»Ein Polizist muß oft den Weg der ›bakadori‹ gehen – jener Vögel, die, obwohl sie wissen, daß die Strandräuber mit Fäusten und Knüppeln auf sie warten, dem schmachvollen Tod ins Auge sehen, um ihre Eier im Sand zu vergraben … Genau so sollte ganz Nippon einen Polizisten nicht davon abhalten können, das Ei der Gründlichkeit auszubrüten.«
Aus Tausend Blätter von Tamaka Hiero
in welchem uns ein Theaterpublikum und eine Leiche vorgestellt werden
Die Theatersaison 192- begann alles andere als vielversprechend. Eugene O’Neill hatte es versäumt, rechtzeitig ein neues Stück zu schreiben und so für die finanzielle Unterstützung durch die Intelligenzija zu sorgen, und das Durchschnittspublikum, das sich ohne sonderliches Interesse ein Stück nach dem anderen angesehen hatte, hatte die echten Theater längst aufgegeben zugunsten der raffinierteren Vergnügungen der Filmpaläste.
Als daher am Montagabend, dem 24. September, ein feiner Sprühregen den Neonglanz im Theaterviertel des Broadway dämpfte, wurde dies von den Geschäftsführern und Produzenten zwischen der 37. Straße und dem Columbus Circle mit Verdrossenheit aufgenommen. Diverse Theaterstücke wurden auf der Stelle von den Männern in den oberen Etagen, die sich auf Gott und den Wetterdienst als Zeugen für ihre Niederlage beriefen, vom Spielplan abgesetzt! Der durchdringende Regen fesselte die potentiellen Theaterbesucher an ihre Radios und Bridgetische. Das Broadway-Viertel bot wahrlich einen öden Anblick für die wenigen, die die Verwegenheit besaßen, seine leeren Straßen zu durchstreifen.
Der Gehweg vor dem Römischen Theater auf der 47. Straße westlich des White Way war jedoch verstopft von einer Menschenmenge, so als ob Hochsaison und schönes Wetter wären. Der Titel des Stückes – ›Spiel der Waffen‹ – leuchtete grell über dem Eingang. Die Kassierer bedienten behend die schnatternde Menge, die für Karten der Abendvorstellung Schlange stand. Ein gelb-blau gekleideter Portier, der durch die Würde seiner Uniform und die Gelassenheit seines Alters beeindruckte, geleitete unter Verneigungen die befrackten und mit Pelz behangenen Gäste in den Zuschauerraum; er tat dies mit einem Anflug von Befriedigung darüber, daß die Unbilden der Witterung niemandem etwas anhaben konnten, der an der Produktion von ›Spiel der Waffen‹ beteiligt war.
Im Theater selbst – einem der neuesten am Broadway – drängten die Leute sichtbar nervös zu ihren Plätzen, da der stürmische Beginn des Stückes allgemein bekannt war. Rechtzeitig hörte der letzte Besucher auf, mit seinem Programmheft zu rascheln; der letzte Nachzügler stolperte über die Füße seines Platznachbarn; die Lampen verlöschten, und der Vorhang hob sich. Ein Schuß zerriß die Stille, ein Mann schrie … Das Stück war im Gange.
›Spiel der Waffen‹ war das erste Theaterstück der Saison, das Geräusche verwendete, die gewöhnlich mit der Unterwelt in Verbindung gebracht wurden. Schnellfeuergewehre, Maschinenpistolen, Überfälle auf Nachtclubs, der tödliche Klang von Bandenkriegen – das komplette Repertoire einer romantisierten Verbrecherwelt war in drei kurze Akte zusammengedrängt worden. Es war ein übersteigertes Abbild der Zeit – ein wenig roh, ein wenig häßlich und alles in allem zufriedenstellend für das Theaterpublikum. Egal ob es regnete oder die Sonne schien, die Vorstellungen waren ausverkauft. Auch der heutige Abend zeigte deutlich die Popularität des Stückes.
Die Vorstellung ging glatt voran. Das Publikum war – wie es sich gehörte – am donnernden Höhepunkt des ersten Aktes von Erregung gepackt. Da der Regen aufgehört hatte, schlenderten die Leute in der ersten zehnminütigen Pause nach draußen in die Nebenstraßen, um Luft zu schnappen. Als der Vorhang sich zum zweiten Akt hob, steigerte sich die Lautstärke der Knallerei auf der Bühne. Der zweite Akt wirbelte mit einem geschossenen Dialog, der zwischen den Rampenlichtern abgefeuert wurde, auf seinen Höhepunkt zu. Ein leichter Tumult im hinteren Teil des Theaters blieb unbeachtet – nicht ungewöhnlich in diesem Lärm und in der Dunkelheit. Niemand schien zu bemerken, daß etwas nicht stimmte, und das Stück ging zügig voran. Nach und nach jedoch wurde der Aufruhr heftiger. Zu diesem Zeitpunkt rutschten einige Zuschauer am Ende des linken Parketts auf ihren Sitzen herum, um ihre Rechte mit ärgerlichem Geflüster geltend zu machen. Der Protest war ansteckend. In unglaublich kurzer Zeit wandten sich unzählige Augenpaare diesem Teil des Zuschauerraums zu.
Ein schriller Schrei durchdrang plötzlich das Theater. Die Zuschauer, aufgeregt und gefesselt von der raschen Folge der Ereignisse auf der Bühne, reckten ihre Hälse erwartungsvoll in die Richtung, aus der der Schrei kam, begierig darauf, etwas mitzubekommen, was sie für eine neue Überraschung des Stückes hielten.
Ohne Vorwarnung gingen die Lichter im Theater an und enthüllten verwirrte, furchtsame oder erwartungsvolle Gesichter. Ganz auf der linken Seite, nahe bei einem verschlossenen Ausgang, stand ein stattlicher Polizist, der einen schmächtigen aufgeregten Mann am Arm festhielt. Er wehrte mit seiner mächtigen Hand eine Gruppe Neugieriger ab und brüllte mit durchdringender Stimme: »Jeder bleibt, wo er ist! Keine Bewegung! Niemand verläßt seinen Platz!«
Die Leute lachten.
Die lachenden Gesichter verschwanden bald, als das Publikum anfing, ein merkwürdiges Zögern auf seiten der Schauspieler wahrzunehmen. Obwohl sie damit fortfuhren, im Scheinwerferlicht ihre Zeilen zu rezitieren, warfen sie verwirrte Blicke in den Zuschauerraum. Als die Leute dies bemerkten, richteten sie sich halb auf ihren Plätzen auf, übernervös angesichts eines spürbaren Unheils. Die dröhnende Stimme des Beamten donnerte weiter. »Bleiben Sie auf Ihren Plätzen, sage ich! Bleiben Sie, wo Sie sind!«
Ganz plötzlich wurde den Zuschauern bewußt, daß der Zwischenfall kein Theater, sondern Realität war. Frauen kreischten und klammerten sich an ihre Begleiter. Der Balkon, von wo die Besucher keine Möglichkeit hatten, den Zuschauerraum einzusehen, glich einem Tollhaus.
Der Polizist wandte sich wütend einem untersetzten fremdländisch aussehenden Mann in Abendgarderobe zu, der händeringend in der Nähe stand.
»Ich muß Sie bitten, alle Ausgänge sofort zu schließen und dafür zu sorgen, daß sie auch verschlossen bleiben, Mr. Panzer«, knurrte er. »Postieren Sie Platzanweiser vor jede Tür und weisen Sie sie an, jeden zurückzuhalten, der versucht, hinaus- und hereinzugelangen. Schicken Sie auch jemanden nach draußen, um die Gänge zu kontrollieren, bis Verstärkung von der Zentrale kommt. Bewegen Sie sich, Mr. Panzer, sonst ist hier gleich der Teufel los!«
Der dunkelhäutige Mann eilte davon und schob dabei eine Reihe aufgeregter Menschen beiseite, die den gebrüllten Ermahnungen des Beamten zum Trotz aufgesprungen waren, um ihn zu befragen.
Der Uniformierte stand breitbeinig am Zugang zur letzten Reihe des linken Parketts und verdeckte mit seiner massigen Figur die zusammengefallene Gestalt eines Mannes in Abendkleidung, die in einer etwas merkwürdigen Haltung auf den Boden zwischen den Reihen gesackt war. Der Polizist sah auf und warf, während er immer noch den Arm des sich ängstlich duckenden Mannes an seiner Seite in eisernem Griff hielt, einen kurzen Blick in den hinteren Teil des Zuschauerraumes.
»Hey, Neilson!« rief er.
Ein großer strohblonder Mann stürzte aus einem kleinen Raum neben dem Haupteingang und kämpfte sich zu dem Beamten durch. Er warf einen raschen Blick auf die schlaffe Gestalt auf dem Boden.
»Was ist passiert, Doyle?«
»Das fragen Sie besser diesen Burschen hier«, antwortete der Polizist grimmig. Er schüttelte den Arm des Mannes, den er festhielt. »Es gibt einen Toten hier, und Mr.« – er richtete einen grimmigen Blick auf den immer kleiner werdenden kleinen Mann, und der stotterte: »Pusak, W-William Pusak« – »dieser Mr. Pusak«, fuhr Doyle fort, »hat ihn angeblich flüstern gehört, er wäre abgemurkst worden.«
Neilson starrte verblüfft auf die Leiche.
Der Polizist biß sich auf die Lippen. »Ich bin da in einem schönen Schlamassel, Harry«, bemerkte er heiser. »Der einzige Polyp hier und ein Haufen grölender Irrer, um die ich mich kümmern muß … Ich möchte, daß Sie mir einen Gefallen tun.«
»Sagen Sie’s nur … Das ist ja ein Höllenlärm!«
Doyle drehte sich wütend um, um einen Mann anzuschreien, der sich drei Reihen weiter vorne gerade erhoben hatte, nun auf seinem Sitz stand und die Geschehnisse beobachtete. »Hey Sie!« grölte er. »Sofort runter da! Hier, sofort zurück, der ganze Haufen! Zurück zu euren Plätzen, auf der Stelle, oder ich schnappe mir die ganze naseweise Meute!«
Er wandte sich wieder zu Neilson. »Gehen Sie in Ihr Büro, Harry, und melden Sie den Mord dem Präsidium«, flüsterte er. »Sagen Sie ihnen, sie sollen einen Trupp herschicken – einen großen am besten. Sagen Sie ihnen, daß es ein Theater ist – die wissen dann schon, was zu tun ist. Und hier, Harry – nehmen Sie meine Trillerpfeife, und blasen Sie sich draußen die Lunge aus dem Leib. Ich muß unbedingt sofort Hilfe bekommen.«
Während Neilson sich zurück durch die Menschenmenge kämpfte, rief Doyle ihm nach: »Sagen Sie ihnen lieber, daß sie den alten Queen herschicken sollen, Harry!« Der strohblonde Mann verschwand in sein Büro. Einige Augenblicke später hörte man ein schrilles Pfeifen vom Bürgersteig vor dem Theater.
Der dunkelhäutige Theatermanager, den Doyle angewiesen hatte, Wachen an den Eingängen und Fluren zu postieren, kam durch das Gedränge zurückgehastet. Sein Frackhemd war zerknittert, und er wischte sich in offensichtlicher Bestürzung über die Stirn. Eine Frau hielt ihn an, während er sich vorwärtsschlängelte. Sie kreischte.
»Warum hält uns dieser Polizist hier fest, Mr. Panzer? Sie sollten wissen, daß es mein gutes Recht ist, diesen Ort zu verlassen! Es ist nicht mein Problem, wenn ein Unfall passiert ist – ich hatte nichts damit zu tun – das ist Ihre Sache – sagen Sie ihm bitte, er soll damit aufhören, unschuldige Menschen herumzukommandieren!«
Der kleine Mann stammelte, während er versuchte zu entkommen. »Aber ich bitte Sie, Madam. Ich bin sicher, der Beamte weiß, was er tut. Hier wurde ein Mann getötet – das ist eine ernste Sache. Das sehen Sie doch ein … Als Manager dieses Theaters habe ich seinen Befehlen Folge zu leisten … Seien Sie ganz ruhig – haben Sie doch ein wenig Geduld …«
Er wand sich aus ihrem Griff und war weg, bevor sie protestieren konnte.
Doyle stand wild gestikulierend auf einem Sitz und brüllte: »Ich hab’ gesagt, Sie sollen sich hinsetzen und sich ruhig verhalten, der ganze Haufen hier. Es ist mir wurscht, ob Sie der Bürgermeister persönlich sind, Sie – ja, Sie da drüben, mit dem Monokel – bleiben Sie unten, oder ich muß nachhelfen! Merkt ihr Leute eigentlich nicht, was passiert ist? Mund halten, sage ich!« Er sprang auf den Boden und schimpfte vor sich hin, während er sich den Schweiß vom Rand seiner Mütze wischte.
In der ganzen Unruhe und Aufregung, mit einem Zuschauerraum, der wie ein riesiger Kessel zu kochen schien, und Hälsen, die sich über die Brüstung des Balkons reckten, da die Leute dort sich vergebens bemühten, die Ursache des Durcheinanders zu entdecken, war das abrupte Ende aller Aktivitäten auf der Bühne dem Publikum völlig entgangen. Die Schauspieler hatten sich noch einige Zeilen abgestottert, die durch das Drama vor der Bühne bedeutungslos geworden waren. Das langsame Sinken des Vorhangs setzte nun der Abendunterhaltung ein Ende. Die Schauspieler eilten schwatzend auf den Bühnenaufgang zu. Wie die Zuschauer spähten auch sie zum Zentrum des Aufruhrs hin.
