At abgesetzt, wenn sie ihn darum gebeten hätten, obwohl es für einen Bewohner des Inselreiches gefährlich war, sich in kargische Gewässer zu wagen. Aber sie wollten ihr unfruchtbares Inselchen nicht verlassen. Die alte Frau schien seine Gesten und seine ruhigen Worte nicht zu verstehen, der alte Mann verstand ihn und schüttelte hartnäckig den Kopf. Seine Erinnerung an andere Länder und andere Menschen bestand aus den Angstträumen eines Kindes: Träumen aus Blut, Riesen und Angstschreien. Ged konnte es in seinem Gesicht, in seinen Augen lesen, als er sich beharrlich weigerte mitzukommen.

So kam es, daß Ged an diesem Morgen, nachdem er seinen Behälter aus Seehundfell mit Wasser gefüllt hatte, allein das Felsriff verließ. Da er den Alten für Feuer und Nahrung nicht danken und der alten Frau — wie er es so gerne getan hätte — kein Geschenk geben konnte, sprach er ein Zauberwort über die salzige, unzuverlässige Quelle. Daraufhin sprudelte das Wasser so hell, klar und frisch aus dem Sand hervor wie ein Bergquell auf Gont und versiegte nie. Aus diesem Grund ist die Insel heute in den Karten eingetragen und hat einen Namen: die Seeleute nennen sie die Quelleninsel. Aber die Hütte steht nicht mehr, und die zahllosen Winterstürme hinterließen keine Spuren von den beiden, die einst hier wohnten und einsam und verlassen starben.

Sie blieben in der Hütte und versteckten sich, als hätten sie Angst zuzuschauen, wie Ged sein Boot vom sandigen Südende der Insel aus ins Wasser schob und davonfuhr. Er ließ den Wind der Welt, der stetig aus dem Norden blies, seine Segel aus magischem Tuch füllen und segelte hurtig über die See davon.

Diese Seefahrt Geds war eine kuriose Angelegenheit. Wohl wußte er, daß er Jäger war, aber er wußte nicht, was er jagte und wo in der Erdsee sich das, was er jagte, aufhielt. Er war gezwungen, sich auf sein Gefühl, sein Glück, seine Ahnung zu verlassen, auf die gleichen Eigenschaften, auf die sich auch das Wesen, das er verfolgte, verließ. Denn beide waren sie blind füreinander; Ged war unsicher, wenn er körperlose Schatten sah, der Schatten war verwirrt, wenn er im Tageslicht vor greifbaren Wesen und Dingen stand. Eine Gewißheit aber hatte Ged. Er war Jäger und nicht Gejagter, denn der Schatten, der ihn in die Felsen gelockt hatte, hätte ohne weiteres Besitz von ihm ergreifen können, als er bewußtlos und halbtot am Ufer lag und sich in der Dunkelheit im Sturm durch die Dünen schleppte, aber er hatte die Gelegenheit nicht wahrgenommen. Er hatte Ged ans Felsgestade gelockt und war dann geflohen; er hatte nicht gewagt, sich Ged zu stellen. Aus diesem Verhalten entnahm Ged, daß Ogion recht gehabt hatte: der Schatten konnte ihm nichts von seiner Macht wegnehmen, solange er, Ged, sich gegen ihn wandte. Und das mußte er auch weiterhin tun, nach ihm, hinter ihm her mußte er jagen, obwohl die Fährte, die über die weite See führte, jetzt kalt war und obwohl er keine Anhaltspunkte hatte, die ihm den Weg weisen konnten. Nichts hatte er, außer dem Wind der Welt, der ihn südwärts trieb, und einer dunklen Ahnung, daß er sich südlich oder östlich halten mußte.

Vor Sonnenuntergang sah er linkerhand ganz schwach die Küste eines riesigen Landes liegen. Das mußte Karego-At sein. Er mußte sich mitten in den Seewegen dieser weißen Barbaren befinden. Scharf spähte er aus, ob sich kein Langschiff oder keine Galeere in der Nähe befand, und als er durch den roten Sonnenuntergang segelte, erinnerte er sich wieder an seine Jugend und den ereignisreichen Morgen in Zehnellern, an die federgeschmückten weißen Krieger, das Feuer und den Nebel. Und als die Erinnerung dieses Tages mächtig in ihm wurde, erkannte er mit Gewissensskrupeln, daß der Schatten ihn mit seinen eigenen Tricks hereingelegt hatte, als er auf dem Meer den Nebel um ihn wob. Der Schatten hatte ein Ereignis aus seiner Jugend wiederholt: er hatte die gefährlichen Felsen mit Nebel verdeckt, um ihn in den Tod zu locken.

