Während des Frühlings sah Ged wenig von Vetsch und Jasper, denn als Zauberer durften sie mit dem Meister der Formgebung in der Abgeschlossenheit des Immanenten Haines studieren. Kein Lehrling durfte seinen Fuß dorthin setzen. Ged blieb im Großhaus bei den anderen Meistern und lernte die verschiedenen Künste der Zauberei, die von denen ausgeübt werden, die Magie wirken, aber keinen Stab tragen: das Wind- und Wettermachen, das Finden und Binden, die Künste der Wahrsager, Sänger, Heil- und Kräuterkundigen. Des Nachts in seiner Zelle, mit einem Buch und einem Werlicht, das ihm als Lampe oder Kerze diente, studierte er die Sonderrunen und die Runen von Éa, die für die Hauptzauberformeln benutzt werden. All diese Künste fielen ihm leicht, und unter den Schülern wurde gemunkelt, daß der eine oder andere Meister den Jungen aus Gont für den begabtesten hielt, der je in Rok gewesen war. Gerüchte gingen auch um, die den Otak für einen verwunschenen Geist hielten, der Ged seine Geheimnisse zuflüsterte, und es gab auch welche, die behaupteten, daß der Rabe des Erzmagiers Ged als den »zukünftigen Erzmagier« willkommen geheißen hätte. Aber ganz gleich, ob sie nun an diese Gerüchte glaubten oder nicht, ob sie Ged mochten oder nicht, die meisten Mitschüler bewunderten ihn und warteten nur darauf, mit ihm zu spielen, wenn ihn, was selten vorkam, die Lust dazu packte und er sich als Anführer zu ihnen gesellte und in wildem Spiel während der immer länger werdenden Frühlingsabende mit ihnen herumtobte. Die meiste Zeit jedoch kannte er nur seine Arbeit, und sein Stolz und sein leicht aufbrausendes Wesen sonderten ihn ab. Keiner unter ihnen stand ihm nahe. Vetsch war abwesend, und er wußte nicht, daß er sich nach einem Freund sehnte.
Ged war erst fünfzehn Jahre alt und für einen, der bereits in die Künste der stabtragenden Zauberer und Magier eingeweiht wurde, sehr jung; aber er lernte die Illusionskünste so rasch, daß der Meister der Verwandlungen, der selbst noch ziemlich jung war, bald anfing, Ged gesondert von den anderen Schülern zu unterrichten. Er erzählte ihm von der wahren Verwandlungskunst, wie bei jeder Verwandlung das Ding, das verwandelt wird, erst umbenannt werden und diesen neuen Namen behalten muß, solange die Verwandlung anhält. Er stellte ihm vor, welchen Einfluß dieses verwandelte Etwas auf die Namen und Wesen der ihn umgebenden Dinge ausübt. Er sprach von den Gefahren, die bei einer Verwandlung bestehen, vor allem, wenn ein Zauberer sich selbst verwandelt und Gefahr läuft, in seinem eigenen Bann gefangen zu werden. Und nach und nach begann er — gewiß, daß der Knabe ihm folgen konnte — mehr zu tun, als nur von den Mysterien der Verwandlungen zu reden. Er lehrte ihn zunächst die eine, dann die andere Verwandlungsformel und gab ihm das Buch der Verwandlungen zu lesen und zu studieren. Dies alles geschah ohne Wissen des Erzmagiers, und es war nicht weise gehandelt, aber die Absichten des Meisters waren lauter.
Es war Ged nun auch vergönnt, mit dem Meister des Gebietens zu arbeiten, aber dieser Meister war gestreng. Die ernste und gefährliche Zauberkunst, die er lehrte, hatte ihn rasch altern lassen und zu einem harten Mann gemacht. Er hatte nichts mit Illusionen zu tun, seine Kunst war die der wahren Magie. Er gebot den Energiequellen, wie dem Licht, der Wärme und der Kraft, die eine Magnetnadel zu sich dreht, und all den Kräften, die der Mensch als Gewicht, Gestalt, Farbe und Ton wahrnimmt. Es waren Kräfte, die aus dem unendlichen, grenzenlosen Weltall stammen, die keines Magiers Sprüche weder erschöpfen noch aus dem Gleichgewicht zu bringen vermögen. Die Künste des Wettermachers und Seemeisters, die den Winden und dem Wasser gebieten, waren den Schülern nicht neu, aber von diesem Meister lernten sie, warum der wahre Zauberer die Künste nur dann wirkt, wenn die Not ihn dazu zwingt, denn das Herbeirufen dieser elementaren Kräfte verändert die Erde, von der sie schließlich selbst ein Teil sind. »Regen in Rok kann Dürre in Osskil bedeuten«, sagte er. »Und eine Meeresstille in den Ostbereichen kann zu Sturm und Zerstörung im Westen führen, falls ihr nicht genau wißt, was ihr tut.«
Über die Kunst, die ein Zauberer und Magier als das Höchste betrachtet und die seine ganze Macht unter Beweis stellt, das Herbeirufen lebendiger Wesen und Menschen, das Erwecken der Toten und das Sichtbarmachen des Unsichtbaren, darüber sprach der Meister des Gebietens kaum. Ged versuchte ein- oder zweimal ihn zu veranlassen, mehr über diese tiefsten Geheimnisse seiner Kunst zu sagen, aber er schaute ihn nur lange und durchdringend an, worauf Ged unruhig wurde und nicht weiter fragte.
Manchmal stahl sich diese Unruhe auch in sein Herz, wenn er mit den niedrigeren Formeln des Gebietens arbeitete. Bestimmte Runen auf bestimmten Seiten des Runenbuches kamen ihm bekannt vor, obwohl er sich nicht erinnerte, in welchem Buch er sie schon gesehen hatte. Es gab auch bestimmte Sätze, die bei gewissen Beschwörungsformeln ausgesprochen werden mußten, die ihm nicht leicht über die Lippen flossen. Es war ihm dann, nur einen kurzen Augenblick lang, als sähe er Schatten in einem dunklen Raum, als stünde er hinter einer geschlossenen Tür, und ein Schatten an der Türecke versuche, nach ihm zu greifen. Er bemühte sich dann immer sofort, diese Gedanken und Erinnerungen zu verscheuchen, und versuchte sich einzureden, daß diese Momente voll Furcht und Dunkelheit nur die Schatten seiner Unwissenheit waren. Je mehr er lernte, desto weniger würde er sie zu fürchten haben, bis er schließlich, nachdem er alle Künste des Zauberwesens gemeistert hatte, gar nichts mehr auf dieser Welt zu fürchten hatte.
Im zweiten Sommermonat versammelte sich die ganze Schule im Großhaus, um das Mondfest und den Langtanz zu feiern. Beide Feste fielen dieses Jahr zusammen, was nur alle zweiundfünfzig Jahre einmal vorkam. Es wurden Festlichkeiten geplant, die sich über zwei Nächte erstreckten. In der ersten Nacht, der kürzesten des Jahres, spielten die Flöten draußen auf dem Feld, während die Straßen von Thwil vom Trommelschlag widerhallten und von Fackeln erleuchtet wurden; über die mondhelle Bucht klang der Gesang vieler Stimmen. Bei Sonnenaufgang stimmte der Meister der Lieder den großen Gesang von den Taten von Erreth-Akbe an, der beschreibt, wie die weißen Türme von Havnor errichtet wurden, wie Erreth-Akbe von der Urinsel Éa aus durch das ganze Inselreich und die Außenbereiche bis ans äußerste Ende des Westens fuhr und wie er dort, am Ende des offenen Meeres, auf den Drachen Orm stieß; er sang von Erreth-Akbe, dessen Gebeine unter zertrümmerter Rüstung dort an der einsamen Küste von Selidor zwischen den Überresten des Drachen liegen, dessen Schwert aber den höchsten Turm von Havnor krönt, und das rot glüht, wenn die Sonne im Innenmeer untergeht.
