Dritter Teil

»Ein guter Detektiv wird als solcher geboren, nicht dazu gemacht. Wie alle Genies ist er nicht das Produkt einer gut geschulten Polizei, sondern geht aus der Menge hervor. Der bemerkenswerteste Detektiv, dem ich jemals begegnet bin, war ein dreckiger alter Medizinmann, der niemals den Busch verlassen hatte … Das, was den wirklich großen Detektiv ausmacht, ist, daß er über die unerbittlichen Regeln der Logik hinaus drei wesentliche Eigenschaften besitzt: eine überdurchschnittliche Beobachtungsgabe, eine gründliche Kenntnis des menschlichen Geistes und Einfühlungsvermögen in die menschliche Seele.«

Aus Handbuch der Verbrecherjagd von James Redix jr.


Vierzehntes Kapitel

in welchem sich alles um den Hut dreht



Am Donnerstag, dem 27. September, am dritten Tag nach dem Verbrechen im Römischen Theater, standen Inspektor Queen und Ellery früh auf und kleideten sich eilig an. Unter den vorwurfsvollen Blicken Djunas, den man aus dem Bett geworfen und in die einfache Tracht gesteckt hatte, die er als Majordomus dieses Haushalts trug, machten sie sich an ein mehr behelfsmäßiges Frühstück.

Während sie die anämischen Pfannkuchen aßen, trug der alte Mann Djuna auf, Louis Panzer für ihn ans Telefon zu holen.

Nur wenig später sprach der Inspektor angeregt in den Apparat. »Guten Morgen, Panzer. Bitte verzeihen Sie mir, wenn ich Sie zu einer solch unchristlichen Zeit aus dem Bett holen lasse … Wir sind einer wichtigen Sache auf der Spur und brauchen Ihre Hilfe.«

Panzer murmelte eine verschlafene Zustimmung. »Können Sie jetzt sofort zum Römischen Theater kommen und es für uns öffnen?« fuhr der alte Mann fort. »Ich sagte Ihnen ja, daß Sie das Theater nicht lange dicht machen müßten, und es sieht nun ganz so aus, als könnten Sie schon bald aus dem Aufsehen, das diese Angelegenheit erregt hat, Nutzen ziehen. Sie müssen verstehen – ich bin noch nicht sicher, wann wir das Theater wieder freigeben, aber es könnte gerade noch klappen, daß Ihr Stück bereits heute abend wieder gespielt werden kann. Kann ich auf Sie zählen?«


»Das ist ausgezeichnet!« Aufgeregt und voller Eifer erklang Panzers Stimme durch den Hörer. »Wollen Sie, daß ich sofort zum Theater komme? Ich werde in einer halben Stunde dort sein – ich bin noch nicht angekleidet.«


»Das ist gut«, antwortete Queen. »Selbstverständlich darf im Moment noch niemand hinein, Panzer. Warten Sie mit dem öffnen, bis wir da sind, und setzen Sie auch niemanden davon in Kenntnis. Alles Weitere werden wir am Theater besprechen. Einen Augenblick noch.«


Er drückte den Hörer gegen die Brust und schaute fragend zu Ellery auf, der wüste Gebärden machte. Ellery formte mit seinen Lippen die Silben eines Namens, worauf der alte Mann zustimmend nickte. Er sprach erneut ins Telefon.


»Da ist noch etwas, was Sie im Moment für mich tun könnten, Panzer«, fuhr er fort, »Können Sie diese freundliche ältere Dame, Mrs. Phillips, erreichen? Ich möchte, daß sie uns so bald wie möglich am Theater trifft.«


»Aber sicher, Inspektor. Wenn es irgendwie möglich ist«, sagte Panzer. Queen legte den Hörer auf die Gabel.


»Gut, das wäre das«, bemerkte er, rieb sich die Hände und kramte in seiner Tasche nach dem Schnupftabak. »Ah-h-h! Gelobt seien Sir Walter Raleigh und all die verwegenen Streiter, die diesem scheußlichen Kraut den Weg bereitet haben!« Freudig nieste er. »Eine Minute noch, Ellery, dann können wir gehen.«


Er griff noch einmal zum Telefon und rief das Präsidium an. Gut gelaunt gab er einige Anweisungen, knallte den Apparat wieder auf den Tisch und trieb Ellery an, sich seinen Mantel anzuziehen. Djuna sah traurig zu, wie sie die Wohnung verließen; oft schon hatte er den Inspektor gebeten, sie auf ihren sporadischen Ausflügen in das bunte Treiben New Yorks begleiten zu dürfen. Aber der Inspektor mit seinen eigenen Ansichten über die Erziehung Jugendlicher hatte das stets abgelehnt. Und Djuna, der seinen Wohltäter etwa in derselben Weise verehrte wie ein Höhlenbewohner seine Amulette, hatte sich in das Unvermeidliche gefügt und hoffte auf eine bessere Zukunft.


Es war ein naßkalter Tag. Ellery und sein Vater schlugen ihre Mantelkragen hoch, während sie in Richtung Broadway gingen. Beide waren ungewöhnlich schweigsam, aber der gespannte und erwartungsvolle Ausdruck auf ihren Gesichtern


– trotz ihrer Verschiedenheit in seltsamer Übereinstimmung – versprach einen aufregenden und aufschlußreichen Tag.

Der Broadway mit seinen gewundenen Straßenschluchten lag verlassen da im kalten Morgenwind, als die beiden Männer flotten Schrittes die 47. Straße in Richtung des Römischen Theaters hinuntergingen. Ein Mann im groben Wollmantel lungerte auf dem Bürgersteig vor den Glastüren zur Vorhalle des Theaters herum; ein anderer hatte sich gemütlich gegen den hohen Eisenzaun gelehnt, der den linken Seitengang von der Straße trennte. Die untersetzte Gestalt von Louis Panzer, der gerade mit Flint sprach, war vor dem Haupteingang des Theaters zu erkennen.

Aufgeregt schüttelte Panzer die Hände der Queens. »Gut, gut!« rief er. »Das Verbot soll also endlich aufgehoben werden. Freut mich außerordentlich, das zu hören, Inspektor.«

»Oh, es ist noch nicht endgültig aufgehoben, Panzer. Haben Sie die Schlüssel? Morgen, Flint. Etwas Ruhe gehabt seit Montag?«

Panzer zog einen schweren Schlüsselbund hervor und schloß den Haupteingang zur Vorhalle auf. Die vier Männer traten hinein. Der dunkelhäutige Geschäftsführer machte sich nun am Schloß der inneren Eingangstür zu schaffen; schließlich gelang es ihm, sie zu öffnen. Im Dunkeln lag vor ihnen der Zuschauerraum.

Ellery schauderte. »Mit Ausnahme der Metropolitan Opera und des Titusmausoleums ist das der düsterste Ort, den ich je betreten habe. Eine passende Grabstätte für den lieben Dahingeschiedenen …«

»Red doch keinen Quatsch! Du machst uns nur nervös damit«, brummte der Inspektor prosaisch und schubste seinen Sohn nach vorne in den dunklen Schlund des Zuschauerraums.

Panzer, der bereits vorausgeeilt war, betätigte den Hauptlichtschalter. Durch das Licht der großen Bogenlampen und Kronleuchter nahm der Zuschauerraum eine etwas vertrautere Gestalt an. Ellerys seltsamer Vergleich war aber nicht ganz so aus der Luft gegriffen, wie es sein Vater hingestellt hatte. Die langen Sitzreihen waren mit schmutzigen Planen abgedeckt; dunkle Schatten zogen sich über den bereits staubigen Teppich; die nackte weiße Wand am hinteren Ende der leeren Bühne wirkte wie ein häßlicher Fleck in einem Meer von rotem Plüsch.

»Tut mir leid, die ganzen Planen da zu sehen«, brummte Queen zu Panzer hinüber. »Denn die müssen wir wohl alle aufrollen. Wir werden eine kleine Durchsuchung des Zuschauerraums vornehmen. Flint, holen Sie bitte die beiden Leute von draußen herein. Sie sollen für das Geld, das ihnen die Stadt zahlt, auch einmal etwas tun.«

Flint zog ab und kam unmittelbar darauf mit den beiden Polizisten, die vor dem Theater Wache gestanden hatten, zurück. Unter Anleitung des Inspektors begannen sie, die riesigen Planen auf die Seite zu ziehen und so Reihe um Reihe der gepolsterten Sitze zu enthüllen. Ellery, der seitwärts nahe dem äußersten linken Gang stand, zog das kleine Buch, in das er am Montag abend Notizen sowie einen groben Plan des Theaters aufgezeichnet hatte, aus der Tasche. An seiner Unterlippe nagend, vertiefte er sich darin. Gelegentlich schaute er auf, so als würde er die Aufteilung des Theaters auf ihre Richtigkeit hin überprüfen.

Queen hastete zu Panzer zurück, der nervös im Hintergrund des Zuschauerraums auf und ab ging. »Panzer, wir werden hier einige Stunden lang ziemlich beschäftigt sein; leider war ich nicht vorausschauend genug, ein paar zusätzliche Männer mitzubringen. Ich weiß nicht, ob ich Ihnen damit nicht zu viel zumute … Ich hätte da etwas, was sofort erledigt werden müßte – es würde nur einen kleinen Teil Ihrer Zeit beanspruchen, mir aber erheblich helfen.«

»Selbstverständlich, Inspektor!« erwiderte der kleine Manager. »Ich freue mich, Ihnen behilflich sein zu können.«


Der Inspektor hustete. »Bitte glauben Sie nicht, daß ich Sie als Botenjunge oder etwas in der Art mißbrauchen will«, erklärte er entschuldigend. »Aber ich brauche diese Burschen hier, die für eine solche Art von Durchsuchung ausgebildet sind, und gleichzeitig muß ich ein paar extrem wichtige Unterlagen von zwei Leuten des Staatsanwalts, die unten in der Stadt einer anderen Spur in diesem Fall nachgehen, haben. Würde es Ihnen etwas ausmachen, einem der beiden – er heißt Cronin – eine Nachricht von mir zu überbringen und dann mit dem Päckchen, das er Ihnen geben wird, zurückzukehren? Ich bitte Sie wirklich nicht gerne darum, Panzer«, murmelte er, »aber die Sache ist zu wichtig, um sie einem gewöhnlichen Boten anzuvertrauen. Ich sitz’ also in der Klemme.«


Das gewohnte flüchtige Lächeln erschien auf Panzers Gesicht. »Kein Wort mehr, Inspektor. Ich stehe Ihnen voll und ganz zur Verfügung. Wenn Sie die Nachricht sofort schreiben wollen – in meinem Büro ist alles, was Sie brauchen.«


Die beiden Männer zogen sich in Panzers Büro zurück. Fünf Minuten später betraten sie erneut den Zuschauerraum. Panzer hielt einen verschlossenen Umschlag in der Hand und eilte damit nach draußen. Queen sah ihm nach und wandte sich dann mit einem Seufzer Ellery zu, der sich auf die Lehne des Sitzes gesetzt hatte, auf dem Field ermordet worden war, und immer noch seine Bleistiftzeichnung zu Rate zog.


Der Inspektor flüsterte seinem Sohn einige Worte zu. Ellery lächelte und klopfte dem alten Mann beifällig auf die Schulter.


»Was hältst du davon, Sohn, wenn wir uns jetzt ein wenig von der Stelle bewegen?« sagte Queen. »Ich hab’ vergessen, Panzer zu fragen, ob er diese Mrs. Phillips erreicht hat. Wahrscheinlich hat er; sonst hätte er wohl etwas gesagt. Wo zum Donnerwetter ist sie bloß?«


Er winkte Flint heran, der den beiden anderen Polizisten bei der ermüdenden Arbeit half, die Planen zu entfernen.


»Ich hab’ heute morgen wieder eine dieser beliebten Beugeübungen für Sie, Flint. Gehen Sie auf den Balkon, und machen Sie sich dort an die Arbeit.«


»Wonach soll ich heute suchen, Inspektor?« grinste der breitschultrige Detective. »Ich hoffe doch, daß ich mehr Glück haben werde als Montag nacht.«


»Sie suchen nach einem Hut – nach einem hübschen, glänzenden Zylinder, so wie ihn die feinen Herren tragen«, verkündete der Inspektor. »Aber sollten Sie zufällig auf etwas anderes stoßen, rufen Sie uns!« Flint trottete die breite Marmortreppe zum Balkon hoch. Queen schaute ihm nach und schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, dem armen Kerl wird eine weitere Enttäuschung nicht erspart bleiben«, bemerkte er zu Ellery. »Aber ich muß absolut sichergehen, daß sich dort oben nichts befindet und daß Miller, der Platzanweiser, der Montag abend den Treppenaufgang beaufsichtigte, die Wahrheit gesagt hat. Komm schon, du Faulpelz!«


Widerstrebend legte Ellery seinen Mantel ab und steckte das Buch in seine Tasche. Der Inspektor wand sich aus seinem weiten Mantel und ging seinem Sohn den Gang entlang voraus. Seite an Seite begannen sie an dem einen Ende des Raumes mit der Durchsuchung des Orchestergrabens. Nachdem sie dort nichts gefunden hatten, kletterten sie wieder zurück in den Zuschauerraum und durchkämmten langsam und gründlich – Ellery nahm die rechte, sein Vater die linke Seite – das Theater. Sie klappten die Sitzflächen hoch, stachen mit langen Nadeln, die der Inspektor aus seiner Brusttasche hervorgezaubert hatte, in die Plüschpolster und knieten sich nieder, um jeden Zentimeter des Teppichs im Schein der Taschenlampe zu untersuchen.


Die beiden Polizisten, die inzwischen ihre Arbeit mit den Planen beendet hatten, begannen nun, die Logen zu durchsuchen – ein Mann auf jeder Seite des Theaters.


Eine lange Zeit machten die vier Männer schweigend weiter; in der Stille hörte man nur das etwas angestrengte Atmen von Inspektor Queen. Ellery arbeitete schnell und effektiv; sein Vater war langsamer. Wenn sie sich nach der Durchsuchung einer Reihe in der Mitte trafen, schauten sie sich bedeutungsvoll an, schüttelten die Köpfe und begannen aufs neue.


Ungefähr zwanzig Minuten nach Panzers Abgang wurden der Inspektor und Ellery, beide in die Untersuchung vertieft, vom Klingeln eines Telefons, das in der Stille des Theaters besonders deutlich zu vernehmen war, aufgeschreckt. Vater und Sohn schauten sich einen Augenblick verdutzt an; dann lachte der alte Mann und stapfte den Gang hinauf in die Richtung von Panzers Büro.


Kurz darauf kehrte er lächelnd zurück. »Es war Panzer«, teilte er mit. »War bei Fields Büro angekommen und hatte niemanden angetroffen. Kein Wunder – ist ja auch erst Viertel vor neun. Aber ich hab’ ihm gesagt, er soll dort warten, bis Cronin kommt. Das wird jetzt nicht mehr lange dauern.«


Ellery lachte, und sie machten sich erneut an die Arbeit.


Fünfzehn Minuten später, als die beiden fast fertig waren, öffnete sich die Eingangstüre; eine kleine ältere Frau ganz in Schwarz erschien und blinzelte in den hellen Schein der Bogenlampen. Der Inspektor schoß auf sie zu.


»Sie sind Mrs. Philipps, nicht war?« rief er eifrig. »Es ist wirklich sehr liebenswürdig von Ihnen, Verehrteste, so schnell herzukommen. Ich glaube, Mr. Queen hier kennen Sie bereits?«


Ellery kam heran, zeigte ein für ihn so seltenes Lächeln und verbeugte sich galant. Mrs. Phillips war das Muster einer liebenswerten älteren Frau. Sie war klein und hatte recht mütterliche Formen. Mit ihrem schneeweißen Haar und ihrem gütigen Gesichtsausdruck gewann sie sofort die Zuneigung von Inspektor Queen, der eine sentimentale Schwäche für ältere Damen empfand.


»Sicher kenne ich Mr. Queen bereits«, sagte sie und reichte ihm ihre Hand. »Er war Montag abend sehr freundlich zu einer alten Frau … Und ich habe mir schon solche Sorgen gemacht, daß Sie auf mich warten müßten, Sir«, sagte sie leise und wandte sich an den Inspektor. »Mr. Panzer sandte mir heute morgen einen Boten – ich habe nämlich kein Telefon. Früher hatte ich eins, als ich noch selbst auf der Bühne stand … Ich kam, so schnell ich konnte.«


Der Inspektor strahlte. »Für eine Dame waren Sie ungewöhnlich schnell, wirklich ungewöhnlich schnell, Mrs. Phillips.«


»Mein Vater ist ein alter Schmeichler, Mrs. Phillips«, sagte Ellery ernst. »Also glauben Sie ihm kein Wort … Ich denke, es wird am besten sein, Vater, wenn ich es dir überlasse, den Rest des Zuschauerraums in Angriff zu nehmen. Ich würde mich gerne ein klein wenig mit Mrs. Phillips unterhalten. Glaubst du, daß du noch fit genug bist, die Sache alleine zu Ende zu bringen?«


»Fit genug –!« schnaubte der Inspektor wütend. »Du ziehst jetzt auf der Stelle los, und machst dich an die Arbeit … Mrs. Phillips, ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie Mr. Queen im Rahmen Ihrer Möglichkeiten behilflich sein könnten.«


Die weißhaarige Dame lächelte. Ellery nahm ihren Arm und führte sie in Richtung der Bühne. Inspektor Queen blickte ihnen versonnen nach, zuckte dann mit den Schultern und nahm die Suche wieder auf. Ein wenig später, als er sich gerade einmal aufrichtete, erblickte er Ellery und Mrs. Phillips, wie sie in angeregtem Gespräch auf der Bühne saßen. Sie wirkten wie zwei Schauspieler während der Probe. Queen arbeitete sich langsam weiter durch die Reihen, beugte sich über leere Sitze und schüttelte traurig den Kopf, als er sich immer noch mit leeren Händen den letzten Reihen näherte. Als er erneut aufschaute, waren die beiden Stühle auf der Bühne nicht mehr besetzt. Ellery und die alte Dame waren verschwunden.


Ganz zum Schluß kam Queen zu dem Platz LL32 Links, dort, wo Monte Field gestorben war. Bereits mit leicht resigniertem Blick nahm er eine gewissenhafte Untersuchung der Polster vor. Leise vor sich hin murmelnd, ging er dann zur Hinterseite des Zuschauerraums und betrat Panzers Büro. Wenig später erschien er wieder, nur um direkt anschließend wieder den winzigen Raum zu betreten, der vom Werbeleiter Harry Neilson als Büro benutzt wurde. Dort hielt er sich einige Zeit auf. Er kam dann heraus und stattete den beiden Kassenräumen einen Besuch ab. Als er damit fertig war, schloß er die Tür und nahm seinen Weg über die Treppe, die rechts im Theater hinunter in das Foyer führte, das unter dem Zuschauerraum gelegen war. Hier ließ er sich viel Zeit, stöberte in jeder Ecke, in jeder Wandnische, in jedem Abfallbehälter herum – alles war leer. Nachdenklich betrachtete er das große Bassin des Springbrunnens, spähte hinein und fand nichts. Daraufhin öffnete er seufzend die Tür mit der goldfarbenen Aufschrift ›Damen‹ und ging hinein. Wenig später erschien er wieder und schob sich durch die Schwingtür mit der Aufschrift ›Herren‹.


Als er die peinlich genaue Durchsuchung des unteren Stockwerks beendet hatte, stapfte er wieder mühsam die Treppen hoch.


Im Zuschauerraum traf er auf den wartenden Louis Panzer; von der Anstrengung war er leicht errötet, zeigte aber ein triumphierendes Lächeln. Der kleine Geschäftsführer trug ein in braunes Papier eingewickeltes Päckchen.


»Dann haben Sie Cronin also doch noch getroffen, Panzer?« sagte der Inspektor und hastete vorwärts. »Das war ungeheuer nett von Ihnen – ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll. Ist das das Päckchen, das Cronin Ihnen gegeben hat?«


»Das ist es. Ein sehr netter Kerl, dieser Cronin. Ich mußte nicht mehr lange warten, nachdem ich Sie angerufen hatte. Er kam zusammen mit zwei anderen Männern, Stoates und Lewin. Er hat mich höchstens zehn Minuten warten lassen. Ich hoffe doch, daß es wichtig war, Inspektor?« fuhr Panzer lächelnd fort. »Ich würde so gerne das Gefühl haben, zu der Auflösung des Rätsels meinen Teil beigetragen zu haben.«


»Wichtig?« tönte der Inspektor zurück und nahm das Päckchen aus der Hand des Managers. »Sie haben keine Vorstellung davon, wie wichtig es war. Eines Tages werde ich Ihnen mehr darüber erzählen … Würden Sie mich jetzt bitte entschuldigen, Panzer?«


Der kleine Mann nickte enttäuscht, als sich der Inspektor grinsend in eine dunkle Ecke zurückzog. Panzer zuckte die Schultern und verschwand in seinem Büro.