Er behielt weiterhin südöstlichen Kurs bei, und das Land versank am Horizont, als die Nacht sich über den Ostrand der Welt erhob. Die Wellentäler lagen im Schatten, während die Kämme im rötlichen Glanz des Westens schillerten. Ged sang laut die Winterhymne und alle Strophen, an die er sich erinnerte, von den Taten des jungen Königs, denn diese Lieder werden beim Fest der Wintersonnenwende gesungen. Seine Stimme war hell und klar, doch sie verlor sich in der Weite des schweigenden Meeres. Die Dunkelheit verbreitete sich rasch, und die Sterne begannen zu funkeln.

Die ganze Nacht, die längste des Jahres, blieb er wach. Er sah die Sterne zu seiner Linken aufgehen, sich über ihn bewegen und im schwarzen Meer zu seiner Rechten wieder versinken, während die anhaltenden Winde des Winters ihn südlich über die unsichtbare See trieben. Nur ganz kurz nickte er ab und zu ein, wachte aber immer sofort wieder auf, denn das Boot, in dem er segelte, war eigentlich gar kein Boot, sondern ein Gebilde aus Zaubertricks und Zaubersprüchen mit einigen Brettern und Treibholz dazwischen, die sich schnell auflösen und als Strandgut auf dem Wasser davonschwimmen würden, wenn seine formgebenden Zauberworte nicht dauernd erneuert worden wären. Auch das Segel würde nicht lange Leinwand bleiben, wenn er einschliefe, sondern wie eine kleine Wolke vom Wind davongepustet werden. Geds Zauberworte waren gut gewählt und mächtig, aber wenn die Materie gering ist, dann muß die Macht, die sie zusammenhält, dauernd erneuert werden: und daher konnte er in der Nacht nicht schlafen. Es wäre einfacher gewesen, sich in einen Falken oder in einen Delphin zu verwandeln, und er wäre schneller vom Fleck gekommen, aber Ogion hatte ihn davor gewarnt, und er schätzte Ogions Rat. So segelte er südlich, unter den nach Westen ziehenden Sternen, und die lange Nacht verstrich langsam, bis endlich der erste Tag des neuen Jahres sein Licht übers Wasser ausbreitete. Bald nach Sonnenaufgang sah Ged Land vor sich liegen, aber er näherte sich ihm nur sehr langsam. Der Wind der Welt war fast abgestorben. Er rief einen leichten magischen Wind in sein Segel und ließ sich gegen das Land treiben. Beim Anblick des Landes hatte sich die Furcht wieder in sein Herz geschlichen, das wachsende Grauen, das ihn zum Fliehen, zum Weglaufen trieb. Aber er folgte diesem Grauen, wie der Jäger einer Spur folgt, der breiten, wuchtigen, klauenförmigen Spur eines Bären, der jeden Augenblick aus dem Dickicht brechen konnte. Er wußte, daß sein Feind nahe war: er spürte es.

Das Land, das er immer deutlicher vor sich liegen sah, hatte seltsame Konturen. Was von der Ferne wie eine große, steile Felsküste ausgesehen hatte, entpuppte sich beim Näherkommen als eine Anzahl steiler Felsen, einzelne Inseln vielleicht, die durch schmale Meeresstraßen getrennt waren. Ged hatte im Einsamen Turm bei Meister Namengeber viele Landkarten und Seekarten studiert, aber sie waren meist vom Inselreich und Innenmeer gewesen. Jetzt befand er sich aber im Ostbereich, und diese Inseln waren ihm unbekannt. Doch das kümmerte ihn wenig. Das Fürchterliche versteckte sich dort, es wartete auf ihn, irgendwo an den Hängen und Wäldern der Insel, und er steuerte direkt darauf zu.

