Sowohl der Autor als auch der Verleger haben mich gebeten, eine kurzgefaßte Einleitung zu vorliegendem Buch über den Mord an Monte Field zu schreiben. Von vornherein möchte ich klarstellen, daß ich weder Schriftsteller noch Kriminologe bin. So sehe ich mich auch nicht in der Lage, maßgebliche Bemerkungen über kriminelle Machenschaften und deren Verarbeitung in Kriminalromanen zu machen. Dennoch gibt es einen gewichtigen Grund, warum ich das Recht für mich in Anspruch nehme, das Vorwort zu dieser bemerkenswerten Geschichte, die auf dem vielleicht rätselhaftesten Verbrechen des letzten Jahrzehnts basiert, zu verfassen … Wäre ich nicht gewesen, so wäre ›Der mysteriöse Zylinder‹ dem geneigten Leser nie zu Gesicht gekommen. Auf mich geht es zurück, daß er ans Licht der Öffentlichkeit gebracht worden ist, und das ist auch schon alles, was mich damit verbindet.
Während des letzten Winters schüttelte ich den Staub der Straßen New Yorks von meinen Schuhen und begab mich auf eine Fahrt nach Europa. Ziellos strich ich dort in der Alten Welt herum – ein Umherschweifen aus Langeweile, das wie bei Conrad über jeden kommt, der sich auf die Suche nach seiner Jugend begibt. An einem Tag im August befand ich mich in einem winzigen italienischen Bergdorf. Wie ich dort hinkam, wo es liegt und wie es heißt, spielt keine Rolle. Ein Versprechen bleibt ein Versprechen – auch wenn es von einem Börsenmakler kommt. Ich erinnerte mich schwach, daß dieser hoch oben am Rande eines Gebirges gelegene Flecken zwei alte Freunde von mir beherbergte, die ich seit zwei Jahren nicht mehr gesehen hatte. Sie waren dem Großstadtgetümmel New Yorks entflohen, um sich hier im lichten Frieden der italienischen Landschaft niederzulassen – nun, vielleicht war es auch nur meine Neugierde zu erfahren, ob sie ihren Entschluß inzwischen bereuten, die mich veranlaßte, sie in ihrer Ruhe zu stören.
Der Empfang durch den alten Richard Queen, scharfsinniger und ergrauter als jemals zuvor, und durch seinen Sohn Ellery war äußerst herzlich. In den alten Zeiten waren wir mehr als nur Freunde gewesen; vielleicht hatte auch die berauschende italienische Luft die verstaubten Manhattan-Erinnerungen verklärt. Auf jeden Fall schienen sie überglücklich, mich zu sehen. Mrs. Ellery Queen – Ellery war nun der Ehemann eines wundervollen Geschöpfes und der überraschte Vater eines Stammhalters, der seinem Großvater außerordentlich ähnlich sah – machte dem Namen, den sie trug, alle Ehre. Sogar Djuna, nicht mehr der Taugenichts, den ich kannte, begrüßte mich mit allen Anzeichen wehmütiger Erinnerung.
Obwohl Ellery verzweifelte Anstrengungen unternahm, mich New York vergessen zu lassen und mir die erhabenen Schönheiten der ländlichen Szenerie vor Augen zu führen, war ich kaum ein paar Tage in ihrer winzigen Villa, als mich der Teufel ritt und ich begann, Ellery bis aufs Blut zu quälen. Wenn schon für nichts anderes, so bin ich doch bekannt für meine Hartnäckigkeit; so gab Ellery schließlich, bevor ich abfuhr, voller Verzweiflung nach. Er nahm mich mit in seine Bibliothek, verschloß die Tür und nahm sich einen alten Aktenschrank vor. Nach bedächtigem Suchen schaffte er es endlich, das hervorzubringen, was ich schon lange in seinem Besitz vermutet hatte. Es handelte sich um ein verblichenes Manuskript, das, wie von Ellery nicht anders zu erwarten, in blaues Juristenpapier eingebunden war.
Ein Streit brach aus. Ich wollte seine geliebten italienischen Gestade mit dem Manuskript in meinem Koffer verlassen, während er darauf bestand, das fragliche Objekt in seinem Aktenschrank verborgen zu halten. Der alte Richard wurde von seinem Schreibtisch weggezerrt, wo er gerade eine Abhandlung über »Amerikanisches Verbrechertum und Methoden zu seiner Aufdeckung« für eine deutsche Zeitschrift schrieb, um den Streit beizulegen. Mrs. Queen hielt den Arm ihres Mannes fest, als er kurz davor stand, die Episode mit einem kunstgerechten Faustschlag abzuschließen; Djuna gluckste vor sich hin; und sogar Ellery Jr. ließ sein Patschhändchen lange genug vom Mund weg, um etwas in der ihm eigenen Gurgelsprache anzumerken.