Als der Gesang zu Ende war, begann der Langtanz. Städter und Meister, Schüler und Bauern, Männer und Frauen, alle tanzten in der Dämmerung und Dunkelheit draußen auf den Straßen von Thwil hinunter zum Strand, begleitet von den Schlägen der Trommel und dem Trillern der Flöten und Pfeifen. Sie tanzten immer geradeaus, hinaus aufs Meer unter dem Mond, der nur einen Tag älter als der Vollmond war. Die Musik verlor sich allmählich im Getöse der Brandung. Als der Himmel sich im Osten zu lichten begann, kehrten sie wieder zurück zum Strand und bewegten sich die Straßen aufwärts. Die Trommeln waren verstummt, nur die Flöten tönten leise und schrill. Auf jeder Insel im Inselreich wurde in dieser Nacht das gleiche Zeremoniell abgehalten, derselbe Tanz, dieselbe Musik verbanden die vom Meer getrennten Länder.
Erschöpft vom Langtanz, schliefen die meisten Leute den Tag über und trafen sich erst abends wieder, um Speis und Trank gemeinsam einzunehmen. Im Großhaus hatte sich eine Gruppe von Lehrlingen und Zauberern zusammengetan, die ihre Abendmahlzeit vom Refektorium hinaus in den Innenhof trugen, um unter sich zu sein. Unter ihnen befanden sich auch Vetsch, Jasper und Ged, sowie einige vom Einsamen Turm, die man für die Festlichkeiten kurz entlassen hatte. Die ungefähr fünfzehn Burschen aßen und lachten und amüsierten sich großartig. An ausgefallenen Ideen fehlte es nicht, sie übertrafen einander an Einfallen und zauberten Kunststücke, die einem Königshof Ehre gemacht hätten. Einer der Jungen sorgte für die Beleuchtung des Hofes: über hundert Werlichtsterne, wie Schmuckstücke schillernd, formten ein Netz zwischen ihnen und den Sternen des Himmels; zwei andere Jungen kegelten mit grünen Lichtkugeln und verzauberten Kegeln, die wegsprangen, wenn sich die Kugel näherte; Vetsch saß mit überkreuzten Beinen über ihnen in der Luft und aß gebratene Hähnchen; einer der Jungen versuchte, ihn herunterzuziehen, aber Vetsch lächelte nur überlegen und schwebte etwas höher, außer Reichweite; ab und zu warf er Hühnerbeine in die Luft, die sich in Eulen verwandelten und schreiend durch das Netz der Sternlichter davonflatterten; Ged schoß sie ab mit Brotkrümeln, die sich in Pfeile verwandelten, und sie fielen herunter und lagen als Krume und Knochen auf der Erde; er versuchte auch, wie Vetsch in der Luft zu schweben, aber da er den Schlüssel zu dieser Formel nicht kannte, mußte er heftig mit seinen Armen rudern, um in der Luft zu bleiben, und alle lachten über sein holpriges Fliegen und Flattern. Er selbst lachte so herzhaft mit, daß er nicht aufhören konnte, um sich zu schlagen, und je mehr er schlug, desto lauter lachten sie alle zusammen. Ged war übermütig und ausgelassen nach den zwei langen Nächten voll Mondschein und Tanz, Musik und Zauberei, und er war bereit, es mit jedem aufzunehmen.
Endlich kam er wieder herunter und landete federnd neben Jasper, der nie laut lachte und jetzt — etwas von Ged abrückend — sagte: »Sieh da, der Sperber, der nicht fliegen kann…«
»Ist Jasper-Jaspis nicht ein Edelstein?« erwiderte Ged lachend. »Oh, du Juwel unter uns Zauberern, oh, du Schmuckstück von Havnor, strahle für uns!«
Der Junge, der die Werlichtsterne über ihnen tanzen ließ, brachte einen davon herunter und ließ ihn Jaspers Kopf umkreisen. Jasper verlor etwas von seiner gewohnten Selbstsicherheit. Er verscheuchte das Licht ärgerlich und brachte es mit einer Handbewegung zum Erlöschen. »Ich habe genug von Kindern, Krach und Dummheiten«, grollte er.
»Du wirst eben alt, mein Junge«, meinte Vetsch von oben herab.
»Für den, der die Stille und Trübsal liebt, bleibt ja noch immer der Turm«, schlug einer der jüngeren Burschen vor.
Ged fragte Jasper: »Was wollen Sie denn dann?«
»Ich suche den Umgang mit Ebenbürtigen«, erwiderte Jasper. »Komm, Vetsch, überlassen wir die Kinder ihren Kindereien.«
Ged wandte sich ihm zu: »Was hat denn ein Zauberer einem Lehrling voraus?« fragte er. Seine Stimme war ruhig, doch plötzlich verstummte alles. In seinem Ton und in Jaspers Stimme lag so viel Schärfe, daß die Feindschaft zwischen ihnen offenbar wurde wie ein aus der Scheide gezogenes blankes Schwert.
»Macht«, sagte Jasper.
»Meine Macht ist so groß wie die Ihre, in jeder Kunstart.«
»Fordern Sie mich heraus?«
»Ich fordere Sie heraus.«
Vetsch war auf den Boden geplumpst und schob sich nun mit entschlossener Miene zwischen beide. »Ihr wißt genau, daß es uns untersagt ist, Zauberduelle abzuhalten. Hört auf!«
Aber Ged und Jasper schwiegen. Natürlich kannten sie das Gesetz von Rok, und sie wußten auch, daß es nur Güte war, die Vetsch zum Einschreiten trieb, während in ihnen der Haß brannte. Trotzdem schürten seine Worte nur das Feuer, anstatt es zu lindern. Sekunden vergingen. Dann trat Jasper etwas zur Seite, als ob er nur mit Vetsch sprechen wollte, und sagte mit überlegenem Lächeln: »Es wäre vielleicht gut, wenn du den Geißenhirten noch einmal an das Gesetz erinnertest, das ihn beschützt. Er sieht verstimmt aus. Ich möchte wissen, ob er wirklich erwartet hat, daß ich mich von ihm fordern ließe, einem Hirtenbuben, der nach Ziegen stinkt und noch nicht einmal etwas von der Erstverwandlung weiß.«
»Jasper«, sagte Ged, »was wissen Sie denn von dem, was ich weiß?«
Einen kurzen Augenblick lang war Ged vor ihren Augen verschwunden, ohne daß sie ihn ein Wort hätten sprechen hören. Dort, wo er gestanden hatte, flatterte ein mächtiger Falke, seinen gekrümmten Schnabel zum Schrei geöffnet. Der Augenblick verging. Ged stand wieder vor ihnen im Licht der flackernden Fackeln, und sein dunkler Blick war auf Jasper geheftet.