Eine üppige ältere Dame in grellen Kleidern – der Name der hochbegabten überseeischen Schauspielerin, die für die Rolle der Madame Murphy, »Inhaberin einer Bar«, angekündigt war, war Hilda Orange; die schlanke, graziöse Gestalt des »Straßenmädchens Nanette« – Eve Ellis, die weibliche Hauptdarstellerin des Stückes; der große, starke Held von ›Spiel der Waffen‹, James Peale, bekleidet mit einem groben Tweedanzug und Schirmkappe; der elegante junge Mann in Abendkleidung, der den Jungen aus der guten Gesellschaft darstellte, der in die Klauen der »Bande« geraten war – Stephen Barry; Lucille Horton, deren Darstellung der »Königin der Straßen« die Theaterkritiker, die sich in dieser unglücklichen Saison über wenig genug aufregen konnten, zu einem Sturzbach charakteristischer Adjektive hingerissen hatte; ein spitzbärtiger alter Mann, dessen tadellose Abendkleidung das außerordentliche Genie von M. Le Brun, des speziell für ›Spiel der Waffen‹ engagierten Kostümbildners, bezeugte; der schwergewichtige Schurke, dessen finsteres Bühnengesicht sich in verunsicherte Fügsamkeit auflöste, während er über die außer Kontrolle geratene Zuschauerschaft blickte; tatsächlich hastete das komplette Ensemble des Stückes, perückt, gepudert und geschminkt – wobei einige rasch mit Hilfe von Handtüchern ihr Make-up entfernten –, geschlossen unter dem niedergehenden Vorhang hervor und zog den Bühnenaufgang herunter, wo sie sich ihren Weg durch den Mittelgang in Richtung des Unruheherdes freischubsten.
Ein neuer Tumult, diesmal am Haupteingang, brachte viele Leute dazu, sich – den vehementen Befehlen Doyles zum Trotz
– von ihren Plätzen zu erheben, um besser sehen zu können. Eine Gruppe Uniformierter verschaffte sich mit bereitgehaltenen Schlagstöcken Zugang. Doyle stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, als er den großen Mann in Zivil an ihrer Spitze begrüßte.
»Was ist los, Doyle?« fragte der Neuankömmling, während er mißbilligend das Inferno um sie herum betrachtete. Die Uniformierten, die mit ihm gekommen waren, trieben die Menge ans Ende des Zuschauerraumes hinter die Sitzreihen. Einige Leute, die herumgestanden hatten, versuchten, auf ihre Plätze zurückzuschlüpfen; sie wurden festgehalten und gezwungen, sich zu dem wütenden Haufen zu gesellen, der hinter der letzten Reihe zusammengedrängt wurde.
»Sieht so aus, als sei dieser Mann ermordet worden, Sergeant«, sagte Doyle.
»So.« Der Mann in Zivil blickte ohne Neugierde auf die einzige ruhige Gestalt im Theater – sie lag zu ihren Füßen, einen schwarzgewandeten Arm über das Gesicht geworfen, die Beine unbeholfen unter die Sitze der Vorderreihe gestreckt.
»Mit ‘ner Kanone?« fragte der Neuankömmling Doyle, während er seinen Blick wandern ließ.
»Nein, Sir, scheint nicht der Fall zu sein«, antwortete der Polizist. »Ich habe als erstes dafür gesorgt, daß ein Arzt aus dem Publikum ihn untersucht. Er glaubt, daß es Gift war.«
Der Sergeant brummte. »Wer ist das?« knurrte er und zeigte auf die zitternde Gestalt von Pusak, der immer noch an Doyles Seite war.
»Der Bursche, der die Leiche gefunden hat«, gab Doyle zurück. »Er hat sich seitdem nicht von der Stelle bewegt.«
»Das ist gut.« Der Detective wandte sich einer geschlossenen Gruppe zu, die zusammengedrängt wenige Meter hinter ihm stand, und fragte in die Menge: »Wer ist hier der Manager?«
Panzer trat hervor.
»Ich bin Velie, Detective-Sergeant vom Polizeipräsidium«, sagte der Mann in Zivil knapp. »Haben Sie denn nichts unternommen, um diesen grölenden Haufen von Idioten ruhig zu halten?«
»Ich habe mein Bestes versucht, Sergeant«, murmelte der Manager händeringend. »Aber sie scheinen alle erbost zu sein wegen der Art und Weise, wie dieser Officer hier« – er zeigte entschuldigend auf Doyle – »herumgetobt hat. Ich glaube, man kann von ihnen nicht erwarten, daß sie auf ihren Plätzen bleiben, als sei nichts geschehen.«
»Gut, wir werden uns darum kümmern«, unterbrach ihn Velie. Er gab einen kurzen Befehl an einen neben ihm stehenden Uniformierten. »Nun« – er wandte sich wieder zu Doyle – »wie steht’s mit den Türen, den Ausgängen? Haben Sie irgend etwas in dieser Richtung unternommen?«
»Aber sicher, Sir«, grinste der Polizist. »Ich habe Mr. Panzer veranlaßt, Platzanweiser an jeder Türe zu postieren. Sie waren sowieso den ganzen Abend über dort. Aber ich wollte einfach sichergehen.«
»Da hatten Sie recht. Hat niemand versucht herauszukommen?«
»Ich denke, dafür kann ich mich verbürgen«, warf Panzer bescheiden ein. »Die Handlung des Stückes verlangt nach Platzanweisern an jeder Tür – wegen der Atmosphäre. Es ist ein Gaunerstück, mit einer Menge Schießerei und Geschrei und diesen ganzen Sachen, und die Anwesenheit von Wachen an den Ausgängen steigert noch die allgemeine Spannung. Ich kann sehr leicht für Sie herausfinden, ob …«
»Wir werden uns selbst darum kümmern«, sagte Velie. »Doyle, wen haben Sie rufen lassen?«
»Inspektor Queen«, antwortete Doyle. »Ich habe ihn von Neilson, dem Werbemann, im Präsidium anrufen lassen.«
Velie konnte nicht umhin zu lächeln. »Sie haben aber auch an alles gedacht, nicht wahr? Was ist nun mit der Leiche? Hat irgend jemand sie angefaßt, seitdem dieser Bursche sie gefunden hat?«
Der zusammengesunkene Mann in Doyles unbarmherzigem Griff platzte fast schluchzend heraus. »I-Ich hab’ ihn nur gefunden, Officer, das schwör’ ich bei Gott, ich –«
»Schon gut, schon gut«, sagte Velie kühl. »Sie halten schön den Mund, klar? Warum flennen Sie überhaupt? Nun, Doyle?«
»Kein Mensch hat die Leiche berührt, seit ich hier bin«, antwortete Doyle, mit einem Anflug von Stolz in seiner Stimme. »Außer natürlich ein Doktor Stuttgard. Ich ließ ihn aus dem Publikum holen, damit er den Tod des Mannes feststellt. Das tat er, und sonst kam niemand in die Nähe.«
»Sie waren fleißig, nicht wahr, Doyle? Ich werde dafür sorgen, daß Sie das nicht bereuen müssen«, sagte Velie. Er drehte sich um zu Panzer, der zurückschrak. »Sie begeben sich besser auf die Bühne und machen eine Durchsage, Mr. Manager. Die ganze Mannschaft hat zu bleiben, wo sie ist, bis Inspektor Queen sie nach Hause gehen läßt – klar? Sagen Sie ihnen, daß es keinen Zweck hat, sich zu beschweren – je mehr sie sich beschweren, um so länger werden sie hier bleiben müssen. Machen Sie außerdem klar, daß alle auf ihren Plätzen zu bleiben haben und daß jeder, der eine verdächtige Bewegung macht, Ärger bekommen wird.«
»Ja. Ja. Mein Gott, was für eine Katastrophe!« stöhnte Panzer auf seinem Weg durch den Mittelgang in Richtung Bühne.
Im selben Moment stieß eine kleine Gruppe von Leuten die große Eingangstür am Ende des Theaters auf und kam geschlossen über den Teppich geschritten.
in welchem der eine Queen arbeitet, während der andere zuschaut
Weder in der Art noch im Aussehen von Inspektor Richard Queen schien etwas Ungewöhnliches zu liegen. Er war ein kleiner, freundlich wirkender älterer Herr mit vom Alter zerfurchtem Gesicht. Er ging ein wenig vornübergebeugt mit einem Anflug von Bedachtsamkeit, was bestens zu dem vollen grauen Haar und dem Schnurrbart, den verschleiert wirkenden grauen Augen und den schlanken Händen zu passen schien.
Als er den Läufer mit kurzen, schnellen Schritten überquerte, war Inspektor Queen weit davon entfernt, besonderen Eindruck auf die neugierigen Augen, die seine Ankunft von allen Seiten verfolgten, zu machen. Und doch war die einfache Würde seiner Erscheinung so ungewöhnlich, war das Lächeln, das in seinem zerfurchten alten Gesicht lag, so arglos und wohlwollend, daß ein hörbares Raunen durch das Auditorium fuhr und ihm in seltsam passender Weise voraneilte.
Bei seinen eigenen Leuten änderte sich das Verhalten spürbar. Doyle zog sich in eine Ecke neben den Ausgängen zur linken Seite zurück. Detective-Sergeant Velie, der zynisch, kalt und wie unberührt von der drohenden Hysterie um ihn herum über die Leiche gebückt stand, entspannte sich ein wenig – so als wäre er zufrieden, seinen Platz im Scheinwerferlicht abzutreten. Die Männer in Uniform, die die Gänge bewachten, grüßten voller Eifer. Das aufgeregte, murrende und zornige Publikum sank, ohne zu wissen warum, voller Erleichterung in seine Sitze zurück.
Inspektor Queen ging auf Velie zu und gab ihm die Hand. »Wirklich zu schade, Thomas, mein Junge. Ich hab’ gehört, daß du gerade auf dem Sprung nach Hause warst, als das hier passierte«, sagte er leise. Doyle warf er ein väterliches Lächeln zu. Dann sah er sich mit einem Anflug von Mitleid den Mann auf dem Boden an. »Thomas, sind alle Ausgänge bewacht?« fragte er. Velie nickte.
Queen drehte sich um und nahm interessiert die ganze Szenerie in Augenschein. Leise stellte er Velie eine Frage, worauf dieser zustimmend nickte. Mit einer Handbewegung winkte er dann Doyle heran.
»Doyle, wo sind die Leute, die auf diesen Plätzen saßen?« Er zeigte auf die drei Sitze neben dem des Toten und auf vier weitere leere Plätze direkt in der Reihe davor.
Der Polizist schien verwirrt zu sein. »Ich hab’ da niemanden gesehen, Inspektor …«
Queen stand einen Moment ruhig da; dann ließ er Doyle wieder abtreten und bemerkte leise zu Velie: »Und das in einem überfüllten Haus. Sollte man nicht vergessen.« Nachdenklich zog Velie die Augenbrauen hoch. »Noch steck’ ich in der ganzen Sache nicht richtig drin«, fuhr der Inspektor freundlich fort. »Alles, was ich bisher sehe, sind ein Toter und ein Haufen schwitzender Leute, die Krach machen. Laß Hesse und Piggott erst einmal ein wenig Ordnung schaffen.«
Velie gab den Befehl weiter an zwei Männer in Zivil, die mit dem Inspektor das Theater betreten hatten. Sie bahnten sich den Weg zum hinteren Ende des Raumes; die Leute, die herumgestanden hatten, wurden beiseite geschoben. Polizisten unterstützten die beiden Detectives. Die Schauspieler mußten sich ein wenig zurückziehen. Ein Abschnitt hinter den mittleren Sitzreihen wurde mit Seilen abgesperrt; etwa fünfzig Männer und Frauen wurden dort hineingeschoben. Männer gingen ruhig umher und wiesen sie an, ihre Eintrittskarten vorzuzeigen und dann einer nach dem anderen zu ihren Sitzplätzen zurückzukehren. Nach fünf Minuten stand niemand aus dem Publikum mehr. Die Schauspieler wurden aufgefordert, zunächst innerhalb der Absperrung zu bleiben.
Inspektor Queen, der sich nun im äußersten linken Gang befand, griff in seine Manteltasche, zog vorsichtig eine braune geschnitzte Schnupftabakdose hervor und nahm mit offensichtlichem Genuß eine Prise.
»So ist es schon besser, Thomas«, sagte er vergnügt. »Du weißt, wie mich dieser Lärm aufregt … Hast du eine Ahnung, wer der arme Teufel da auf dem Boden ist?«
Velie schüttelte den Kopf. »Ich hab’ ihn noch nicht einmal angefaßt, Inspektor«, sagte er. »Ich bin erst wenige Minuten vor Ihnen hier angekommen. Jemand aus dem Revier in der 47. Straße rief mich an und berichtete von Doyles Alarmpfiffen. Doyle hat anscheinend die Sache in die Hand genommen. Sein Lieutenant war voll des Lobes.«
»Ach ja«, sagte der Inspektor. »Doyle. Hierher, Doyle.«
Der Polizist kam heran und grüßte.
»Was genau«, fuhr der kleine grauhaarige Mann – gemütlich an einen Sitz gelehnt – fort, »was genau ist hier passiert, Doyle?«
»Alles, was ich darüber sagen kann, Inspektor«, begann Doyle, »ist, daß ein paar Minuten vor dem Ende des zweiten Akts dieser Mann« – er zeigte auf Pusak, der wie ein Bild des Jammers in einer Ecke stand – »zu mir nach hinten gelaufen kam, von wo aus ich mir das Stück ansah, und sagte, ›Ein Mann ist ermordet worden, Officer! … Ermordet worden!‹ Er war am Flennen wie ein Baby, und ich dachte, er wäre besoffen. Aber ich marschierte schnell hier rüber – es war dunkel, und auf der Bühne wurde geschrien und geschossen – und sah mir den Burschen auf dem Boden an. Ich hab’ ihn nicht bewegt, nur nach dem Herzschlag gefühlt – da gab’s nicht mehr viel zu fühlen. Um sicher zu gehen, daß er hinüber war, hab’ ich gefragt, ob ein Arzt da ist, und es hat sich ein gewisser Stuttgard gemeldet.« Inspektor Queen hörte aufmerksam zu; wie ein Papagei hatte er den Kopf zu einer Seite geneigt. »Ausgezeichnet«, sagte er. »Ausgezeichnet, Doyle. Ich werde Dr. Stuttgard später befragen. Was passierte danach?«
»Dann«, fuhr der Polizist fort, »dann hab’ ich mir die Platzanweiserin in dem Gang hier geschnappt und sie ins Büro des Managers Panzer geschickt. Louis Panzer – direkt da vorne steht der Manager.« Queen betrachtete Panzer, der im Gespräch mit Neilson wenige Meter entfernt an der Rückseite des Saales stand, und nickte. »Das ist also Panzer. Gut, gut … Ellery! Du hast meine Nachricht erhalten?«
Er schoß vorwärts, schob Panzer beiseite, der schüchtern zurückwich, und schlug einem hochgewachsenen jungen Mann, der unbemerkt durch den Haupteingang hineingekommen war und sich nun gemächlich umschaute, auf die Schultern. Der ältere hakte sich bei dem jüngeren Mann unter.