Als er ohne Hut und Mantel wieder herauskam, stopfte der Inspektor gerade das Päckchen in seine Tasche.


»Haben Sie gekriegt, was Sie haben wollten, Sir?« erkundigte sich Panzer.


»Oh doch, ja wirklich!« sagte Queen und rieb sich die Hände. »Wie ich sehe, ist Ellery immer noch nicht wieder da; wir wär’s, wenn wir uns noch für ein paar Minuten in Ihr Büro begeben und uns dort die Zeit vertreiben würden, bis er zurückkehrt.«


Sie gingen in Panzers Arbeitszimmer und setzten sich. Der Manager zündete sich eine lange türkische Zigarette an, während der Inspektor in seine Schnupftabakdose griff.


»Ich möchte nicht aufdringlich erscheinen, Inspektor«, sagte Panzer beiläufig, legte seine kurzen dicken Beine übereinander und stieß eine Rauchwolke hervor, »aber wie stehen die Dinge?«


Queen schüttelte betrübt den Kopf. »Schlecht – ziemlich schlecht. Wir scheinen an den Hauptpunkten dieses Falles nicht weiterzukommen. Tatsache ist, und das kann ich Ihnen ruhig mitteilen, daß wir uns solange auf einen völligen Mißerfolg gefaßt machen müssen, wie wir nicht einem bestimmten Gegenstand auf die Spur kommen … Es fällt mir schwer, es auszusprechen – aber ich hatte noch nie mit einer Untersuchung zu tun, die mir so viel Kopfzerbrechen bereitet hat.« Mit sorgenvoller Miene ließ er den Deckel der Tabakdose zuschnappen.


»Das ist zu schade, Inspektor«, entgegnete Panzer in einem Ton übertriebener Anteilnahme. »Und ich hoffte schon – nun gut! Man sollte wohl sein persönliches Interesse nicht vor die Erfordernisse der Strafverfolgung stellen. Nur was suchen Sie eigentlich, Inspektor – falls Sie nichts dagegen haben, das einem Außenstehenden anzuvertrauen?« Queen strahlte. »Aber ganz und gar nicht. Sie haben mir heute morgen einen großen Gefallen getan und … Alle Wetter! Wie dumm von mir, nicht eher daran gedacht zu haben!« Panzer beugte sich gespannt nach vorne. »Wie lange sind Sie schon Manager des Römischen Theaters, Panzer?«


Der Geschäftsführer zog die Brauen hoch. »Bereits seit es erbaut wurde«, sagte er. »Davor leitete ich das alte Electra in der 43. Straße. Es gehört auch Gordon Davis«, erklärte er.


»Oh!« Der Inspektor schien angestrengt nachzudenken. »Dann müßten Sie dieses Theater von oben bis unten ganz genau kennen, Sie müßten mit seiner Bauweise in gleicher Weise vertraut sein wie der Architekt – oder?«


»Ich kenne es so ziemlich durch und durch, ja«, bekannte Panzer und lehnte sich zurück.


»Das ist ausgezeichnet. Ich werde Sie vor ein kleines Problem stellen, Panzer … Gesetzt den Fall, Sie wollten irgendwo in diesem Gebäude – nehmen wir einmal an – einen Zylinder verbergen und zwar so, daß selbst eine gründliche Durchsuchung ihn nicht zum Vorschein bringen würde. Wo würden Sie ihn verstecken?«


Panzer blickte nachdenklich auf seine Zigarette. »Eine ziemlich ungewöhnliche Frage, Inspektor«, sagte er schließlich, »und eine, die nicht leicht zu beantworten ist. Ich kenne die Baupläne für das Theater sehr genau; bevor es gebaut wurde, hat man mich in einer Besprechung mit dem Architekten zu Rate gezogen. Und ich kann eindeutig versichern, daß die Originalpläne keine mittelalterlichen Einrichtungen wie Geheimgänge, versteckte Kammern oder ähnliches vorsahen. Ich könnte eine Reihe von Plätzen aufzählen, an denen man einen verhältnismäßig kleinen Gegenstand wie einen Zylinder verstecken könnte, aber keiner von ihnen würde bei einer wirklich gründlichen Durchsuchung unentdeckt bleiben.«


»Ich verstehe.« Dem Anschein nach enttäuscht blickte der Inspektor auf seine Fingernägel. »Das hilft uns also auch nicht weiter. Wie Sie wissen, sind wir das Gebäude von oben bis unten durchgegangen, konnten aber nichts finden …«


Die Tür ging auf und Ellery trat ein – zwar ein wenig beschmutzt, aber mit einem vergnügten Lächeln. Der Inspektor blickte ihn voller Neugierde an. Panzer erhob sich zögernd, anscheinend in der Absicht, Vater und Sohn allein zu lassen. Die beiden verständigten sich mit einem Blick.


»Es ist schon in Ordnung – bleiben Sie ruhig hier«, sagte der Inspektor entschieden. »Wir haben keine Geheimnisse vor Ihnen. Nehmen Sie Platz!« Panzer setzte sich.


»Glaubst du nicht auch, Vater«, bemerkte Ellery, der sich auf den Rand des Schreibtischs gesetzt hatte und nun nach seinem Kneifer griff, »daß dies die passende Gelegenheit wäre, Mr. Panzer von der heutigen Wiedereröffnung des Theaters in Kenntnis zu setzen? Du entsinnst dich doch, daß wir in seiner Abwesenheit zu der Entscheidung gekommen sind, das Theater heute abend wieder dem Publikum zugänglich zu machen und eine reguläre Vorstellung zuzulassen.«


»Wie konnte ich das nur vergessen!« sagte der Inspektor, ohne mit der Wimper zu zucken, obwohl er zum ersten Mal von dieser angeblichen Entscheidung vernahm. »Ich denke, Panzer, wir sind so weit, die Schließung des Theaters wieder aufzuheben. Wir haben festgestellt, daß wir hier nichts weiter machen können; es gibt also keinen Grund mehr, Sie auch weiterhin um Ihr Publikum zu bringen. Sie dürfen also die Vorstellung heute abend stattfinden lassen; es ist uns sogar sehr daran gelegen, daß die Vorstellung stattfindet, nicht wahr, Ellery?«


»›Gelegen‹ ist kaum das richtige Wort«, sagte Ellery und zündete sich eine Zigarette an. »Ich würde sagen, wir bestehen darauf.«


»Ganz genau«, brummte der Inspektor streng. »Wir bestehen darauf, Panzer.«


Mit strahlendem Gesicht war der Geschäftsführer von seinem Stuhl aufgestanden. »Das ist einfach wunderbar, Gentlemen!« rief er. »Ich werde sofort Mr. Davis anrufen, um ihm die gute Nachricht mitzuteilen. Natürlich ist es schon schrecklich spät« – sein Gesicht wurde länger – »und man kann keinen Publikumsandrang mehr für heute abend erwarten. Eine so kurzfristige Ankündigung …«


»Darüber brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen, Panzer«, entgegnete der Inspektor. »Ich habe die Schließung veranlaßt, und ich werde Sorge tragen, daß das Theater dafür heute abend entschädigt wird. Ich werde die Jungs von der Zeitung anrufen und sie bitten, in der nächsten Ausgabe groß Reklame für die Wiedereröffnung zu machen. Das macht die Angelegenheit bekannt, und zweifellos wird Ihnen diese kostenlose Werbung in Verbindung mit der natürlichen Neugierde der Leute einen ausverkauften Abend bescheren.«


»Das ist wirklich anständig von Ihnen, Inspektor«, sagte Panzer und rieb sich die Hände. »Gibt es noch etwas, was ich im Augenblick für Sie tun kann?«


»Eine Sache hast du noch vergessen, Vater«, warf Ellery ein. Er wandte sich an den kleinen dunkelhäutigen Geschäftsführer. »Würden Sie bitte dafür sorgen, daß die Plätze LL32 und LL30 heute abend nicht verkauft werden? Der Inspektor und ich würden uns gerne die Vorstellung ansehen. Bisher hatten wir ja noch nicht das Vergnügen. Selbstverständlich wünschen wir, daß darüber striktes Stillschweigen gewahrt wird, Panzer – wir legen keinen Wert auf die Lobhudelei der Massen. Sie werden es geheim halten.«


»Ganz wie Sie sagen, Mr. Queen. Ich werde den Kassierer anweisen, diese Karten beiseite zu legen«, antwortete Panzer freundlich. »Und dann, Inspektor – ich glaube, Sie sagten, Sie würden der Presse Bescheid geben?«


»Ja, sicher.« Queen nahm das Telefon und unterhielt sich sehr nachdrücklich mit den Lokalredakteuren einiger Blätter der Stadt. Als er damit fertig war, verabschiedete Panzer sich eilig von ihnen, um dann selber am Telefon tätig zu werden.


Inspektor Queen und sein Sohn schlenderten hinaus in den Zuschauerraum, wo Flint und die beiden Polizisten, die die Logen durchsucht hatten, auf sie warteten.


»Ihr bleibt weiter draußen vor dem Theater«, ordnete der Inspektor an. »Seid heute nachmittag besonders aufmerksam. Hat jemand von euch etwas gefunden?«


Flint blickte finster. »Ich sollte besser am Strand Muscheln suchen gehen«, sagte er verärgert. »Ich hab’ schon am Montag versagt, Inspektor, und ich hab’ verdammt noch mal auch heute rein gar nichts für Sie finden können. Oben auf dem Balkon ist alles wie leergefegt. Vielleicht sollte ich mich wieder dem Gewichtheben widmen.«


Queen klopfte dem großen Detective auf die Schulter. »Was ist denn mit Ihnen los? Seien Sie doch nicht kindisch. Wie um alles in der Welt hätten Sie denn etwas finden können, wenn es überhaupt nichts zu finden gab? Habt ihr etwas gefunden?« fragte er und drehte sich zu den beiden anderen Männern um.


Verdrießlich schüttelten sie den Kopf.


Wenig später stiegen der Inspektor und Ellery in ein Taxi und machten es sich für die kurze Strecke zum Präsidium bequem. Der alte Mann schloß sorgfältig die Trennscheibe zwischen dem Fahrersitz und dem Fahrgastraum.


»Und nun, mein Sohn«, sagte er grimmig zu Ellery, der verträumt an einer Zigarette zog, »erklärst du gefälligst deinem Vater, was dieser Hokuspokus in Panzers Büro sollte!«


Ellery preßte die Lippen zusammen. Er blickte auf die Straße hinaus, bevor er antwortete. »Ich will folgendermaßen beginnen«, sagte er. »Du hast bei deiner Suche heute nichts gefunden. Deine Leute auch nicht. Und obwohl ich selbst auf die Suche gegangen bin, war ich genauso erfolglos. Du mußt dich also damit abfinden: Der Hut, den Monte Field zur Aufführung von ›Spiel der Waffen‹ am Montag abend trug, mit dem er noch zu Beginn des zweiten Akts gesehen wurde und den der Mörder vermutlich nach der Tat wegnahm, befindet sich nicht mehr im Römischen Theater und war dort auch bereits seit Montag nacht nicht mehr. Weiter im Text.« Queen blickte ihn mit verkniffenem Gesichtsausdruck an. »Aller Wahrscheinlichkeit nach existiert Fields Zylinder überhaupt nicht mehr. Ich würde meinen Falconer gegen deine Schnupftabakdose setzen, daß er aus dem bisherigen Leben geschieden und bereits als Asche auf der städtischen Mülldeponie wiedergeboren ist. Soweit zu Punkt eins.«


»Weiter«, forderte der Inspektor.


»Punkt zwei könnte jedes Kind erraten. Dennoch, auch auf die Gefahr hin, deinen Verstand zu beleidigen … Wenn Fields Hut im Moment nicht im Römischen Theater ist und dort auch seit Montag abend nicht mehr war, muß er notwendigerweise irgendwann im Verlauf dieses Abends mit hinausgenommen worden sein!«


Er machte eine Pause und blickte nachdenklich aus dem Fenster. Auf der Kreuzung von 42. Straße und Broadway regelte ein Polizist den Verkehr.


»Wir haben folglich«, fuhr er locker fort, »das sachliche Fundament für das Problem geschaffen, das uns seit drei Tagen quält: Ist der Hut, nach dem wir suchen, bereits aus dem Theater verschwunden …? Rein dialektisch muß die Antwort lauten – ja, er ist. Er ist in der Mordnacht aus dem Theater verschwunden. Nun kommen wir zu einem größeren Problem – wie konnte er verschwinden, und wann war das?« Er zog an der Zigarette und betrachtete das glühende Ende. »Wir wissen, daß am Montag abend niemand das Römische Theater mit zwei Hüten oder ganz ohne Hut verließ. Genausowenig fiel an der Bekleidung der Personen, die das Theater verließen, etwas Unpassendes auf – das heißt, niemand im Abendanzug kam mit einem Filzhut heraus. Umgekehrt trug auch niemand, der einen seidenen Zylinder bei sich hatte, einen normalen Straßenanzug. Halt dir vor Augen, daß wir in dieser Hinsicht bei niemandem etwas Falsches entdeckt haben. Meinen umwerfenden Verstand führt das unvermeidlich zur dritten grundlegenden Schlußfolgerung: Monte Fields Zylinder hat das Theater auf die natürlichste Weise der Welt verlassen, das heißt, auf dem Kopf eines Mannes, der in der dazu passenden Abendgarderobe steckte!«


Der Inspektor schien sehr interessiert. Er dachte einen Augenblick über Ellerys Behauptung nach. Dann sagte er ernst: »Das bringt uns schon ein Stück weiter, mein Sohn. Du sagst also, daß jemand, der Monte Fields Hut trug, das Theater verließ – eine wichtige und einleuchtende Feststellung. Aber beantworte mir bitte die folgende Frage: Was hat er mit seinem eigenen Hut angefangen, da ja niemand mit zweien hinausging?«


Ellery lächelte. »Du bist jetzt schon ganz nahe an der Lösung unseres kleinen Rätsels, Vater. Aber wir wollen die Spannung noch ein wenig aufrechterhalten. Wir müssen noch über einige andere Probleme nachgrübeln. So kann zum Beispiel derjenige, der mit Monte Fields Zylinder auf dem Kopf hinausging, nur zweierlei gewesen sein – entweder der Mörder selbst oder ein Komplize des Mörders.«


»Ich verstehe, worauf du hinauswillst«, murmelte der Inspektor. »Mach weiter.«


»Wenn er der Mörder war, hätten wir somit definitiv sein Geschlecht nachgewiesen und auch die Tatsache, daß er einen Abendanzug trug – ein nicht gerade sehr aufschlußreicher Punkt, da ziemlich viele Männer in diesem Aufzug im Theater waren. Wenn er aber nur der Komplize war, so bleiben für den Mörder folgerichtig zwei Möglichkeiten offen: Entweder war es ein Mann im normalen Straßenanzug, bei dem der Besitz eines Zylinders beim Verlassen des Theaters offenkundig Verdacht erregt hätte, oder aber eine Frau, die natürlich keinen Zylinder bei sich haben konnte!«


Der Inspektor ließ sich zurück in die Lederpolster fallen. »Du immer mit deiner Logik!« sagte er schmunzelnd. »Ich bin schon fast stolz auf dich, mein Sohn – das heißt, ich wäre es ganz bestimmt, wenn du nicht so entsetzlich eingebildet wärst. Mögen die Dinge nun liegen, wie sie wollen, ich möchte jetzt eine Erklärung für deinen kleinen Auftritt in Panzers Büro …«


Seine Stimme wurde leiser, als Ellery sich vorbeugte. Nicht mehr hörbar setzten sie ihre Unterhaltung fort, bis das Taxi vor dem Präsidium hielt.


Kaum hatte Inspektor Queen, der vergnügt die düsteren Korridore mit Ellery an seiner Seite durchschritten hatte, sein winziges Büro betreten, als sich auch schon Sergeant Velie schwerfällig erhob.


»Dachte schon, Sie wären verlorengegangen, Inspektor«, rief er aus. »Dieses Bürschlein Stoates war vor nicht allzu langer Zeit hier; sah ziemlich leidend aus. Sagte, daß sich Cronin in Fields Büro die Haare raufen würde; sie haben immer noch nichts Belastendes in den Akten gefunden.«


»Bleib mir damit nur vom Leibe, Thomas«, sprudelte der Inspektor heraus. »Ich kann mich nicht auch noch mit einer so unwichtigen Sache wie ›wie kriege ich einen Toten hinter Gitter‹ herumschlagen. Ellery und ich …«


Das Telefon klingelte. Queen sprang nach vorne und schnappte sich den Apparat. Während er zuhörte, wich die Farbe aus seinen eingefallenen Wangen, und wieder einmal legte sich seine Stirn in Falten. Ellery beobachtete ihn voller Aufmerksamkeit.


»Inspektor«, erklang die gehetzte Stimme eines Mannes. »Hier spricht Hagstrom. Hab’ nur wenig Zeit – kann nicht viel erzählen. Bin den ganzen Morgen Angela Russo auf den Fersen; war ein hartes Stück Arbeit … Scheint gewußt zu haben, daß ich ihr folge … Vor einer halben Stunde dachte sie, sie hätte mich abgehängt – sie sprang in ein Taxi und raste stadteinwärts davon. … Und hören Sie mal, Inspektor – vor genau drei Minuten hab’ ich gesehen, wie sie Benjamin Morgans Büro betrat!«


»Schnappen Sie sie, sobald sie herauskommt«, schnauzte der Inspektor und knallte den Hörer auf die Gabel. Langsam wandte er sich dann zu Ellery und Velie herum und wiederholte Hagstroms Bericht. Ellerys Gesicht entwickelte sich zu einem Musterbeispiel finsteren Erstaunens. Velie schien unverkennbar erfreut zu sein.


Die Stimme des alten Mannes jedoch klang angestrengt, als er sich schwach auf seinen Drehstuhl setzte und schließlich ächzend sagte: »Was hat das nun wieder zu bedeuten?«

Fünfzehntes Kapitel

in welchem jemand beschuldigt wird




Detective Hagstrom war ein Mensch von phlegmatischer Natur. Er konnte seine Herkunft bis in die Berge Norwegens zurückverfolgen, wo Gleichmut eine Tugend war und Gelassenheit in höchstem Maße verehrt wurde. Als er aber an der glänzenden Marmorwand im zwanzigsten Stock des Maddern Building lehnte, dreißig Fuß von der in Bronze und Glas gearbeiteten Türe entfernt, die die Aufschrift

Benjamin Morgan Rechtsanwalt

trug, schlug sein Herz ein wenig schneller als gewöhnlich. Er trat nervös von einem Bein auf das andere, während er heftig ein Stück Kautabak kaute. Um die Wahrheit zu sagen, hatte Detective Hagstrom, der in Polizeidiensten bereits die unterschiedlichsten Erfahrungen gemacht hatte, noch niemals seine Hand auf die Schulter einer Frau gelegt mit der Absicht, diese zu verhaften. Er sah daher der auf ihn zukommenden Aufgabe mit einer gewissen Angst entgegen, da er sich nur zu gut an das hitzige Temperament der Dame erinnerte, auf die er nun wartete.

Seine Besorgnis war wohlbegründet. Nachdem er sich etwa zwanzig Minuten im Korridor aufgehalten hatte und sich bereits fragte, ob seine Beute nicht durch einen anderen Ausgang hinausgeschlüpft war, flog die Tür zu Benjamin Morgans Büro plötzlich auf, und es erschien die große, ansehnliche Gestalt von Mrs. Angela Russo. Sie trug ein modisches Tweedkostüm. Ihr sorgfältig zurechtgemachtes Gesicht war vor Zorn entstellt; sie schwang drohend ihre Handtasche, während sie mit energischen Schritten auf die Aufzüge zuging. Hagstrom sah kurz auf seine Uhr. Es war zehn Minuten vor zwölf. In kurzer Zeit würden die Büroangestellten zu ihrer Mittagspause hinausströmen, und er hatte die feste Absicht, seine Festnahme in der ruhigen, leeren Halle vorzunehmen.

Er richtete sich daher auf, zog seine orangeblaue Krawatte zurecht und trat mit gut gespielter Kaltblütigkeit auf die näherkommende Frau zu. Als sie ihn erblickte, verlangsamte sie ihren Gang merklich. In Erwartung eines Fluchtversuchs stürzte Detective Hagstrom auf sie zu. Aber Mrs. Angela Russo war von einem anderen Kaliber. Sie warf den Kopf zurück und trat ihm beherzt entgegen.