Jasper war erstaunt zurückgewichen, aber jetzt zuckte er nur die Achseln und sagte: »Eine Illusion.«
Die anderen flüsterten untereinander. Vetsch sagte: »Das war keine Illusion. Das war eine richtige Verwandlung. Und damit seiʹs genug. Jasper, hör zu…«
»Damit hat er nur bewiesen, daß er heimlich, hinter dem Rücken des Meisters, im Buch der Verwandlungen las. Was hat er denn noch gemacht? Verraten Sieʹs uns doch, Ziegenhirte! Es macht mir Spaß, zuzuschauen, wie Sie Ihre eigene Grube graben. Je mehr Sie versuchen, mir ebenbürtig zu sein, desto besser sieht man, wer Sie sind.«
Das war zuviel für Vetsch, und er wandte sich von Jasper ab und sagte leise zu Ged: »Sperber, bitte sei ein Mann, und mach nicht weiter… Komm, laß uns gehen…«
Ged schaute seinen Freund lächelnd an und sagte: »Kannst du Hög eine Weile halten für mich, bitte?« Er nahm den kleinen Otak herunter, der wie gewöhnlich auf seiner Schulter ritt, und setzte ihn in Vetschens Hände. Noch nie hatte sich der Otak von einem anderen berühren lassen, aber nun blieb er bei Vetsch, und seinen Arm hinaufkletternd kauerte er sich auf dessen Schulter. Seine großen, glänzenden Augen ließen aber keinen Augenblick lang ab von seinem Herrn.
»Nun, Jasper«, Geds Stimme war genauso gelassen wie zuvor, »was werden Sie tun, um Ihre Überlegenheit zu beweisen?«
»Ich müßte gar nichts tun, Ziegenhirte, aber ich werde etwas tun. Ich gebe Ihnen nämlich eine Gelegenheit — eine gute Gelegenheit. Der Neid frißt an Ihnen wie der Wurm am Apfel. Nun ja, lassen wir doch den Wurm herauskommen. Damals am Rokkogel brüsteten Sie sich, daß sich gontische Zauberer in keine Spielereien einlassen. Nun, gehen Sie jetzt zum Rokkogel, und zeigen Sie uns, was man sonst in Gont macht. Und danach zeige ich Ihnen vielleicht etwas, was man wirklich Zauberei nennen kann.«
»Ja, das würde ich mir ganz gerne anschauen«, antwortete Ged. Die jüngeren Burschen, die daran gewöhnt waren, Ged beim kleinsten Verdacht einer Beleidigung aufbrausen zu sehen, staunten nun über seine Gelassenheit. Vetsch aber betrachtete ihn nicht mit Erstaunen, sondern mit Besorgnis. Noch einmal versuchte er, sich einzuschalten, aber Jasper sagte: »Misch dich nicht ein, Vetsch! Wie werden Sie denn die Gelegenheit nutzen, Ziegenhirte, die ich Ihnen gegeben habe? Werden Sie uns eine Illusion vorspiegeln, einen Feuerball vielleicht, oder haben Sie einen Heilsegen für die Krätze Ihrer Ziegen zur Verfügung?«
»Was würden Sie denn gerne sehen, Jasper?«
Der Ältere hob die Schultern. »Rufen Sie doch einen Geist aus dem Totenreich herbei, mir ist alles recht!«
»Gut, das werde ich tun.«
»Nein, das werden Sie nicht tun«, Jasper starrte ihn an. Wut flammte in seinen Augen, seine Arroganz war erschüttert. »Das werden Sie nicht tun. Sie können es nicht tun. Sie spielen sich auf…«
»Bei meinem wahren Namen, ich tue es.«
Alle standen wie vom Donner gerührt.
Ged machte sich los von Vetsch, der ihn mit schierer Körperkraft zurückhalten wollte. Dann verließ er den Innenhof, ohne einen Blick zurückzuwerfen. Die tanzenden Werlichtsterne sanken langsam zur Erde. Jasper zögerte eine kurze Weile, dann folgte er Ged; und die übrigen folgten zögernd, ohne miteinander zu reden, neugierig und furchtsam.
Die Hänge des Rokkogels streckten sich schwarz in die Dunkelheit einer Sommernacht kurz vor Mondaufgang. Die Nähe des Berges, wo so viele Wunder gewirkt wurden, bedrängte sie, und es war ihnen, als laste selbst die Luft auf ihnen. Als sie auf der Berghalde standen, mußten sie an die Wurzeln dieses Hügels denken, die tief, tiefer als das Meer, hinunterreichten bis zu den uralten, blinden und geheimnisvollen Feuern, die in der Erdmitte lodern. Am Osthang blieben sie stehen. Die Sterne erhoben sich funkelnd über dem schwarzen Gras des Bergrückens.
Ged stieg etwas höher hinauf als die anderen und drehte sich nach ihnen um, während er mit klarer Stimme fragte: »Jasper! Wessen Geist soll ich rufen?«
»Rufen Sie, wen Sie wollen. Es wird Ihnen ja doch niemand folgen.« Jasper verschluckte sich beim Sprechen, vielleicht ärgerte er sich.
Geds Stimme dagegen klang milde und spöttisch: »Haben Sie etwa Angst?«
Er wartete Jaspers Antwort nicht ab, vielleicht gab er gar keine. Ganz plötzlich war ihm Jasper egal. Hier auf dem Rokkogel spürte er weder Haß noch Zorn, nur eine tiefe Gewißheit erfüllte ihn. Er brauchte keinen zu beneiden. Seine Macht, das fühlte er, war hier auf diesem dunklen Boden voll magischer Kräfte größer denn je. Sie erfüllte und drängte ihn, und er erbebte vor ihrer Gewalt. Jetzt wußte er, daß Jasper weit unter ihm stand, daß er vielleicht nur gesandt war, um ihn heute nacht hierher zu locken, daß er bestimmt kein Rivale, sondern wahrscheinlich nur ein Mittel war, das der Erfüllung seines, Geds, Schicksals diente. Unter seinen Sohlen spürte er, wie das Wurzelwerk des Berges sich immer tiefer in die Dunkelheit streckte, und über seinem Haupt sah er das ferne, funkelnde Feuer der Sterne. Dazwischen stand er, und alles, was ihn umgab, war ihm Untertan. Er befand sich im Zentrum des Seins.
»Haben Sie nur keine Angst«, sprach er lächelnd. »Ich rufe den Geist einer Frau. Elfarran, die edle Frau aus dem Enladlied, werde ich rufen.«
»Die starb vor tausend Jahren, ihre Gebeine sollen auf dem Meeresboden bei Éa liegen, aber vielleicht gab es sie überhaupt nicht.«
»Was bedeuten Ort und Zeit für die Toten? Lügen die alten Lieder?« erwiderte Ged sanft, aber mit leichtem Spott in der Stimme. Dann sagte er: »Beobachten Sie die Luft zwischen meinen Händen«, drehte sich etwas zur Seite und stand still.
Langsam öffnete er seine Arme weit zur Willkommensgeste, womit jede Invokation beginnt. Er begann zu reden.