»Hab’ ich dir irgendwelche Ungelegenheiten bereitet, mein Sohn? Welchen Buchladen hast du heute abend heimgesucht? Wirklich, Ellery, ich bin froh, daß du hier bist!«
Er griff in seine Tasche, holte wieder die Schnupftabakdose hervor, nahm eine kräftige Prise – so kräftig, daß er niesen mußte – und schaute zu seinem Sohn auf.
»Eigentlich«, sagte Ellery, dessen Augen ruhelos umherwanderten, »kann ich dieses Kompliment nicht erwidern. Du hast mich soeben aus einem richtigen Bücherparadies weggelockt. Ich hatte den Händler gerade soweit, mir eine unbezahlbare Falconer-Erstausgabe zu überlassen; ich hatte vor, mir von dir im Präsidium das Geld zu leihen. Ich rief dort an – und hier bin ich. Eine Falconer-Erstausgabe! Nun gut. Sie wird mir nicht weglaufen, nehme ich an.«
Der Inspektor lachte leise vor sich hin. »Wenn es um eine alte Schnupftabakdose ginge, wäre ich vielleicht interessiert. Aber so – komm mit! Sieht aus, als hätten wir heute abend noch einiges zu tun.«
Er packte seinen Sohn am Ärmel, und zusammen gingen sie auf die kleine Menschentraube zu ihrer Linken zu. Ellery Queen war etwa um einen Kopf größer als sein Vater. Er hatte breite Schultern und einen schwungvollen Gang. Er war in Dunkelgrau gekleidet und trug einen leichten Spazierstock. Der rahmenlose Kneifer, der auf seiner Nase saß, schien nicht so ganz zu seinem athletischen Aussehen zu passen. Aber die Stirn, die feinen Gesichtszüge und die hellen Augen gehörten schon eher zu einem Mann des Geistes als zu einem Mann der Tat.
Sie gesellten sich zu der Gruppe, die um die Leiche versammelt war. Voller Respekt wurde Ellery von Velie begrüßt. Er beugte sich über den Sitz, musterte die Leiche gewissenhaft und schritt dann wieder zurück.
»Also weiter, Doyle«, sagte der Inspektor lebhaft. »Sie haben sich die Leiche angeschaut, den Mann festgehalten, der sie gefunden hat, den Manager herangeholt … Was dann?«
»Auf meine Anweisung hin schloß Panzer sofort alle Türen und achtete darauf, daß niemand herein- oder herauskam«, antwortete Doyle. »Es gab ziemlichen Ärger mit dem Publikum, aber sonst ist nichts passiert.«
»Gut so«, sagte der Inspektor, während er nach seiner Schnupftabakdose tastete. »Sie haben wirklich gute Arbeit geleistet. Und jetzt zu diesem Herrn dort.«
Er machte ein Zeichen hinüber in die Ecke zu dem zitternden kleinen Mann, der zögernd vorwärtsschritt, nervös mit der Zunge über seine Lippen fuhr, hilflos umherschaute und dann stumm vor ihnen stand.
»Wie heißen Sie?« fragte der Inspektor freundlich.
»Pusak – William Pusak«, sagte der Mann. »Ich bin Buchhalter. Ich war gerade …«
»Eins nach dem anderen, Pusak. Wo haben Sie gesessen?«
Eifrig zeigte Pusak auf den sechsten Platz vom Gang aus, in der letzten Reihe. Auf dem fünften Platz saß ein aufgeschreckt wirkendes junges Mädchen, das zu ihnen hinüberblickte.
»Ich seh’ schon«, sagte der Inspektor. »Gehört diese junge Dame zu Ihnen?«
»Ja, Sir – ja. Das ist meine Verlobte, Sir. Sie heißt Esther – Esther Jablow …«
Etwas im Hintergrund machte sich ein Detective Notizen. Ellery stand hinter seinem Vater und blickte von einem Ausgang zum anderen. Er fing an, einen Plan auf das Vorsatzblatt eines Büchleins zu zeichnen, das er aus der Manteltasche gezogen hatte.
Der Inspektor sah sich das Mädchen, das sofort den Blick abwandte, genau an. »Also, Pusak, ich möchte, daß Sie mir erzählen, was passiert ist.«
»Ich – ich hab’ nichts Unrechtes getan, Sir.«
Inspektor Queen gab ihm einen leichten Klaps auf den Arm. »Niemand beschuldigt Sie, irgend etwas getan zu haben, Pusak. Ich will von Ihnen nur wissen, was vorgefallen ist. Lassen Sie sich ruhig Zeit – erzählen Sie es ganz so, wie Sie wollen.«
Pusak schaute ihn verwundert an. Dann befeuchtete er seine Lippen und fing an. »Also, ich saß da auf diesem Platz zusammen mit meiner – mit Miss Jablow; das Stück hat uns wirklich gut gefallen. Der zweite Akt war ganz schön aufregend – es gab viel Schießerei und Gebrüll auf der Bühne; ich stand dann auf und wollte auf den Gang raus, diesen Gang hier.« Aufgeregt zeigte er auf den Teppich unter seinen Füßen. Queen nickte freundlich.
»Ich mußte an meiner – an Miss Jablow vorbei; außer einem Mann war sonst niemand mehr zwischen ihr und dem Gang. Das ist auch der Grund, warum ich diesen Weg genommen habe. Mir ist es nicht so angenehm« – er zögerte entschuldigend – »die Leute mitten im aufregendsten Teil durch mein Hinausgehen stören zu müssen.«
»Das war sehr rücksichtsvoll von Ihnen, Pusak«, sagte der Inspektor lächelnd.
»Ja, Sir. Ich bin also die Reihe runtergegangen, hab’ mich so vorwärts getastet – denn es war ganz schön dunkel im Theater
– und bin dann auf … auf diesen Mann gestoßen.« Er schauderte und fuhr dann etwas schneller fort. »Der sitzt ziemlich seltsam, dachte ich. Seine Knie berührten den Sitz vor ihm, und ich konnte nicht vorbei. Ich sagte ›Entschuldigung‹ und versuchte es noch einmal, aber seine Knie hatten sich kein bißchen bewegt. Ich wußte nicht, was ich machen sollte, Sir; ich bin nicht so rücksichtslos wie manche Zeitgenossen, wollte mich also herumdrehen und zurückgehen, als ich auf einmal spürte, wie der Körper des Mannes auf den Boden rutschte – ich war immer noch ganz nah an ihm dran. Selbstverständlich hab’ ich einen Riesenschreck gekriegt – ist ja nur natürlich.«
»Würd’ ich auch so sehen«, sagte der Inspektor teilnahmsvoll. »Das muß Sie ziemlich mitgenommen haben. Was ist dann passiert?«
»Nun, Sir, … bevor ich überhaupt richtig merkte, was passierte, fiel er schon ganz von seinem Sitz herunter, und sein Kopf schlug gegen meine Beine. Ich wußte nicht, was ich tun sollte. Ich konnte nicht um Hilfe rufen – ich weiß nicht, warum, aber ich konnte einfach nicht; ich beugte mich zu ihm hinunter, dachte, er wäre betrunken, krank oder sonst etwas, und wollte ihn hochheben. Darüber, was ich danach zu tun hätte, hatte ich keine Vorstellung …«
»Ich weiß, was Sie empfunden haben, Pusak. Machen Sie weiter.«
»Dann passierte das, wovon ich dem Polizisten erzählt habe. Ich hatte gerade seinen Kopf zu packen bekommen, als ich merkte, wie seine Hand nach oben kam und nach meiner griff, genau so, als würde er verzweifelt versuchen, Halt zu finden. Dann stöhnte er. Es war so leise, daß ich es kaum hören konnte, aber es war so was von furchtbar. Ich kann es nicht genau beschreiben …«
»Jetzt kommen wir voran«, sagte der Inspektor. »Was dann?«
»Dann sprach er. Es war kein richtiges Sprechen, es war mehr wie ein Gurgeln, so als würde er ersticken. Er sagte ein paar Worte, die ich nicht verstand, aber ich begriff, daß da jemand nicht einfach nur krank oder betrunken war. Ich beugte mich also noch tiefer hinunter und hörte genau hin. Ich hörte ihn keuchen, ›Es war Mord … Bin ermordet worden …‹ oder so etwas.«
»Er sagte also ›Es war Mord‹?« Der Inspektor schaute Pusak scharf an. »Nun gut. Das muß Ihnen einen ziemlichen Schock versetzt haben, Pusak.« Dann fuhr er ihn auf einmal an: »Sind Sie sicher, daß der Mann ›Mord‹ sagte?«
»Genau das hab’ ich gehört, Sir. Ich hab’ gute Ohren«, sagte Pusak verbissen.
»Gut.« Queen lächelte wieder entspannt. »Ich wollte nur ganz sichergehen. Was haben Sie dann gemacht?«
»Dann spürte ich, wie er sich noch einmal aufbäumte und plötzlich in meinen Armen schlaff wurde. Ich hatte Angst, er wäre tot; ich weiß nicht wie – aber das nächste, woran ich mich erinnere, ist, daß ich das alles ein Stück weiter hinten dem Polizisten erzählte, diesem da.« Er zeigte auf Doyle, der unbeteiligt auf seinen Fersen hin und her wippte.
»Und das ist alles?«
»Ja, Sir. Jawohl. Das ist alles, was ich darüber weiß«, sagte Pusak mit einem Seufzer der Erleichterung.
Queen packte ihn vorne an seinem Kragen und schnauzte ihn an: »Das ist nicht alles, Pusak. Sie haben vor allen Dingen vergessen, uns zu erzählen, warum Sie Ihren Platz verlassen haben.« Er blickte dem kleinen Mann genau in die Augen.
Pusak hustete, schwankte einen Augenblick unentschlossen hin und her, so als wäre er sich über seine nächsten Worte nicht ganz im klaren, beugte sich dann aber etwas nach vorne und flüsterte dem erstaunten Inspektor etwas ins Ohr.
»Oh!« Queens Lippen zeigten den Anflug eines Lächelns, aber er sagte ernst: »Ich verstehe, Pusak. Vielen Dank für Ihre Hilfe. Es ist nun alles in Ordnung. Sie dürfen jetzt auf Ihren Platz zurückkehren und dann später mit den anderen das Gebäude verlassen.« Eine Handbewegung zeigte an, daß er entlassen war. Pusak schlich, nachdem er noch einen jammervollen Blick auf die Leiche geworfen hatte, die Rückseite der letzten Reihe entlang und tauchte wieder an der Seite des Mädchens auf. Sie zog ihn sofort in eine zwar im Flüsterton gehaltene, aber dennoch angeregte Unterhaltung.
Als der Inspektor sich leise lächelnd zu Velie umwandte, wirkte Ellery ein wenig ungeduldig, setzte zu reden an, überlegte es sich dann aber anders, zog sich schließlich nach hinten zurück und verschwand aus dem Blickfeld.
»Nun gut, Thomas«, seufzte der Inspektor. »Dann wollen wir mal einen Blick auf den Burschen werfen.«
Er kniete zwischen den beiden Reihen nieder und beugte sich gewandt über den toten Mann. Trotz der guten Beleuchtung durch die Deckenlampen war es am Fußboden in dem beengten Raum zwischen den Sitzreihen dunkel. Velie knipste eine Taschenlampe an und neigte sich etwas nach vorne über den Inspektor, um den hellen Lichtstrahl immer dorthin bewegen zu können, wo die Hände des Inspektors gerade umherwanderten. Schweigend zeigte Queen auf einen häßlichen braunen Fleck auf der sonst so makellosen Hemdbrust.
»Blut?« fragte Velie brummend.
Der Inspektor beschnupperte sehr sorgsam das Hemd. »Nichts Schlimmeres als Whisky«, gab er zurück.
Geschwind fuhr er mit den Händen über den Körper, befühlte die Herzgegend und den Hals – dort, wo der Kragen gelockert war – und schaute dann zu Velie auf.
»Es sieht wirklich nach Gift aus, Thomas. Könntest du mir diesen Dr. Stuttgard mal herholen? Ich würde gerne seine Meinung dazu hören, bevor Prouty eintrifft.«
Velie stieß barsch einen Befehl aus, und einen Moment später erschien hinter einem Kriminalbeamten ein mittelgroßer Mann in Abendkleidung, mit olivbrauner Gesichtsfarbe und einem dünnen schwarzen Schnurrbart.
»Hier ist er, Inspektor«, sagte Velie.
»Ah, ja.« Queen unterbrach die Untersuchung und schaute zu ihm auf. »Guten Abend, Doktor. Ich hörte, daß Sie die Leiche unmittelbar nach ihrer Entdeckung untersucht haben. Ich erkenne keine offensichtliche Todesursache – was ist Ihre Ansicht?«
»Meine Untersuchung war notgedrungen nur eine sehr oberflächliche«, sagte Dr. Stuttgard vorsichtig, während seine Finger ein nichtexistentes Stäubchen von seinem Satinrevers schnippten. »In dem Halbdunkel und unter diesen Umständen konnte ich zunächst keine Anzeichen eines unnatürlichen Todes feststellen. Wegen der Verzerrung der Gesichtsmuskulatur dachte ich zunächst, es wäre ein einfacher Fall von Herzversagen, aber bei näherem Hinsehen bemerkte ich die Blaufärbung des Gesichts – bei diesem Licht ist sie doch ziemlich deutlich, nicht wahr? Das, zusammen mit dem Alkoholdunst vom Mund her, schien auf irgendeine Form von Alkoholvergiftung hinzudeuten. Eines kann ich Ihnen auf jeden Fall sicher sagen – dieser Mann starb nicht an einem Schuß oder einem Stich. Das habe ich natürlich sofort überprüft. Ich habe sogar seinen Hals untersucht – wie Sie sehen, habe ich den Kragen gelockert –, um sicher zu gehen, daß er nicht erwürgt worden ist.«
»Ja klar.« Der Inspektor lächelte. »Vielen Dank, Doktor. Oh, ehe ich es vergesse«, fügte er noch hinzu, als sich Dr. Stuttgard schon mit einem dahingemurmelten Gruß von ihm abwandte, »glauben Sie, dieser Mann könnte an einer Methanolvergiftung gestorben sein?«
Dr. Stuttgard antwortete sofort. »Unmöglich«, sagte er. »Es war etwas sehr viel Stärkeres und schneller Wirkendes.«
»Können Sie uns das Gift nennen, das den Mann hier umgebracht hat?«
Der Arzt zögerte. Dann sagte er förmlich: »Es tut mir leid, Inspektor; vernünftigerweise können Sie keine größere Genauigkeit von mir erwarten. Unter diesen Umständen …« Seine Stimme verlor sich, und er zog sich zurück.