Hagstrom legte seine große rauhe Hand auf ihren Arm. »Ich nehme an, Sie wissen, was ich mit Ihnen vorhabe«, sagte er grimmig. »Kommen Sie mit, und machen Sie keinen Ärger, sonst leg’ ich Ihnen die Handschellen an.«

Mrs. Russo schüttelte seine Hand ab. »Meine Güte – Sie sind aber ein großer starker Bulle«, murmelte sie. »Was fällt Ihnen eigentlich ein?«

Hagstrom stierte sie an. »Keine Sprüche jetzt!« Sein Finger drückte energisch auf den ›Abwärts‹-Schalter des Aufzugs. »Sie halten einfach den Mund, und kommen mit mir!«

Sie schenkte ihm ein süßes Lächeln. »Versuchen Sie etwa, mich festzunehmen?« gurrte sie. »Sie wissen doch genau, Sie großer starker Mann, daß Sie einen Haftbefehl dazu brauchen!«

»Ach, halten Sie Ihr Maul!« knurrte er. »Ich nehme Sie nicht fest – ich lade Sie nur zu einem Spaziergang ins Präsidium ein, um ein wenig mit Inspektor Queen zu plaudern. Kommen Sie jetzt mit, oder muß ich Sie mit dem Wagen holen lassen?«

Ein Aufzug hielt. Der Liftboy rief: »Abwärts!« Die Frau blickte einen Augenblick lang unschlüssig auf die Kabine, warf Hagstrom einen verstohlenen Blick zu und trat dann schließlich in den Aufzug, während der Detective ihren Ellenbogen fest im Griff hatte. Sie fuhren unter den neugierigen Blicken einiger Mitfahrender schweigend abwärts.

Hagstrom, unsicher, aber entschieden, spürte, daß sich in der so ruhig neben ihm schreitenden Frau ein Unwetter zusammenbraute und ging keinerlei Risiko ein. Er lockerte seinen Griff nicht, bis sie nebeneinander in einem Taxi in Richtung Präsidium saßen. Trotz des unerschrockenen Lächelns auf ihren Lippen war Mrs. Russo bleich geworden unter ihrer Schminke. Sie wandte sich plötzlich ihrem Wächter zu und schmiegte sich eng an seinen unnahbar wirkenden Körper.

»Mr. Bulle, Liebling«, flüsterte sie, »könntest du nicht einen Hundertdollarschein brauchen?«


Sie spielte bedeutungsvoll mit ihrer Handtasche herum. Hagstrom verlor seine Selbstbeherrschung.


»Bestechung, was?« sagte er höhnisch. »Das müssen wir uns für den Inspektor merken!«


Das Lächeln auf dem Gesicht der Frau erlosch. Den Rest der Fahrt saß sie nur noch da und hielt ihren Blick starr auf den Nacken des Fahrers gerichtet.


Erst als sie wie ein Soldat auf der Parade die dunklen Gange des Polizeigebäudes heruntergeführt wurde, gewann sie ihr sicheres Auftreten zurück. Und als ihr Hagstrom die Tür zu Inspektor Queens Büro aufhielt, ging sie mit einem leichten Kopfnicken und freundlichem Lächeln hinein, so daß sogar eine Polizistin getäuscht worden wäre.


Inspektor Queens Büro vermittelte eine heitere farbenfrohe Atmosphäre mit viel Sonnenschein. Im Augenblick sah es aus wie ein Clubzimmer. Ellerys lange Beine waren entspannt auf dem dicken Teppich ausgestreckt, er selbst schien ganz in Anspruch genommen von der Lektüre eines kleinen, billig eingebundenen Buches mit dem Titel ›Handbuch der Handschriftenkunde‹. Um seine Finger kräuselte sich der Rauch einer Zigarette. Sergeant Velie saß müßig auf einem an die hintere Wand gelehnten Stuhl und war ganz versunken in die Betrachtung von Inspektor Queens Schnupftabakdose, die der alte Polizeibeamte liebevoll zwischen Daumen und Zeigefinger einer Hand hielt. Queen saß in seinem bequemen Sessel und schmunzelte über einige geheime Gedanken, die ihm durch den Kopf gingen.


»Ah! Mrs. Russo! Nur hereinspaziert!« rief der Inspektor und sprang dabei auf. »Thomas – bitte einen Stuhl für Mrs. Russo.« Der Sergeant stellte schweigend einen der kahlen Holzstühle neben den Schreibtisch des Inspektors und zog sich dann wieder schweigend in seine Ecke zurück. Ellery hatte noch nicht einmal aufgeschaut. Er las weiter mit demselben abwesenden Lächeln auf den Lippen. Der alte Mann verneigte sich in zuvorkommender Weise vor Mrs. Russo.


Diese schaute verwirrt auf die friedvolle Szene um sich herum. Sie war auf Strenge, Härte und Unerbittlichkeit vorbereitet gewesen – die heimelige Atmosphäre in dem kleinen Büro überraschte sie völlig. Trotzdem nahm sie Platz und zeigte – nach einem nur kurzen Zögern – wieder dasselbe gewinnende Lächeln, dieselbe damenhafte Haltung, die sie bereits so erfolgreich auf den Fluren einstudiert hatte.


Hagstrom blieb in der Tür stehen und blickte mit dem Ausdruck gekränkter Würde auf die vor ihm sitzende Frau.


»Sie hat versucht, mir einen Hunderter zuzuschieben«, sagte er entrüstet. »Versuchte, mich zu bestechen, Chef!«


Queen zog schockiert die Augenbrauen hoch. »Meine liebe Mrs. Russo!« rief er mit besorgter Stimme aus. »Sie wollten doch nicht wirklich diesen hervorragenden Polizisten dazu bringen, seine Pflichten gegenüber unserer Stadt zu vergessen, oder? Aber natürlich nicht! Wie dumm von mir! Hagstrom, mein lieber Junge, Sie haben sicher etwas falsch verstanden. Hundert Dollar –« Er schüttelte traurig den Kopf und ließ sich in seinen ledernen Drehstuhl zurücksinken.


Mrs. Russo lächelte. »Ist es nicht merkwürdig, wie schnell diese Polizisten einen falschen Eindruck bekommen?« fragte sie mit lieblicher Stimme. »Ich kann Ihnen versichern, Inspektor – ich habe nur ein wenig Spaß gemacht …«


»So ist es«, sagte der Inspektor und lächelte noch einmal, als hätte diese Erklärung seinen Glauben in die menschliche Natur wiederhergestellt. »Hagstrom, das ist alles.«


Der Detective, der mit offenem Mund von seinem Vorgesetzten zu der lächelnden Frau blickte, gewann gerade noch rechtzeitig seine Fassung wieder, um wahrzunehmen, wie sich Velie und Queen über den Kopf der Frau hinweg zuzwinkerten. Vor sich hin brummend, eilte er aus dem Zimmer.


»Nun, Mrs. Russo«, begann der Inspektor in geschäftsmäßigem Ton, »was können wir heute für Sie tun?«


Sie starrte ihn erstaunt an. »Aber – aber, ich dachte, Sie wollten mich sehen …« Sie kniff die Lippen zusammen. »Hören Sie doch mit dieser Komödie auf, Inspektor!« sagte sie schroff. »Freiwillig mache ich hier keine Anstandsbesuche, das wissen Sie genau. Warum haben Sie mich herbringen lassen?«


Der Inspektor streckte seine sensiblen Finger abwehrend aus; protestierend spitzte er die Lippen. »Aber meine liebe Dame!« sagte er. »Es gibt bestimmt etwas, was Sie mir erzählen wollen. Denn, wenn Sie hier sind – und um diese augenscheinliche Tatsache kommen wir nicht herum –, sind Sie aus gutem Grund hier. Auch wenn ich Ihnen zugestehe, daß Sie nicht ganz aus freiem Willen hergekommen sind – Sie sind auf jeden Fall hergebracht worden, weil Sie mir etwas zu erzählen haben. Ist Ihnen das nicht klar?«


Mrs. Russo blickte ihm fest in die Augen. »Was zum – also hören Sie mal, Inspektor, worauf wollen Sie eigentlich hinaus? Was glauben Sie, habe ich Ihnen zu erzählen? Ich habe alle Fragen, die Sie mir am Dienstag gestellt haben, beantwortet.«


»Gut!« antwortete der alte Mann zornig. »Ich würde sagen, daß Sie am Dienstag morgen nicht alle Fragen vollkommen aufrichtig beantwortet haben. Zum Beispiel – kennen Sie Benjamin Morgan?«


Sie zuckte nicht mit der Wimper. »In Ordnung. Damit haben Sie ins Schwarze getroffen. Ihr Spürhund hat mich erwischt, wie ich gerade aus Morgans Büro kam – na und?« Sie öffnete lässig ihre Handtasche und begann, sich ihre Nase zu pudern. Während sie das tat, warf sie Ellery einen verstohlenen Blick zu. Er war immer noch in sein Buch vertieft und hatte ihre Anwesenheit noch nicht zur Kenntnis genommen. Sie warf den Kopf zurück und wandte sich wieder dem Inspektor zu.


Queen sah sie bekümmert an. »Meine liebe Mrs. Russo, Sie sind nicht fair zu einem alten Mann. Ich wollte nur darauf hinweisen, daß Sie – soll ich sagen – mich belogen haben, als wir uns das letzte Mal gesprochen haben. Das ist nun einmal ein gefährliches Unterfangen bei Polizeiinspektoren, meine Liebe, ein äußerst gefährliches.«


»Jetzt hören Sie mir mal zu!« sagte die Frau plötzlich. »Auf die weiche Tour kommen Sie bei mir auch nicht weiter, Inspektor. Ich habe Sie am Dienstag morgen belogen. Sehen Sie, ich habe nämlich nicht geglaubt, daß Sie jemanden haben, der mir länger auf den Fersen bleiben kann. Es war reine Glückssache, und ich hatte eben Pech. Sie haben herausgefunden, daß ich gelogen habe und wollen nun wissen, was der Grund dafür war. Ich werde es Ihnen erzählen – oder vielleicht auch nicht!«


»Oho!« rief Queen leise aus. »Sie fühlen sich also sicher genug, mir Bedingungen stellen zu wollen. Sie können mir aber glauben, Mrs. Russo, daß Sie sich selbst gerade eine Schlinge um Ihren äußerst charmanten Hals legen!«


»Was?« Ihre Maske war nun beinahe gefallen; auf dem Gesicht der Frau zeigte sich nur noch Verwirrung. »Sie haben nichts gegen mich in der Hand und wissen das verdammt genau. In Ordnung – ich habe Sie angelogen – aber was fangen Sie damit an? Ich gebe es ja auch zu. Ich werde Ihnen sogar erzählen, was ich im Büro von diesem Morgan gemacht habe, wenn Ihnen das irgendwie weiterhilft! Ich bin nun einmal ein ehrlicher Mensch, Herr Inspektor!«


»Meine liebe Mrs. Russo«, gab der Inspektor gequält mit einem leicht verächtlichen Lächeln zurück, »wir wissen bereits, was Sie an diesem Morgen in Mr. Morgans Büro gemacht haben, so daß Sie uns damit keinen so übergroßen Gefallen erweisen werden … Ich bin wirklich überrascht darüber, daß Sie sich in einem solchen Ausmaß selbst belasten wollen, Mrs. Russo. Erpressung ist ein ziemlich schwerwiegendes Vergehen!«


Die Frau wurde leichenblaß. Sie erhob sich halb von ihrem Stuhl und umklammerte seine Armlehnen.


»Morgan hat also doch geplaudert, das Schwein!« fauchte sie. »Und ich habe ihn für schlauer gehalten. Ich werde ihn fertigmachen, das versprech’ ich Ihnen!«


»Langsam fangen wir an, dieselbe Sprache zu sprechen«, brummte der Inspektor, während er sich nach vorne beugte. »Und was wissen Sie nun über unseren Freund Morgan?«


»Ich weiß etwas über ihn – aber sehen Sie, Inspektor, ich kann Ihnen einen wirklich heißen Tip geben. Sie würden doch einer armen, einsamen Frau keine Anklage wegen Erpressung anhängen wollen, nicht wahr?«


Der Inspektor machte ein langes Gesicht. »Aber, aber, Mrs. Russo!« sagte er. »Sagt man denn so etwas! Ich kann Ihnen natürlich keine Versprechungen machen …« Er erhob sich und baute sich drohend vor ihr auf. Sie schrak ein wenig zurück. »Sie werden mir erzählen, was Sie auf dem Herzen haben, Mrs. Russo«, sagte er bedächtig, »auf die bloße Chance hin, daß ich Ihnen vielleicht meine Dankbarkeit in der allgemein üblichen Art erweisen werde. Fangen Sie jetzt bitte an zu reden, aber die Wahrheit, ist das klar?«


»Oh, ich weiß nur zu gut, daß Sie knallhart sind, Inspektor!« sagte sie murrend. »Aber ich gehe davon aus, daß Sie auch fair sind … Was wollen Sie wissen?«


»Alles.«


»Gut, es ist ja nicht mein Begräbnis«, sagte sie wieder etwas gefaßter. Eine Pause trat ein, während Queen sie erwartungsvoll ansah. Mit seiner Anschuldigung, daß sie Morgan erpreßt habe, hatte er erfolgreich einen Versuchsballon gestartet; jetzt meldeten sich leise Zweifel bei ihm. Sie wirkte zu selbstsicher, als daß es nur um Details aus Morgans Vergangenheit gehen konnte, wie es der Inspektor zu Beginn des Gesprächs angenommen hatte. Er schaute zu Ellery hinüber und bemerkte sofort, daß sein Sohn nicht mehr las, sondern seine Augen auf Mrs. Russo geheftet hatte.


»Inspektor«, sagte Mrs. Russo mit triumphierender Stimme, »ich weiß, wer Monte Field umgebracht hat!«


»Was heißt das?« Queen sprang von seinem Sessel auf, während ein feines Rot in seine bleichen Wangen schoß. Ellery richtete sich ruckartig auf seinem Stuhl auf; sein wachsamer Blick richtete sich auf das Gesicht der Frau. Das Buch, in dem er gelesen hatte, glitt ihm aus den Fingern und fiel mit einem dumpfen Knall auf den Boden.


»Ich sagte, ich weiß, wer Monte Field getötet hat«, wiederholte Mrs. Russo, die offensichtlich die Aufregung, die sie verursacht hatte, genoß. »Es war Benjamin Morgan; und ich hörte, wie er Monte an dem Abend, bevor er getötet wurde, bedrohte!«


»Oh!« sagte der Inspektor und setzte sich wieder hin. Ellery hob sein Buch auf und nahm die unterbrochene Lektüre des ›Handbuchs der Handschriftenkunde‹ wieder auf. Es kehrte wieder Ruhe ein. Velie, der Vater und Sohn die ganze Zeit über erstaunt betrachtet hatte, schien die abrupte Veränderung im Verhalten der beiden nicht verstehen zu können.


Mrs. Russo wurde ärgerlich. »Sie denken wohl, ich lüge schon wieder; aber das tue ich nicht!« schrie sie. »Aber ich sage Ihnen, ich habe mit meinen eigenen Ohren gehört, wie Ben Morgan am Sonntag abend zu Monte sagte, daß er ihn beseitigen würde!«


Der Inspektor war ernst, aber gelassen. »Ich zweifle nicht im geringsten an Ihren Worten, Mrs. Russo. Sind Sie sicher, daß es Sonntag abend war?«


»Sicher?« sagte sie schrill. »Ich weiß es ganz genau.«


»Und wo soll das gewesen sein?«


»In Monte Fields eigener Wohnung war das!« sagte sie bissig. »Ich war den ganzen Sonntag abend mit Monte zusammen. Soweit ich weiß, erwartete er keinen Besuch, weil wir normalerweise keine weiteren Gäste hatten, wenn wir den Abend zusammen verbrachten … Sogar Monte schrak auf, als es ungefähr um elf Uhr klingelte, und sagte: ›Wer um alles in der Welt kann das sein?‹ Wir saßen zu diesem Zeitpunkt im Wohnzimmer. Er stand auf und ging zur Tür, und unmittelbar danach hörte ich draußen die Stimme eines Mannes. Ich nahm an, daß Monte nicht wollte, daß mich jemand sah; so ging ich ins Schlafzimmer und schloß die Tür bis auf einen kleinen Spalt. Ich konnte hören, wie Monte versuchte, den Mann abzuwimmeln. Trotzdem kamen sie schließlich ins Wohnzimmer. Durch den Türspalt konnte ich diesen Morgan sehen – zu dem Zeitpunkt wußte ich noch nicht, wer er war, aber ich entnahm das später ihrer Unterhaltung. Und hinterher hat Monte es mir auch erzählt.«


Einen Moment hielt sie inne. Der Inspektor hörte ihr gelassen zu; Ellery schenkte ihren Worten nicht die leiseste Aufmerksamkeit. Verzweifelt fuhr sie fort.


»Sie redeten ungefähr eine halbe Stunde miteinander; ich hätte heulen können. Morgan machte einen recht kaltblütigen und gefaßten Eindruck; erst zum Schluß regte er sich auf. Soviel ich verstand, hatte Monte kurz davor von Morgan einen ganzen Haufen Zaster im Austausch gegen einige Papiere verlangt; Morgan sagte, daß er das Geld nicht hätte und auch nicht auftreiben könnte. Er sagte, er hätte sich entschlossen, Monte einen Besuch abzustatten, um der Sache ein für allemal ein Ende zu bereiten, Monte war ziemlich sarkastisch und gemein – er konnte furchtbar gemein sein, wenn er wollte. Morgan wurde immer wütender und wütender, und ich sah, wie er sich kaum noch beherrschen konnte …«


Der Inspektor unterbrach sie. »Aus welchem Grund verlangte Field das Geld?«


»Das würde ich auch gerne wissen, Inspektor«, antwortete sie wütend. »Aber beide waren sehr darauf bedacht, den Grund dafür nicht zu erwähnen … Auf jeden Fall hatte es etwas mit diesen Papieren zu tun, die Monte an Morgan verkaufen wollte. Es ist nicht schwierig zu erraten, daß Monte etwas gegen Morgan in der Hand hatte und versuchte, ihn in die Enge zu treiben.«


Bei der Erwähnung des Wortes ›Papiere‹ war Ellerys Interesse an Mrs. Russos Geschichte neu erwacht. Er hatte das Buch beiseite gelegt und begonnen, aufmerksam zuzuhören. Der Inspektor warf ihm einen kurzen Blick zu, als er sich wieder der Frau zuwandte.


»Und welche Summe verlangte Field, Mrs. Russo?«


»Sie werden es mir nicht glauben«, sagte sie mit einem verächtlichen Lachen. »Monte war da nicht kleinlich. Er wollte


– fünfzigtausend Dollar!«


Der Inspektor schien ungerührt. »Fahren Sie fort.«


»Da waren sie also«, fuhr sie fort, »und ein Wort gab das andere, wobei Monte immer kaltschnäuziger und Morgan immer wütender wurde. Schließlich ergriff Morgan seinen Hut und schrie: ›Ich will verdammt sein, wenn ich mich von Ihnen noch länger ausnehmen lasse, Sie Blutsauger! Sie können von mir aus machen, was Sie wollen – ich bin fertig mit Ihnen, verstehen Sie? Ich bin endgültig fertig mit Ihnen!‹ Er war leichenblaß geworden. Monte stand nicht einmal von seinem Stuhl auf. Er sagte nur: ›Sie können von mir aus machen, was Sie wollen, mein lieber Benjamin, aber Sie haben genau drei Tage Zeit, mir das Geld zu übergeben. Und versuchen Sie nicht zu feilschen, ist das klar? Fünfzigtausend oder – aber ich brauche Sie ja nicht an die Folgen einer Weigerung zu erinnern.‹ Monte war wirklich ganz schön gerissen«, fügte sie bewundernd hinzu. »Er konnte den Ton wie ein echter Profi drauf haben.


Morgan fummelte an seinem Hut herum«, fuhr sie fort, »als wüßte er nicht, wo er mit seinen Händen hin sollte. Dann platzte er heraus mit den Worten ›Ich habe Ihnen gesagt, woran Sie sind, Field, und ich bleibe dabei. Wenn Sie diese Papiere an die Öffentlichkeit bringen – und sollte es mich zugrunde richten –, werde ich dafür sorgen, daß Sie zum allerletzten Mal jemanden erpreßt haben!‹ Er hielt Monte seine Faust unter die Nase und sah aus, als wollte er ihn auf der Stelle umbringen. Dann beruhigte er sich und marschierte ohne ein weiteres Wort aus der Wohnung.«


»Ist das die ganze Geschichte, Mrs. Russo?«


»Genügt Ihnen das nicht?« fuhr sie auf. »Was wollen Sie eigentlich? Wollen Sie diesen feigen Mörder noch in Schutz nehmen? … Aber das ist noch nicht alles. Nachdem Morgan gegangen war, sagte Monte zu mir: ›Hast du gehört, was mein Freund gesagt hat?‹ Ich tat so, als hätte ich nichts gehört, aber Monte war ja nicht dumm. Er zog mich auf seinen Schoß und sagte übermütig: ›Er wird das noch bereuen, mein Engel …‹ Er nannte mich immer Engel«, fügte sie schüchtern hinzu.