Das Ende vom Lied war, daß ›Der mysteriöse Zylinder‹ sich bei meiner Rückkehr in die Staaten in meinem Gepäck befand. Jedoch nicht ohne Bedingungen – Ellery ist ein sonderbarer Mensch. Man zwang mich dazu, feierlich und bei allem, was mir heilig ist, zu schwören, daß die Identität meiner Freunde und aller wichtigen Personen des Buches mit Pseudonymen verschleiert wird und daß – unter Androhung sofortiger Annullierung – ihre Namen für immer der Leserschaft vorenthalten bleiben werden.
Folglich sind also »Richard Queen« und »Ellery Queen« nicht die wahren Namen dieser Herren. Ellery selbst wählte die Namen aus; und ich sollte sofort hinzufügen, daß die Namen bewußt so ausgewählt wurden, daß sie den Leser, der es unternehmen sollte, den richtigen Namen über offensichtliche Hinweise in der Form eines Anagramms auf die Spur kommen zu wollen, in die Irre führen.
›Der mysteriöse Zylinder‹ basiert auf Akten, die tatsächlich in den Polizeiarchiven der Stadt New York vorhanden sind. Ellery und sein Vater haben wie üblich gemeinsam an dem Fall gearbeitet. Zu diesem Zeitpunkt seiner Laufbahn hatte Ellery einen nicht unbedeutenden Ruf als Autor von Detektivromanen. Getreu dem Leitspruch, daß die Fiktion oft noch von der Wirklichkeit übertroffen wird, machte er es sich zur Gewohnheit, Aufzeichnungen von interessanten Kriminalfällen zum eventuellen späteren Gebrauch in seinen Mordgeschichten anzufertigen. Der Fall mit dem Zylinder faszinierte ihn dermaßen, daß er sich ungewöhnlich ausführliche Notizen machte; bei Gelegenheit verarbeitete er das Ganze zu einem Roman, den er auch veröffentlichen wollte. Sofort danach jedoch wurde er wieder in eine neue Ermittlung verwickelt, die ihm kaum die Möglichkeit für andere Aufgaben ließ. Und als dann dieser letzte Fall erfolgreich abgeschlossen war, erfüllte sich Ellerys Vater, der Inspektor, einen lebenslangen Traum – nämlich sich zur Ruhe zu setzen und mit Sack und Pack nach Italien zu gehen. Ellery, der im Verlauf dieser Untersuchung1 auf die Frau seiner Träume gestoßen war, wurde von einem quälenden Verlangen getrieben, etwas »Großes« in der Literatur zu leisten. Italien klang für ihn sehr idyllisch. Mit dem Segen seines Vaters verheiratete er sich, und begleitet von Djuna zogen die drei fort in ihre neue europäische Heimat. Das Manuskript blieb völlig vergessen, bis ich es retten konnte.
Über eine Sache würde ich gerne noch einige Worte verlieren, bevor ich dieses arg umständliche Vorwort beende.
Ich habe es immer schon als äußerst schwierig empfunden, Fremden die besonders enge Bindung zu erklären, die zwischen Richard und Ellery Queen, wie ich sie hier nennen muß, bestand. Zum einen sind die beiden alles andere als unkomplizierte Charaktere. Richard Queen, in zweiunddreißigjährigem New Yorker Polizeidienst in Ehren ergraut, verdiente sich seine Streifen weniger durch Eifer als durch außergewöhnliche Beherrschung des polizeilichen Ermittlungsverfahrens. Anläßlich seiner geradezu brillanten kriminalistischen Leistungen im jetzt schon lange zurückliegenden Mordfall Barnaby-Ross2 hieß es, daß »Richard Queen mit diesem Meisterstück seinen Ruhm begründet neben solchen Meisterdetektiven wie Tamaka Hiero, dem Franzosen Brillon, Kris Oliver, Renaud und James Redix dem Jüngeren«.3
Mit dem ihm eigenen Mißtrauen gegenüber Zeitungselogen war Queen der erste, der sich über diesen überschwenglichen Kommentar lustig machte; Ellery versichert allerdings, der alte Herr habe den Zeitungsausschnitt über lange Jahre heimlich aufbewahrt. Wie auch immer – trotz aller Versuche einfallsreicher Journalisten, eine Legende aus ihm zu machen, ist für mich Richard Queen eher ein Mensch aus Fleisch und Blut – man kann gar nicht deutlich genug betonen, daß viele seiner beruflichen Erfolge in starkem Maße vom Denkvermögen seines Sohnes abhingen.