Queen schmunzelte, als er sich wieder an seine schreckliche Arbeit machte.
Der auf dem Boden hingestreckte Tote war kein angenehmer Anblick. Der Inspektor hob vorsichtig die geballte Hand des Toten an und starrte in dessen verzerrtes Gesicht. Dann schaute er unter den Sitz; dort war nichts. Über die Rückenlehne des Sessels war achtlos ein schwarzes, seidengefüttertes Cape geworfen. Queen leerte die Taschen von Frack und Cape; seine Hände durchstöberten die gesamte Kleidung. Aus der inneren Brusttasche holte er einige Briefe und Papiere hervor. Er untersuchte die Westen- und Hosentaschen und stapelte das, was er fand, in zwei Häufchen
– das eine enthielt Briefe und Papiere, das andere Münzen, Schlüssel und verschiedene andere Sachen. In einer der Seitentaschen fand er eine kleine silberne Flasche mit den Initialen »M.F.«. Er ging mit der Flasche sehr behutsam um, hielt sie am Hals fest und untersuchte aufmerksam die glänzende Oberfläche auf Fingerabdrücke. Kopfschüttelnd wickelte er die Flasche mit allergrößter Sorgfalt in ein sauberes Taschentuch und legte sie beiseite.
Den blauen Kontrollabschnitt der Eintrittskarte mit der Aufschrift »LL32 Links« verstaute er in seiner eigenen Westentasche.
Er hielt sich nicht mit der Untersuchung der einzelnen Gegenstände auf, sondern ging mit seinen Händen über das Futter von Weste und Rock und fuhr rasch die Hosenbeine entlang. Als er die Tasche im Rockschoß abtastete, rief er auf einmal mit leiser Stimme: »Sehr gut, Thomas – hier hab’ ich noch was Nettes gefunden« und zog eine kleine straßbesetzte Damenhandtasche hervor.
Nachdenklich drehte er sie in seinen Händen, knipste sie dann auf, schaute den Inhalt durch und nahm eine Reihe weiblicher Accessoires heraus. In einem kleinen Seitenfach fand er, neben dem Lippenstift liegend, ein winziges Täschchen für Visitenkarten. Wenig später legte er den Inhalt wieder in die kleine Handtasche zurück und steckte das Ganze in seine eigene Tasche.
Der Inspektor hob die Papiere vom Boden auf und überflog sie. Er runzelte die Stirn, als er zum letzten Blatt kam – es trug einen Briefkopf.
»Hast du den Namen Monte Field schon einmal gehört, Thomas?« fragte er und schaute auf.
Velie kniff die Lippen zusammen. »Das will ich meinen. Einer der schlimmsten Winkeladvokaten der Stadt.«
Der Inspektor blickte ernst. »Nun, Thomas, das ist Mr. Monte Field, oder besser das, was von ihm übriggeblieben ist.« Velie brummte.
»Es könnten einem Zweifel am ganzen Polizeisystem kommen«, ließ sich Ellerys Stimme über die Schulter seines Vaters hinweg vernehmen. »Wenn man bedenkt, daß es erbarmungslos Männer zur Strecke bringen kann, die uns von Krebsgeschwüren wie Mr. Monte Field befreien.«
Der Inspektor richtete sich auf, klopfte den Staub von seinen Knien, nahm eine Prise Schnupftabak und sagte: »Ellery, mein Junge, aus dir wird nie ein Polizist. Ich wußte gar nicht, daß du Field gekannt hast.«
»Ich stand nicht gerade auf sehr vertrautem Fuße mit diesem Herrn«, sagte Ellery. »Aber ich erinnere mich daran, ihm im Pantheon Club begegnet zu sein; und nach dem, was ich damals über ihn gehört habe, wundere ich mich nicht, daß ihn jemand aus dem Weg geräumt hat.«
»Laßt uns über die Verdienste von Mr. Field zu einem passenderen Zeitpunkt reden«, sagte der Inspektor ernst. »Ich weiß eine Menge über ihn, und nichts davon ist besonders erfreulich.«
Er drehte sich um und wollte schon weggehen, als Ellery, der die ganze Zeit angestrengt auf die Leiche und den Sitz starrte, fragte: »Ist hier schon etwas entfernt worden, Dad – irgend etwas?«
Inspektor Queen wandte sich um. »Wie kommst du zu dieser klugen Frage, junger Freund?«
»Wenn mich nicht alles täuscht«, antwortete Ellery mit leicht affektiertem Gesichtsausdruck, »liegt der Zylinder von dem Knaben weder unter dem Sitz noch auf dem Boden neben ihm oder sonstwo in der näheren Umgebung.«
»Das ist dir also auch aufgefallen, Ellery«, sagte der Inspektor grimmig. »Es war das erste, was ich sah, als ich mich runterbeugte, um ihn zu untersuchen – oder vielmehr das erste, was ich nicht sah.« Während er sprach, schien jede Freundlichkeit von ihm abzufallen. Seine Stirn legte sich in Falten, und seine grauen Schnurrbarthaare sträubten sich vor Ärger. Er zuckte mit den Schultern. »Und auch kein Garderobenschein für den Hut unter seinen Sachen … Flint!«
Ein stämmiger junger Mann in Zivil eilte heran.
»Flint, wie wär’s, wenn Sie Ihre Muskeln etwas trainieren würden, indem Sie auf allen Vieren auf die Suche nach einem Zylinder gehen. Er müßte hier irgendwo in der Nähe liegen.«
»In Ordnung, Inspektor«, sagte Flint gutgelaunt, und er begann, die angezeigte Fläche systematisch abzusuchen.
»Velie«, sagte Queen geschäftsmäßig, »versuch, Ritter und Hesse und – nein, die beiden werden wohl reichen – für mich aufzutreiben, ja?« Velie ging weg.
»Hagstrom«, rief der Inspektor zu einem anderen Kriminalbeamten, der in der Nähe stand.
»Ja, Chef.«
»Kümmern Sie sich um diesen Kram hier« – er zeigte nach unten auf die zwei kleinen Häufchen von Gegenständen, die er aus Fields Taschen genommen hatte – »und passen Sie auf, daß Sie alles sicher in meiner Aktentasche verstauen.«
Während Hagstrom neben der Leiche kniete, beugte sich Ellery in aller Ruhe darüber und öffnete das Jackett. Sofort schrieb er einige Anmerkungen auf das Vorsatzblatt des Buches, auf das er zuvor bereits die Zeichnung gemacht hatte. »Und das in einem Privatdruck von Stendhause«, murmelte er vor sich hin und strich liebevoll über den Band.
Velie kehrte mit Ritter und Hesse im Gefolge zurück. Der Inspektor sagte scharf: »Ritter, Sie begeben sich in die Wohnung dieses Mannes. Sein Name ist Monte Field, er war Rechtsanwalt; die Adresse ist Nr. 113, 75. Straße, West. Bleiben Sie dort, bis Sie abgelöst werden. Sie schnappen sich jeden, der auftaucht.«
Ritter legte die Hand an die Mütze, murmelte »Ja, Inspektor« und zog ab.
»Nun zu Ihnen, Hesse«, wandte sich der Inspektor an den anderen Detective. »Sie begeben sich so schnell wie möglich zur Chambers Street 51, zum Büro dieses Herrn, und warten dort, bis Sie von mir hören. Versuchen Sie hereinzukommen, andernfalls postieren Sie sich die ganze Nacht über draußen vor der Tür.«
»In Ordnung, Inspektor.« Hesse verschwand. Queen wandte sich um; er mußte schmunzeln, als er Ellery mit seinen breiten, nach vorne gebeugten Schultern bei der Untersuchung der Leiche sah. »Na, Ellery, traust deinem Vater wohl nichts mehr zu«, sagte er leicht vorwurfsvoll. »Wonach suchst du?«
Ellery lächelte und richtete sich auf. »Ich bin nur neugierig, mehr nicht«, sagte er. »Es gibt da einige Dinge, die mich an dieser wirklich abstoßenden Leiche ungeheuer interessieren. Hast du zum Beispiel das Kopfmaß des Mannes genommen?« Er hielt seinem Vater ein Stück Schnur hin, das er von einem eingepackten Buch in seiner Manteltasche gezogen hatte.
Der Inspektor nahm es in die Hand, blickte finster darauf herab und rief einen Polizisten von der hinteren Seite des Theaters heran. Er gab einen leisen Befehl, worauf der Polizist mit der Schnur in der Hand abzog.
»Inspektor.« Queen blickte auf. Mit leuchtenden Augen stand Hagstrom direkt neben ihm.
»Ich hab’ das hier etwas weiter hinten unter Fields Sitz gefunden, als ich die Papiere aufhob. Es lag an der Rückwand.«
Er hielt eine dunkelgrüne Flasche in die Höhe, wie sie die Hersteller von Ginger Ale benutzten. Auf dem bunten Etikett stand: »Paley’s Extra Dry Ginger Ale.« Die Flasche war halbleer.
»Nun, Hagstrom, Sie haben doch noch etwas auf Lager. Heraus damit!« sagte der Inspektor knapp.
»Ja, Sir. Als ich die Flasche unter dem Sitz des Toten fand, war mir klar, daß er wahrscheinlich heute abend daraus getrunken hat. Es gab heute keine Frühvorstellung, und die Putzfrauen machen hier täglich sauber. Die Flasche wäre nicht dort gewesen, wenn sie nicht dieser Mann oder jemand, der mit ihm in Verbindung stand, heute abend benutzt und dann dort hingestellt hätte. Ich dachte, das wäre vielleicht eine Spur, und machte den Jungen ausfindig, der in diesem Teil des Theaters die Erfrischungen verkauft. Ich bat ihn, mir eine Flasche Ginger Ale zu verkaufen. Er sagte« – Hagstrom strahlte über das ganze Gesicht – »Ginger Ale würde in diesem Theater nicht verkauft.«
»Diesmal haben Sie wirklich Ihren Kopf gebraucht«, sagte der Inspektor anerkennend. »Schnappen Sie sich den Jungen, und bringen Sie ihn her.«
Nachdem Hagstrom gegangen war, baute sich wichtigtuerisch ein kleiner dicker Mann vor dem seufzenden Inspektor auf; seine Abendgarderobe war etwas zerknittert, und ein Polizist hielt seinen Arm verbissen fest. »Sind Sie in dieser Angelegenheit verantwortlich, Sir?« tobte er und plusterte sich zu der beachtlichen Große von etwa ein Meter sechzig auf.
»Das bin ich«, sagte Queen ernst.
»Dann sollten Sie wissen«, platzte der Neuankömmling heraus – »he, Sie, lassen Sie meinen Arm los! Hören Sie nicht?
– Sie sollten wissen, Sir …«
»Officer, lassen Sie den Arm dieses Herrn los«, sagte der Inspektor mit noch größerem Ernst.
»… daß ich die ganze Angelegenheit hier als unerhörten Skandal betrachte. Seit der Unterbrechung des Stückes sitze ich schon fast eine Stunde hier mit meiner Frau und meiner Tochter, und Ihre Beamten erlauben uns noch nicht einmal aufzustehen. Es ist einfach unerhört, Sir! Bilden Sie sich ein, Sie könnten all die Leute hier ganz nach Ihrem Belieben warten lassen? Glauben Sie nur nicht, ich hätte Sie nicht beobachtet. Sie trödeln nur herum, während wir dasitzen und uns alles gefallen lassen müssen. Und das eine will ich Ihnen sagen, Sir! Wenn Sie mich und meine Familie nicht auf der Stelle gehen lassen, werde ich mich an den Distriktstaatsanwalt Sampson, einen sehr guten Freund von mir, wenden und eine persönliche Beschwerde gegen Sie vorbringen.«
Inspektor Queen betrachtete angewidert das zorngerötete Gesicht des kleinen dicken Mannes. Er seufzte und sagte mit einem strengen Unterton: »Mein lieber Mann, ist Ihnen vielleicht schon einmal in den Sinn gekommen, daß zur gleichen Zeit, während Sie sich wegen einer solchen Kleinigkeit aufregen, jemand, der einen Mord begangen hat, sich hier im Publikum befinden könnte – möglicherweise neben Ihrer Frau oder Ihrer Tochter? Genau wie Sie ist er darauf aus, von hier wegzukommen. Wenn Sie sich beim Distriktstaatsanwalt, Ihrem sehr guten Freund, beschweren wollen, so können Sie dies von mir aus tun, nachdem Sie das Theater verlassen haben. Bis dahin muß ich Sie jedoch bitten, zu Ihrem Platz zurückzukehren und sich solange zu gedulden, bis wir Ihnen den Aufbruch gestatten. Ich hoffe, ich habe mich klar genug ausgedrückt.«
Ein Gekicher kam von einigen Zuschauern, die in der Nähe saßen und sich über die Niederlage des kleinen Mannes zu freuen schienen. Erregt stürmte er davon, der Polizist stur an seine Fersen geheftet. »Dummkopf«, murmelte der Inspektor und wandte sich um zu Velie.
»Geh mit Panzer zur Theaterkasse, und schau nach, ob du für die folgenden Sitznummern hier die entsprechenden Eintrittskarten finden kannst.« Er beugte sich über die letzte Reihe und die Reihe davor und kritzelte auf die Rückseite eines alten Umschlags die Nummern LL30 Links, LL28 Links, LL26 Links, KK32 Links, KK30 Links, KK28 Links und KK26 Links. Den Zettel reichte er Velie, der damit verschwand.