Jetzt ragten die waldbedeckten Felskliffe hoch über ihm, und der Gischt der an den Felsen zersprühenden Wellen zerstob an seinem Segel, als ihn der magische Wind zwischen zwei Vorgebirgen hindurch in eine Art Bucht trieb, die sich lang und schmal, nicht breiter als zwei Galeeren, tief ins Innere des Landes erstreckte. Das Meer, beengt und bedrängt von den Klippen, schlug ungestüm gegen die steilen Felswände. Kein Strand war zu sehen, denn die Felsen fielen steil ab ins Meer, das im kalten Schatten der hohen Felsen schwarz vor Ged lag. Kein Wind regte sich, kein Laut war zu hören.

Der Schatten hatte ihn in Osskil aufs Meer gelockt, im Nebel hatte er ihn zwischen die Felsen geführt, war dies hier der dritte Trick? Hatte er, Ged, den Schatten hierher getrieben, oder hatte der Schatten ihn in eine Falle gelockt? Ged wußte es nicht. Er litt nur unter dem Entsetzen und dem Grauen, das ihn folterte, und er wußte, daß er nicht aufgeben konnte, daß er vollenden mußte, was er angefangen hatte: dem Bösen mußte er nachjagen, dem Entsetzlichen mußte er bis zu seinem Ursprung folgen. Ganz vorsichtig steuerte er sein Boot, nach allen Richtungen hielt er Ausschau, seine Blicke glitten aufmerksam die Felswände auf und ab. Das Sonnenlicht des jungen Morgens lag hinter ihm auf der offenen See. Hier war alles dunkel. Die Öffnung zwischen den Vorgebirgen lag wie ein fernes, helles Tor weit hinter ihm. Die Felswände wurden höher, als er sich dem Berg näherte, von dem sie ihren Ursprung nahmen, und die Wasserstraße wurde schmaler und schmaler. Er spähte in die dunkle Kluft vor sich und blickte links und rechts auf die steilen, von Felsbrocken besäten und von Höhlen vernarbten Abhänge, an die sich knorrige Bäume klammerten, deren Wurzeln halb in der Luft hingen. Nichts rührte sich. Er hatte das Ende der Bucht erreicht. Das Meer, das hier nicht breiter als ein Bach war, schlug in kleinen, schwachen Wellen gegen eine hohe, leere, schrundige Felswand. Abgebrochene Felsstücke, verfaulte Baumstämme und die Wurzeln knorriger Bäume ließen nicht viel Raum zum Steuern. Es war eine Falle, eine dunkle Falle unter den Wurzeln des schweigsamen Berges, und er saß mittendrin. Nichts rührte sich vor ihm oder über ihm. Alles war totenstill. Er konnte nicht mehr weiter.

Vorsichtig wandte er das Boot herum — mit Zauberspruch und Ruder arbeitend, damit es nicht an einem vom Wasser verdeckten Felsen zerschelle oder an einer der Wurzeln oder einem der Zweige hängenbliebe —, bis er wieder dorthin schaute, woher er gekommen war. Er war gerade im Begriff, einen magischen Wind in sein Segel zu rufen, als die Worte auf seinen Lippen erstarben und das Herz in seiner Brust eiskalt wurde. Er blickte über die Schulter: der Schatten stand hinter ihm im Boot.

Hätte er eine Sekunde gezögert, so wäre er verloren gewesen. Aber er war bereit. Er warf sich auf das Wesen, das in Armeslänge unbestimmt vor ihm wankte, um es zu packen und festzuhalten. Keine Zauberkraft konnte ihm jetzt helfen, nur seine eigene Stärke, sein eigenes Leben gegen das Unlebendige. Er sprach kein Wort, sondern stürzte sich darauf, das Boot rollte und schlingerte unter der plötzlichen Bewegung. Ein stechender Schmerz durchlief seinen Arm, erfüllte seine Brust und benahm ihm den Atem. Eiseskälte durchrann seine Glieder, und er sah nichts mehr: doch seine Hände, die nach dem Schatten gegriffen hatten, hielten nichts — nur Dunkelheit, nur Luft.

Er strauchelte und ergriff den Mast, um sich festzuhalten. Licht schoß zurück in seine Augen. Er sah, wie der Schatten vor ihm zurückschauderte und zusammenschrumpfte, dann wuchs er wieder an und streckte sich aus, riesig, über das Segel hinaus, aber nur einen Augenblick lang, dann ballte er sich wie schwarzer Rauch im Wind zusammen und floh, eine formlose Masse, übers Meer, auf die helle Spalte zwischen den Felsen zu.