Vor mehr als zwei Jahren hatte er diese Zauberformel des Gebietens in Ogions Buch gelesen. Nie mehr seither hatte er sie gesehen. Dunkel war es damals gewesen, als er sie las. Und wieder umgab ihn Dunkelheit, aber es war ihm, als läge das Buch aufgeschlagen vor ihm, und langsam las er den Spruch ab. Jetzt verstand er ihn. Er las laut, Wort für Wort. Auch die Zeichen waren ihm jetzt klar, die andeuteten, wie die Stimme moduliert werden mußte und welche Körperbewegungen ausgeführt werden mußten.
Die anderen Jungen standen reglos und schauten auf Ged. Manche erschauerten, denn der große Bannspruch begann zu wirken. Noch immer sprach Ged mit ruhiger Stimme, aber sie klang verändert, ein tiefes Singen war jetzt darin zu hören. Die Worte, die er sprach, waren ihnen unbekannt. Ged verstummte. Ganz allmählich erhob sich ein Wind im Gras. Ged fiel auf die Knie und rief laut. Dann fiel er mit ausgestreckten Armen vornüber, als wolle er die Erde umfassen, und als er sich erhob, hielt er etwas Dunkles in seinen angespannten Armen, so schwer, daß er vor Anstrengung zitterte, bis er endlich auf seinen Füßen stand. Der warme Wind wimmerte im schwarzen, wehenden Gras des Hügels. Keiner sah, ob die Sterne noch funkelten, denn keiner blickte nach oben.
Die Worte der Zauberformel kamen zittrig und halb flüsternd über Geds Lippen, dann aber schrie er laut und klar: »Elfarran!«
Und noch einmal wiederholte er den Namen: »Elfarran!«
Die formlose dunkle Masse in seinen Armen spaltete sich in zwei Teile. Ein fahles, schmales Licht glomm zwischen seinen ausgestreckten Armen, ein schwach leuchtendes Oval, das sich vom Boden bis zu seinen ausgestreckten Armen dehnte. Einen kurzen Augenblick lang sah man in dem Licht die Umrisse einer menschlichen Gestalt: eine große Frau, die über die Schulter zurückblickte. Das Gesicht war bildschön, aber ihre Züge spiegelten Leid und Furcht wider.
Nur ganz kurz war das Glimmen des Geistes zu sehen. Dann weitete sich das fahle Oval zwischen Geds Armen und wurde immer heller. Es dehnte sich aus, es spaltete die Dunkelheit der Erde und der Nacht, es riß am Gewebe der Welt. Das Licht steigerte sich zu furchtbarer Helle. Und aus diesem unerträglich hellen, formlosen Spalt kletterte ein unförmiger schwarzer Schatten, blitzschnell und abscheulich, und sprang mit einem Satz in Geds Gesicht. Vom Anprall und Gewicht dieses Dinges getroffen, taumelte Ged rückwärts und stieß einen kurzen, heiseren Schrei aus. Der kleine Otak, der auf Vetschens Schulter saß und alles beobachtete, das Tier ohne Stimme, schrie mit einemmal ebenfalls und setzte zum Sprung an, um den Angreifer zu packen.
Ged fiel zu Boden, sich krümmend und wehrend, während über ihm der blendendweiße Riß inmitten der Schwärze der Nacht wuchs und breiter wurde. Die Jungen, die gekommen waren, um zuzuschauen, waren schon davongerannt. Jasper kauerte am Boden und bedeckte seine Augen vor dem schrecklichen Licht. Nur Vetsch rannte, eilte seinem Freund zu Hilfe. Er allein sah den unförmigen, schattenhaften Klumpen, der sich in Geds Gesicht verkrallt hatte. Wie ein schwarzes Ungeheuer sah es aus, so groß wie ein Kind, aber es schien zu schwellen und zu schrumpfen; es hatte weder Kopf noch Gesicht, nur vier Klauen, mit denen es Ged packte und an ihm riß. Vetsch schluchzte vor Grauen. Trotzdem streckte er die Hände aus, um das Ding von Ged wegzuziehen. Aber noch bevor er es berührte, fühlte er sich gebannt und konnte sich nicht mehr bewegen.
Die unerträgliche Helle begann zu verblassen. Ganz langsam schlossen sich die zerrissenen Ränder der Erde. In der Nähe flüsterte eine Stimme, so sanft und leise wie das Rauschen eines Baumes oder das Rieseln eines Brunnens.
Das Licht der Sterne begann wieder zu schimmern, das Gras an der Berghalde schien weiß im Licht des aufgehenden Mondes. Die Nacht war geheilt. Das Gleichgewicht zwischen Hell und Dunkel war wieder hergestellt. Das Schattenungeheuer war verschwunden. Ged lag auf dem Rücken, seine Arme waren ausgestreckt in der Geste des Willkommens und der Invokation. Sein Gesicht blutete, und sein Hemd hatte große, dunkle Flecken. Der kleine Otak kauerte zitternd an seiner Schulter. Über ihnen stand ein Mann, dessen Umhang weiß im Mondlicht leuchtete: der Erzmagier Nemmerle.
Silbrig bewegte sich das Ende von Nemmerles Stab über Geds Oberkörper. Sachte berührte es die Stelle, unter der Geds Herz lag, und darauf Geds Lippen, während Nemmerle leise murmelte. Ged begann sich zu regen, seine Lippen öffneten sich zum Atmen. Dann hob der Erzmagier den Stab, setzte ihn auf die Erde und lehnte sich mit gebeugtem Haupt schwer darauf, als fehle es ihm an Kraft zum Stehen.
Vetsch fühlte sich von dem Bann befreit und schaute sich um. Er sah, daß sie nicht allein waren, der Meister des Gebietens und der Meister der Verwandlungen standen nun bei Ged. Keine große Zauberhandlung konnte gewirkt werden ohne das Wissen dieser Männer. War es nötig, so konnten sie mit Windeseile kommen, aber keiner war so schnell wie der Erzmagier.
Jetzt ließen sie Hilfe kommen, und einige gingen mit dem Erzmagier, während andere, darunter auch Vetsch, Ged in die Räume des Meisters der Kräuterkunde trugen.
Der Meister des Gebietens jedoch blieb die ganze Nacht über auf dem Rokkogel. Nichts bewegte sich dort am Berg, wo die Welt selbst aufgerissen worden war. Kein Schatten kam zurückgekrochen im Mondlicht und suchte nach dem Riß, durch den er in sein Reich zurückkehren konnte. Er floh vor Nemmerle und vor den mächtigen, von Zauberkraft errichteten unsichtbaren Wällen, die Rok beschützten, aber jetzt befand er sich irgendwo auf der Welt und versteckte sich. Wäre Ged in dieser Nacht gestorben, dann hätte der Schatten versucht, die Tür zu finden, die Ged geöffnet hatte, und wäre ihm ins Totenreich gefolgt oder dorthin, wo er ursprünglich herkam; und darum wartete der Gebieter am Rokkogel. Aber Ged lebte.
Er wurde in der Heilklinik zu Bett getragen, und dort sah der Meister der Kräuterkunde nach seinen Verletzungen an Gesicht, Hals und Schultern. Es waren tiefe, schwere und bösartige Wunden.
Schwarzes Blut quoll aus ihnen, und kein Bannspruch konnte es stillen, selbst durch die in Spinnweben gehüllten Perriotblätter sickerte es. Blind und stumm lag Ged auf seinem Lager, er glühte im Fieber und lag wie ein Stock in langsam brennendem Feuer. Kein Zauberspruch konnte das, was in ihm brannte, kühlen.