Ellery, der sich die ganze Zeit untätig gegen die Rückseite der letzten Reihe gelehnt und dabei seinen Vater, das Publikum und gelegentlich auch die Ausstattung des Theaters betrachtet harte, flüsterte dem Inspektor ins Ohr: »Ich überlege, ob es nicht seltsam ist, daß ausgerechnet die sieben Plätze in unmittelbarer Nähe des Ermordeten unverkauft geblieben sind, und das bei einem Reißer wie ›Spiel der Waffen‹.«
»Wann ist dir das denn aufgefallen, mein Sohn?« sagte Queen, und während Ellery abwesend mit seinem Stock auf den Boden klopfte, schnauzte er: »Piggott!«
Der Kriminalbeamte trat näher.
»Bringen Sie die Platzanweiserin her, die auf diesem Gang Dienst hatte, und den Portier – den älteren Mann draußen auf dem Bürgersteig.«
Als Piggott abzog, tauchte ein aufgelöster junger Mann, der sich mit einem Taschentuch das Gesicht wischte, an Queens Seite auf.
»Nun, Flint?« fragte Queen sofort.
»Wie ein Scheuerweib bin ich über den ganzen Boden gekrochen, Inspektor. Wenn Sie in diesem Teil des Theaters noch einen Hut finden wollen, dann muß er verdammt gut versteckt sein.«
»In Ordnung, Flint; halten Sie sich in Bereitschaft.«
Der Beamte trottete davon. »Hast du wirklich geglaubt, Vater, mit dieser Rumkrebserei würde er den Zylinder finden?« fragte Ellery langsam.
Der Inspektor knurrte. Er ging den Mittelgang hinunter. Er machte sich daran, sich zu den dort sitzenden Zuschauern hinunterzubeugen und ihnen mit leiser Stimme Fragen zu stellen. Alle Köpfe waren in seine Richtung gewandt, während er von Reihe zu Reihe ging und nacheinander alle die befragte, deren Platz direkt am Gang lag. Als er mit ausdruckslosem Gesicht wieder zu Ellery zurückkehrte, empfing ihn der Polizist, den er mit dem Stück Schnur weggeschickt hatte, mit einem förmlichen Gruß.
»Welche Größe?« fragte der Inspektor.
»Der Verkäufer im Hutgeschäft sagte, es wäre genau 7⅛«, antwortete der Uniformierte. Inspektor Queen entließ ihn mit einem Kopfnicken.
Velie kam mit dem besorgten Panzer im Schlepptau herbeigeeilt. Ellery beugte sich voller Aufmerksamkeit nach vorne, um Velie besser zu verstehen. Queen stand straff; in seinem Gesicht spiegelte sich gespanntes Interesse wider.
»Also, Thomas«, sagte er, »was hast du an der Kasse herausgefunden?«
»Nur, daß sich die sieben Eintrittskarten, deren Nummern Sie mir gegeben hatten, nicht in der Kartenablage befinden«, berichtete Velie ausdruckslos. »Sie sind draußen an der Kasse verkauft worden; wann, das kann Mr. Panzer nicht feststellen.«
»Die Tickets könnten vielleicht auch an eine Vorverkaufsstelle gegangen sein, nicht wahr, Velie?« bemerkte Ellery.
»Das habe ich überprüft, Mr. Queen«, antwortete Velie. »Diese Tickets sind keiner Vorverkaufsstelle zugeteilt worden. Das läßt sich anhand der Aufzeichnungen genau überprüfen.«
Inspektor Queen stand ganz ruhig da; in seinen grauen Augen lag ein leichtes Schimmern. Dann sagte er: »Mit anderen Worten, meine Herren, sieht es also so aus: Es werden Karten für sieben beieinanderliegende Plätze gekauft – für ein Theaterstück, das von Beginn an vor ausverkauftem Haus gespielt wird –, und dann vergessen die Käufer allesamt, die Vorstellung zu besuchen.«
in welchem ein ›Pfarrer‹ in Schwierigkeiten gerät
Stille trat ein, als sich die vier Männer, die sich allmählich ein Bild des Geschehens machen konnten, ansahen. Panzer scharrte mit den Füßen und hustete nervös; Velies Gesicht war ein Musterbeispiel konzentrierten Nachdenkens; Ellery trat einen Schritt zurück und versank in eine verzückte Betrachtung der graublauen Krawatte seines Vaters. Inspektor Queen stand da und kaute an seinem Schnurrbart. Dann zuckte er plötzlich mit den Schultern und wandte sich an Velie.
»Ich habe eine ziemlich unangenehme Aufgabe für dich, Thomas«, sagte er. »Ich möchte, daß du ungefähr ein halbes Dutzend Polizisten abkommandierst und sie jeden Anwesenden einzeln überprüfen läßt. Sie sollen nichts anderes tun, als Name und Adresse jedes Zuschauers notieren. Das ist eine ziemliche Arbeit, die einige Zeit in Anspruch nehmen wird, aber ich befürchte, sie ist absolut notwendig. Ganz nebenbei, Thomas: Hast du bei deinem Erkundigungsgang hier herum einen der Platzanweiser, die für den Balkon zuständig sind, befragt?«
»Ich bin sogar genau an denjenigen geraten, der mir alle Informationen geben konnte«, sagte Velie. »Er ist der Bursche, der unten an der Treppe im Parkett steht und die Zuschauer mit Tickets für den Balkon nach oben dirigiert. Ein Knabe namens Miller.«
»Ein sehr gewissenhafter Junge«, warf Panzer ein und rieb sich die Hände.
»Miller kann beschwören, daß absolut niemand in diesem Theater entweder aus dem Parkett nach oben oder auch vom Balkon aus nach unten gegangen ist, nachdem der Vorhang zum zweiten Akt hochgegangen war.«
»Das nimmt dir schon etwas Arbeit ab, Thomas«, bemerkte der Inspektor, der aufmerksam zugehört hatte. »Laß deine Leute nur durch die Logen und das Parkett gehen. Denk daran: Ich will Namen und Adresse von jeder Person hier – jeder einzelnen Person. Und Thomas –«
»Ja, Inspektor?« sagte Velie, während er sich noch einmal herumdrehte.
»Wo sie einmal dabei sind, sollen sie die Leute auch um die Kontrollabschnitte der Tickets für die Plätze, auf denen sie sitzen, bitten. Bei jedem Verlust eines Abschnitts sollte das neben dem Namen des Verlierers vermerkt werden; und für den Fall – was natürlich nur eine Möglichkeit ist –, daß eine Person einen Kontrollzettel besitzt, der nicht mit dem Platz, auf dem sie sitzt, übereinstimmt, muß das auch vermerkt werden. Glaubst du, du schaffst das alles, mein Junge?«
»Na klar«, brummte Velie, während er sich auf den Weg machte.
Der Inspektor strich seinen grauen Schnurrbart glatt, nahm eine Prise Schnupftabak und zog sie tief ein.
»Ellery«, sagte er, »irgend etwas stört dich. Raus damit, mein Sohn!«
»Hm?« begann Ellery und blinzelte mit seinen Augen. Er nahm seinen Kneifer herunter und sagte langsam: »Sehr verehrter Vater, langsam komme ich zu der Überzeugung, daß
– nun gut! Es gibt nun einmal in dieser Welt wenig Frieden für einen ruhigen bücherliebenden Menschen.« Er setzte sich auf die Lehne des Sitzes, auf dem der Tote gesessen hatte, und blickte melancholisch drein. Plötzlich lächelte er. »Paß auf, daß du nicht den unglückseligen Irrtum des alten Metzgers wiederholst, der mit seinen vierzig Gesellen auf der Suche nach seinem wertvollsten Messer das ganze Haus auf den Kopf stellte, während er es die ganze Zeit ruhig zwischen seinen Zähnen hielt.«
»Du bist zur Zeit ja äußerst mitteilsam, mein Sohn«, sagte der Inspektor gereizt. »Flint!« Der Detective trat näher.
»Flint«, sagte Queen, »Sie hatten schon eine vergnügliche Arbeit heute abend, und ich habe noch eine für Sie. Glauben Sie, Ihr Kreuz hält noch ein wenig mehr Belastung aus? Ich glaube mich daran zu erinnern, daß Sie beim Polizeisportfest am Gewichtheberwettbewerb teilgenommen haben.«
»Richtig, Sir«, antwortete Flint und grinste dabei breit. »Ich denke, ich kann die Last schon tragen.«
»Also gut«, fuhr der Inspektor fort und schob seine Hände in die Hosentaschen, »Sie sollen folgendes tun. Nehmen Sie sich einen Trupp Männer – meine Güte, ich hätte besser auch die Reserve mitgebracht –, und suchen Sie gründlich jeden Quadratmeter des gesamten Theaterkomplexes ab, drinnen wie draußen. Ihr sollt dabei nach Kontrollabschnitten suchen, klar? Wenn Ihr fertig seid, muß ich alles haben, was irgendwie aussieht wie ein halbes Ticket. Sucht vor allem den Boden des Theaters ab, aber seid ebenso genau beim gesamten rückwärtigen Teil, der Treppe, die auf den Balkon führt, dem Foyer draußen, dem Gehweg vor dem Theater, den Nebengassen zu beiden Seiten, der Wandelhalle unten, der Herrentoilette, der Damentoilette – halt! Das geht nicht. Rufen Sie beim nächsten Polizeirevier an, sie sollen eine Wärterin schicken, die kann das dann machen. Alles klar?« Flint nickte und war weg.
»Nun weiter.« Queen rieb sich die Hände. »Mr. Panzer, würden Sie für einen Augenblick hier herüberkommen? Sehr freundlich von Ihnen, Sir. Ich befürchte, daß wir heute abend ungeheuer lästig sind; aber das läßt sich nicht vermeiden. Wie ich sehe, stehen die Zuschauer kurz vor einem Aufstand. Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie auf die Bühne gingen und verkünden würden, daß sie nur noch für eine kurze Zeit hier festgehalten werden, daß sie Geduld haben sollen und was man sonst noch so sagt. Ich danke Ihnen!«
Panzer eilte den Mittelgang hinunter, während Zuschauer nach seiner Jacke griffen, um ihn aufzuhalten. Detective Hagstrom, der einige Schritte vom Inspektor entfernt stand, lenkte dessen Aufmerksamkeit auf sich. Neben ihm stand ein kleiner, schmächtiger Junge von etwa neunzehn Jahren, der heftig Kaugummi kaute und offensichtlich äußerst nervös war angesichts der Qualen, die ihm bevorstanden. Er war in eine schwarzgoldene Uniform gekleidet, reich verziert und funkelnd, aber unpassenderweise ausgestattet mit einer gestärkten Hemdbrust, Eckenkragen und Fliege. Eine Mütze, die der Kopfbedeckung eines Hotelpagen ähnelte, saß auf seinem Kopf. Er stieß ein flehendes Räuspern aus, als der Inspektor ihn vorwärts schob.
»Das ist der Junge, der erzählt, daß sie kein Ginger Ale in diesem Theater verkaufen«, sagte Hagstrom streng, während er den Arm des Jungen ermunternd drückte.
»Ihr verkauft also keins, mein Junge?« fragte Queen freundlich. »Wie kommt das?«
Der Junge hatte offensichtlich eine Mordsangst. Seine Augen schweiften unstet umher, während sie Doyles breites Gesicht suchten. Der Polizist klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter und sagte zum Inspektor: »Er ist ein bißchen verängstigt, Sir – aber er ist ein guter Junge. Ich kenne ihn schon, seit er so ein kleiner Grünschnabel war. Er ist in meinem Bezirk aufgewachsen. – Antworte dem Inspektor, Jessie …«
»Nun, ich – ich weiß nicht, Sir«, stotterte der Junge und scharrte nervös mit seinen Füßen. »Das einzige Getränk, das wir in den Pausen verkaufen dürfen, ist Orangeade. Wir haben einen Vertrag mit …« – er nannte den Namen eines bekannten Getränkeherstellers – »und sie geben uns große Rabatte, wenn wir ausschließlich ihr Zeug verkaufen. Also –«
»Ich verstehe«, sagte der Inspektor. »Werden nur in den Pausen Getränke verkauft?«
»Ja, Sir«, antwortete der Junge etwas entspannter. »Sobald der Vorhang fällt, werden die Türen zu den Gängen geöffnet, und da stehen wir dann – mein Partner und ich, die Stände aufgebaut und die Becher fertig gefüllt.«
»Ihr seid also zu zweit?«
»Nein, Sir, zu dritt im ganzen. Ich hab’ vergessen, es zu erwähnen – noch ein Junge ist unten im Hauptfoyer.«
»Mmmm.« Der Inspektor sah ihn mit großen freundlichen Augen an. »Nun, mein Junge, wenn das Römische Theater nur Orangeade verkauft, kannst du mir vielleicht erklären, wie die Flasche Ginger Ale hierhin gelangt ist?«
Seine Hand verschwand nach unten, tauchte wieder auf und schwenkte die dunkelgrüne Flasche, die Hagstrom entdeckt hatte. Der Junge erblaßte und biß sich auf die Lippen. Seine Augen schweiften unruhig umher, als suchten sie eine schnelle Fluchtmöglichkeit. Er steckte sich einen großen und schmutzigen Finger zwischen Hals und Kragen und hustete.
»Nun – nun …« Er hatte einige Schwierigkeiten zu reden.
Inspektor Queen legte die Flasche hin und ruhte mit seinem ganzen Gewicht auf der Lehne eines Sitzes. Er schlug seine Arme streng übereinander. »Wie heißt du?« wollte er wissen.
Die Farbe im Gesicht des Jungen ging über von Blauweiß zu einem käsigen Gelb. Er schielte verstohlen zu Hagstrom herüber, der betont auffällig Notizblock und Stift aus seiner Tasche gezogen hatte und drohend auf Antwort wartete.
Der Junge befeuchtete seine Lippen. »Lynch – Jess Lynch«, sagte er heiser.
»Und wo befindet sich dein Stand in den Pausen, Lynch?« fragte der Inspektor unheilvoll.