»Ich verstehe …«, sagte der Inspektor gedankenverloren. »Und was hat nun Mr. Morgan gesagt, das Sie es als Drohung gegen Fields Leben aufgefaßt haben?«


Sie starrte ihn ungläubig an. »Mein Gott, sind Sie dumm oder was?« rief sie aus. »Er sagte: ›Ich werde dafür sorgen, daß Sie das letzte Mal irgend jemanden erpreßt haben!‹ Und als dann mein geliebter Monte am Abend darauf getötet wurde …«


»Eine durchaus verständliche Schlußfolgerung«, sagte Queen lächelnd. »Verstehe ich Sie richtig, daß Sie Klage gegen Benjamin Morgan einreichen wollen?«


»Ich will überhaupt nichts einreichen, sondern nur meine Ruhe haben, Inspektor«, gab sie zurück. »Ich hab’ Ihnen die ganze Geschichte erzählt – machen Sie nun damit, was Sie wollen.« Sie zuckte die Achseln und wollte sich erheben.


»Einen Augenblick noch, Mrs. Russo.« Der Inspektor hielt sie mit einer Handbewegung zurück. »Sie haben in Ihrer Geschichte einige ›Papiere‹ erwähnt, mit denen Field Morgan bedrohte. Hat Field diese Papiere zu irgendeinem Zeitpunkt während des Streits auch hervorgeholt?«


Mrs. Russo sah den alten Mann kühl an. »Nein, Sir, das tat er nicht. Und glauben Sie mir, es tut mir auch nicht leid, daß er sie nicht herausgeholt hat!«


»Eine reizende Einstellung, Mrs. Russo. Eines Tages … Ich hoffe, Ihnen ist klar, daß Sie in dieser Sache keine ganz reine Weste haben, wie man so schön sagt«, bemerkte der Inspektor. »Denken Sie daher lieber gut nach, bevor Sie meine nächste Frage beantworten. Wo bewahrte Monte Field seine persönlichen Papiere auf?«


»Da muß ich nicht lange nachdenken, Inspektor«, gab sie unfreundlich zurück, »ich weiß es nämlich nicht. Hätte es die Möglichkeit gegeben, das in Erfahrung zu bringen, dann wüßte ich es, keine Sorge.«


»Vielleicht haben Sie selbst ein paar Streifzüge durch Fields Wohnung unternommen, wenn er gerade nicht zu Hause war?« fuhr der Inspektor amüsiert fort.


»Kann schon sein«, gab sie mit dem Anflug eines Lächelns zurück. »Aber ohne Erfolg. Ich kann beschwören, daß in diesen Zimmern nichts zu finden ist. Nun, Inspektor, noch etwas?«


»Ist Ihnen aus Ihrem langen und zweifelsohne vertrauten Umgang mit Ihrem galanten Leander bekannt, Mrs. Russo«, sagte Ellery mit eisiger Stimme, »wie viele seidene Zylinder er besaß?«


Ellerys klare Stimme schien sie zu verwirren. Dennoch strich sie sich kokett über ihr Haar, als sie sich ihm zuwandte.


»Sie sind hier wohl für die Rätsel zuständig«, kicherte sie. »Soweit ich weiß, mein Herr, hatte er nur einen. Wie viele davon braucht ihr Burschen denn?«


»Sie sind sich dessen ganz sicher, nehme ich an«, sagte Ellery.


»So sicher, wie Sie da vor mir sitzen, Mr. – Queen.« Sie brachte es fertig, einen zärtlichen Klang in ihre Stimme zu bringen. Ellery starrte sie an, als handelte es sich um ein Exemplar einer seltenen Spezies. Sie schmollte ein wenig und wandte sich dann kess herum.


»Ich scheine hier nicht sehr beliebt zu sein; deshalb werde ich lieber verschwinden … Sie werden mich doch nicht in so eine häßliche Zelle stecken, nicht wahr, Inspektor? Ich kann jetzt gehen, oder?«


Der Inspektor nickte. »Oh, ja – Sie dürfen gehen, Mrs. Russo, jedoch nur unter einer bestimmten Auflage … Aber verstehen Sie bitte, daß wir Ihre reizende Gesellschaft in nicht allzu ferner Zukunft wieder benötigen könnten. Werden Sie in der Stadt bleiben?«


»Mit dem größten Vergnügen, sicher!« lachte sie und rauschte aus dem Zimmer.


Velie schnellte von seinem Platz hoch und sagte: »Nun, Inspektor, ich nehme an, daß damit alles klar ist!«


Der Inspektor sank müde auf seinen Stuhl zurück. »Willst du damit etwa andeuten, Thomas, daß Morgan wegen des Mordes an Monte Field festgenommen werden soll – wie einer von Ellerys dummen erfundenen Sergeanten, mit denen du doch eigentlich nichts gemein hast?«


»Nun – was denn sonst?« fragte Velie verlegen.


»Wir werden noch ein wenig Zeit brauchen«, gab der alte Mann betrübt zurück.

Sechzehntes Kapitel

in welchem die Queens ins Theater gehen



Ellery und sein Vater sahen sich quer durch das kleine Büro an. Velie hatte verdutzt die Stirn in Falten gelegt und wieder Platz genommen. Eine Zeitlang saß er dort schweigend mit den anderen, schien dann plötzlich eine Entscheidung getroffen zu haben und bat um die Erlaubnis, den Raum verlassen zu dürfen.

Der Inspektor lächelte verschmitzt, während er sich am Deckel seiner Schnupftabakdose zu schaffen machte.


»Ich hoffe, sie hat dir keinen allzu großen Schrecken eingejagt, Ellery?«


Ellery blieb jedoch ernst. »Bei dieser Frau bekomme ich eine Gänsehaut«, sagte er und schauderte. »Schrecken ist noch viel zu milde ausgedrückt.«


»Ich konnte einen Augenblick lang einfach nicht begreifen, warum sie sich so verhalten hat«, sagte Inspektor Queen. »Sich vorzustellen, daß sie Bescheid wußte, während wir im dunkeln herumtappten … Das hat mich doch verwirrt.«


»Ich würde sagen, daß das Gespräch überaus erfolgreich verlaufen ist«, äußerte Ellery. »Vor allem, weil ich auf einige interessante Sachverhalte in diesem gewichtigen Band zur Handschriftenkunde gestoßen bin. Aber Mrs. Angela Russo entspricht nun wirklich nicht meiner Idealvorstellung von einer Frau …«


»Wenn du mich fragst«, sagte der Inspektor schmunzelnd, »so ist unsere hübsche Freundin ganz schön in dich vernarrt. Stell dir mal vor, was für Chancen du bei ihr hättest!«


Auf Ellerys Gesicht zeigte sich tiefster Abscheu.


»Na schön!« Queen griff nach einem der Telefone auf seinem Schreibtisch. »Was meinst du, Ellery? Sollen wir Benjamin Morgan noch ein zweites Mal die Möglichkeit geben, alles zu erklären?«


»Das hat er verdammt noch mal nicht verdient«, sagte Ellery murrend. »Aber so geht man wohl üblicherweise vor.«


»Du vergißt die Papiere, mein Sohn – die Papiere«, entgegnete der Inspektor mit einem Augenzwinkern.


In freundlichem Tonfall sprach er mit der Telefonvermittlung, und nur wenig später klingelte sein Telefon.


»Guten Tag, Mr. Morgan«, sagte Queen vergnügt. »Wie geht es Ihnen heute?«


»Inspektor Queen?« fragte Morgan nach einem leichten Zögern. »Ihnen auch einen guten Tag. Wie geht der Fall voran?«


»Das nenne ich offen gefragt, Mr. Morgan«, lachte der Inspektor. »Ich wage es jedoch nicht zu antworten – Sie würden mir sonst Unfähigkeit vorwerfen … Mr. Morgan, hätten Sie heute abend zufällig Zeit?«


»Nun – eigentlich«, erklang etwas zögernd die Stimme des Rechtsanwalts, die nun kaum mehr hörbar war. »Ich werde natürlich zu Hause zum Abendessen zurückerwartet, und ich glaube, meine Frau hat für heute einen Bridgeabend organisiert. Warum fragen Sie, Inspektor?«


»Ich dachte daran, Sie zu bitten, mit meinem Sohn und mir gemeinsam zu Abend zu speisen«, sagte der Inspektor bedauernd. »Könnten Sie sich nicht vielleicht für die Dinnerzeit freimachen?«


Morgan sagte schließlich nach einer längeren Pause: »Wenn es unbedingt nötig ist, Inspektor?«


»So würde ich es nicht gerade ausdrücken, Mr. Morgan … Aber ich wüßte es zu schätzen, wenn Sie die Einladung annehmen würden.«


»Oh.« Morgans Stimme klang nun etwas entschiedener. »Wenn das so ist, stehe ich Ihnen zur Verfügung, Inspektor. Wo werde ich Sie treffen?«


»Sehr schön, wirklich ausgezeichnet!« sagte Queen. »Wie wäre es um sechs bei Carlos?«


»Sehr gut, Inspektor«, antwortete der Anwalt ruhig und hängte den Hörer ein.


»Ich kann mir nicht helfen, mir tut der arme Bursche leid«, murmelte der alte Mann.


Ellery murrte. Ihm war nicht nach irgendwelchen Sympathiebekundungen. Der Besuch von Mrs. Angela Russo hatte einen üblen Nachgeschmack bei ihm hinterlassen.

Pünktlich um sechs Uhr trafen Inspektor Queen und Ellery im gastlichen Foyer von Carlos’ Restaurant auf Benjamin Morgan.

Niedergeschlagen saß er in einem roten Ledersessel und starrte auf seine Handrücken. Traurig ließ er seine Lippen hängen; auch seine weit auseinanderstehenden Knie ließen ihn irgendwie bedrückt erscheinen.

Als die beiden Queens näher kamen, unternahm er den löblichen Versuch zu lächeln. Er erhob sich mit einer Entschlossenheit, die seinen scharf beobachtenden Gastgebern verriet, daß er innerlich auf ein ganz bestimmtes Verhalten eingestellt war. Der Inspektor sprudelte über vor guter Laune – teils, weil er eine aufrichtige Zuneigung zu dem beleibten Rechtsanwalt verspürte, teils, weil er es als seine Pflicht empfand. Ellery war wie gewöhnlich unverbindlich.

Die drei Männer begrüßten sich wie alte Freunde. »Freut mich, daß Sie kommen konnten, Morgan«, sagte der Inspektor. »Ich muß mich wirklich bei Ihnen dafür

entschuldigen, daß ich Sie von Ihrem Essen zu Hause entführt habe. Es gab mal eine Zeit …« Er seufzte, und sie setzten sich.

»Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen«, sagte Morgan mit mattem Lächeln. »Sie wissen wahrscheinlich, daß jeder verheiratete Mann es sich auch gerne einmal alleine schmecken läßt … Nun, Inspektor, was ist es denn, worüber Sie mit mir reden wollten?«

Mahnend erhob der alte Mann einen Finger. »Warten wir noch mit dem Geschäftlichen«, sagte er. »Ich vermute, Louis hält zunächst eine erstklassige Stärkung für uns bereit – nicht wahr, Louis?«

Das Dinner war ein kulinarischer Genuß. Der Inspektor, der den Feinheiten der Kochkunst wenig Beachtung schenkte, hatte die Auswahl des Menüs seinem Sohn überlassen. Ellerys Interesse an schmackhaftem Essen und dessen Zubereitung konnte man fast schon als fanatisch bezeichnen. Folglich speisten die drei Männer ausgezeichnet. Morgan schien zunächst sein Essen kaum anrühren zu wollen, wurde aber mehr und mehr empfänglich für die köstlichen Speisen, die ihm aufgetragen wurden, bis er schließlich ganz und gar seine Sorgen vergaß und mit seinen Gastgebern plauderte und lachte.

Bei Café au lait und vorzüglichen Zigarren – von Ellery behutsam, vom Inspektor zurückhaltend und von Morgan in vollen Zügen genossen – kam Queen endlich zur Sache.

»Morgan, ich will gar nicht erst um den heißen Brei herumreden. Ich vermute, Sie wissen, warum ich Sie heute abend hergebeten habe. Ich will ganz offen zu Ihnen sein. Ich möchte von Ihnen eine ehrliche Antwort, warum Sie uns verschwiegen haben, was am Sonntag, dem 23. September, abends vorgefallen ist.«

Bei den Worten des Inspektors war Morgan sofort ernst geworden. Er legte die Zigarre auf den Aschenbecher und blickte den alten Mann mit einem Ausdruck unbeschreiblicher Müdigkeit an.

»Es mußte ja so kommen«, sagte er. »Ich hätte es wissen müssen, daß Sie früher oder später dahinterkommen wurden. Ich nehme an, Mrs. Russo hat Ihnen das aus Wut erzählt.«

»Das hat sie«, gab Queen offen zu. »Als Privatmann lehne ich es ab, mir solche Klatschgeschichten anzuhören; als Polizist bin ich dazu verpflichtet. Warum haben Sie mir das verschwiegen, Morgan?«

Morgan zog mit dem Löffel bedeutungslose Linien auf der Tischdecke. »Weil, nun – weil ein Mann immer solange ein Dummkopf bleibt, wie man ihm nicht das Ausmaß seiner Dummheit vor Augen führt«, sagte er ruhig und schaute auf. »Ich habe gehofft und gebetet – ich nehme an, das ist nur allzu menschlich –, daß dieser Vorfall ein Geheimnis zwischen mir und einem Toten bleiben würde. Und dann zu erfahren, daß diese Hure in seinem Schlafzimmer verborgen war und jedes meiner Worte mit angehört hatte – das hat mir so ziemlich allen Wind aus den Segeln genommen.«

Er trank hastig ein Glas Wasser und fuhr fort. »Bei Gott, Inspektor, es ist die reine Wahrheit – ich dachte, ich sei in eine Falle gelockt worden und könnte selbst nichts zu meiner Entlastung beitragen. Ich befand mich dort im Theater, nicht weit von der Stelle, an der mein schlimmster Feind ermordet wurde. Für meine Anwesenheit konnte ich nur eine scheinbar verrückte und ziemlich dürftige Erklärung vorbringen. Und dann fiel mir schlagartig ein, daß ich sogar noch an dem Abend zuvor eine Auseinandersetzung mit dem Toten gehabt hatte. Ich saß ziemlich in der Klemme, glauben Sie mir, Inspektor.«

Der Inspektor sagte nichts. Ellery hatte sich in seinem Stuhl zurückgelehnt und betrachtete Morgan düster. Morgan unterdrückte mühsam seine Erregung und fuhr fort.

»Deshalb habe ich nichts gesagt. Können Sie es einem Mann verdenken, daß er stillschweigt, wenn ihn seine Rechtserfahrung ganz entschieden davor warnt, an einer Kette von gegen ihn selbst gerichteten Indizienbeweisen mitzuflechten?«

Queen schwieg noch einen Augenblick und sagte dann: »Das wollen wir vorläufig beiseite lassen. Warum gingen Sie am Sonntag abend zu Field?«

»Aus einem sehr guten Grund«, antwortete der Rechtsanwalt verbittert. »Am Donnerstag vergangener Woche rief Field mich in meinem Büro an und teilte mir mit, daß er für eine wichtige geschäftliche Unternehmung auf der Stelle fünfzigtausend Dollar beschaffen müsse. Fünfzigtausend Dollar!« Morgan lachte trocken. »Nachdem er mich schon so gemolken hatte, daß ich kaum noch etwas besaß … Und seine ›geschäftliche Unternehmung‹ – können Sie sich vorstellen, was das war? Wenn Sie Field so gut gekannt hätten wie ich, würden Sie die Antwort darauf auf den Rennplätzen und an der Börse finden … Vielleicht täusche ich mich auch. Vielleicht brauchte er dringend Geld und kassierte noch einmal gründlich ab. Wie auch immer, er wollte fünfzigtausend Dollar – für diese Summe wollte er mir dann tatsächlich die Originaldokumente aushändigen! Es war das erste Mal, daß er so etwas auch nur angedeutet hatte. Vorher hatte er immer nur frech sein Schweigen gegen Geld geboten. Diesmal war es ein Angebot Geld gegen Ware.«

»Das ist ein interessanter Aspekt«, warf Ellery ein. »Hat irgend etwas an dem, was er sagte, zu Ihrer Vermutung geführt, daß er noch ein letztes Mal gründlich abkassieren wollte, wie Sie es genannt haben?«

»Ja. Deshalb sagte ich es ja. Er machte auf mich den Eindruck, als stecke er in Geldschwierigkeiten; er hatte vor, ein wenig in Urlaub zu fahren – Urlaub hieß für ihn nichts weniger als eine dreijährige Spritztour nach Europa –, und bemühte nun alle seine ›Freunde‹. Ich wußte bis dahin nicht, daß er Erpressung im großen Stil betrieb; aber diesmal –!«

Ellery und der Inspektor sahen sich an. Morgan fuhr unbeirrt fort.

»Ich sagte ihm die Wahrheit – daß ich finanziell nicht gut dastände, vor allem seinetwegen, und daß es für mich absolut unmöglich sei, diesen irrwitzigen Betrag, den er forderte, aufzutreiben. Er lachte nur und beharrte darauf, das Geld zu bekommen. Ich war natürlich begierig, die Papiere zurückzubekommen …«

»Hatten Sie nachgeprüft, ob von Ihren Rechnungsbelegen überhaupt welche fehlten?« fragte der Inspektor.


»Das war gar nicht nötig, Inspektor«, antwortete Morgan zähneknirschend. »Er tat mir bereits vor zwei Jahren im Webster Club den Gefallen, mir die Belege und Briefe zu zeigen – damals, als wir den Streit hatten. Nein, daran besteht kein Zweifel. Er war schon Spitzenklasse.«


»Was weiter?«


»Er beendete den Anruf am Donnerstag mit einer kaum verhüllten Drohung. Das ganze Gespräch über hatte ich verzweifelt versucht, ihn glauben zu machen, daß ich in irgendeiner Weise seinen Forderungen entgegenkommen würde; denn ich wußte, daß er keine Skrupel haben würde, die Papiere an die Öffentlichkeit gelangen zu lassen, wenn er erst einmal merkte, daß er alles aus mir herausgeholt hatte.«


»Fragten Sie ihn, ob Sie die Dokumente einsehen könnten?«


»Ich glaube, ja – aber er lachte mich nur aus und sagte, ich würde meine Scheckbelege und Briefe erst dann zu sehen bekommen, wenn er die Summe bis auf den letzten Dollar erhalten hätte. Dieser Schurke war mit allen Wassern gewaschen; er ging nicht das Risiko ein, daß ich ihn hereinlegte, während er gerade die ihn belastenden Beweise herauszog … Ich will ganz offen zu Ihnen sein. Manchmal kam mir sogar in den Sinn, Gewalt anzuwenden. Welcher Mann hätte unter diesen Umständen nicht daran gedacht? Aber Mord zog ich nie ernsthaft in Erwägung – und das aus sehr gutem Grund.« Er hielt inne.


»Es hätte Ihnen überhaupt nichts genutzt«, sagte Ellery freundlich, »weil Sie nicht wußten, wo sich die Dokumente befanden.«


»Genau«, antwortete Morgan mit einem nervösen Lächeln. »Ich wußte es nicht. Was für einen Vorteil hätte mir Fields Tod gebracht, wenn jederzeit die Gefahr bestand, daß diese Papiere zum Vorschein kommen und jemand anderem in die Hände fallen? Ich wäre vermutlich nur vom Regen in die Traufe geraten … Nachdem ich drei Tage lang vergeblich versucht hatte, die Summe, die er verlangt hatte, zusammenzubekommen, faßte ich dann am Sonntag abend den Entschluß, noch eine letzte Vereinbarung mit ihm zu versuchen. Ich ging zu seiner Wohnung und traf ihn dort im Morgenrock an. Er war sehr überrascht und gar nicht besorgt, mich dort zu sehen. Das Wohnzimmer war unaufgeräumt – zu diesem Zeitpunkt wußte ich noch nicht, daß sich Mrs. Russo nebenan versteckte.«


Seine Hand zitterte, als er sich die Zigarre erneut anzündete.


»Wir stritten – oder vielmehr, ich schrie ihn an, während er nur höhnisch lachte. Er wollte sich keinen Einwand und auch keine Bitten mehr anhören. Er wollte die Fünfzigtausend; anderenfalls würde er die Geschichte bekanntmachen – mit allen dazugehörigen Beweisen. Ich geriet immer mehr in Wut. Aber ich ging, bevor ich endgültig die Selbstbeherrschung verlor. Und das war alles, Inspektor – auf mein Ehrenwort.«


Er blickte zur Seite. Inspektor Queen hustete und legte seine Zigarre in den Aschenbecher. Er kramte in seiner Tasche nach der braunen Schnupftabakdose, nahm eine Prise, zog sie tief ein und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Unvermittelt schüttete Ellery ein Glas Wasser für Morgan ein, das dieser auf einen Zug leerte.


»Ich danke Ihnen, Morgan«, sagte Queen. »Und wo Sie schon einmal so offen zu uns waren, seien Sie bitte ganz aufrichtig und sagen uns, ob Sie am Sonntag während der Auseinandersetzung eine Drohung gegen Fields Leben ausgestoßen haben. Fairerweise sollte ich Ihnen vorher mitteilen, daß Mrs. Russo Sie aufgrund einer Äußerung, die Sie in der Hitze des Gefechts machten, des Mordes an Field beschuldigt hat.«


Morgan wurde blaß. In seinem Gesicht zuckte es, und fast schon mitleiderregend starrte er den Inspektor ängstlich mit glasigen Augen an.