Nicht weit von ihm, im offenen Innenhof, wo der Brunnen plätscherte, lag der Erzmagier. Auch er regte kein Glied, aber nicht Hitze, sondern Kälte durchzog seine Glieder. Nur seine Augen bewegten sich und sahen das im Mond glitzernde Wasser und die hellbeschienenen, leise rauschenden Blätter des Baumes. Die ihn Umstehenden sagten keine magischen Formeln und wirkten keine heilenden Zauber. Ab und zu sprachen sie leise untereinander und wandten sich dann wieder ihrem Herrn zu und schauten ihn an. Ruhig lag er vor ihnen, seine gebogene Nase, seine hohe Stirn und sein weißes Haar nahmen im bleichen Mondlicht die Farbe von Bein an. Um der ungezügelten Zauberformel Einhalt zu gebieten und um den Schatten von Ged wegzutreiben, hatte Nemmerle seine ganze Macht aufbieten müssen, und mit ihr verließen ihn seine körperlichen Kräfte. Er lag im Sterben. Aber das Sterben eines großen Magiers, der oft in seinem Leben am dürren, steilen Abhang des Totenreiches entlanggehen mußte, war eine seltsame Sache: der Sterbende beschreitet diesen Weg nicht blind, sondern er geht sicheren Fußes, denn er kennt sich aus. Und als Nemmerle hinaufschaute in die Blätter des Baumes, wußten die, die ihn umstanden, nicht, ob er die im Morgengrauen verblassenden Sterne der Sommernacht sah, oder ob er die anderen Sterne sah, die ewiglich hinter den Hügeln bleiben, die keine Morgenröte kennen.
Der Rabe von Osskil, sein Freund seit dreißig Jahren, war verschwunden. Niemand hatte gesehen, wohin er geflogen war. »Er fliegt ihm voraus«, sagte der Meister der Formgebung leise zu denen, die mit ihm wachten.
Der kommende Tag war warm und klar. Stille lag über dem Großhaus und den Straßen von Thwil. Niemand sprach laut. Gegen Mittag begannen die Glocken im Turm, in dem der Meister der Lieder wohnte, dunkel und schwer zu läuten.
Am nächsten Tag versammelten sich die neun Meister von Rok im dunklen Schatten des Immanenten Haines. Selbst dort umgaben sie sich noch mit neun unsichtbaren Wällen, damit kein Mensch und keine Macht zu ihnen sprechen oder sie hören konnte, während sie unter all den Magiern, die im Erdseegebiet tätig waren, denjenigen erwählten, der ihr neuer Erzmagier werden würde. Genscher von Weg wurde gewählt. Ein Schiff wurde bestellt, das sofort über die Innensee zur Insel Weg segelte, um den neuen Erzmagier nach Rok zu bringen. Meister Windschlüssel stand im Heck des Schiffes. Er rief einen Zauberwind herbei, der die Segel rasch füllte und das Boot über die Wellen dahinjagte.
Von alldem wußte Ged nichts. Vier heiße Sommerwochen lang lag er blind, taub und stumm auf seinem Krankenlager, nur manchmal stöhnte er und schrie wie ein Tier. Aber schließlich, unter der geduldigen Pflege des Kräuterkundigen, begannen sich seine Wunden zu schließen, und das Fieber ließ nach. Und ganz allmählich schien es auch, als höre er wieder, nur reden tat er nicht. An einem sonnigen Herbsttag öffnete der Meister die Läden des Raumes, in dem Ged lag. Seit der Finsternis auf dem Rokkogel war er von Dunkelheit umgeben gewesen. Jetzt fiel Tageslicht in sein Zimmer, und er sah die Sonne scheinen. Er barg sein verletztes Gesicht in den Händen und weinte.
Selbst als der Winter kam, konnte er nur unter Stammeln reden. Der Meister behielt ihn bei sich in der Heilklinik und versuchte, Geds Körper und Geist langsam wieder erstarken zu lassen. Erst im Frühjahr darauf entließ er ihn und trug ihm auf, zuallererst zu dem Erzmagier zu gehen und ihm den Treueeid zu leisten. Dieser Pflicht hatte er nicht mit den andern nachkommen können, damals, als Genscher nach Rok kam.
Keiner seiner Mitschüler hatte ihn während der langen Monate seiner Krankheit besuchen dürfen. Als er jetzt an einigen Schülern vorbeikam, tuschelten sie sich gegenseitig zu: »Wer ist das?« Er war behende, gewandt und stark gewesen, jetzt ging er gekrümmt vor Schmerzen, zögernd und langsam und hielt sein Gesicht, das auf der linken Seite von tiefen weißen Narben bedeckt war, gesenkt. Er vermied die, die ihn kannten, und die, die ihn nicht kannten, und ging geradewegs zum Erzmagier. Dort, wo ihn einst Nemmerle erwartet hatte, stand nun Genscher und wartete auf ihn.
Wie der frühere Erzmagier, so trug auch Genscher einen weißen Umhang; aber wie bei den meisten Leute auf Weg und in den Ostbereichen war seine Haut schwarzbraun, und er blickte Ged unter dunklen, dichten Brauen hervor an.
Ged kniete vor ihm nieder, bereit, ihm Gehorsam und Treue zu schwören. Genscher stand eine Weile, ohne zu reden.
»Ich weiß, was du getan hast«, sagte er schließlich, »aber dich selbst kenne ich nicht. Ich kann deinen Eid nicht annehmen.«
Ged stand wieder auf und hielt sich am Stamm des jungen Baumes fest, um nicht umzufallen. Er suchte lange nach Worten: »Muß ich Rok verlassen?«
»Willst du Rok verlassen?«
»Nein.«
»Was willst du?«
»Hierbleiben… lernen… das Böse zu entkräften…«
»Selbst Nemmerle konnte das nicht tun. Nein, ich hätte dich nicht weggehen lassen. Schutzlos wärest du, denn nur die Macht der Meister und die Befestigungen dieser Insel hier, die jeder Ausgeburt des Bösen den Zutritt verweigern, gewähren dir Sicherheit. Würdest du uns jetzt verlassen, das Ding, das du freigesetzt hast, würde dich finden und sich in dir festsetzen und dich besitzen. Kein Mensch wärest du mehr, sondern ein Cebbeth, eine Marionette, die williges Werkzeug des Bösen wäre, das du ans Licht des Tages gebracht hast. Hier mußt du bleiben, bis du stark und weise genug bist, dich selbst dagegen zu wehren — wenn es je sein muß. Selbst jetzt wartet es auf dich. Ich bin ganz sicher, daß es auf dich wartet. Hast du es seit jener Nacht wiedergesehen?«
»In Träumen nur.« Ged verstummte. Dann, mit Schmerz und Scham in seiner Stimme, fügte er hinzu: »Ehrwürdiger Herr Genscher, ich weiß nicht, was es war — das Ding, das der Bann freigesetzt hat und das mich packte.«
»Auch ich weiß es nicht. Es hat keinen Namen. Eine große Macht liegt in dir. Sie ist dir angeboren. Diese Macht hast du mißbraucht, du hast einen Zauber gewirkt, für den du noch nicht reif genug warst, denn du hast noch nicht begriffen, wie dieser Zauber das Gleichgewicht zwischen Licht und Dunkel, zwischen Leben und Tod, zwischen Gut und Böse stören kann. Und du hast es getan, weil dich Stolz und Haß dazu trieben. Wunderst du dich über das Unheil, das es nach sich zog? Du hast den Geist einer Toten zu dir gerufen, und mit ihm kam ein Etwas von den Mächten, die außerhalb des Lebens bestehen. Es kam ungerufen von dort her, wo die Dinge keinen Namen haben. Aus Bösem bestehend, ist sein Ziel, Böses durch dich zu wirken. Die Macht, die du besitzt, es zu dir zu rufen, gibt ihm gleichzeitig Macht über dich! Du bist mit ihm verbunden. Es ist der Schatten deiner Arroganz, deiner Unwissenheit, der Schatten, den du wirfst. Besitzt ein Schatten einen Namen?«
Ged fühlte sich elend und erschöpft. Endlich sagte er: »Es wäre besser gewesen, ich wäre gestorben.«
»Wer gibt dir das Recht, darüber zu urteilen, du, für den Nemmerle sein Leben ließ? — Hier bist du sicher. Hier kannst du wohnen und deine Studien fortsetzen. Ich habe gehört, daß du ein guter Schüler warst. Geh und tu deine Arbeit. Tu sie gut. Mehr kannst du nicht verlangen.«
Genscher verstummte und war plötzlich verschwunden, wie es unter Magiern üblich ist. Ged sah dem Wasserstrahl des Brunnens zu, wie er im Sonnenschein aufstieg und wieder hinunterfiel, und er lauschte seinen Worten. Er dachte an Nemmerle. Hier hatte er einst gestanden, und es war ihm gewesen, als sei er ein von der Sonne gesprochenes Wort. Jetzt hatte die Dunkelheit zu ihm gesprochen, ein Wort, das nie mehr rückgängig gemacht werden konnte.