Das ist nicht jedermann bekannt. Einige Gegenstände werden immer noch als Erinnerungsstücke von Freunden in Ehren gehalten: Ihre kleine New Yorker Junggesellenwohnung auf der 85. Straße (West), heute ein halbprivates Museum für die Kuriositäten, die sie in ihrer Schaffenszeit gesammelt haben; Thirauds wirklich ausgezeichnetes Gemälde von Vater und Sohn, heute in der Kunstgalerie eines ungenannten Millionärs; Richards Schnupftabakdose, eine alte florentinische Kostbarkeit, die er auf einer Auktion erstand und die ihm mehr als alle Edelsteine bedeutete, bis er schließlich den Überredungskünsten einer reizenden älteren Dame erlag, deren Namen er von Verleumdung befreit hatte; Ellerys umfängliche Sammlung von Büchern über Gewaltverbrechen, vielleicht eine der vollständigsten in der Welt, die er mit großem Bedauern aufgeben mußte, als die Familie in Richtung Italien zog; und natürlich die vielen bis heute unveröffentlichten Akten, die Aufzeichnungen über die von den Queens gelösten Fälle enthalten und vor dem Zugriff Neugieriger geschützt im Polizeiarchiv von New York aufbewahrt werden.
Aber die mehr persönlichen Dinge – das geistige Band zwischen Vater und Sohn – sind bis heute außer für wenige bevorzugte Vertraute, zu denen ich mich glücklicherweise zählen darf, ein Geheimnis geblieben. Der alte Herr, der vielleicht berühmteste Beamte der Kriminalpolizei in den letzten fünfzig Jahren, der, was seinen Ruf in der Öffentlichkeit angeht, selbst diejenigen Herren, die kurz einmal auf dem Stuhl des Polizeichefs saßen, in den Schatten stellte – dieser alte Herr verdankte, erlauben Sie diese Wiederholung, einen beträchtlichen Teil seines Ansehens dem Genie seines Sohnes.
Wenn es nur um Hartnäckigkeit ging und es eindeutige Spuren zu verfolgen gab, war Richard Queen ein einzigartiger Ermittler. Er besaß einen messerscharfen Blick für das Detail; ein gutes Gedächtnis für Verwicklungen bei Planung und Motiv; einen klaren Blick, wenn ein Hindernis unüberwindbar schien. Würde man ihm hundert völlig zusammenhanglose und ungeordnete Einzelinformationen zu einem Fall geben, so hätte er sie innerhalb kürzester Zeit zu einem Gesamtbild zusammengesetzt. Er war wie ein Spürhund, der der richtigen Fährte in einem hoffnungslosen Spurengewirr folgt.
Aber Intuition und Vorstellungsgabe waren mehr die Sache von Ellery Queen, dem Romanautor. Die beiden hätten Zwillinge mit jeweils übernatürlich entwickelten geistigen Fähigkeiten sein können, jeder für sich schwach und hilflos, aber kraftvoll, wenn sie sich gegenseitig ergänzten. Richard Queen, der – wie es vielleicht bei einer weniger hochherzigen Natur der Fall gewesen wäre – weit davon entfernt war, über solche Bande, die seinen so spektakulären Erfolg erst möglich machten, verärgert zu sein, war sehr darum bemüht, das seinen Freunden verständlich zu machen. Der schlanke, grauhaarige alte Herr, dessen Name den Gesetzesbrechern dieser Zeit verhaßt war, pflegte seine ›Bekenntnisse‹, wie er sie nannte, mit einer Naivität vorzutragen, die sich nur mit seinem Vaterstolz erklären ließ.
Noch eine letzte Bemerkung. Die Krönung aller von den beiden Queens durchgeführten Ermittlungen war – aus Gründen, die im folgenden rasch klar werden – diejenige, die Ellery unter dem Titel ›Der mysteriöse Zylinder‹ beschrieben hat. Der Amateurkriminologe, der aufmerksame Leser von Detektivromanen wird im Verlauf der Geschichte verstehen, warum Ellery den Mord an Monte Field einer ausführlicheren Darstellung wert erachtete. Motive und Verhalten eines Durchschnittsmörders sind für den Experten leicht zu durchschauen. Nicht so jedoch bei dem Mord an Monte Field. Hier hatten es die Queens mit einer Person von genauer Auffassungsgabe und außergewöhnlicher Finesse zu tun. Wie schon Richard kurz nach der Auflösung des Falles betonte, war das geplante Verbrechen tatsächlich so perfekt, wie es sich der menschliche Verstand nur ausdenken konnte. Wie jedoch bei so vielen ›perfekten Verbrechen‹ gab ein winziger unglücklicher Zufall in Verbindung mit Ellerys scharfsinnigen Schlußfolgerungen den beiden Queens den einen Hinweis in die Hand, der schließlich den Untergang des Verbrechers herbeiführte.
1 ›Die vorgetäuschten Morde‹. Der Roman um dieses Verbrechen ist noch nicht veröffentlicht worden. J. J. McC.
2 Ellery Queen hatte seinen ersten Auftritt als privater Berater im Verlauf dieser Ermittlung.
3 Chicago Press, 16. Januar 191-.
J.J-McC.
New York
1. März 1929