»Sie lügt«, rief er heiser. Eine Reihe von Gästen an den Nebentischen blickte neugierig auf, und Inspektor Queen berührte leicht Morgans Arm. Er biß sich auf die Lippe und senkte dann seine Stimme. »Ich habe nichts dergleichen getan. Ich habe Ihnen eben offen erzählt, Inspektor, daß ich manchmal in meiner Wut mit dem Gedanken gespielt habe, Field umzubringen. Aber es waren dumme und sinnlose Gedanken. Ich hätte überhaupt nicht den Mut, jemanden umzubringen. Sogar im Webster Club, als ich völlig die Beherrschung verlor und diese Drohung ausstieß, hatte ich es nicht wirklich vor. Und schon gar nicht Sonntag abend. Bitte glauben Sie mir, Inspektor – und nicht dieser skrupellosen, geldgierigen Hure! Inspektor – Sie müssen mir glauben!«


»Ich möchte nur, daß Sie mir erklären, was Sie gesagt haben«, erwiderte der Inspektor. »Denn, so seltsam es auch scheinen mag, ich glaube, daß Sie die Äußerung, die sie Ihnen zuschreibt, auch getan haben.«


»Welche Äußerung?« Morgan war schweißgebadet; seine Augen standen hervor.


»›Wenn Sie diese Papiere an die Öffentlichkeit bringen – und sollte es mich zugrunde richten –, werde ich dafür sorgen, daß Sie zum allerletzten Mal jemanden erpreßt haben‹«, wiederholte der Inspektor die Worte. »Haben Sie das gesagt, Mr. Morgan?«


Der Anwalt starrte Queen ungläubig an, dann warf er seinen Kopf zurück und lachte. »Großer Gott!« sagte er schließlich und schnappte nach Luft. »Soll das die ›Drohung‹ sein, die ich gemacht habe? Nun, Inspektor, was ich damit meinte, war, daß ich, wenn er diese Dokumente an die Öffentlichkeit gebracht hätte, weil ich seinen gemeinen Forderungen nicht nachkommen konnte, der Polizei alles offen erzählt und ihn mit mir hinabgezogen hätte. Das war es, was ich meinte! Und sie dachte, ich hätte gedroht, ihn umzubringen …« Er rieb sich heftig die Augen.


Ellery lächelte; mit dem Finger gab er dem Kellner ein Zeichen. Er bezahlte, zündete sich eine Zigarette an und schaute hinüber zu seinem Vater, der Morgan halb zerstreut und halb voller Sympathie betrachtete.


»Sehr schön, Mr. Morgan.« Der Inspektor erhob sich und schob den Stuhl zurück. »Das ist alles, was wir wissen wollten.« Er trat höflich beiseite, um dem immer noch benommenen und zitternden Anwalt den Vortritt zur Garderobe zu lassen.

Als die beiden Queens die 47. Straße vom Broadway her hinaufgeschlendert kamen, quoll der Bürgersteig am Römischen Theater vor Menschen über. Die Menschenmenge war so groß, daß die Polizei Absperrungen errichtet hatte. Entlang der engen Straßendurchfahrt kam der Verkehr völlig zum Erliegen. In großen Leuchtbuchstaben knallte der Titel ›Spiel der Waffen‹ nachdrücklich vom Eingang des Theaters herab; darunter war in kleineren Leuchtbuchstaben erläuternd hinzugefügt: ›In den Hauptrollen James Peale und Eve Ellis unter Mitwirkung eines Starensembles‹. Wie wild versuchten Frauen und Männer, sich unter Einsatz ihrer Ellbogen durch die wogende Menge zu schieben. Polizisten, bereits heiser vom Schreien, verlangten die Eintrittskarten zu sehen, bevor sie jemanden durch die Absperrung ließen.

Der Inspektor zeigte seine Kennmarke vor; zusammen mit der drängenden Menge wurden er und Ellery in das kleine Foyer des Theaters gezogen. Neben dem Kassenschalter stand Panzer; auf dem Gesicht des Geschäftsführers stand ein breites Lächeln. Höflich und bestimmt war er darum bemüht, die lange Schlange hinter der Kasse möglichst schnell in Richtung Kartenkontrolle zu bewegen. Auf einer Seite stand übermäßig schwitzend der altehrwürdige Portier und blickte äußerst verwirrt. Die Kassierer arbeiteten mit letzter Kraft. In eine Ecke des Foyers gezwängt befand sich Harry Neilson im ernsten Gespräch mit drei jungen Männern, die offensichtlich von der Presse waren.

Panzer erspähte die beiden Queens und eilte zu ihrer Begrüßung heran. Auf eine gebieterische Geste vom Inspektor hin stockte er und kehrte dann nach einem verständnisvollen Nicken zur Kasse zurück. Ellery stand brav in der Schlange an, um die zwei reservierten Eintrittskarten an der Kasse abzuholen. Inmitten einer drängenden Menge betraten sie den Zuschauerraum.

Madge O’Connell fiel vor Schreck fast um, als Ellery die beiden Tickets mit dem unmißverständlichen Aufdruck LL32 Links und LL30 Links vorzeigte. Der Inspektor mußte lächeln, als sie sich etwas ungeschickt mit den Karten zu schaffen machte und ihm ein wenig verängstigt einen Blick zuwarf. Sie führte sie über den dichten Teppich zu dem Gang ganz auf der linken Seite, wies ihnen schweigend die äußersten beiden Sitze der letzten Reihe zu und machte sich davon. Die beiden Männer setzten sich, legten ihre Hüte in die Drahtgestelle unter den Sitzen und lehnten sich gemütlich zurück – allem Anschein nach zwei Stillvergnügte in Erwartung eines blutrünstigen Spektakels.

Der Zuschauerraum war völlig ausverkauft. Kleinere Grüppchen wurden noch die Gänge hinabgeführt und nahmen rasch die noch freien Plätze ein. Erwartungsvoll reckten sich die Hälse in Richtung der Queens, die unbeabsichtigt zum Mittelpunkt eines ganz und gar unerwünschten Interesses wurden.

»Verdammt!« schimpfte der alte Mann. »Wir hätten nach Beginn der Vorstellung kommen sollen.«

»Du bist wirklich zu empfindlich gegenüber dem Beifall der Menge, mon père«, lachte Ellery. »Mir macht es nichts aus, im Mittelpunkt des Interesses zu stehen.« Er schaute auf seine Armbanduhr; sie tauschten einen bedeutungsvollen Blick. Es war genau 8.25 Uhr. Sie machten es sich auf ihren Sitzen gemütlich. Nach und nach gingen die Lichter aus. Die Unruhe im Publikum machte einer erwartungsvollen Stille Platz. Als es völlig dunkel war, öffnete sich der Vorhang vor einer unheimlich wirkenden halbdunklen Bühne. In die Stille hinein knallte ein Schuß; der erstickende Schrei eines Mannes ließ so manchen im Publikum nach Luft schnappen. ›Spiel der Waffen‹ hatte seinen inzwischen allgemein bekannten turbulenten Anfang genommen.

Trotz der Voreingenommenheit seines Vaters genoß Ellery ganz entspannt die leichte Kost dieses Sensationsstücks auf dem Platz, an dem sich drei Abende zuvor die Leiche Monte Fields befunden hatte. Der Klang der schönen vollen Stimme von James Peale, der auf der Bühne in einer Abfolge sich zuspitzender Ereignisse agierte, erfüllte ihn in ihrer packenden Kunstfertigkeit mit Begeisterung. Eve Ellis ging offensichtlich völlig in ihrer Rolle auf; gerade sprach sie voll zarter Erregung mit Stephen Barry, dessen hübsches Gesicht und angenehme Stimme bei einem jungen Mädchen direkt rechts neben dem Inspektor einen Ausdruck der Bewunderung hervorriefen.

Hilda Orange stand in schreiende Farben gekleidet – so wie es ihre Rolle verlangte – in einer Ecke der Bühne. Die Komische Alte trottete ziellos über die Bühne. Ellery beugte sich zu seinem Vater hinüber. »Das ist eine gut besetzte Inszenierung«, flüsterte er. »Schau dir nur diese Mrs. Orange an!«

Das Stück ging mit Volldampf weiter. Mit einem ohrenbetäubenden Gewirr aus Worten und Geräuschen ging der erste Akt zu Ende. Der Inspektor schaute auf seine Uhr, als die Lichter wieder angingen. Es war 9.05 Uhr.

Er erhob sich; Ellery folgte ihm träge. Madge O’Connell, die so tat, als würde sie die beiden nicht bemerken, öffnete die schweren Eisentüren, und das Publikum begann in die nur schwach beleuchteten Seitengänge hinauszuströmen. Ellery und sein Vater schlenderten mit den anderen hinaus. Ein livrierter Boy hinter einem hübschen Stand voller Pappbecher pries seine Ware mit betont gedämpfter Stimme an. Es war Jess Lynch, der Junge, der über Monte Fields Wunsch nach Ginger Ale ausgesagt hatte.

Ellery schlenderte bis hinter die Eisentür. Zwischen der Tür und der Backsteinmauer befand sich ein kleiner Spalt. So konnte er feststellen, daß die Hauswand, die den Seitengang auf der vom Theater abgewandten Seite begrenzte, mindestens sechs Stockwerke hoch und von keiner Öffnung durchbrochen war. Der Inspektor kaufte sich an dem Stand einen Orangensaft. Jess Lynch fuhr erschrocken zusammen, als er ihn erkannte; Inspektor Queen grüßte ihn freundlich.

Die Leute standen in kleineren Grüppchen beieinander; ihre Haltung schien ein merkwürdiges Interesse an ihrer Umgebung zu verraten. Der Inspektor hörte, wie eine Frau in einer Mischung aus Faszination und Furcht bemerkte: »Genau hier draußen soll er an dem Montag abend gestanden und sich einen Orangensaft gekauft haben!«

Drinnen ertönte die Glocke zum zweiten Akt, und diejenigen, die in den Seitengang gekommen waren, um Luft zu schnappen, eilten nun wieder zurück in den Zuschauerraum.

Bevor er sich hinsetzte, warf der Inspektor noch schnell einen Blick über den rückwärtigen Teil des Zuschauerraumes hinweg zum Fuß der Treppe, die hinauf zum Balkon führte. Auf der ersten Stufe stand wachsam ein kräftiger junger Mann in Livree.

Der zweite Akt begann voller Getöse. In bewährter Manier ließ sich das Publikum mitreißen oder hielt den Atem an, während sich auf der Bühne ein wahres schauspielerisches Feuerwerk entlud. Auf einmal schienen auch die Queens völlig von der Handlung gefesselt zu sein. Beide, Vater und Sohn, beugten sich voller Anspannung und mit aufmerksamem Blick nach vorne. Um 9.30 Uhr schaute Ellery auf seine Uhr; beide lehnten sich wieder entspannt zurück, während das Stück weiter vorandonnerte.

Um genau 9.50 Uhr erhoben sie sich, nahmen ihre Hüte und Mäntel und schlichen sich aus ihrer Reihe in den rückwärtigen Teil des Zuschauerraumes. Eine Reihe von Leuten stand dort, denen der Inspektor zulächelte, wobei er insgeheim die Macht der Presse verwünschte. Madge O’Connell, die blasse Platzanweiserin, stand steif gegen eine Säule gelehnt und starrte mit leerem Blick vor sich hin.

Zusammen mit seinem Sohn ging der Inspektor auf Panzer zu, der in der Tür zu seinem Büro stand und entzückt die ausverkauften Reihen betrachtete. Der Inspektor gab ihm ein Zeichen hineinzugehen und betrat selbst rasch mit Ellery dicht hinter sich den kleinen Vorraum. Der Ausdruck des Entzückens wich aus Panzers Gesicht.

»Ich hoffe, der Abend hat sich für Sie gelohnt?« fragte er nervös.

»Gelohnt? Nun – das hängt davon ab, was Sie darunter verstehen.« Der alte Mann machte eine knappe Handbewegung und ging durch die zweite Tür voran in Panzers Büro. »Hören Sie, Panzer«, sagte er und schritt in dem kleinen Raum erregt auf und ab, »haben Sie einen Plan des Zuschauerraums zur Hand, auf dem jeder einzelne Sitz mit Nummer und alle Ausgänge eingezeichnet sind?«

Panzer blickte erstaunt. »Ich glaube schon. Einen Augenblick.« Er machte sich an einem Aktenschrank zu schaffen, durchstöberte einige Mappen und brachte schließlich einen großen, zweigeteilten Plan des Theaters – ein Teil für das Erdgeschoß, der andere für den Balkon – hervor.

Der Inspektor schob den zweiten Teil ungeduldig beiseite und beugte sich zusammen mit Ellery über den Plan des Parketts.1

Einen Augenblick lang betrachteten sie ihn prüfend. Dann schaute Queen auf zu Panzer, der nervös auf dem Teppich von einem Fuß auf den anderen trat und anscheinend gespannt war, was man als Nächstes von ihm erwartete.

»Kann ich diesen Plan mitnehmen, Panzer?« fragte der Inspektor knapp. »Ich werde ihn unversehrt in einigen Tagen zurückgeben.«

»Aber selbstverständlich!« sagte Panzer. »Gibt es sonst noch etwas, was ich im Moment für Sie tun kann, Inspektor? … Ich möchte mich bei Ihnen noch für Ihr Entgegenkommen bei der Bekanntmachung des heutigen Aufführungstermins bedanken. Gordon Davis ist von dem vollen Haus heute abend außerordentlich angetan. Er bat mich, Ihnen seinen Dank zu übermitteln.«

»Wirklich keine Ursache«! knurrte der Inspektor, während er den Plan faltete und ihn in seine Brusttasche steckte. »Das war nur recht und billig … Und nun, Ellery, würdest du bitte mit mir kommen. Guten Abend, Panzer. Und kein Wort hiervon, denken Sie daran!«

Die beiden verließen Panzers Büro, während dieser sich noch in Versicherungen über sein Stillschweigen erging. Noch einmal durchquerten sie den rückwärtigen Teil des Zuschauerraums in Richtung des linken Seitenganges. Mit einer knappen Handbewegung winkte der Inspektor Madge O’Connell heran. »Ja?« fragte sie atemlos mit kreideweißem Gesicht.

»Machen Sie nur kurz für uns die Tür soweit auf, daß wir hindurch können, O’Connell, und danach vergessen Sie das Ganze wieder. Verstanden?« sagte der Inspektor grimmig. Sie murmelte im Flüsterton vor sich hin, als sie eine der großen Eisentüren zur Linken nicht weit von der letzten Reihe aufstieß. Mit einer letzten warnenden Kopfbewegung schlüpfte der Inspektor hinaus: Ellery folgte ihm – und leise wurde die Tür wieder geschlossen.


1 Der von Ellery Queen gefertigten Skizze, die sich auf S. 12 findet, liegt dieser Plan des Managers Panzer zugrunde. – Der Herausgeber.

Um elf Uhr, als die weit geöffneten Ausgänge nach dem Schlußvorhang die ersten Gruppen von Theaterbesuchern wieder ausspieen, betraten Richard und Ellery Queen erneut durch den Haupteingang das Römische Theater.

Siebzehntes Kapitel

in welchem sich weitere Hüte finden



»Setzen Sie sich, Tim – möchten Sie eine Tasse Kaffee?« Timothy Cronin, ein mittelgroßer Mann mit wachen Augen und feuerroter Haarpracht, setzte sich in einen von Queens bequemen Stühlen und nahm etwas verlegen das Angebot des Inspektors an.

Es war Freitag morgen, und der Inspektor und Ellery, romantisch in farbenprächtige Hausmäntel gekleidet, waren bester Laune. Am Abend zuvor waren sie zu einer für ihre Verhältnisse ungewöhnlich frühen Stunde zu Bett gegangen; sie hatten den Schlaf der Gerechten geschlafen. Jetzt hielt Djuna eine Kanne dampfenden Kaffees – von einer Sorte, die er eigenhändig mischte – auf dem Tisch für sie bereit; und zweifellos waren alle mit sich und der Welt zufrieden.

Cronin war zu einer unpassenden Zeit in das freundliche Heim der Queens eingedrungen – aufgelöst, mürrisch und schamlos fluchend. Nicht einmal der sanfte Protest des Inspektors vermochte es, den Schimpftiraden, die von seinen Lippen kamen, Einhalt zu gebieten; Ellery lauschte den Worten des Rechtssachverständigen mit dem andächtigen Entzücken eines Dilettanten, der einem echten Könner zuhört.

Dann merkte Cronin auf einmal, wo er sich befand; er errötete, wurde aufgefordert, sich hinzusetzen, und starrte auf Djunas unbeugsamen Rücken, während dieses flinke Faktotum mit der Zubereitung des Frühstücks beschäftigt war.

»Ich nehme an, Sie sind nicht in der Stimmung, sich für Ihre Unflätigkeiten zu entschuldigen«, schalt ihn der Inspektor, während er die Hände über seinem Bauch faltete. »Muß ich erst nach dem Grund für diese schlechte Stimmung fragen?«

»Nicht nötig«, brummte Cronin und schlug wütend die Beine übereinander. »Sie können es sich schon denken. Was die Papiere von Field anbelangt, stehe ich vor einem Rätsel. Verflucht sei seine schwarze Seele!«

»Sie ist verflucht, Tim – sie ist verflucht, keine Sorge«, sagte Queen bekümmert. »Der arme Field wird wahrscheinlich gerade über einem netten kleinen Feuerchen in der Hölle geröstet – und frohlockt über Ihr Gefluche. Was genau ist das Problem – wie geht es voran?«

Cronin ergriff die Tasse, die Djuna vor ihn hingestellt hatte, und kippte den kochendheißen Inhalt mit einem Schluck hinunter. »Wie es vorangeht?« rief er und knallte die Tasse auf den Tisch. »Es geht überhaupt nicht voran – das Ergebnis ist null, nichts! Wenn ich nicht bald ein paar beweiskräftige Dokumente in die Finger kriege, werde ich verrückt! Die Ratten wagen sich schon nicht mehr aus ihren Löchern, so haben Stoates und ich Fields schickes Büro auf den Kopf gestellt – nichts zu finden. Gar nichts! Mensch – es ist unvorstellbar. Ich verwette meinen guten Ruf darauf, daß irgendwo – und Gott alleine weiß wo – Fields Papiere versteckt sind und nur darauf warten, daß jemand vorbeikommt und sie an sich nimmt.«

»Die Sache mit den versteckten Papieren scheint sich bei Ihnen zu einer richtigen Phobie zu entwickeln, Cronin«, bemerkte Ellery sanft. »Man sollte meinen, wir lebten noch zu Zeiten Charles I. So was wie Geheimverstecke gibt es nicht mehr. Man muß nur wissen, wo man zu suchen hat.«

Cronin grinste ihn unverschämt an. »Das ist wirklich sehr freundlich von Ihnen, Mr. Queen. Ich schlage vor, Sie nennen mir den Ort, wo Mr. Monte Field seine Papiere aufzubewahren pflegte.«

Ellery zündete sich eine Zigarette an. »In Ordnung, ich nehme die Herausforderung zu einem Wettstreit an … Sie behaupten – und ich bezweifle Ihre Worte nicht im geringsten –, daß die Dokumente, von deren Existenz Sie ausgehen, nicht in Fields Büro sind … Dabei fällt mit ein: Was macht Sie eigentlich so sicher, daß Field Dokumente besaß, die ihn wegen seiner Zugehörigkeit zu dieser verzweigten Verbrecherorganisation, von der Sie uns erzählt haben, belasten?«

»Er muß sie einfach haben«, gab Cronin zurück. »Eine merkwürdige Logik, aber es paßt zusammen … Meine Informationen bestätigen eindeutig, daß Field Briefe und schriftlich fixierte Pläne besaß, die ihn mit führenden Gangstern in Verbindung bringen, die wir ständig zu schnappen versuchen, gegen die uns aber bislang die Beweise fehlten. Sie können mir das glauben; die Geschichte ist zu kompliziert, um sie hier im einzelnen darzulegen. Sie werden noch sehen, daß ich recht habe, Mr. Queen – Field besaß Papiere, die er nicht beseitigen durfte. Das sind die Papiere, nach denen ich suche.«

»Zugegeben«, sagte Ellery. »Ich wollte auch nur wissen, welche Fakten Sie haben. Lassen Sie es mich also noch einmal wiederholen: Diese Papiere sind nicht in seinem Büro. Wir müssen also irgendwo anders danach suchen. Sie könnten zum Beispiel in einem Bankschließfach versteckt sein.«

»Aber, El«, warf der Inspektor ein, nachdem er dem Wortwechsel zwischen Cronin und Ellery amüsiert zugehört hatte, »habe ich dir nicht heute morgen noch erzählt, daß Thomas dieser Spur nachgegangen ist? Field hatte kein Bankschließfach. So viel steht fest. Er besaß auch kein Postfach – weder unter seinem eigenen noch unter einem anderen Namen.