»Ich – ich bin genau hier, im Gang auf der linken Seite, Sir«, stammelte der Junge.
»Aha!« sagte der Inspektor und legte seine Stirn in furchterregende Falten. »Und du hast heute abend im linken Gang Getränke verkauft, Lynch?«
»Nun, nun – ja, Sir.«
»Kannst du dann etwas über diese Flasche Ginger Ale sagen?«
Der Junge sah sich suchend um, erblickte die stämmige kleine Gestalt von Louis Panzer, der gerade seine Ankündigung machen wollte, auf der Bühne, neigte sich nach vorne und flüsterte: »Ja, Sir, ich weiß von der Flasche. Ich – ich wollte nicht darüber reden, weil Mr. Panzer sehr streng ist, wenn es um das Einhalten von Richtlinien geht, und er würde mich auf der Stelle feuern, wenn er wüßte, was ich gemacht habe. Sie werden es ihm doch nicht erzählen, Sir?«
Der Inspektor lächelte nun, als er erwiderte: »Schieß los, mein Junge. Du hast etwas auf dem Herzen – nur heraus damit.« Er lehnte sich zurück und auf einen Fingerzeig von ihm hin machte sich Hagstrom unbeteiligt davon.
»Das war also so, Sir«, fing Jess Lynch nun eifrig an. »Ich hatte meinen Stand im Durchgang aufgebaut, so ungefähr fünf Minuten vor dem Ende des ersten Aktes, wie wir das auch sollen. Als das Mädchen nach dem ersten Akt die Türen öffnete, fing ich an, den herauskommenden Leuten meine Sachen anzupreisen. Das machen wir alle. Viele Leute kauften Getränke, und ich war so beschäftigt, daß ich nichts mehr um mich herum wahrnehmen konnte. Nach einiger Zeit konnte ich etwas Luft holen, und da kam ein Mann auf mich zu und sagte: ›Ich hätte gern eine Flasche Ginger Ale, Junge.‹ Ich sah auf und bemerkte, daß es ein geschniegelter Kerl in Abendgarderobe war, der sich ein bißchen beschwipst bewegte. Er lachte in sich hinein und sah ganz glücklich aus. Ich dachte so bei mir, ›Ich kann mir denken, wofür der Ginger Ale braucht!‹ und da klopfte er auch schon auf seine Hosentasche und zwinkerte. Nun –«
»Einen Augenblick, mein Junge«, unterbrach ihn Queen. »Hast du schon mal einen Toten gesehen?«
»Nun, nein Sir, aber ich denke, ich werd’ es schon aushalten«, sagte der Junge nervös.
»Prima! Ist das der Mann, der dich um das Ginger Ale gebeten hat?« Der Inspektor nahm den Jungen beim Arm und ließ ihn sich über die Leiche beugen.
Jess Lynch betrachtete sie mit ehrfürchtiger Faszination. Er nickte energisch.
»Ja, Sir. Das ist der Herr.«
»Da bist du dir jetzt ganz sicher, Jess?« Der Junge bejahte. »Dabei fällt mir ein – sind das auch die Sachen, die er trug, als er dich angesprochen hat?«
»Ja, Sir.«
»Fehlt irgend etwas, Jess?« Ellery, der sich in einer dunklen Nische niedergelassen hatte, lehnte sich ein wenig nach vorne.
Der Junge sah den Inspektor verwirrt an, sein Blick ging von Queen zur Leiche und wieder zurück. Er schwieg eine volle Minute lang, während die Queens an seinen Lippen hingen. Dann hellte sich sein Gesicht auf, und er rief: »Natürlich – ja, Sir! Er trug einen Hut – einen glänzenden Zylinder –, als er mit mir geredet hat!«
Inspektor Queen war hocherfreut. »Mach weiter, Jess – Doc Prouty! Sie haben ja endlos lang gebraucht, um hierherzukommen. Was hat Sie aufgehalten?«
Ein hoch aufgeschossener, dünner Mann mit einer schwarzen Tasche in der Hand war zu ihnen herübergekommen. Er rauchte eine gefährlich aussehende Zigarre, anscheinend ohne Rücksicht auf die örtlichen Sicherheitsbestimmungen; er schien es sehr eilig zu haben.
»Da sagen Sie was, Inspektor«, sagte er, während er seine Tasche absetzte und Ellery und Queen die Hand schüttelte. »Sie wissen doch, wir sind gerade umgezogen, und ich habe noch kein Telefon. Ich hatte einen harten Tag heute und war schon im Bett. Sie konnten mich nicht erreichen – mußten einen Mann zu meiner neuen Wohnung schicken. Ich bin so schnell es ging hierhergestürzt. Wo ist das Opfer?«
Er ließ sich im Gang auf seine Knie nieder, als der Inspektor auf den Körper am Boden wies. Ein Polizist wurde herbeigerufen, um eine Taschenlampe zu halten, während der Arzt bei der Arbeit war.
Queen nahm Jess Lynch beim Arm und führte ihn etwas abseits. »Wie ging es weiter, nachdem er dich um das Ginger Ale gebeten hatte, Jess?«
Der Junge, der den Vorgängen bewegungslos zugeschaut hatte, schluckte und fuhr fort. »Nun, Sir, ich habe ihm natürlich gesagt, daß wir kein Ginger Ale verkaufen, nur Orangeade. Er kam ein wenig näher, und ich merkte, daß er eine Fahne hatte. Er sagte verschwörerisch: ›Es ist ein halber Dollar für dich drin, wenn du mir eine Flasche besorgst, Junge! Aber ich will sie sofort!‹ Nun – Sie wissen, wie das ist, man bekommt heutzutage keine Trinkgelder mehr … Wie auch immer, ich sagte ihm, daß ich sie nicht sofort beschaffen könnte, daß ich aber schnell verschwinden und eine Flasche für ihn kaufen würde, sobald der zweite Akt angefangen hätte. Nachdem er mir gesagt hatte, wo er saß, ging er weg – ich sah, wie er zurück ins Theater ging. Sobald die Pause zu Ende war und die Platzanweiserin die Türen geschlossen hatte, verließ ich meinen Stand im Seitengang und sprang über die Straße zu Libbys Eiscafé. Ich –«
»Läßt du gewöhnlich deinen Stand im Gang stehen, Jess?«
»Nein, Sir. Bevor sie die Türen schließt, springe ich schnell mit meinem Stand nach drinnen und nehme ihn mit nach unten ins Foyer. Aber da der Mann gesagt hatte, daß er das Ginger Ale sofort will, dachte ich mir, es würde schneller gehen, wenn ich ihm zuerst die Flasche besorge. Ich wollte dann zurückgehen, meinen Stand holen und ihn durch die Vordertüre ins Theater bringen. Niemand hätte was gesagt … Auf jeden Fall, ich habe den Stand dann im Gang stehenlassen und bin zu Libbys rübergelaufen. Ich habe eine Flasche von Paley’s Ginger Ale gekauft und sie für diesen Mann da hereingeschmuggelt; er gab mir dafür einen Dollar. Wirklich anständig von ihm, dachte ich, wo er mir doch nur einen halben versprochen hatte.«
»Das hast du alles sehr gut wiedergegeben, Jess«, sagte der Inspektor anerkennend. »Nur noch ein paar Einzelheiten. Saß er auf diesem Platz – war dies der Platz, zu dem du kommen solltest?«
»Oh ja, Sir. Er sagte LL32 Links, und genau da saß er auch.«
»Sehr schön.« Nach einer kurzen Pause fragte der Inspektor beiläufig: »Ist dir aufgefallen, ob er alleine war, Jess?«
»Da bin ich sicher, Sir«, gab der Junge mit fröhlich klingender Stimme zurück. »Er saß ganz alleine auf diesem Eckplatz. Es ist mir deshalb aufgefallen, weil die Vorführungen seit der Premiere brechend voll waren. Ich fand es doch merkwürdig, daß hier so viel Plätze freigeblieben waren.«
»Das ist prima, Jess. Du würdest einen guten Detektiv abgeben … Du kannst mir nicht zufällig sagen, wie viele Plätze unbesetzt waren, oder doch?«
»Nun, Sir, es war ziemlich dunkel, und ich habe mich nicht weiter darum gekümmert. Ich glaube, es war ungefähr ein halbes Dutzend, alle zusammen – einige neben ihm in derselben Reihe und einige direkt vor ihm.«
»Einen Augenblick, Jess.« Der Junge drehte sich um und fuhr sich verängstigt mit der Zunge über die Lippen beim Klang von Ellerys tiefer, unterkühlter Stimme. »Hast du da den seidenen Zylinder noch einmal gesehen, als du ihm die Flasche Ginger Ale gegeben hast?« fragte Ellery und tippte mit seinem Stock auf die Spitze seines eleganten Schuhs.
»Nun, ja – ja, Sir!« stotterte der Junge. »Als ich ihm die Flasche gab, hatte er den Hut auf seinem Schoß, aber bevor ich wieder ging, sah ich, wie er ihn unter den Sitz schob.«
»Noch eine Frage, Jess.« Der Junge seufzte erleichtert beim beruhigenden Klang der Stimme des Inspektors. »Wie lange ungefähr, würdest du schätzen, hast du gebraucht, um diesem Mann die Flasche abzuliefern, nachdem der zweite Akt angefangen hatte?«
Jess Lynch dachte für einen Augenblick angestrengt nach und sagte dann mit Bestimmtheit: »Das waren nur ungefähr zehn Minuten, Sir. Wir müssen nämlich genau auf die Zeit achten. Ich weiß, daß es zehn Minuten waren, weil gerade, als ich mit der Flasche ins Theater kam, der Teil im Gange war, wo das Mädchen im Unterschlupf der Bande gefangen gehalten und von dem Schurken verhört wird.«
»Was für ein aufmerksamer junger Hermes!« murmelte Ellery und lächelte plötzlich. Der Getränkejunge sah das Lächeln und verlor den letzten Rest von Angst. Er lächelte zurück. Ellery krümmte einen Finger und lehnte sich nach vorne. »Sag mir eins, Jess. Warum hast du zehn Minuten gebraucht, um über die Straße zu gehen, eine Flasche Ginger Ale zu kaufen und zum Theater zurückzukehren? Zehn Minuten sind eine lange Zeit, oder nicht?«
Der Junge wurde puterrot und blickte bittend von Ellery auf den Inspektor. »Nun – Sir – ich glaube, ich habe mich ein paar Minuten aufgehalten, um mit meiner Freundin zu sprechen …«
»Deiner Freundin?« In der Stimme des Inspektors schwang eine leichte Neugierde mit.
»Ja, Sir. Elinor Libby – ihrem Vater gehört das Eiscafé. Sie
– sie wollte, daß ich bei ihr im Laden blieb, als ich das Ginger Ale kaufen kam. Ich erzählte ihr, daß ich es im Theater abliefern müsse; sie ließ mich unter der Bedingung gehen, daß ich direkt wieder zurückkehrte. Und das tat ich auch. Wir hielten uns dort ein paar Minuten auf, und dann erinnerte ich mich an meinen Stand im Gang …«
»Den Stand im Gang?« fragte Ellery eifrig. »Natürlich, Jess
– den Stand im Gang. Erzähl mir nicht, daß eine Laune des Schicksals dich zurück in den Gang geführt hat!«
»Doch, genau das!« erwiderte der Junge überrascht. »Ich meine – wir gingen beide, Elinor und ich.«
»So, Elinor und du, Jess?« sagte Ellery sanft. »Und wie lange wart ihr beiden da?« Bei dieser Frage blitzten die Augen des Inspektors auf. Er murmelte zustimmend vor sich hin und lauschte aufmerksam auf die Antwort des Jungen.
»Nun, eigentlich wollte ich den Stand sofort mitnehmen, Sir, aber Elinor und ich – wir kamen ins Reden –, und Elinor fragte, warum ich nicht gleich bis zur nächsten Pause im Gang bleiben wollte … Ich hielt das für eine gute Idee. Ich hätte bis kurz vor 10:05, wenn der Akt endet, gewartet, hätte noch mehr Orangeade besorgt, und wäre fertig gewesen, wenn sich die Türen zur zweiten Pause geöffnet hätten. So blieben wir also dort, Sir … Das war nichts Unrechtes, Sir. Ich wollte nichts Unrechtes tun.«
Ellery richtete sich auf und heftete seine Augen auf den Jungen. »Jess, ich möchte, daß du jetzt ganz genau überlegst. Um wieviel Uhr genau bist du mit Elinor im Gang angekommen?«
»Nun …« Jess kratzte sich am Kopf. »Es war ungefähr 9:25, als ich dem Mann sein Ginger Ale gegeben habe. Ich ging rüber zu Elinor, blieb ein paar Minuten und kam dann zurück in den Seitengang. Muß ungefähr 9:35 gewesen sein – nur so ungefähr –, als ich zurück zu meinem Getränkestand gegangen bin.«
»Sehr gut. Und um wieviel Uhr genau hast du den Gang wieder verlassen?«
»Das war genau um zehn Uhr, Sir. Elinor sah auf ihre Armbanduhr, als ich sie fragte, ob es nicht Zeit wäre, mich um den Getränkenachschub zu kümmern.«
»Du hast nichts von dem gehört, was im Theater vor sich ging?«
»Nein, Sir. Ich glaube, wir waren zu sehr in unsere Unterhaltung vertieft. Ich hatte keine Ahnung von dem, was drinnen passiert war, bis wir aus dem Gang kamen und auf Johnny Chase trafen, einen der Platzanweiser, der dort stand, als ob er Wache hielte. Er erzählte mir, daß es drinnen einen Unfall gegeben und Mr. Panzer ihn geschickt hätte, draußen im linken Durchgang zu stehen.«
»Ich verstehe …« Ellery nahm in einiger Erregung seinen Kneifer herunter und schwang ihn vor der Nase des Jungen. »Aufgepaßt jetzt, Jess. Ist irgend jemand während der ganzen Zeit, die du mit Elinor verbracht hast, in den Gang hineingegangen oder herausgekommen?«
Die Antwort des Jungen kam spontan und nachdrücklich. »Nein, Sir. Kein Mensch.«
»Danke, mein Junge.« Der Inspektor gab dem Jungen einen anerkennenden Schlag auf die Schulter und schickte ihn grinsend davon. Queen sah sich suchend um, erspähte Panzer, dessen Ankündigungen auf der Bühne wirkungslos geblieben waren, und winkte ihn mit einer gebieterischen Handbewegung heran.