Er verließ den Hof und kehrte in sein altes Zimmer im Südturm zurück, das sie ihm freigelassen hatten. Dort blieb er allein. Als der Gong zum Essen rief, ging er hinunter und setzte sich ganz unten an den Langtisch. Er sprach kaum zu den andern und hielt sein Gesicht gesenkt, selbst die Jungen, die ihn freundlichst begrüßten, blickte er kaum an. Nach ein paar Tagen ließ man ihn in Ruhe. Er wollte allein sein, denn er fürchtete das Unheil, das er durch Wort oder Tat anrichten konnte.
Vetsch und Jasper waren beide nicht anwesend, und er fragte nicht nach ihnen. Die Jungen, die er früher angeführt hatte und auf die er herabgeblickt hatte, waren ihm jetzt voraus wegen der Monate, die er auf dem Krankenlager verloren hatte. Er mußte jetzt mit Burschen zusammen lernen, die jünger waren als er. Seine Leistungen waren auch nicht mehr hervorragend, denn die Worte der Sprüche und Formeln, selbst die des einfachsten Illusionszaubers, kamen nur stockend über seine Lippen, und seine Hände waren ungeschickt.
Im Herbst mußte er wieder zum Einsamen Turm gehen und mit dem Meister Namengeber studieren. Das Studium, dem er einst mit Widerwillen entgegengesehen hatte, begrüßte er jetzt. Dort würde er die Einsamkeit und Stille finden, nach der ihn jetzt verlangte. Auch das endlose Auswendiglernen war ihm nun recht, es war ihm jedenfalls lieber als das Wirken von Zaubereien, welche die Macht, die er noch in sich schlummern fühlte, wieder wachrufen könnten.
Am Abend vor seinem Abmarsch zum Turm kam ein Besucher in braunem Reiseumhang mit eisenbeschlagenem Eichenstab zu ihm. Ged erhob sich vor dem Abzeichen des Zauberers.
»Sperber…«
Beim Klang der Stimme hob Ged den Blick. Vetsch stand vor ihm, kräftig und solid wie eh, sein dunkles, offenes Gesicht sah gereifter aus, aber sein Lachen war unverändert. Auf seiner Schulter hockte ein kleines Tier mit getigertem Fell und blanken Augen.
»Ich behielt ihn, während du krank warst, und jetzt tutʹs mir leid, mich von ihm zu trennen. Aber es tut mir noch mehr leid, dich zu verlassen, Sperber. Ich gehe nach Hause. Hier, Hög! Geh wieder zu deinem wahren Herrn!« Vetsch streichelte den Otak und setzte ihn auf den Boden. Dieser sprang auf Geds Matratze und begann, sich mit seiner trockenen, braunen Zunge, die wie ein kleines Blatt aussah, zu putzen. Vetsch lachte, aber Ged konnte nicht mit einstimmen. Er beugte sich hinunter, um sein Gesicht zu verbergen, und streichelte den Otak. »Ich habe geglaubt, du würdest nie mehr zu mir kommen, Vetsch«, sagte er.
Er hatte keinen Vorwurf beabsichtigt, aber Vetsch antwortete: »Ich konnte nicht kommen. Der Kräutermeister hat mich nicht zu dir gelassen, und den Winter über war ich selbst eingeschlossen beim Meister vom Immanenten Hain. Er ließ mich erst wieder heraus, nachdem ich mir den Stab verdient hatte. Hör zu: Wenn du hier fertig bist und frei wirst, dann komm in den Osten. Ich warte auf dich. In den kleinen Städten dort läßt sichʹs gut sein. Zauberer genießen ein hohes Ansehen.«
»Frei…«, sagte Ged leise und versuchte zu lächeln, während er leicht die Achseln zuckte.
Vetsch schaute ihn an. Sein Blick war nicht mehr ganz so wie früher, er war bestimmt nicht weniger liebevoll, aber jetzt lag etwas Zauberisches darin. Seine Stimme klang herzlich: »Du wirst nicht dein ganzes Leben lang an Rok gebunden sein.«
»Weißt du… ich habe gedacht, daß ich vielleicht bei dem Meister im Turm Forschung treiben sollte, wie die, die in den Büchern und Sternen nach verlorenen Namen suchen. Wenn ich das tue, weißt du, dann… dann kann ich keinen Schaden mehr anrichten, viel Gutes natürlich auch nicht…«
»Vielleicht hast du recht«, sagte Vetsch. »Ich bin kein Prophet, aber ich sehe in deiner Zukunft keine Zimmer voll von Büchern, wohl aber das weite Meer und feuerspeiende Drachen und die Türme vieler Städte, so wie es nur ein Falke sieht, der hoch und weit fliegt.«
»Und hinter mir — sag, was siehst du hinter mir?« fragte Ged und erhob sich bei diesen Worten, worauf das Werlicht, das zwischen ihnen über ihren Köpfen schwebte, seinen Schatten gegen Boden und Wand warf. Dann wandte er sich zur Seite und stammelte: »Erzähl mir von dir, wohin du gehst und was du vorhast.«
»Ich gehe heim zu meinen Brüdern und zu meiner Schwester, von der ich dir erzählte. Als ich fortging, war sie noch ein kleines Kind, jetzt wird man ihr bald ihren Namen geben — ich kann es kaum glauben! Irgendwo auf einer der kleinen Inseln werde ich dann als Zauberer arbeiten. Oh, Ged, ich würde gerne hierbleiben und mit dir schwätzen, aber ich kann nicht, mein Schiff segelt heute abend, und die Ebbe hat schon begonnen. Sperber, wenn du je in den Osten kommst, besuche mich. Und wenn du je in Bedrängnis gerätst, laß es mich wissen, ruf mich bei meinem Namen: Estarriol.«
Bei diesen Worten hob Ged sein vernarbtes Gesicht, und ihre Augen trafen sich. »Estarriol«, sagte er, »ich heiße Ged.«
Dann verabschiedeten sie sich voneinander, und Vetsch ging den steinernen Gang hinunter und verließ Rok.