Thomas hat auch eine mögliche Clubmitgliedschaft Fields überprüft und dabei festgestellt, daß der Rechtsanwalt keinen anderen Wohnsitz – auch nicht vorübergehend – als den in der 75. Straße hatte. Auch darüber hinaus fand Thomas bei seinen ganzen Erkundigungen nicht den kleinsten Hinweis auf ein mögliches Versteck. Er dachte, daß Field vielleicht die Papiere in einem Karton oder einer Tasche dem Besitzer eines Geschäftes zur Aufbewahrung gegeben haben könnte oder so etwas in der Richtung. Aber es gab keinerlei Spur … Velie erledigt solche Dinge ausgezeichnet, Ellery. Du kannst deinen letzten Dollar darauf verwetten, daß deine Hypothese falsch ist.«

»Ich habe diese Möglichkeit zu Cronins Vorteil angeführt«, gab Ellery zurück. Er spreizte seine Finger kunstvoll auf dem Tisch und schloß die Augen. »Es ist nämlich so, daß wir das Gebiet unserer Suche so weit einengen müssen, bis wir eindeutig sagen können: ›Hier müssen sie sein.‹ Das Büro, der Tresor und das Postfach konnten ausgeschlossen werden. Wir wissen aber, daß Field es sich nicht erlauben konnte, die Papiere an einem nur schwer zugänglichen Ort aufzubewahren. Ich könnte das nicht beschwören für die Papiere, die Sie suchen, Cronin; aber mit den Papieren, die wir suchen, ist das was anderes. Nein, Field hatte sie irgendwo in seiner Nähe … Und um noch einen Schritt weiterzugehen: Es ist durchaus angemessen, davon auszugehen, daß er alle seine wichtigen Geheimpapiere in ein und demselben Versteck aufbewahrte.«

Cronin kratzte sich am Kopf und nickte zustimmend. »Wir sollten nun einige grundsätzliche Überlegungen anstellen, meine Herren.« Ellery machte eine Pause, als wollte er seinen nächsten Äußerungen mehr Nachdruck verleihen. »Da wir das Gebiet unserer Nachforschungen unter Ausschluß aller möglichen Verstecke bis auf ein einziges eingeengt haben, müssen sich die Papiere in diesem einen Versteck befinden … Das steht wohl außer Frage.«


»Wo ich jetzt Gelegenheit habe, darüber nachzudenken«, bemerkte der Inspektor, dessen gute Laune auf einmal einer gedrückten Stimmung gewichen war, »vielleicht waren wir doch nicht so sorgfältig bei unserer Suche, wie wir hatten sein können.«


»Wir sind auf der richtigen Spur«, sagte Ellery bestimmt. »Dessen bin ich mir so sicher, wie heute Freitag ist und es in dreißig Millionen Haushalten Fisch zum Abendessen geben wird.«


Cronin schaute ihn verwirrt an. »Ich verstehe Sie nicht ganz, Mr. Queen. Was meinen Sie damit, daß es nur noch ein mögliches Versteck gibt?«


»Fields Wohnung, Cronin«, antwortete Ellery gelassen. »Dort sind die Papiere.«


»Aber gerade darüber habe ich gestern noch mit dem Staatsanwalt gesprochen«, entgegnete Cronin, »und der sagte, daß Sie Fields Wohnung auf den Kopf gestellt, aber nichts gefunden haben.«


»Das ist nur zu wahr«, sagte Ellery. »Wir haben Fields Wohnung durchsucht und nichts gefunden. Das Problem ist, daß wir nicht an der richtigen Stelle gesucht haben, Cronin.«


»Nun, zum Donnerwetter, wenn Sie die Stelle jetzt kennen, dann nichts wie hin!« rief Cronin und sprang von seinem Stuhl auf.


Der Inspektor klopfte dem rothaarigen Mann freundlich aufs Knie und wies auf den Stuhl. »Setzen Sie sich, Tim«, wies er ihn an. »Ellery gibt sich nur wieder seinem Lieblingsspiel, dem Schlußfolgern, hin. Er weiß genau so wenig wie Sie, wo sich die Papiere befinden. Er spekuliert nur … In der Kriminalliteratur«, fügte er mit einem traurigen Lächeln hinzu, »nennt man das die ›Kunst der Schlußfolgerung‹.«


»Es hat den Anschein«, brummte Ellery, während er Tabakqualm vor sich her blies, »daß ich schon wieder herausgefordert werde. Nichtsdestotrotz, obwohl ich noch nicht wieder in Fields Wohnung gewesen bin, beabsichtige ich, mit der freundlichen Erlaubnis von Inspektor Queen, dorthin zurückzukehren und die anrüchigen Dokumente zu finden.«


»Was diese Papiere anbelangt …«, begann der alte Mann, wurde aber durch ein Klingeln an der Türe unterbrochen. Djuna führte Sergeant Velie herein, der von einem schmächtigen, verstohlen blickenden jungen Mann begleitet wurde, der vor Angst zitterte. Der Inspektor sprang auf und fing die beiden ab, bevor sie das Wohnzimmer betreten konnten. Cronin blickte erstaunt auf, als der Inspektor fragte: »Ist das der Bursche, Thomas?« und der Detective mit einer Art grimmigen Humor antwortete: »In voller Lebensgröße, Inspektor.«


»Sie trauen sich zu, in eine Wohnung einzubrechen, ohne erwischt zu werden, nicht wahr?« fragte der Inspektor freundlich und faßte den neu angekommenen Gast am Arm. »Sie sind der richtige Mann für mich.«


Der verstohlen um sich blickende junge Mann schien vor Angst zu erstarren. »Hören Sie, Inspektor, Sie wollen mich doch nicht reinlegen, oder?« stotterte er.


Der Inspektor lächelte ihn beruhigend an und brachte ihn hinaus in die Diele. Im Flüsterton führten sie ein recht einseitiges Gespräch, bei dem der Fremde nach jedem zweiten Wort des alten Mannes zustimmend brummte. Cronin und Ellery konnten vom Wohnzimmer aus den Schimmer eines kleinen weißen Papierbogens erkennen, der aus der Hand des Inspektors in die des jungen Mannes wanderte.


Der Inspektor kehrte flotten Schrittes zu ihnen zurück. »Alles in Ordnung, Thomas. Du kümmerst dich um den Rest und sorgst dafür, daß unser Freund keine Schwierigkeiten bekommt … Nun, meine Herren –«


Der Inspektor nahm wieder Platz. »Bevor wir uns Fields Wohnung zuwenden, meine Lieben«, sagte er nachdenklich, »möchte ich noch einige Dinge klarstellen. Wie uns Benjamin Morgan erzählt hat, betätigte sich Field zwar als Rechtsanwalt, bezog seine enormen Einkünfte aber aus Erpressungen. Wußten Sie das, Tim? Monte Field schröpfte Dutzende von prominenten Persönlichkeiten um einen Betrag von wahrscheinlich mehreren hunderttausend Dollar. Offen gesagt, Tim, sind wir davon überzeugt, daß das Motiv für den Mord an Field im Bereich dieser geheimen Aktivitäten zu suchen ist. Er wurde zweifelsohne von jemandem ermordet, der um große Summen erleichtert wurde und das nicht länger ertragen konnte.


Sie wissen so gut wie ich, Tim, daß eine Erpressung nur funktionieren kann, wenn der Erpresser belastende Dokumente in der Hand hat. Darum sind wir ja so sicher, daß irgendwo Unterlagen versteckt sein müssen – und Ellery behauptet eben, daß sie in Fields Wohnung sind. Nun, wir werden sehen. Sollten wir diese Unterlagen schließlich finden, werden die Dokumente, hinter denen Sie schon so lange her sind, wahrscheinlich auch ans Tageslicht kommen, wie Ellery das vorhin schon angedeutet hat.«


Er dachte einen Augenblick nach. »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, Tim, wie sehr ich hinter diesen verflixten Dokumenten her bin. Sie sind ungeheuer wichtig für mich. Sie würden eine Menge Fragen beantworten, bei denen wir immer noch völlig im dunkeln tappen …«


»Dann nichts wie los!« rief Cronin und sprang von seinem Stuhl auf. »Ist Ihnen eigentlich klar, Inspektor, daß ich seit Jahren aus diesem einen Grunde an Fields Fersen klebe? Das wird der glücklichste Tag meines Lebens sein … Nun los, Inspektor!«


Weder Ellery noch sein Vater schienen es jedoch besonders eilig zu haben. Sie zogen sich in ihre Schlafzimmer zurück, um sich anzukleiden, während Cronin im Wohnzimmer aufgeregt auf und ab ging. Wäre Cronin nicht so sehr mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt gewesen, hätte er bemerkt, daß die gute Stimmung, in der sich die beiden Queens bei seiner Ankunft befunden hatten, einer düsteren Schwermut gewichen war. Vor allem der Inspektor schien nicht auf der Höhe zu sein; er war nervös und ließ sich ausnahmsweise einmal Zeit dabei, eine Ermittlung auf ihrem unaufhaltsamen Weg voranzutreiben.


Schließlich waren die beiden Queens fertig angekleidet. Die drei Männer gingen auf die Straße hinunter. Als sie ein Taxi bestiegen, seufzte Ellery.


»Hast du Angst, daß du dich blamierst, mein Sohn?« brummte der alte Mann und vergrub seine Nase im Mantelkragen.


»Daran denke ich gar nicht«, gab Ellery zurück. »Es geht um etwas anderes … Wir werden die Papiere schon finden, keine Sorge.«


»Ich hoffe bei Gott, Sie behalten recht!« rief Cronin leidenschaftlich aus, und das waren die letzten Worte, die gesprochen wurden, ehe das Taxi vor dem eleganten Haus in der 75. Straße anhielt.


Die drei Männer nahmen den Aufzug in den vierten Stock und betraten den menschenleeren Flur. Der Inspektor schaute sich schnell nach allen Seiten um und klingelte dann an Fields Wohnung. Zunächst rührte sich nichts, obwohl ein undeutliches Rascheln hinter der Tür zu hören war. Plötzlich wurde sie aufgerissen, und das gerötete Gesicht eines Polizisten erschien, dessen Hand sich nervös in Richtung seiner Revolvertasche bewegte.


»Keine Angst, Mann – wir beißen nicht!« maulte der Inspektor, der aus einem für Cronin – selbst nervös und zum Zerreißen gespannt – nicht nachvollziehbarem Grund völlig verärgert war.


Der uniformierte Polizist salutierte. »Ich wußte nicht, ob da nicht jemand rumschnüffeln wollte, Inspektor«, murmelte er undeutlich.


Die drei Männer betraten die Diele, und die schlanke weiße Hand des alten Mannes stieß ungestüm die Türe hinter ihnen zu.


»Irgend etwas passiert?« fragte der Inspektor knapp, während er auf die Wohnzimmertür zuging und in das Zimmer hineinspähte.


»Absolut nichts, Sir«, sagte der Polizist. »Ich wechsle mich hier mit Cassidy alle vier Stunden ab, und manchmal kommt Detective Ritter vorbei, um nach dem Rechten zu sehen.«


»Oh, tatsächlich, das macht er?« gab der alte Mann zurück. »Hat jemand versucht, sich Einlaß zu verschaffen?«


»Nicht seitdem ich hier bin, Inspektor – auch nicht bei Cassidy«, antwortete der Polizist nervös. »Und wir lösen uns seit Dienstag morgen permanent ab. In dieser Wohnung war keine Menschenseele außer Ritter.«


»Lassen Sie sich in den nächsten ein bis zwei Stunden draußen in der Diele nieder, Officer«, befahl der Inspektor. »Besorgen Sie sich einen Stuhl, und machen Sie ein Nickerchen, wenn Sie wollen – aber sollte irgend jemand sich an der Türe zu schaffen machen, geben Sie uns unverzüglich Bescheid.«


Der Polizist schleifte einen Stuhl aus dem Wohnzimmer in die Diele, setzte sich mit dem Rücken zur Vordertür, legte die Arme übereinander und schloß ungezwungen die Augen.


Die drei Männer schauten sich mit finsterem Blick um. Die Diele war klein, aber mit Möbelstücken und Krimskrams vollgestopft: ein mit ungelesen wirkenden Büchern vollgestelltes Regal, ein zierlicher Tisch, auf dem eine ›modernistische‹ Lampe und einige geschnitzte, elfenbeinerne Aschenbecher standen, zwei Empire-Stühle, ein eigentümliches Möbel, halb Anrichte und halb Sekretär, einige Kissen und kleinere Teppiche. Der Inspektor stand da und betrachtete dieses merkwürdige Durcheinander mit einem gequälten Gesichtsausdruck.


»So, mein Sohn, ich denke, wir drei gehen die Suche am besten an, indem wir alles Stück für Stück durchsehen, wobei jeder den anderen kontrolliert. Ich bin nicht sehr optimistisch, das sage ich dir gleich.«


»Der Herr von der Klagemauer«, seufzte Ellery. »Der Kummer steht groß und deutlich auf diesem edlen Antlitz geschrieben. Sie und ich, Cronin – wir beide sind nicht so pessimistisch, nicht wahr?«


Cronin knurrte. »Ich würde sagen, es sollte weniger geredet und mehr gehandelt werden, bei allem Respekt für diese kleinen Familienstreitigkeiten.«


Ellery starrte ihn bewundernd an. »Sie sind nicht aufzuhalten, wenn Sie sich etwas vorgenommen haben, Mann. Mehr wie eine Wanderameise als ein menschliches Wesen. Und das, obwohl der arme Field im Leichenschauhaus liegt … Allons, enfants!«


Sie machten sich unter zustimmendem Nicken des Polizisten an die Arbeit. Die meiste Zeit über arbeiteten sie schweigend. Ellerys Gesicht drückte gedämpfte Hoffnung aus, das des Inspektors trübselige Gereiztheit, Cronins Gesichtsausdruck zeugte von seiner unbezwingbaren Wut. Ein Buch nach dem anderen wurde aus dem Regal gezogen und sorgfältig inspiziert – lose Blätter herausgeschüttelt – Einbände genauestens untersucht – Buchdeckel durchstochen. Da über zweihundert Bücher vorhanden waren, nahm die Suche eine längere Zeit in Anspruch. Nach einer gewissen Zeit schien Ellery geneigt zu sein, seinem Vater und Cronin die unangenehmere Arbeit der Durchsuchung zu überlassen, während er seine Aufmerksamkeit mehr und mehr auf die Titel der Bücher richtete. Dabei stieß er auf einmal einen Freudenschrei aus und hielt ein dünnes, billig eingebundenes Buch in die Höhe. Cronin schoß sofort mit funkelndem Blick darauf zu, der Inspektor sah mit einem Anflug von Interesse auf. Ellery hatte jedoch nur ein weiteres Werk über Handschriftenkunde entdeckt.


Der alte Mann sah seinen Sohn mit unausgesprochener Neugierde an, die Lippen nachdenklich gespitzt. Cronin wandte sich seufzend wieder dem Buchregal zu. Ellery jedoch blätterte geschwind die Seiten durch und tat einen weiteren Aufschrei. Die beiden Männer schauten ihm über die Schulter. Auf den Rändern mehrerer Seiten waren mit Bleistift geschriebene Notizen zu erkennen. Es handelte sich um Namen: ›Henry Jones‹, ›John Smith‹, ›George Brown‹. Sie wiederholten sich mehrere Male auf den Rändern der Seite, als hätte der Schreiber unterschiedliche Schreibweisen ausprobiert.


»Hatte Field nicht eine wahrhaft kindliche Freude am Herumkritzeln?« fragte Ellery, während er fasziniert auf die niedergeschriebenen Namen starrte.


»Du hast doch wie immer deine Hintergedanken dabei, mein Sohn«, bemerkte der Inspektor müde. »Ich weiß, was du damit sagen willst, aber ich sehe nicht, daß uns das weiterhilft. Höchstens – beim Teufel, das ist wirklich eine Idee!«


Er beugte sich vor und nahm mit frischerwachtem Interesse die Suche wieder auf. Ellery tat es ihm lächelnd nach. Cronin starrte beide verständnislos an.


»Ich schlage vor, ihr weiht mich in diese Sache ein, Leute«, sagte er betrübt.


Der Inspektor richtete sich auf. »Ellery ist da auf etwas gestoßen, das – sollte es sich bewahrheiten – ein Glückstreffer für uns sein könnte und zusätzliches Licht auf Fields Charakter wirft. Dieser rücksichtslose Halunke! Schauen Sie, Tim – wenn ein Mann ein eingefleischter Erpresser ist und Sie finden wiederholt Hinweise darauf, daß er sich äußerst aktiv mit Handschriftenkunde beschäftigt, was würden Sie daraus schließen?«


»Sie meinen, daß er auch ein Fälscher ist?« fragte Cronin stirnrunzelnd. »In all den Jahren, die ich hinter ihm her war, bin ich nie auf den Gedanken gekommen.«


»Er war kein gewöhnlicher Fälscher«, lachte Ellery. »Ich glaube kaum, daß Monte Field jemals eine falsche Unterschrift unter einen Scheck oder so etwas in der Art gesetzt hat. Er war ein zu gerissener Bursche, um einen so folgenschweren Fehler zu begehen. Viel wahrscheinlicher ist, daß er die echten Dokumente, die eine bestimmte Person belasteten, zur weiteren Verwendung für sich behielt, indem er sie kopierte und nur die Kopien an ihren ursprünglichen Besitzer verkaufte.«


»Und wenn das so ist, Tim«, fügte der Inspektor bedeutungsvoll hinzu, »und wir diesen Dokumentenschatz hier irgendwo finden sollten – was ich allerdings sehr bezweifle –, werden wir höchstwahrscheinlich auch die echten Papiere finden, deretwegen Field ermordet wurde!«


Cronin sah seine beiden Begleiter enttäuscht an. »Das sind mir ein paar ›Wenns‹ zu viel«, sagte er schließlich kopfschüttelnd.


Schweigend nahmen sie die Suche wieder auf.


Nach einer Stunde kontinuierlicher, ermüdender Arbeit mußten sie sich widerstrebend eingestehen, daß in der Diele nichts versteckt war. Sie hatten nicht einen Millimeter bei ihrer Suche ausgelassen. Die Innenseiten der Lampen und des Buchregals, der zierliche Tisch, der Sekretär von innen und außen, die Kissen, sogar die Wände waren durch den Inspektor, dessen hochgradiger Erregungszustand an seinen zusammengekniffenen Lippen und geröteten Wangen zu erkennen war, sorgfältigst abgesucht worden.


Sie wandten sich nun dem Wohnzimmer zu. Sie nahmen sich zunächst die große Kleiderkammer direkt neben der Diele vor. Der Inspektor und Ellery gingen zum zweiten Mal die Überzieher, Mäntel und Umhänge durch, die dort auf der Stange hingen. Nichts. Darüber auf der Ablage befanden sich die vier Hüte, die sie am Dienstag morgen untersucht hatten: der alte Panamahut, der steife Filzhut, die zwei Hüte aus weichem Filz. Wieder nichts. Cronin ließ sich auf seine Knie fallen, um in die dunkleren Ecken der Kammer spähen zu können, klopfte die Wände ab und suchte nach Anzeichen dafür, daß sich jemand am Holz zu schaffen gemacht hatte. Immer noch nichts. Der Inspektor nahm einen Stuhl zu Hilfe, um die Ecken oberhalb der Hutablage einsehen zu können. Er stieg wieder hinunter und schüttelte den Kopf.


»Das wäre also die Kammer, Jungs«, knurrte er. Sie stürzten sich auf den eigentlichen Wohnraum.


Der große, mit Schnitzereien verzierte Schreibtisch, den Hagstrom und Piggott drei Tage zuvor durchforstet hatten, zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. In seinem Inneren lag der Haufen Papiere, Rechnungsbelege und Briefe, den sie dem alten Mann zur Durchsicht bereitgelegt hatten. Tatsächlich sah der alte Queen diese abgerissenen Blätter durch, als könnte auf ihnen eine geheime Botschaft in unsichtbarer Tinte verborgen sein. Er zuckte die Schultern und warf sie wieder hin.


»Verdammt noch mal! Ich fang’ auf meine alten Tage noch an zu phantasieren«, schimpfte er. »Daran ist nur dieser schrifststellernde Halunke von Sohn schuld.«


Er nahm die Gegenstände, die er selbst am Dienstag in verschiedenen Manteltaschen gefunden hatte, in die Hand, während Ellery jetzt finster vor sich hin blickte; auf Cronins Gesicht zeigte sich langsam ein melancholischer und resignierter Ausdruck; der alte Mann hantierte geistesabwesend mit Schlüsseln, alten Briefen und Taschen herum und wandte sich dann ab.