»Mr. Panzer«, sagte er schroff, »ich brauche ein paar Informationen über den zeitlichen Ablauf des Stückes … Um wieviel Uhr geht der Vorhang zum zweiten Akt hoch?«
»Der zweite Akt fängt um Punkt 9:15 an und hört Punkt 10:05 auf«, sagte Panzer sofort.
»Lief die heutige Vorstellung nach diesem Zeitplan ab?«
»Aber sicher. Wir müssen auf den Punkt genau sein wegen der Einsätze, der Beleuchtung usw.«, antwortete der Manager.
Der Inspektor murmelte einige Berechnungen vor sich hin. »Das macht 9:25, als der Junge Field noch lebend sah«, grübelte er. »Er wurde tot aufgefunden um …«
Er drehte sich schwungvoll um und rief nach Officer Doyle. Der Mann kam angelaufen.
»Doyle«, fragte der Inspektor, »Doyle, erinnern Sie sich daran, um wieviel Uhr genau dieser Pusak mit seiner Mordgeschichte zu Ihnen gekommen ist?«
Der Polizist kratzte sich am Kopf. »So ganz genau kann ich mich nicht mehr erinnern, Inspektor«, sagte er. »Ich weiß nur noch, daß der zweite Akt so gut wie vorüber war, als er kam.«
»Das reicht nicht, Doyle«, sagte Queen gereizt. »Wo sind die Schauspieler im Augenblick?«
»Ich hab’ sie da drüben im hinteren Teil versammelt«, sagte Doyle. »Wir wußten nicht, was wir sonst mit ihnen hätten tun sollen.«
»Holen Sie mir einen her«, befahl der Inspektor.
Doyle machte sich davon. Queen winkte Detective Piggott heran, der einige Schritte abseits zwischen einem Mann und einer Frau stand.
»Ist das da der Portier, Piggott?« fragte Queen. Piggott nickte, und ein großer, beleibter alter Mann, der mit zitternden Händen seine Mütze festhielt und dessen Uniform an seinem aufgedunsenen Körper etwas eingelaufen aussah, stolperte herbei.
»Sind Sie der Mann, der vor dem Theater steht – der reguläre Portier?« fragte der Inspektor.
»Ja, Sir«, antwortete der Portier und drehte die Mütze nervös in seinen Händen.
»Sehr gut. Denken Sie jetzt einmal genau nach. Hat irgend jemand – egal wer, denken Sie dran – das Theater durch den Vordereingang verlassen, während der zweite Akt im Gange war?« Der Inspektor hatte sich voller Spannung vorgebeugt.
Es dauerte einen Augenblick, bis der Mann antwortete. Dann sagte er langsam, aber bestimmt: »Nein, Sir. Es hat niemand das Theater verlassen. Das heißt, niemand außer dem Getränkejungen.«
»Waren Sie die ganze Zeit dort?« schnauzte der Inspektor.
»Ja, Sir.«
»Nun gut. Erinnern Sie sich, ob jemand während des zweiten Aktes hereingekommen ist?«
»Ja … Jessie Lynch, der Getränkejunge, kam herein, kurz nachdem der Akt angefangen hatte.«
»Sonst jemand?«
Alles war ruhig, als der alte Mann den angestrengten Versuch machte, sich zu konzentrieren. Nach einer Weile blickte er hilflos von einem zum anderen. Dann murmelte er: »Ich kann mich nicht erinnern, Sir.«
Der Inspektor sah ihn gereizt an. Die Nervosität des alten Mannes schien aufrichtig zu sein. Er schwitzte stark und sah immer wieder aus den Augenwinkeln zu Panzer hinüber, als ob er befürchtete, seine Vergeßlichkeit würde ihn seine Stellung kosten.
»Es tut mir furchtbar leid, Sir«, wiederholte der Portier. »Ganz furchtbar leid. Vielleicht war da jemand, aber mein Erinnerungsvermögen ist nicht mehr so gut wie früher, als ich noch jünger war. Ich – ich kann mich anscheinend nicht mehr daran erinnern.«
Ellerys unterkühlte Stimme unterbrach die zögernde Rede des alten Mannes. »Wie lange sind Sie schon Portier?«
Der verwirrte Blick des alten Mannes wandte sich seinem neuen Befrager zu. »Fast zehn Jahre, Sir. Ich war nicht immer Portier. Erst als ich alt wurde und nichts anderes mehr tun konnte –«
»Ich verstehe«, sagte Ellery freundlich. Er zögerte einen Moment und setzte dann unnachgiebig hinzu. »Ein Mann, der so viele Jahre wie Sie Portier gewesen ist, vergißt vielleicht etwas aus dem ersten Akt. Aber es kommen nicht sehr häufig Leute noch während des zweiten Aktes. Ich bin sicher, wenn Sie genau nachdenken, können Sie die Frage in der einen oder anderen Weise beantworten.«
Die Antwort kam gequält. »Ich – ich erinnere mich nicht, Sir. Ich könnte behaupten, daß niemand kam, aber das könnte genauso gut nicht stimmen. Ich kann es einfach nicht beantworten.«
»In Ordnung.« Der Inspektor legte dem alten Mann die Hand auf die Schulter. »Vergessen Sie’s. Vielleicht verlangen wir zuviel. Das ist im Augenblick alles.« Der Portier schlurfte davon …
Doyle trampelte schweren Schrittes auf die Gruppe zu; ihm folgte ein großer, gutaussehender Mann, der in grobes Tweed gekleidet und noch teilweise geschminkt war.
»Das ist Mr. Peale, Inspektor. Er ist der Hauptdarsteller des Stückes«, berichtete Doyle.
Queen lächelte dem Schauspieler zu und reichte ihm die Hand. »Sehr erfreut, Sie kennenzulernen, Mr. Peale. Vielleicht können Sie uns mit einer kleinen Information behilflich sein.«
»Ich bin gerne behilflich, Inspektor«, antwortete Peale in einer vollen Baritonstimme. Er sah auf den untersuchenden Arzt, der mit der Leiche beschäftigt war, und wandte dann angewidert den Blick wieder ab.
»Ich nehme an, Sie waren auf der Bühne, als das große Geschrei losging in dieser unglücklichen Angelegenheit?« wollte der Inspektor wissen.
»Oh, ja. Die ganze Besetzung war gerade auf der Bühne. Was genau würden Sie gerne wissen?«
»Können Sie uns die genaue Zeit nennen, zu der Sie bemerkten, daß etwas im Zuschauerraum nicht in Ordnung war?«
»Ja, das kann ich. Wir hatten noch ungefähr zehn Minuten bis zum Ende des Aktes. Das war genau der Höhepunkt des Stückes, und meine Rolle sieht vor, daß ich einen Pistolenschuß abgebe. Es gab während der Proben einige Meinungsverschiedenheiten wegen dieser Stelle; deshalb bin ich mir beim Zeitpunkt so sicher.«
Der Inspektor nickte. »Vielen Dank, Mr. Peale. Genau das wollte ich wissen … Bei dieser Gelegenheit möchte ich mich dafür entschuldigen, daß wir Sie alle in dieser Weise zusammengepfercht gehalten haben. Wir waren sehr beschäftigt und hatten keine Zeit, das anders zu organisieren. Ihnen und dem Rest der Belegschaft steht es frei, jetzt hinter die Bühne zu gehen. Natürlich sollten Sie nicht versuchen, das Theater zu verlassen, bis es Ihnen erlaubt wird.«
»Das versteh’ ich vollkommen, Inspektor. Freut mich, wenn ich helfen konnte.« Peale verbeugte sich und zog sich nach hinten zurück.
Der Inspektor lehnte sich gedankenversunken gegen den nächsten Sitzplatz. Ellery, der neben ihm stand, polierte abwesend die Gläser seines Kneifers. Der Vater winkte seinem Sohn vielsagend zu.
»Nun, Ellery?« fragte Queen leise.
»Ganz einfach, mein lieber Watson«, murmelte Ellery. »Unser verehrtes Opfer wurde zuletzt um 9:25 lebend gesehen und um ungefähr 9:55 tot aufgefunden. Problem: Was passierte in der Zwischenzeit? Klingt lächerlich einfach.«
»Was du nicht sagst!« murmelte Queen. »Piggott!«
»Ja, Sir.«
»Ist das die Platzanweiserin? Mal ein wenig Bewegung in die Sache bringen.«
Piggott ließ den Arm der jungen Frau neben sich los. Sie war eine auffällig geschminkte Dame mit ebenmäßigen weißen Zähnen und einem aufgesetzten Lächeln. Sie bewegte sich geziert vorwärts und schaute den Inspektor herausfordernd an.
»Sind Sie die reguläre Platzanweiserin in diesem Gang, Miss –?« fragte der Inspektor munter.
»O’Connell, Madge O’Connell. Ja, die bin ich!«
Der Inspektor nahm sie freundlich beim Arm. »Ich fürchte, ich muß Sie bitten, einmal genauso tapfer zu sein, wie Sie sonst vorwitzig sein können, meine Liebe«, sagte er. »Kommen Sie für einen Moment hier herüber.« Das Gesicht des Mädchens wurde totenbleich, als sie an der Reihe LL anhielten. »Entschuldigen Sie, Doc. Dürfen wir Sie für einen Augenblick bei der Arbeit unterbrechen?«
Dr. Prouty sah mit einem zerstreuten Blick auf. »Ja, machen Sie nur, Inspektor. Ich bin fast fertig.« Er erhob sich und trat, auf seiner Zigarre herumbeißend, beiseite.
Queen beobachtete das Gesicht des Mädchens, während es sich über den Körper des toten Mannes beugte. Sie hielt den Atem an.
»Erinnern Sie sich daran, daß Sie diesen Mann heute abend zu seinem Platz geführt haben, Miss O’Connell?«
Das Mädchen zögerte. »Wahrscheinlich schon. Aber ich war sehr beschäftigt heute, wie immer, und ich müßte alles in allem zweihundert Leute eingewiesen haben. Ich könnte es daher nicht mit Bestimmtheit sagen.«
»Wissen Sie denn noch, ob diese Plätze, die jetzt leer sind«
– er zeigte auf die sieben freien Sitze – »während des gesamten ersten und zweiten Aktes unbesetzt waren?«
»Nun … ich glaube, ich erinnere mich, daß sie mir aufgefallen sind, als ich im Mittelgang auf und ab gegangen bin … Nein, Sir. Ich glaube, heute abend hat niemand auf diesen Plätzen gesessen.«
»Ging während des zweiten Aktes jemand diesen Gang hinauf oder hinunter, Miss O’Connell? Denken Sie jetzt genau nach; es ist wichtig, daß Sie wahrheitsgemäß antworten.«
Das Mädchen zögerte wiederum, während sie kühn in das unbewegliche Gesicht des Inspektors blickte. »Nein – ich habe niemanden den Gang herauf- oder hinuntergehen sehen.« Sie fügte schnell hinzu: »Ich kann nicht viel dazu sagen. Ich weiß nichts von dieser Angelegenheit. Ich muß mir mein Geld hart verdienen, und ich –«
»Ja, schon gut, meine Liebe, wir verstehen das. Nun – wo stehen Sie normalerweise, wenn Sie gerade keinen Leuten ihre Plätze anweisen?«
Das Mädchen zeigte zum Anfang des Ganges.
»Waren Sie den ganzen zweiten Akt über dort, Miss O’Connell?« fragte der Inspektor vorsichtig.
Das Mädchen befeuchtete seine Lippen, bevor es sprach. »Nun – ja, das war ich. Aber wirklich, ich habe den ganzen Abend über nichts Ungewöhnliches bemerkt.«
»Sehr gut.« Queens Stimme war sanft. »Das ist alles.« Sie machte sich mit kurzen, schnellen Schritten davon.
Hinter der Gruppe bewegte sich etwas. Queen wandte sich um und stand Dr. Prouty gegenüber, der aufgestanden war und gerade seine Tasche schloß. Er pfiff trübselig vor sich hin.
»Nun, Doc – wie ich sehe, sind Sie fertig. Wie lautet das Urteil?« fragte Queen.
»Das ist kurz und knapp, Inspektor. Der Mann starb vor ungefähr zwei Stunden. Die Todesursache hat mich eine Zeitlang verwirrt, aber jetzt bin ich mir sicher, daß es Gift war. Alle Anzeichen deuten auf eine Art Alkoholvergiftung hin – Sie haben vielleicht das fahle Blau der Haut bemerkt. Haben Sie seine Ausdünstungen gerochen? Der elendste Fusel, den ich jemals habe einatmen dürfen. Er muß stockbetrunken gewesen sein. Es kann allerdings keine normale Alkoholvergiftung gewesen sein – er wäre nicht so schnell zusammengebrochen. Das ist alles, was ich im Augenblick sagen kann.« Er machte eine Pause, um sich den Mantel zuzuknöpfen.
Queen nahm Fields taschentuchumwickelte Flasche aus seiner Tasche und übergab sie Dr. Prouty. »Das ist die Flasche des Toten, Doc. Untersuchen Sie bitte den Inhalt für mich. Lassen Sie sie aber, bevor Sie sich damit beschäftigen, von Jimmy unten im Labor auf Fingerabdrücke prüfen. Und – aber warten Sie einen Moment!« Der Inspektor schaute herum und griff nach der halbleeren Ginger-Ale-Flasche, die in einer Ecke auf dem Teppich stand. »Sie könnten mir auch dieses Ginger Ale untersuchen, Doc«, fügte er hinzu.
Nachdem der Arzt die beiden Flaschen in seiner Tasche verstaut hatte, setzte er vorsichtig den Hut auf seinem Kopf zurecht.
»Gut, ich bin dann weg, Inspektor«, sagte er gedehnt. »Ich werde einen ausführlichen Bericht für Sie anfertigen, wenn ich die Autopsie durchgeführt habe. Damit sollten Sie dann etwas anfangen können. Übrigens müßte der Leichenwagen draußen stehen – ich habe auf dem Hinweg danach telefoniert. Bis dann.« Er gähnte und schlurfte davon.