Ged blieb eine Weile bewegungslos sitzen, wie einer, der eine Botschaft empfing, die so überwältigend war, daß er sie nicht auf einmal fassen konnte. Das Wissen von Vetschens wahrem Namen war ein großes Geschenk.
Der wahre Name eines Menschen ist nur ihm und seinem Namengeber bekannt. Später vielleicht sagt er ihn seinem Bruder, seiner Frau oder einem Freund, aber selbst diese wenigen werden nie seinen wahren Namen nennen, wenn ein Dritter anwesend ist. Sind andere zugegen, so werden sie, wie alle Welt es tut, ihn bei seinem Ruf- oder Spitznamen nennen — Namen wie Sperber, Vetsch oder Ogion, was übrigens »Tannenzapfen« bedeutet. Wenn der einfache Mensch vorsichtig sein muß und seinen Namen nur wenigen Vertrauten mitteilen kann, um wieviel vorsichtiger muß der Zauberkundige sein, der viel gefährlicher und selbst viel gefährdeter ist. Derjenige, der den wahren Namen eines Menschen kennt, hält dessen Leben in seiner Hand. Daher empfing Ged, der den Glauben an sich selbst verloren hatte, von Vetsch eine Gabe, die nur ein Freund geben konnte: den Beweis unerschütterlichen und nicht zu erschütternden Vertrauens.
Ged setzte sich auf seine Matratze und ließ die Werlichtkugel verglimmen, die im letzten Verzischen einen schwachen Geruch von Sumpfgas von sich gab. Er streichelte den Otak, der sich gemütlich räkelte und auf seinen Knien so selbstverständlich einschlief, als wäre er nie woanders gewesen.
Im Großhaus war es ruhig. Es fiel Ged ein, daß heute der Vorabend seiner eigenen Aufnahme war. Vier Jahre waren verstrichen, seit Ogion ihm seinen Namen gegeben hatte. Er erinnerte sich an das eiskalte Bergquellwasser, durch das er damals nackt und namenlos gewatet war. Auch die anderen, hellschimmernden Flußbecken der Ar, in denen er so oft geschwommen war, fielen ihm wieder ein; er dachte an Zehnellern, das Dorf, das im Schatten des mächtigen, steilansteigenden Bergwaldes lag, an die morgendlichen Schatten auf der staubigen Dorfstraße, an das Schmiedefeuer an einem Winternachmittag, das vom Blasebalg angetrieben aus der Schmelzgrube in die Höhe loderte, an die von Kräutern duftende Hütte des Zauberweibes, in der die Luft schwer war von Rauch und Hexereien. Er hatte schon lange nicht mehr an diese Dinge gedacht. Jetzt fielen sie ihm wieder ein, heute, am Vorabend seines siebzehnten Geburtstages. In Gedanken durchmaß er die Jahre und Orte seines kurzen, gebrochenen Lebens, und sie formten eine Einheit. Endlich, nach all diesen langen, bitteren, verschwendeten Jahren wußte er, was er schon einmal gewußt hatte — wer er war und wo er war.
Aber wohin er zu gehen hatte in den Jahren, die vor ihm lagen, das konnte er nicht ermessen; und er fürchtete sich, es zu sehen.
Am nächsten Morgen begann er seine Wanderung über die Insel. Der Otak ritt auf seiner Schulter wie damals, als er vom Turm zurückkam. Dieses Mal dauerte es nicht zwei, sondern drei Tage, bis er den Einsamen Turm erreichte. Er war todmüde, als er ihn endlich erblickte, dort über der zischenden, Gischt speienden Brandung des nördlichen Vorgebirges. Innen war er so dunkel und kalt, wie er es in Erinnerung hatte. Kurremkarmerruk saß an seinem hohen Pult und schrieb an langen Namenslisten. Als Ged eintrat, blickte er kurz auf, und ohne Willkommensgruß, so als wäre Ged nie fortgewesen, sagte er: »Geh ins Bett. Müde Leute sind dumme Leute. Morgen kannst du mit dem Buch von den Handlungen der Urheber anfangen und die Namen darin lernen.«
Als der Winter vorbei war, kehrte er ins Großhaus zurück. Er wurde nun zum Zauberer befördert, und danach nahm der Erzmagier Genscher seinen Treueeid entgegen. Jetzt durfte er die hohen Künste und Zaubereien lernen, die über Illusionen hinaus in die Welt der wahren Magie einführen. Er lernte, was davon nötig war, um sich seinen Zauberstab zu verdienen. Die Schwierigkeiten, die er anfänglich im Sprechen von Zaubersprüchen gehabt hatte, ließen in den kommenden Monaten nach, auch seine Hände wurden wieder beweglicher beim Wirken von Sprüchen und Formeln. Aber seine ursprüngliche Schnelligkeit beim Lernen kehrte nie wieder zurück. Der Schrecken hatte ihm eine harte, nachhaltige Lektion erteilt. Selbst den mächtigen und höchst gefährlichen Formeln des Gestaltens und Fertigens jedoch folgten keine bedenklichen Zeichen oder Begegnungen. Manchmal wiegte er sich in der Hoffnung, daß der Schatten, den er freigesetzt hatte, geschwächt war oder irgendwie aus der Welt geflohen sei, denn er ließ ihn ganz in Ruhe, selbst seine Träume waren nicht gestört. Tief im Herzen jedoch wußte er, daß dies falsche Hoffnungen waren.