»Im Schreibtisch ist nichts zu finden«, verkündete er müde. »Ich bezweifle, daß ein so gerissener Schurke etwas so Naheliegendes wie einen Schreibtisch als Versteck ausgesucht hätte.«


»Ich glaube schon, wenn er jemals Edgar Allan Poe gelesen hätte«, murmelte Ellery. »Laßt uns weitermachen. Sind Sie sicher, daß es hier kein Geheimfach gibt?« fragte er Cronin. Dieser schüttelte seinen roten Schopf betrübt, aber nachdrücklich.


Sie durchstöberten die Möbelstücke, überprüften Teppiche, Lampen, Buchstützen und Gardinenstangen. Mit jedem Mißerfolg zeigte sich auf ihren Gesichtern etwas mehr die offensichtliche Hoffnungslosigkeit der Suche. Als sie die Durchsuchung des Wohnzimmers beendet hatten, schien es das unschuldige Opfer eines Wirbelsturms geworden zu sein – ein dürftiges und trostloses Ergebnis.


»Jetzt bleiben nur noch das Schlafzimmer, die Küche und das Badezimmer übrig«, sagte der Inspektor zu Cronin; und die drei Männer gingen in das Zimmer, in dem Mrs. Angela Russo die Nacht zum Dienstag verbracht hatte.


Die Ausstattung von Fields Schlafzimmer hatte eine eindeutig feminine Note – eine Eigenschaft, die von Ellery dem Einfluß der reizenden Dame aus Greenwich Village zugeschrieben wurde. Ein weiteres Mal sondierten sie das Gelände, wobei nicht ein Millimeter ihren wachsamen Augen und prüfenden Händen entging. Sie zogen das Bettzeug ab und untersuchten die Matratze. Sie brachten das Bett wieder in Ordnung und nahmen sich den Kleiderschrank vor. Jedes einzelne Kleidungsstück wurde herausgezerrt und beharrlich von ihren Fingern auf einen möglichen Inhalt hin abgefühlt – Bademäntel, Schlafröcke, Schuhe, Halstücher. Cronin nahm halbherzig seine Überprüfung der Seitenwände und Gesimse wieder auf. Sie schauten unter die Teppiche und hoben die Stühle hoch; sie schüttelten das Telefonbuch aus, das neben dem Bett auf einem Tischchen lag. Der Inspektor nahm sogar die Metallverkleidung der Heizungsrohre ab, weil sie locker war und ein mögliches Versteck zu sein schien.


Nach dem Schlafzimmer nahmen sie sich die kleine Küche vor. Diese war so überfüllt mit Küchengeräten, daß sie sich kaum darin bewegen konnten. Sie durchstöberten eine große Speisekammer, wobei Cronin seine Finger ärgerlich in die Mehl- und Zuckertöpfe steckte. Der Herd, die Schränke für Geschirr und Töpfe – sogar der marmorne Waschtisch, der in der Ecke stand – wurden methodisch examiniert. An einer Seite des Raumes auf dem Boden stand eine halbleere Kiste mit Schnapsflaschen, auf die Cronin sehnsüchtige Blicke warf, nur um schuldbewußt wieder wegzuschauen, als der Inspektor ihn anstarrte.


»Und jetzt – das Badezimmer«, murmelte Ellery. In unheilvollem Schweigen marschierten sie in den gekachelten Waschraum. Drei Minuten später kamen sie immer noch schweigend wieder heraus und begaben sich ins Wohnzimmer, wo sie sich auf Stühlen niederließen. Der Inspektor zog seine Schnupftabakdose heraus und nahm eine kräftige Prise; Cronin und Ellery zündeten sich Zigaretten an.


»Ich würde sagen, mein Sohn«, sagte der Inspektor mit düsterer Stimme nach einem Augenblick quälenden, nur durch das Schnarchen des in der Diele sitzenden Polizisten durchbrochenen Schweigens, »ich würde sagen, daß die deduktive Arbeitsweise, die Sherlock Holmes und seinen Nachfolgern Ruhm und Glück brachte, versagt hat. Versteh mich richtig, ich beschwere mich nicht …« Er ließ sich auf seinem Stuhl hängen.


Ellery strich sich nervös über sein glattes Kinn. »Ich hab’ mich wohl wirklich blamiert«, gestand er. »Und doch sind diese Papiere hier irgendwo. Ist das nicht ein merkwürdiger Gedanke? Aber es ist einfach nur logisch. Wenn das Ganze aus zehn besteht, und zwei plus drei plus vier ausgeschieden sind, bleibt nur noch eins übrig … Tut mir leid, daß ich so altmodisch bin. Aber ich bleibe dabei, daß die Papiere hier sind.«


Cronin knurrte und stieß eine große Wolke von Zigarettenrauch aus.


»Ich weiß, ihr werdet Einwände dagegen haben«, murmelte Ellery, während er sich auf seinem Stuhl zurücklehnte. »Laßt uns noch einmal alles durchgehen. Nein, nein!« erklärte er schnell, als er Cronins erschrockenes Gesicht sah – »Überdenken wollte ich sagen … Mr. Fields Wohnung besteht aus einer Diele, einem Wohnzimmer, einer kleinen Küche, einem Schlaf- und einem Badezimmer. Wir haben ohne Erfolg eine Diele, ein Wohnzimmer, eine kleine Küche, ein Schlaf- und ein Badezimmer durchsucht. Euklid hätte hier voller Bedauern zu einer Schlußfolgerung kommen müssen.« Er dachte nach. »Wie haben wir diese Zimmer durchsucht?« fragte er plötzlich. »Wir haben die sichtbaren Gegenstände durchforscht, die sichtbaren Gegenstände auseinandergenommen. Möbel, Lampen, Teppiche – ich wiederhole: die sichtbaren Gegenstände –, Wände und Gesims. Man sollte meinen, daß nichts unserer Aufmerksamkeit entgangen ist …«


Er hielt inne, während seine Augen zu leuchten begannen. Der Inspektor wurde auf einmal wieder hellwach. Er wußte aus Erfahrung, daß Ellery selten durch unwichtige Dinge in Aufregung versetzt werden konnte.


»Und doch«, sagte Ellery langsam, während er fasziniert seinen Vater anblickte, »bei den Goldenen Dächern des Seneca, wir haben etwas übersehen – wir haben tatsächlich etwas übersehen!«


»Was!« maulte Cronin. »Sie machen Witze.«


»Oh nein, das tue ich nicht«, antwortete Ellery leise lachend und erhob sich träge. »Wir haben Böden und Wände untersucht, aber haben wir uns mit – den Decken – beschäftigt?«


Er stieß das Wort in einem dramatischen Tonfall aus, während die beiden Männer ihn verwundert anstarrten.


»Worauf willst du hinaus, Ellery?« fragte sein Vater.


Munter drückte Ellery die Zigarette in einem Aschenbecher aus. »Das ist so«, sagte er. »Es liegt in der reinen Logik, daß, wenn man alle Möglichkeiten bis auf eine ausgeschöpft hat, diese eine, wie unwahrscheinlich oder lächerlich sie erscheinen mag, die richtige sein muß … Ein Analogieschluß zu dem, daß die Papiere hier in dieser Wohnung sind.«


»Aber, Mr. Queen, bei aller Liebe – Decken!« platzte Cronin heraus, während der Inspektor schuldbewußt die Wohnzimmerdecke betrachtete. Ellery sah seinen Blick, lachte und schüttelte den Kopf.


»Ich will damit nicht sagen, daß wir einen Verputzer holen sollten, damit er uns diese reizenden Decken herunterholt«, sagte er. »Ich weiß nämlich bereits Bescheid. Was ist in diesen Zimmern an der Decke befestigt?«


»Die Leuchter«, brummte Cronin voller Zweifel und warf einen Blick auf das schwere bronzene Objekt über ihren Köpfen.


»Zum Teufel – der Baldachin über dem Bett!« rief der Inspektor. Er sprang auf und rannte ins Schlafzimmer. Cronin stampfte schwerfällig hinter ihm her, während Ellery interessiert nachfolgte. Sie blieben vor dem Bett stehen und blickten zu dem Baldachin empor. Im Gegensatz zu den gewöhnlichen amerikanischen Baldachinen war dieses reich verzierte Schmuckstück nicht einfach als Teil des Bettes ein großes Stoffrechteck, das auf vier Pfosten gehängt war. Das Bett war so konstruiert, daß die vier Pfosten vom Boden bis an die Decke reichten. Der schwere kastanienbraune Damastvorhang reichte ebenfalls vom Boden bis an die Decke, von wo er – von einer beringten Stange gehalten – in schweren Falten herabfiel.


»Wenn überhaupt irgendwo«, brummte der Inspektor, während er einen der damastbezogenen Schlafzimmerstühle herbeizog, »dann einzig und allein dort oben! Helft mir mal.«


Er stand auf dem Stuhl, ohne sich im geringsten um die Verwüstungen, die seine Schuhe auf dem seidenen Stoff anrichteten, zu scheren. Er stellte fest, daß er auch mit ausgestreckten Armen bei weitem nicht an die Decke heranreichte, und stieg wieder herab.


»Sieht auch nicht so aus, als könntest du es schaffen, Ellery«, brummte er. »Und Field war keineswegs größer als du. Es muß hier irgendwo eine Leiter geben, mit der Field da herangekommen ist!«


Cronin stürzte auf Ellerys Wink hin in die Küche und war im Nu mit einer sechssprossigen Leiter zurück. Der Inspektor stieg auf die höchste Stufe und bemerkte, daß er die Vorhangstange immer noch nicht berühren konnte. Dann nahm Ellery die Sache in die Hand, indem er seinen Vater anwies herunterzukommen und selbst nach oben stieg. Oben auf der Leiter war er nun in der Lage, die Oberseite des Baldachins zu erforschen.


Er ergriff den Damast und zog fest daran. Der ganze Stoff gab nach, fiel zur Seite und legte eine zwanzig Zentimeter hohe Holzleiste frei – einen Rahmen, der hinter dem Vorhang verborgen gewesen war. Ellerys Finger tasteten die aus Holz gearbeitete Vertäfelung ab, während Cronin und der Inspektor ihm mit wechselndem Gesichtsausdruck dabei zusahen. Da er im Augenblick keine Öffnung entdecken konnte, beugte Ellery sich vor und erkundete den Stoff unmittelbar unter dem Boden der Verkleidung. »Reiß ihn runter!« knurrte der Inspektor.


Ellery zerrte mit Gewalt an dem Stoff, und der gesamte Damastbaldachin fiel auf das Bett. Der unverzierte Boden der Verkleidung wurde sichtbar.


»Alles hohl«, verkündete Ellery, während er mit seinen Fingern gegen die Unterseite der Verkleidung klopfte.


»Das hilft uns nicht weiter«, sagte Cronin. »Klar, daß das kein massives Holz ist. Warum versuchen Sie es nicht auf der anderen Seite des Bettes, Mr. Queen?«


Aber Ellery, der sich wieder der Vorderseite der Verkleidung zugewandt hatte, stieß einen Triumphschrei aus. Er hatte eine komplizierte machiavellische Geheimtür gesucht, hatte nun aber herausgefunden, daß die ›Geheimtür‹ aus nichts Raffinierterem als einem verschiebbaren Brett bestand. Es war gut versteckt – die Stoßstelle zwischen dem verschiebbaren Brett und den festen Brettern war unter einer Reihe von Rosetten und groben Dekorationen verborgen –, aber es war nicht die Art von Versteck, die ein Adept der Kriminalwissenschaften als Meisterwerk in der Kunst des Versteckens gepriesen hätte.


»Ich scheine doch recht zu behalten«, bemerkte Ellery leise lachend, als er in die dunklen Ecken des Hohlraumes, den er aufgedeckt hatte, spähte. Er schob seinen Arm in die Öffnung, während der Inspektor und Cronin ihm mit angehaltenem Atem zusahen.

A – Decke E – Von der Decke bis zum Boden B – Tür zum Wohnzimmer reichende Damastvorhänge; die C – Spiegel schraffierten Flächen bezeichnen die D – Toilettentisch Holztäfelung, in der Hüte verborgen sind.

»Bei allen heidnischen Göttern«, rief Ellery plötzlich aufgeregt aus. »Erinnerst du dich daran, was ich zu dir gesagt habe, Vater? Wo anders sollten die Papiere sein als in – Hüten!«

Er zog seinen staubbedeckten Arm wieder heraus, und die beiden Männer sahen, was er in der Hand hielt – einen seidenen Zylinder!

Cronin führte einen Freudentanz auf, als Ellery den Hut auf das Bett fallen ließ und seinen Arm ein zweites Mal in die weite Öffnung steckte. Augenblicklich zog er einen weiteren Hut hervor – und einen weiteren – und noch einen! Da lagen sie nun auf dem Bett – zwei seidene Hüte und zwei Melonen.

»Nimm die Taschenlampe hier«, wies ihn der Inspektor an. »Schau nach, ob da oben sonst noch etwas zu finden ist.«


Ellery nahm die angebotene Lampe und leuchtete damit in die Öffnung. Einen Moment später kletterte er herab und schüttelte den Kopf.


»Das ist alles«, verkündete er, während er sich den Staub von den Ärmeln klopfte, »aber ich würde sagen, daß das völlig ausreicht.«


Der Inspektor nahm die vier Hüte und trug sie ins Wohnzimmer, wo er sie auf dem Sofa ablegte. Die drei Männer nahmen mit ernsten Gesichtern Platz und sahen sich an.


»Ich kann es kaum abwarten zu sehen, was damit los ist«, sagte Cronin schließlich leise.


»Ich habe richtig Angst nachzusehen«, gab der Inspektor zurück.


»Mene mene tekel upharsin«, lachte Ellery. »Hier könnte man es als ›die Handschrift auf der Vertäfelung‹ bezeichnen. Fahren Sie mit der Untersuchung fort, MacDuff!«


Er griff sich einen der seidenen Hüte. Auf dem kostbaren Satinfutter war das schlichte Markenzeichen der Gebrüder Browne zu erkennen. Er riß das Futter heraus, konnte darunter nichts entdecken und versuchte, das lederne Schweißband zu entfernen. Es leistete auch seinen stärksten Bemühungen Widerstand. Er lieh sich Cronins Taschenmesser aus und trennte das Band mit einiger Schwierigkeit ab. Dann sah er auf.


»Dieser Hut, Römer und Landsleute«, sagte er gutgelaunt, »enthält nichts, was nicht jedem gewöhnlichen Hut zu eigen ist. Wollt ihr es selbst prüfen?«


Cronin stieß einen wilden Schrei aus, riß ihn dem Inspektor aus der Hand und zerfetzte ihn wütend in tausend Stücke.


»Verflucht!« rief er verärgert aus, während er die Überreste des Hutes auf den Boden warf. »Erklären Sie das bitte einem so unterentwickelten Verstand wie dem meinen, Inspektor.«


Queen lächelte, als er den nächsten Zylinder nahm und ihn neugierig betrachtete.


»Sie sind im Nachteil, Tim«, sagte er. »Wir wissen bereits, warum einer dieser Hüte leer ist, nicht wahr, Ellery?«


»Michaels«, murmelte Ellery.


»Ganz genau – Michaels«, gab der Inspektor zurück.


»Charly Michaels!« rief Cronin. »Fields Leibwache, bei allen Heiligen! Was hat der damit zu tun?«


»Das weiß ich noch nicht genau. Wissen Sie etwas Genaueres über ihn?«


»Nichts, außer daß er permanent an Fields Rockschößen hing. Er ist ein ehemaliger Knastbruder, wußten Sie das?«


»Ja«, antwortete der Inspektor verträumt. »Wir werden uns ein anderes Mal über diesen Abschnitt in Mr. Michaels’ Leben unterhalten müssen … Aber lassen Sie mich Ihnen das mit dem Hut erklären: Laut seiner eigenen Aussage legte Michaels am Abend des Mordes Field die Abendgarderobe heraus, einschließlich eines seidenen Zylinders. Michaels beschwor, daß Field seines Wissens nur einen einzigen Zylinder besaß. Wenn wir nun davon ausgehen, daß Field Hüte als Verstecke für Dokumente benutzte und an diesem Abend mit einem präparierten Hut zum Römischen Theater gehen wollte, muß er notwendigerweise den leeren Hut, den Michaels für ihn bereitgelegt hatte, durch den präparierten ersetzt haben. Da er so darauf bedacht war, nur einen Zylinder in seinem Schrank aufzubewahren, war ihm klar, daß Michaels, würde er einen Hut finden, gleich Verdacht schöpfen würde. Da er also die beiden Hüte austauschte, mußte er den leeren verstecken. Was hätte also näher gelegen, als ihn dahin zu legen, von wo er den präparierten entnommen hatte – nämlich hinter die Verkleidung über dem Bett?«


»Das haut mich wirklich um!« rief Cronin aus.


»Schließlich«, fuhr der Inspektor fort, »können wir davon ausgehen, daß Field, der bei seinen Kopfbedeckungen ungeheuer vorsichtig war, den Hut nach seiner Rückkehr wieder in seinem Versteck untergebracht hätte. Er hätte den Hut, den Sie eben in Stücke gerissen haben, herausgeholt und ihn in seinen Kleiderschrank zurückgelegt … Aber wir sollten weitermachen.«


Er riß das Lederband aus dem zweiten Zylinder, der ebenfalls das Zeichen der Gebrüder Browne enthielt. »Schaut euch das an!« rief er. Die beiden Männer beugten sich über den Hut und sahen, daß auf der Innenseite des Lederbandes – klar und deutlich mit roter Tinte geschrieben – die Worte »Benjamin Morgan« standen.


»Ich muß Sie um Verschwiegenheit bitten, Tim«, wandte sich der Inspektor sofort an den rothaarigen Mann. »Reden Sie niemals darüber, daß Sie von der Existenz von Dokumenten wissen, die den Namen Benjamin Morgan mit dieser Angelegenheit in Verbindung bringen.«


»Für wen halten Sie mich, Inspektor?« schimpfte Cronin. »Sie können mir glauben, ich bin so stumm wie ein Fisch!«


»Dann ist alles klar.« Queen befühlte das Futter des Hutes. Ein deutliches Knistern war zu hören …


»Jetzt wissen wir zum ersten Mal definitiv, warum der Mörder am Montag abend den Hut, den Field trug, entfernen mußte«, bemerkte Ellery ruhig. »Mit ziemlicher Sicherheit war der Name des Mörders in der gleichen Weise hinein geschrieben – das ist wasserfeste Tinte, müßt ihr wissen –, und der Mörder konnte doch nicht einen Hut, der seinen eigenen Namen trug, am Ort des Verbrechens zurücklassen.«


»Verdammt, wenn Sie jetzt nur diesen Hut hätten«, rief Cronin, »wüßten Sie, wer der Mörder ist!«


»Ich befürchte, Tim«, bemerkte der Inspektor trocken, »dieser Hut ist längst von uns gegangen.«


Er wies auf eine Reihe sorgfältig ausgeführter Nadelstiche hin, die am unteren Rande des Schweißbandes, dort, wo das Futter an den Hut geheftet war, angebracht waren. Er riß die Naht leicht auf und schob seine Finger unter das Futter. Wortlos zog er ein Bündel Papiere heraus, das durch ein dünnes Gummiband zusammengehalten wurde.


»Wenn ich wirklich so schlimm wäre, wie manche Leute glauben«, bemerkte Ellery gedankenverloren, während er sich zurücklehnte, »würde ich jetzt mit vollem Recht behaupten: ›Ich hab’ es euch doch gleich gesagt.‹«


»Wir wissen, wann wir uns geschlagen geben müssen, mein Sohn – du brauchst es uns nicht noch unter die Nase zu reiben«, meinte der Inspektor lachend. Er zog das Gummiband ab, überflog schnell die Papiere und steckte sie mit zufriedenem Lächeln in seine Brusttasche.


»Morgans Briefe«, sagte er kurz und nahm sich eine der Melonen.


Die Innenseite des Schweißbandes war mit einem geheimnisvollen X markiert. Der Inspektor fand eine Reihe von Nadelstichen genau wie zuvor im Zylinder. Nachdem er die Papiere herausgezogen hatte – ein dickeres Bündel als zuvor das von Morgan –, sah er sie oberflächlich durch. Er gab sie dann weiter an Cronin, dessen Finger zitterten.


»Ein Glückstreffer, Tim«, sagte er langsam. »Der Mann, den Sie schnappen wollten, ist tot, aber hier können Sie eine Menge großer Namen finden. Sie werden noch zum Helden avancieren.«


Cronin griff nach dem Bündel Papiere und faltete sie nacheinander wie im Rausch auseinander. »Das sind sie – das sind sie!« rief er. Er sprang auf und stopfte das Bündel in seine Tasche.


»Ich muß los, Inspektor«, sagte er schnell. »Es gibt schließlich eine Menge zu tun – und außerdem, was Sie in diesem vierten Hut finden werden, ist nicht meine Angelegenheit. Ich kann Ihnen und Mr. Queen gar nicht genug danken! Bis dann!«


Er stürzte aus dem Zimmer, und einen Augenblick später wurde das Schnarchgeräusch des Polizisten in der Diele abrupt unterbrochen. Die Wohnungstüre fiel mit einem Knall ins Schloß.