Ged fiel auf die Knie. Das kleine, aus Zauberworten geflickte Boot rollte noch einmal, dann schaukelte es sich allmählich aus, bis es still lag und auf den ruhelosen Wassern dahintrieb. Er sank in sich zusammen, betäubt, halb bewußtlos, nach Atem ringend, bis er kaltes Wasser unter seinen Händen spürte, das im Boot aufgestiegen war und ihn mahnte, seine inzwischen schwach gewordenen Zauberformeln zu erneuern. Er stand auf und hielt sich am Stab fest, er wirkte seine Bindeformeln, so gut er es vermochte. Er war durchfroren und todmüde, seine Hände und Arme schmerzten, und er fühlte, daß er keine Kraft mehr besaß. Er sehnte sich danach, sich niederzulegen, tief unten, wo sich Berg und Meer trafen und zu schlafen, immerfort zu schlafen, dort unten auf dem ewig schaukelnden Wasser.

Es war ihm nicht möglich, festzustellen, ob seine Erschöpfung von dem vor ihm fliehenden Schatten ausging oder ob sie von der eisigen Berührung herrührte oder ob sie ganz einfach von Hunger, Schlaflosigkeit und Kräfteverlust kam, aber gleichgültig, woher sie stammte, er kämpfte dagegen an und zwang sich, einen leichten magischen Wind aufzubringen und dem Schatten über die schmale, dunkle Bucht zu folgen, durch die er geflohen war.

Aller Schrecken war vorbei, alle Kampflust war vergangen. Die Jagd war vorüber. Er war kein Verfolger und kein Verfolgter mehr. Zum dritten Mal waren sie zusammengestoßen und hatten sich berührt. Er hatte sich aus eigenem Antrieb gegen den Schatten gewandt und versucht, ihn zu ergreifen und festzuhalten. Nun bestand zwischen ihnen ein unzerreißbares Band, eine Verbindung, die keine schwache Stelle besaß. Er brauchte dem Schatten nicht mehr nachzujagen, er mußte seine Fährte nicht mehr suchen, auch der Schatten konnte nicht mehr davoneilen. Keiner von beiden konnte entfliehen. Zeit und Ort ihres letzten Zusammentreffens waren bestimmt, und wenn sie wieder aufeinandertrafen, würde es zum letzten Kampf kommen.

Aber bis zu dem Zeitpunkt gab es keinen Frieden für Ged, weder bei Tag noch bei Nacht, weder auf dem Land noch auf der See. Jetzt wußte er, und das Wissen war bitter, daß seine Aufgabe nicht darin bestand, das, was er getan hatte, wiedergutzumachen, sondern das, was er begonnen hatte, zu vollenden.

Er segelte durch das dunkle Felsentor hinaus aufs Meer, auf dem der helle, weite Morgen lag. Ein mäßiger Wind blies aus dem Norden.

Er trank das restliche Wasser, das noch im Seehundfell war, und steuerte um das westliche Vorgebirge herum und in eine breite Meeresstraße hinein, die das Vorgebirge von einer zweiten Insel weiter westlich trennte. Jetzt wußte er, wo er sich befand. Er erinnerte sich an die Seekarten des Ostbereiches. Dies hier waren die Hände, zwei Inseln, die ihre gebirgigen Finger nach Norden gegen Kargad streckten. Zwischen den beiden Inseln segelte er, und als sich gegen Nachmittag Wetterwolken im Norden zusammenzogen, ging er an der Südküste der westlichen Insel an Land. Er hatte ein kleines Dorf erspäht, das oberhalb des Strandes an einem Bach lag, der munter den Berg herunterplätscherte und sich in die See ergoß. Es war ihm gleichgültig, wie man ihn dort aufnahm. Er sehnte sich nur nach frischem Wasser, der Wärme des Feuers und nach Schlaf.

Die Dorfbewohner waren einfache, schlichte Leute, beeindruckt vom Zauberstab, mißtrauisch jedem Fremden gegenüber, aber gastfreundlich zu einem, der allein übers Meer zu ihnen kam und vor einem Sturm Schutz suchte. Sie boten ihm Fleisch und Trank an, soviel er wollte, und sie gaben ihm einen Platz am Feuer, sprachen mit ihm in seiner eigenen Sprache, und was am allerbesten war, sie gaben ihm heißes Wasser, das die Kälte aus seinen Gliedern und das Salz von seiner Haut wusch, und sie bereiteten ihm ein Bett für die Nacht.

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