Ged fragte die Meister aus und forschte in den alten Büchern der Zauberkunde nach einem Wesen wie diesem Schatten, den er freigesetzt hatte, aber er fand sehr wenig darüber. Nirgends fand er eine Beschreibung eines solchen Dinges, nirgends wurde es direkt erwähnt. Hie und da fand er in den alten Büchern Andeutungen von Wesen, die dem Schattenungeheuer ähnlich sein konnten. Es handelte sich nicht um den Geist eines Verstorbenen, und es gehörte auch nicht zu den Urmächten der Erde, aber irgendwie schien es doch mit ihnen verbunden zu sein. In den Drachengeschichten, die Ged sehr sorgfältig las, stieß er auf eine Erzählung über einen uralten Drachenfürsten, der unter den Einfluß einer der Urmächte kam, eines sprechenden Steines, der sich hoch oben im Norden befand. »Der Stein gebot ihm«, so hieß es im Buch, »den Geist eines Toten aus dem Totenreich zu rufen. Seine Zauberkraft aber war nicht mehr lauter, denn er war dem Steine hörig, und mit dem Geiste des Toten erhob sich ein anderes, das nicht gerufen wurde, und dies andere zerstörte sein Wesen und behielt seine Gestalt, und über die Menschen brachte es großes Unheil und Leid.« Aber das Buch beschrieb nicht, was für ein Ding es war, noch wie die Geschichte endete. Auch den Meistern war unbekannt, woher solch ein Ding kommen konnte. Von Bereichen außerhalb des Lebens, hatte der Erzmagier gesagt; von der falschen Seite der Welt, sagte der Meister der Verwandlungen; und der Meister des Gebietens sagte: »Ich weiß es nicht.« Er war oft zu Ged gekommen und saß an seinem Krankenlager. Sein Blick war ernst und streng wie immer, aber Ged wußte nun, daß eine tiefe Anteilnahme dahinter verborgen war, und er war diesem Meister sehr zugetan. »Ich weiß es nicht. Das aber kann ich über dieses Ding sagen: nur eine große Macht konnte es rufen, vielleicht nur eine Macht — nur eine Stimme — deine Stimme. Was dies wiederum bedeutet, das weiß ich auch nicht. Du wirst es herausfinden. Du mußt es herausfinden oder sterben, oder noch schlimmer als sterben…« Seine Stimme war gütig, und seine Augen ruhten ernst auf Ged. »Als du jung warst, da dachtest du, daß ein Magier alles tun kann. Auch ich dachte einmal so. Wir alle dachten einmal so. Die Wahrheit sieht aber ganz anders aus. Je mehr die Macht eines Menschen wächst, je weiter sein Wissen reicht, desto enger wird der Pfad, auf dem er wandeln kann. Bis er schließlich nichts mehr wählt, sondern ausschließlich das tut, was er tun muß…«
Nach seinem achtzehnten Geburtstag wurde Ged vom Erzmagier zu dem Meister der Formgebung gesandt. Was dort im Immanenten Hain gelehrt wird, bleibt meist verborgen. Zauber wird dort nicht gewirkt, der Ort selbst ist verzaubert.
Manchmal sind die Bäume sichtbar, manchmal sind sie unsichtbar. Sie befinden sich auch nicht immer an der gleichen Stelle. Es wird behauptet, daß die Bäume des Haines selbst weise sind und daß der Meister des Gestaltens seine hohe Magie dort inmitten des Haines lernt. Sollten die Bäume je sterben, so würde auch seine Weisheit verkümmern. Dann würde das Meer wieder aufsteigen und die Inseln der Erdsee verschlingen, die Segoy in vormythischen Zeiten aus der Tiefe hatte aufsteigen lassen, den Menschen und Drachen zur Wohnstätte.
Aber all dies sind Gerüchte, und kein Zauberer wird darüber sprechen.
So vergingen die Monate, und endlich, an einem Frühlingstag, kehrte Ged zum Großhaus zurück. Er hatte keine Ahnung, was nun von ihm verlangt werden würde. An der Tür, die sich auf den Pfad öffnet, der über die Felder zum Rokkogel führt, traf er auf einen alten Mann, der dort auf ihn gewartet hatte. Ged erkannte ihn zunächst nicht, aber nachdem er sich etwas besonnen hatte, fiel ihm ein, daß ihn der alte Mann damals vor fünf Jahren in die Schule eingelassen hatte.
Der alte Mann begrüßte ihn freundlich lächelnd mit seinem Namen und fragte: »Kennst du mich?«
Ged fiel ein, wie er schon öfters über die Meister nachgegrübelt hatte, die man die Neun nennt, von denen er aber nur acht kannte: Windschlüssel, Hand, Sänger, Gebieter, Formgeber, Verwandler und Kräutermeister. Er hatte angenommen, daß der Erzmagier der neunte war, aber wenn ein neuer Erzmagier gewählt wird, dann treten neun Meister zusammen, um zu beraten.
»Ich glaube, Sie sind der Meister Türhüter«, sagte Ged.
»Ja, der bin ich. Ged, du wurdest in Rok eingelassen, weil du deinen Namen genannt hast. Nenne nun meinen, und du wirst von der Schule entlassen werden.« So sprach der alte Mann und lächelte. Ged starrte ihn sprachlos an.
Selbstverständlich kannte er Hunderte von Mitteln und Wegen, um die Namen von Menschen und Dingen herauszufinden. Dies Wissen war ein Grundbestandteil seines Studiums gewesen, denn wenig Magie käme zustande, wenn es daran mangeln würde. Aber den Namen eines Magiers oder Meisters herauszufinden, war wieder eine ganz andere Sache.
Er war schwerer herauszufinden als ein Hering im Meer und besser beschützt als die Höhle eines Drachen. Der Versuch, den Namen durch einen Trick herauszufinden, würde durch einen stärkeren Trick zunichte gemacht werden, verblümte Anfragen würden genauso verblümt abgebogen werden, und der listige Gebrauch magischer Formeln würde sich katastrophal auf den Handhabenden auswirken.
»Meister, Ihre Tür ist sehr schmal«, sagte Ged schließlich. »Ich glaube, ich muß hier draußen auf dem Acker sitzen und fasten, bis ich dünn genug bin, um durch die Tür zu schlüpfen.«
»Setz dich hin, so lang du willst«, antwortete der Türhüter lächelnd.
Ged entfernte sich ein paar Schritte und setzte sich unter eine Erle am Thwilbach. Er ließ seinen Otak im Wasser planschen und im Schlamm des Ufers nach Flußkrebsen jagen. Die Sonne strahlte hell und ging spät unter, denn der Frühling war schon weit fortgeschritten. Laternen und Werlichter brannten hinter den Fenstern des Großhauses, unten am Berg füllten sich die Straßen von Thwil mit Dunkelheit. Eulen stießen ihre heiseren Schreie über den Dächern aus. Fledermäuse flitzten über den Fluß, und noch immer saß Ged da und zerbrach sich den Kopf, wie er den Namen des Türhüters herausfinden könne. Er erwog Gewalt, List und Zauberei. Aber je länger er grübelte, desto sicherer wurde er, daß es unter all den Künsten, die er in den vergangenen fünf Jahren auf Rok gelernt hatte, keine gab, die einem so mächtigen Magier solch ein Geheimnis entreißen konnte.
Er streckte sich auf der Wiese aus und schlief unter den Sternen ein, während der Otak es sich in seiner Tasche gemütlich machte. Nach Sonnenaufgang, immer noch fastend, ging er zur Tür des Hauses und klopfte an. Der Türhüter öffnete.
»Meister«, sagte Ged, »ich kann Ihren Namen nicht mit Gewalt herausfinden, denn ich bin zu schwach dazu, ich kann ihn auch nicht mit Zauberei herausfinden, denn ich bin nicht weise genug. Ich bin daher gewillt, hierzubleiben, um zu lernen oder Ihnen zu dienen, wie Sie wünschen; außer Sie sind bereit, mir eine Frage zu beantworten.«
»Frage!«
»Meister, wie heißen Sie?«
Der Türhüter lächelte und nannte seinen Namen, und ihn wiederholend betrat Ged zum letzten Mal das Großhaus.
Als er es verließ, trug er einen schweren, dunkelblauen Umhang, die Gabe des Stadtkreises von Untertorning, seines Reiseziels, denn dort brauchte man einen Zauberer. In der Hand hielt er einen bronzebeschlagenen Stab aus Eibenholz, so groß wie er selbst. Der Türhüter bot ihm den Abschiedsgruß und öffnete die Hintertür des Großhauses für ihn. Es war die Tür aus poliertem Horn und Elfenbein, und Ged schritt die Straße von Thwil hinunter zu dem Schiff, das in der hellen Morgensonne im Hafen auf ihn wartete.