Ellery und der Inspektor sahen sich an.


»Ich weiß nicht, wohin uns dieser ganze Kram führen wird«, brummte er, während er sich am Schweißband des letzten Hutes, einer Melone, zu schaffen machte. »Wir haben Verschiedenes gefunden, Schlüsse gezogen, uns alles immer wieder im Kopf herumgehen lassen – nun …« Er seufzte, als er das Lederband ins Licht hielt.


Es war gezeichnet: DIV.

Achtzehntes Kapitel

in welchem man einen toten Punkt erreicht



Am Freitag mittag, während Inspektor Queen, Ellery und Timothy Cronin noch mit der Durchsuchung von Monte Fields Zimmern beschäftigt waren, spazierte Sergeant Velie in trüber Stimmung und ungerührt wie immer die 87. Straße vom Broadway her hinab, stieg die Sandsteinstufen zu dem Haus, in dem die Queens lebten, hinauf und klingelte. Mit heiterer Stimme bat Djuna ihn einzutreten; ohne eine Miene zu verziehen, kam der brave Sergeant dieser Aufforderung nach.

»Der Inspektor ist nicht zu Hause«, verkündete Djuna schnippisch, wobei seine schmale Gestalt fast völlig hinter einer riesigen Kittelschürze verborgen war. Der angenehme Duft von Zwiebelsteaks durchzog die Luft.

»Ich werd’ dir noch mal Beine machen, du Knirps!« brummte Velie. Aus seiner Brusttasche zog er einen unförmigen versiegelten Briefumschlag und reichte ihn Djuna. »Gib das dem Inspektor, wenn er zurückkommt. Wenn du es vergißt, schmeiß’ ich dich in den East River.«

»Und wer hilft Ihnen dabei?« flüsterte Djuna, wobei es um seine Lippen merklich zuckte. »Ja, Sir«, fügte er dann anständig hinzu.

»Dann ist es gut.« Bedächtig machte Velie wieder kehrt und stieg zur Straße hinunter; aus dem Fenster konnte der grinsende Djuna noch eine Weile auf seine breiten Schultern hinabschauen.

Als sich dann kurz vor sechs Uhr die beiden Queens müde und erschöpft in ihre Wohnung schleppten, fiel der wachsame Blick des Inspektors sofort auf den Dienstumschlag.

Er riß den Umschlag auf einer Seite auf und zog eine Reihe von maschinengeschriebenen Blättern aus dem Büro der Kriminalpolizei heraus.

»Sehr schön«, murmelte er in Richtung Ellery, der sich gerade langsam den Mantel auszog. »Jetzt haben wir alle zusammen …«

Er ließ sich in einen Sessel fallen und begann – den Hut noch auf seinem Kopf, den Mantel noch zugeknöpft –, die Berichte laut vorzulesen.

Auf dem ersten Blatt stand:

Bericht über die Freilassung 28. September 192- John Cazzanelli, alias Pfarrer Johnny, alias Itaker-John, alias Peter Dominick, wurde heute unter Auflagen aus der Haft entlassen.

Geheime Nachforschungen über J. C.s Mittäterschaft beim Raubüberfall auf die Seidenspinnerei Bonomo (2. Juni 192-) blieben ohne Ergebnis. Wir suchen nach ›Dinky‹ Morehouse, einem Polizeiinformanten, der zur Zeit nirgendwo aufzufinden ist, um weitergehende Informationen zu erhalten.

Entlassung erfolgte auf Anweisung von Staatsanwalt Sampson. J. C. wird überwacht und ist jederzeit verfügbar.


T.V.

Der zweite Bericht, den der Inspektor in die Hand nahm, nachdem er die Mitteilung betreffs Pfarrer Johnny stirnrunzelnd beiseite gelegt hatte, lautete folgendermaßen:

Bericht über William Pusak 28. September 192- Die Nachforschungen über den Werdegang von William Pusak haben folgendes ergeben;

32 Jahre alt; geboren in Brooklyn, N.Y., als Sohn von Einwanderern; unverheiratet, jedoch kein Einzelgänger; hat Verabredungen an drei oder vier Abenden in der Woche; religiös. Ist Buchhalter im Bekleidungsgeschäft Stein & Rauch, 1076 Broadway. Spielt nicht und trinkt nicht. Bewegt sich nicht in schlechter Gesellschaft. Sein einziges Laster scheinen die Frauen zu sein.

Ging seit Montag abend seinen normalen Aktivitäten nach. Keine Briefe abgeschickt, kein Geld von der Bank abgehoben, ganz gewöhnliche Arbeitszeit. Nichts, was Verdacht erregen könnte.

Das Mädchen, Esther Jablow, scheint wohl Pusaks Favoritin zu sein. Hat E. J. zweimal seit Montag gesehen – Dienstag zum Mittagessen und Mittwoch abend. An dem Abend gingen sie ins Kino und in ein chinesisches Restaurant.

Detective, Dienstnummer 4 Genehmigt: T. V.


Brummend warf der Inspektor das Blatt beiseite. Die Überschrift über dem dritten Bericht lautete:

Bericht über Madge O’Connell


Bis Freitag, 28. Sept. 192- O’Connell wohnt in der 10. Avenue, Nr. 1436. Mietwohnung im vierten Stock. Uneheliches Kind. Wegen der Schließung des Römischen Theaters seit Montag abend ohne Arbeit. Verließ das Theater an besagtem Abend zusammen mit den Zuschauern. Ging nach Hause, führte aber unterwegs noch von einem Drugstore Ecke 8. Avenue und 48. Straße ein Telefongespräch. Mit wem, war nicht herauszufinden. Konnte hören, wie Pfarrer Johnny in dem Gespräch erwähnt wurde. Sie schien sehr aufgeregt zu sein.

Verließ am Dienstag bis ein Uhr mittags nicht das Haus. Kein Versuch, Pfarrer Johnny im Gefängnis zu sprechen. Klapperte einige Theateragenturen ab, um Stelle als Platzanweiserin zu finden, nachdem sie erfahren hatte, daß das Römische Theater auf unbestimmte Zeit geschlossen war.

Bis Donnerstag dann nichts Neues. Nach einem Anruf des Managers ging sie am Donnerstag abend wieder zurück an ihre Arbeit. Machte keinen Versuch, Pfarrer Johnny zu sehen oder zu sprechen. Keine Telefonanrufe, keine Besucher, keine Post. Schien verdächtig – vermutlich weiß sie aber, daß sie beschattet wird.

Detective, Dienstnummer 11


»Hm!« brummte der Inspektor, als er das nächste Blatt aufnahm. »Mal sehen, was jetzt kommt …«

Bericht über Frances Ives-Pope


28. September 192- F.I.-P. verließ das Römische Theater am Montag abend, direkt, nachdem sie aus dem Büro des Geschäftsführers von Inspektor Queen entlassen worden war. Wurde wie die anderen Zuschauer auch am Hauptausgang durchsucht. Ging zusammen mit den Mitgliedern des Ensembles, Eve Ellis, Stephen Barry und Hilda Orange weg. Nahmen ein Taxi zum Haus der Ives-Popes am Riverside Drive. Man brachte sie in halb bewußtlosem Zustand ins Haus. Die drei Schauspieler verließen das Haus bald darauf wieder.

Am Dienstag hat sie das Haus nicht verlassen. Von einem Gärtner erfuhr ich, daß sie den ganzen Tag im Bett zubrachte; auch daß sie viele Anrufe im Verlauf des Tages erhielt.

Vor Mittwoch morgen zur Unterredung mit Inspektor Queen im eigenen Haus trat sie kaum in Erscheinung. Nach der Unterredung verließ sie das Haus in Begleitung von Stephen Barry, Eve Ellis, James Peale und ihrem Bruder Stanford. Im Wagen der Familie Ausflug nach Westchester. Der Ausflug brachte wieder etwas Leben in F. Den Abend verbrachte sie mit Stephen Barry zu Hause beim Kartenspiel.

Am Donnerstag ging sie auf der Fifth Avenue einkaufen. Traf Stephen Barry zu einem kleinen Imbiß. Er brachte sie zum Central Park; haben den Nachmittag dort draußen verbracht. Noch vor fünf begleitete S. B. sie nach Hause. S. B. blieb dort zum Essen und brach danach auf einen Anruf des Managers hin zum Römischen Theater auf, F.I.-P. verbrachte den Abend zusammen mit der Familie zu Hause.

Freitag morgen nichts zu berichten. Die ganze Woche über keinerlei verdächtige Bewegungen. Keine unbekannte Person ist an sie herangetreten. Keinerlei Kontakt zu Benjamin Morgan.

Detective, Dienstnummer 39


»Das wäre also das«, murmelte der Inspektor. Der nächste Bericht, den er sich vornahm, war äußerst kurz.

Bericht über Oscar Lewin 28. September 192- Lewin verbrachte die Tage von Dienstag bis Freitag morgen im Büro von Monte Field, wo er mit den Herren Stoates und Cronin zusammenarbeitete. Die drei gingen jeden Tag zusammen zum Mittagessen.

Lewin ist verheiratet und wohnt in der Bronx, 156. Straße, Nr. 211 E. Er verbrachte jeden Abend zu Hause. Keine verdächtige Post, keine verdächtigen Anrufe. Hat keine schlechten Angewohnheiten. Führt ein unauffälliges und anspruchsloses Leben. Hat einen guten Ruf.

Detective, Dienstnummer 16

Vermerk: Vollständige Angaben zu Oscar Lewins Vergangenheit, Angewohnheiten etc. sind auf Wunsch über Timothy Cronin, Assistent des Staatsanwalts, erhältlich.

T.V.

Der Inspektor seufzte, als er die fünf Blätter mit den Berichten durchgesehen hatte, erhob sich, nahm Hut und Mantel ab, warf sie dem bereits wartenden Djuna in die Arme und setzte sich wieder hin. Dann nahm er den letzten Bericht, der sich in dem Umschlag befunden hatte – ein größeres Blatt, an das ein kleiner Streifen Papier mit der Aufschrift VERMERK FÜR R. Q. geheftet war. Auf dem Streifen stand noch:

Dr. Prouty ließ den beigefügten Bericht heute morgen zur Weiterleitung an Sie bei mir zurück. Es tut ihm leid, daß er nicht persönlich bei Ihnen vorsprechen kann, aber der Burbridge-Giftmord nimmt seine ganze Zeit in Anspruch.

In vertrauter Weise war der Text unterzeichnet mit Velies hingekritzelten Initialen.

Das daran angeheftete Blatt war eine hastig heruntergetippte Botschaft unter dem Briefkopf des gerichtsmedizinischen Instituts.

Lieber Q [so lautete die Botschaft]: Hier noch ein kleiner Dämpfer in bezug auf das Tetrableiäthyl. Jones und ich haben eine umfassende Untersuchung durchführen lassen, um seiner Herkunft auf die Spur zu kommen. Ohne Erfolg, und ich glaube, Sie müssen sich in bezug darauf in Ihr Schicksal fügen. Sie werden das Gift, mit dem Monte Field getötet wurde, nicht zurückverfolgen können. Das ist nicht nur die Meinung Ihres untertänigsten Dieners, sondern auch die vom Chef und von Jones. Wir stimmen alle darin überein, daß das mit dem Benzin wohl die wahrscheinlichste Erklärung ist. Versuch daraus mal eine Spur zu machen, Sherlocko!

Ein handgeschriebenes Postscriptum Dr. Proutys lautete:


Sollte sich noch irgend etwas ergeben, werde ich Sie es natürlich wissen lassen. Bleiben Sie nüchtern!

»Das ist ja alles ziemlich unerfreulich«, murmelte der Inspektor, während Ellery wortlos das verlockend wirkende Mahl in Angriff nahm, das der unbezahlbare Djuna zubereitet hatte. Schlecht gelaunt stocherte der Inspektor im Obstsalat herum. Er wirkte ganz und gar nicht glücklich. Er murmelte vor sich hin, warf unheilvolle Blicke auf die Blätter mit den Berichten, schaute auf Ellerys abgespanntes Gesicht und dessen kräftig arbeitenden Kiefer und warf schließlich sogar seinen Löffel beiseite.

»Etwas Nutzloseres und Ärgerlicheres als dieser Haufen Berichte ist mir noch nicht untergekommen!« grollte er.


Ellery lächelte. »Denk immer an Periander … Was? Bitte etwas mehr Höflichkeit, Sir … Periander von Korinth, der irgendwann einmal sehr nüchtern bemerkt hat: ›Dem Fleißigen ist nichts unmöglich!‹«


Während das Kaminfeuer noch loderte, rollte sich Djuna in seiner Lieblingsposition in einer Ecke auf dem Fußboden zusammen. Ellery rauchte eine Zigarette und blickte zufrieden in die Flammen; voller Zorn stopfte sich der alte Queen den Inhalt seiner Schnupftabakdose in die Nase. Die beiden machten sich nun an ein ernsthaftes Gespräch. Oder um es genauer auszudrücken – Inspektor Queen machte sich daran und brachte auch die ernsthafte Note in das Gespräch, während Ellery in erhaben verträumter Stimmung weit weg von solch niedrigen Dingen wie Verbrechen und Sühne zu sein schien.


Hart schlug der alte Mann mit der Hand auf die Armlehne seines Stuhls. »Ellery, hast du schon jemals einen solch nervenaufreibenden Fall erlebt?«


»Ganz das Gegenteil ist der Fall«, meinte Ellery dazu und blickte mit halb geschlossenen Augen in die Flammen. »Deine Nerven lassen nach. Du läßt zu, daß dich so unbedeutende Dinge wie das Ergreifen eines Mörders übermäßig in Aufregung versetzen. Entschuldige meine hedonistische Einstellung zum Leben … Vielleicht kannst du dich daran erinnern, daß in meinem Buch ›Das Geheimnis des schwarzen Fensters‹ meine guten Detektive keinerlei Probleme hatten, den Verbrecher zu ergreifen. Und warum? Weil sie immer kühlen Kopf behielten. Schlußfolgerung: Behalte immer einen kühlen Kopf … Ich denke bereits an morgen. Ach wie herrlich, in Urlaub zu fahren!«


»Für einen gebildeten jungen Mann, mein Sohn«, knurrte der Inspektor gereizt, »drückst du dich wirklich erstaunlich unverständlich aus. Du sagst oft Sachen, die nichts bedeuten, und meinst etwas, wenn du nichts sagst. Nein – ich bin wirklich ganz durcheinander!«


Ellery brach in Gelächter aus. »Die Wälder in Maine – die herbstlichen Farben – Chauvins Hütte am See – eine Angelrute


– die gute Luft. – Oh Gott, wann wird denn endlich morgen sein?«


Inspektor Queen schaute seinen Sohn voll mitfühlender Ungeduld an. »Ich – ich wüßte nur gerne … Nun, kann dir ja egal sein.« Er seufzte. »Aber das eine sage ich dir, wenn mein kleiner Einbrecher versagt, sind wir aufgeschmissen.«


»Zum Teufel mit allen Einbrechern!« rief Ellery. »Was hat Pan schon mit den irdischen Widerwärtigkeiten zu schaffen? Mein nächstes Buch ist bereits so gut wie fertig, Vater.«


»Du Schurke hast dir wohl wieder deine Einfälle aus dem wirklichen Leben abgeschaut«, murmelte der alte Mann. »Solltest du den Field-Mord für deinen neuesten Fall verwenden, so wäre ich schrecklich daran interessiert, die letzten Kapitel zu lesen.«


»Armer Vater!« sagte Ellery grinsend. »Nimm das Leben doch nicht so schwer! Wenn du es nicht schaffst, dann schaffst du es eben nicht. Monte Field ist diese ganze Aufregung nun wirklich nicht wert.«


»Darum geht’s ja gar nicht«, sagte der alte Mann. »Ich hasse es nur, Niederlagen einzugestehen … Was für ein wirres Durcheinander von Motiven und Machenschaften! Das ist die härteste Nuß, die ich jemals zu knacken hatte. Der Fall könnte einen zum Wahnsinn treiben. Ich weiß, wer den Mord begangen hat – ich weiß, warum der Mord begangen wurde – ich weiß sogar, wie der Mord begangen wurde. Und wo steh’ ich damit?« Er machte eine Pause und nahm wütend eine Prise Schnupftabak. »Unendlich weit vom Ziel entfernt – genau dort!« knurrte er und ließ sich in seinem Stuhl zurückfallen.


»Sicher eine ziemlich ungewohnte Situation«, murmelte Ellery. »Aber es sind schon schwierigere Dinge zu Ende gebracht worden … Heißa! Ich kann es kaum erwarten, in diesem paradiesischen Wasser baden zu gehen.«


»Und dir höchstwahrscheinlich eine Lungenentzündung zu holen«, sagte der Inspektor besorgt. »Du versprichst mir auf der Stelle, daß du da draußen keine Zurück-zur-NaturKraftakte treibst. Ich will nicht noch ein Begräbnis am Hals haben – ich …«


Ellery war auf einmal sehr schweigsam geworden. Er schaute hinüber zu seinem Vater. Der Inspektor erschien merkwürdig alt in dem flackernden Kaminfeuer. Ein Ausdruck von Schmerz ließ seine zerfurchten Gesichtszüge sehr menschlich erscheinen. Die Hand, mit der er sein dichtes graues Haar nach hinten schob, wirkte beängstigend zerbrechlich.


Ellery erhob sich, zögerte, errötete leicht und beugte sich dann sanft nach vorne und tätschelte seinem Vater die Schultern.


»Kopf hoch, Vater«, sagte er mit leiser Stimme. »Hätte ich das nicht mit Chauvin abgesprochen … Es wird sich alles aufklären – das kannst du mir glauben. Wenn ich dir auch nur in irgendeiner Weise helfen könnte, wenn ich hierbliebe … Aber da gibt es nichts. Das ist jetzt ganz alleine dein Job, Vater


– und es gibt keinen Menschen auf der Welt, der ihn besser erledigen könnte als du.« Der alte Mann sah mit einem ungewohnten Ausdruck von Zuneigung zu ihm auf. Ellery wandte sich schnell ab. »Gut«, sagte er leichthin, »ich muß jetzt packen gehen, wenn ich morgen früh um 7.45 Uhr den Zug vom Grand Central erwischen will.«


Er verschwand ins Schlafzimmer. Djuna, der im Schneidersitz in seiner Ecke gesessen hatte, stand leise auf und kam durch das Zimmer auf den Inspektor zu. Er ließ sich auf dem Boden nieder und lehnte seinen Kopf gegen die Knie des Inspektors. Die Stille wurde nur durchbrochen durch das Knistern der Holzscheite im Kamin und Ellerys gedämpfte Schritte im Nebenzimmer.


Der Inspektor war sehr müde. Sein Gesicht, erschöpft, schmal, weiß, gezeichnet, ähnelte in dem gedämpften roten Licht einer Kameenschnitzerei. Mit der Hand streichelte er über Djunas krauses Haar.


»Djuna, mein Bursche«, murmelte er, »werde bloß nicht Polizist, wenn du erwachsen bist.«


Djuna drehte den Kopf nach oben und schaute den alten Mann ernst an. »Ich möchte genau so werden wie Sie«, verkündete er.


Der alte Mann sprang auf, als das Telefon klingelte. Er schnappte sich das Gerät vom Tisch – sein Gesicht war aschfahl – und sagte mit erstickter Stimme: »Hier Queen. Nun?«


Nach einer Weile legte er den Hörer auf und schleppte sich mühsam durch den Raum zum Schlafzimmer. Er lehnte sich schwer gegen den Türrahmen. Ellery richtete sich von seinem Koffer auf – und stürzte nach vorne.


»Vater!« schrie er. »Was ist los?«


Der Inspektor versuchte ein schwaches Lächeln. »Nur ein wenig erschöpft, mein Sohn, glaube ich«, brachte er schleppend hervor. »Ich habe gerade von unserem Einbrecher gehört …«


»Und …?«


»Er hat absolut nichts gefunden.«


Ellery packte seinen Vater am Arm und führte ihn zu einem Stuhl neben dem Bett. Der alte Mann ließ sich darauf fallen; seine Augen sahen unbeschreiblich müde aus. »Ellery, mein Sohn«, sagte er, »jetzt haben wir noch nicht einmal das Fünkchen eines Beweises. Es ist zum Verrücktwerden? Nicht die Spur eines wirklich greifbaren Beweises, der den Mörder vor Gericht überführen würde. Was haben wir schon? Eine Reihe toll klingender Schlußfolgerungen – und das ist auch schon alles. Nach einer guten Verteidigung wäre das Ganze löchrig wie Schweizer Käse … Nun gut! Darüber ist das letzte Wort noch nicht gesprochen worden«, fügte er auf einmal grimmig hinzu, als er sich von dem Stuhl erhob. Mit wiederkehrender Energie klopfte er seinem Sohn kraftvoll auf die breiten Schultern.


»Geh zu Bett, Sohn«, sagte er. »Du mußt morgen früh aufstehen. Ich werde noch etwas aufbleiben und nachdenken.«

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