Nachdem Dr. Prouty verschwunden war, eilten zwei weißgewandete Träger herbei, die eine Bahre mit sich führten. Auf ein Zeichen von Queen hin hoben sie den schlaffen Körper hoch, legten ihn auf die Bahre, deckten ihn mit einem Tuch zu und hasteten davon. Die Detectives und Polizisten an der Tür sahen mit Erleichterung zu, wie die grausige Last davongetragen wurde – der Hauptteil der Arbeit an diesem Abend war für sie fast vorbei. Das Publikum – raschelnd, tuschelnd, herumrutschend, hustend, murmelnd – drehte sich mit wiedererwachtem Interesse herum, als die Leiche so unfeierlich weggeschafft wurde.
Queen hatte sich gerade mit einem müden Seufzer zu Ellery gewandt, als von der äußersten rechten Seite des Theaters ein unheilvoller Tumult zu hören war. Überall erhoben sich Leute von ihren Sitzen und starrten, während Polizisten um Ruhe baten. Queen sprach kurz mit einem uniformierten Polizisten neben sich. Ellery huschte mit leuchtenden Augen auf die andere Seite. Der Aufruhr kam ruckweise näher. Es tauchten zwei Polizisten auf, die eine um sich schlagende Gestalt mit sich zogen. Sie zerrten ihren Fang bis zum oberen Ende des linken Ganges und stellten ihn gewaltsam auf die Füße.
Der Mann war klein und sah aus wie eine Ratte. Er trug einen düster wirkenden Anzug von der Stange. Auf seinem Kopf saß eine schwarze Kappe, wie sie manchmal von Landpfarrern getragen wird. Sein Mund war auf eine häßliche Art und Weise verzogen; gehässige Flüche kamen daraus hervor. Als er jedoch den Blick, mit dem der Inspektor ihn fixierte, gewahr wurde, gab er augenblicklich jeden Widerstand auf.
»Wir haben diesen Mann geschnappt, als er versuchte, sich durch einen Nebeneingang auf der anderen Seite fortzuschleichen, Inspektor«, keuchte einer der Uniformierten, während er den Gefangenen unbarmherzig schüttelte.
Der Inspektor kicherte, holte seine braune Schnupftabakdose aus der Tasche, nahm seine gewöhnliche erquickende Prise und strahlte den schweigenden, zusammengeduckten Mann zwischen den beiden Polizisten an.
»Schön, schön, Pfarrer«, sagte er herzlich. »Wirklich nett von dir, zu einem so günstigen Zeitpunkt aufzutauchen!«
in dem viele berufen, doch nur zwei auserwählt sind
Manche Menschen können aus einer besonderen Schwäche heraus den Anblick eines winselnden Mannes nur schwer ertragen. Ellery war der einzige in der schweigsamen und bedrohlich wirkenden Runde, die um die unterwürfige Gestalt mit dem Namen ›Pfarrer‹ versammelt war, der auf das Schauspiel, das der Gefangene darbot, mit Übelkeit und Widerwillen reagierte.
Auf die bissige Bemerkung von Queen hin richtete sich der Pfarrer starr auf, blickte dem Inspektor für den Bruchteil einer Sekunde in die Augen und begann erneut, sich gegen die kräftigen Arme, die ihn umfaßt hielten, zur Wehr zu setzen. Er krümmte sich, spuckte und fluchte, wurde schließlich aber wieder ruhig und hielt den Atem an. Seine Raserei hatte noch andere Polizisten aufmerksam gemacht und in das Handgemenge einbezogen; gemeinsam hielten sie den Gefangenen auf dem Boden fest. Auf einmal wurde er schlapp und fiel zusammen wie ein angestochener Luftballon. Die Polizisten zogen ihn unsanft wieder auf seine Füße, wo er dann ruhig mit niedergeschlagenen Augen und dem Hut in den Händen stehenblieb. Ellery wandte sich um.
»Aber Pfarrer«, fuhr der Inspektor in seinem Tonfall fort, als wäre der Mann vor ihm ein störrisches Kind, das sich von einem Wutanfall ausruht, »du weißt doch, daß du mich mit so etwas nicht beeindrucken kannst! Erinnerst du dich nicht mehr an das letzte Mal, unten am Fluß?«
»Antworte, wenn du gefragt wirst!« knurrte ein
Uniformierter und stieß ihm in die Rippen.
»Ich weiß überhaupt nichts, und außerdem muß ich auch nichts sagen«, murmelte der Pfarrer vor sich hin und trat dabei von einem Bein auf das andere.
»Du überraschst mich, Pfarrer«, sagte Queen sanft. »Ich habe gar nicht danach gefragt, was du weißt.«
»Sie haben kein Recht, einen unschuldigen Menschen festzuhalten«, rief der Pfarrer empört. »Bin ich etwa weniger wert als alle anderen hier? Ich hab’ eine Eintrittskarte gekauft und dafür auch mit barer Münze bezahlt. Was soll dann das Ganze – mich daran zu hindern, nach Hause zu gehen!«
»So, so, du hast also eine Eintrittskarte gekauft?« fragte der Inspektor und wippte auf den Absätzen. »Also gut. Was hältst du davon, wenn du das, was davon übriggeblieben ist, herausholst und es Papa Queen einmal zeigst?«
Die Hand des Pfarrers fuhr automatisch und mit erstaunlicher Geschicklichkeit in die untere Westentasche. Sein Gesicht war blaß, als er langsam die Hand wieder ohne die Karte herauszog. Dann begann er mit dem Anschein von verbissenem Ärger, der den Inspektor schmunzeln ließ, alle anderen Taschen zu durchsuchen.
»Verdammt!« brummte der Pfarrer. »Wenn das kein verfluchtes Pech ist. Sonst bewahre ich meine Karten immer auf; und ausgerechnet heute abend geh’ ich hin und schmeiß’ sie weg. Tut mir leid, Inspektor!«
»Ist schon gut«, sagte Queen. Sein Gesicht wurde auf einmal kalt und hart. »Laß die Ausflüchte, Cazzanelli! Was hast du heute abend hier im Theater gemacht? Und warum wolltest du dich auf einmal verdrücken? Antworte schon!«
Der Pfarrer schaute sich um. Er befand sich im sicheren Griff von zwei Polizisten. Eine Anzahl grimmig blickender Männer stand um ihn herum. Die Aussichten, zu entkommen, schienen nicht allzu rosig zu sein. In seinem Gesicht ging eine erneute Wandlung vor; es nahm nun den Ausdruck priesterlicher, geschändeter Unschuld an. Seine kleinen Augen verklärten sich, so als wäre er wahrhaftig ein christlicher Märtyrer und diese Menschenschinder vor ihm seine heidnischen Richter. Der Pfarrer hatte diesen Trick schon oft mit Erfolg angewandt.
»Inspektor«, sagte er, »Sie wissen, daß Sie kein Recht haben, mich so in die Mangel zu nehmen, nicht wahr? Jeder hat das Recht auf einen Anwalt, oder etwa nicht? Sicher hat er das.« Und er verstummte, als gäbe es sonst nichts mehr zu sagen.
Der Inspektor musterte ihn neugierig. »Wann hast du Field zuletzt gesehen?« fragte er.
»Field? Sie meinen doch nicht etwa Monte Field? Noch nie von ihm gehört, Inspektor«, gab der Pfarrer ziemlich unsicher von sich. »Womit wollen Sie mich jetzt schon wieder reinlegen?«
»Mit gar nichts, Pfarrer, mit gar nichts. Aber solange du keine Antworten geben willst, werden wir dich wohl etwas zappeln lassen müssen. Vielleicht willst du später ja noch eine Aussage machen … Und vergiß nicht, Pfarrer, da ist immer noch diese kleine Bonomo-Seidendiebstahlssache, die etwas näher untersucht werden könnte.« Er wandte sich an einen der Polizisten. »Officer, geleiten Sie unseren Freund hier zum Wartezimmer vor dem Büro des Geschäftsführers, und leisten Sie ihm eine Zeitlang Gesellschaft.«
Ellery, der nachdenklich zugeschaut hatte, wie man den Pfarrer wegschleppte, war überrascht, seinen Vater sagen zu hören: »Sehr gescheit ist dieser Pfarrer ja wohl nicht. Sich so einen Patzer zu leisten …!«
»Sei dankbar für die kleinsten Gefälligkeiten«, sagte Ellery lächelnd. »Ein Fehler zieht zwanzig andere nach sich.«
Der Inspektor wandte sich schmunzelnd zu Velie, der gerade mit einem Bündel Papier in der Hand ankam.
»Ah, Thomas kommt zurück«, sagte der Inspektor, der guter Dinge zu sein schien. »Und was hast du gefunden, Thomas?«
»Nun, Inspektor, das läßt sich schwer sagen«, antwortete der Detective, während er mit den Fingern über die Ränder der Blätter strich. »Das ist erst die halbe Liste – die andere Hälfte ist noch nicht fertig. Aber ich denke, Sie werden hier schon etwas Interessantes finden.«
Er übergab Queen einen Stapel Blätter mit eilig niedergeschriebenen Namen und Adressen. Es waren die Namen, die Velie auf Geheiß des Inspektors durch Befragung des Publikums aufnehmen sollte.
Queen ging mit Ellery an seiner Seite die Liste Namen für Namen sorgfältig durch. Er hatte sich etwa durch den halben Stapel gearbeitet, als er auf einmal stutzte. Er blickte noch einmal auf den Namen, der ihn innehalten ließ, und schaute dann verdutzt auf zu Velie.
»Morgan«, sagte er nachdenklich. »Benjamin Morgan. Klingt ziemlich vertraut, Thomas. Sagt dir der Name was?«
Velie lächelte eisig. »Ich dachte mir schon, daß Sie das fragen würden, Inspektor. Benjamin Morgan war bis vor zwei Jahren Monte Fields Partner in der Anwaltskanzlei!«
Queen nickte. Die drei Männer starrten sich gegenseitig an. Dann zuckte der alte Mann mit den Schultern und sagte knapp: »Ich fürchte, wir werden uns etwas mehr mit Mr. Morgan beschäftigen müssen.«
Mit einem Seufzer wandte er sich erneut der Liste zu. Wieder ging er jeden Namen einzeln durch, schaute jedesmal nachdenklich auf, schüttelte den Kopf und fuhr in der Liste fort. Velie, der wußte, wie bekannt Queen für sein gutes Gedächtnis war, beobachtete seinen Vorgesetzten dabei voller Hochachtung.
Schließlich gab ihm der Inspektor die Papiere zurück. »Sonst ist nichts dabei, Thomas«, sagte er. »Außer, dir wäre etwas aufgefallen, was mir entgangen ist. Gibt es da noch etwas?« Er klang ernst.
Velie blickte den alten Mann wortlos an, schüttelte den Kopf und zog wieder los.
»Einen Moment noch, Thomas«, rief Queen ihm nach. »Bevor du die zweite Liste fertig machst, bitte doch Morgan noch in Panzers Büro. Jag ihm keinen Schrecken ein. Und sorg außerdem dafür, daß er seine Eintrittskarte hat, bevor er ins Büro kommt.« Velie ging ab.
Der Inspektor winkte Panzer heran, der eine Gruppe Polizisten beobachtet hatte, die bei ihrer Arbeit für Queen von Detectives befehligt wurden. Der stämmige, kleine Geschäftsführer eilte heran.
»Mr. Panzer«, erkundigte sich der Inspektor, »wann beginnen die Putzfrauen hier gewöhnlich mit ihrer Arbeit?«
»Nun ja, sie sind schon eine ganze Weile hier, Inspektor, und warten darauf anzufangen. Die meisten Theater werden erst am frühen Morgen gesäubert, aber ich lass’ immer schon meine Leute direkt nach der Abendvorstellung kommen. Was haben Sie im Sinn?«
Ellerys Miene, die ein wenig finster gewesen war, als der Inspektor sprach, hellte sich bei der Antwort des Managers auf. Voller Befriedigung begann er seinen Kneifer zu putzen.
»Um folgendes möchte ich Sie bitten, Mr. Panzer«, fuhr Queen ruhig fort. »Veranlassen Sie bitte, daß die Putzfrauen heute abend, wenn alle weg sind, besonders gründlich überall durchgehen. Sie sollen alles aufsammeln und aufbewahren – einfach alles, wie unbedeutend es aussehen mag –, ganz besonders sollen sie auf die Reste von Eintrittskarten achten. Können Sie diesen Leuten vertrauen?«
»Oh, vollkommen, Inspektor. Sie arbeiten an diesem Theater, seit es errichtet wurde. Sie können sicher sein, daß nichts übersehen wird. Was soll ich mit dem Abfall anfangen?«
»Sorgfältig verpacken und mir morgen früh durch einen vertrauenswürdigen Boten aufs Revier schicken lassen.« Der Inspektor hielt einen Augenblick inne. »Mr. Panzer, ich möchte, daß Ihnen die große Bedeutung dieser Aufgabe klar ist. Sie ist sehr viel wichtiger, als sie zu sein scheint. Begreifen Sie das?«
»Ja sicher, sicher doch!«
Panzer eilte davon.
Ein Detective mit angegrautem Haar schritt zügig über den Teppich, ging dann den Gang auf der linken Seite hinunter und grüßte Queen förmlich. In der Hand hielt er ein Bündel Papier, ähnlich dem, welches Velie gebracht hatte.
»Sergeant Velie hat mich gebeten, Ihnen diese Namensliste zu geben. Er sagt, es wäre der Rest der Namen und Adressen aus dem Publikum, Inspektor.«
Queen nahm die Blätter mit plötzlichen Anzeichen von Ungeduld in Empfang. Ellery beugte sich nach vorne. Der Blick des alten Mannes wanderte langsam von einem Namen zum anderen; sein Finger fuhr auf jedem Blatt die Liste hinunter. Kurz vor Ende der letzten Seite lächelte er auf einmal, sah Ellery triumphierend an und schaute dann die Seite zu Ende durch. Er drehte sich um und flüsterte seinem Sohn etwas ins Ohr. Ellery nickte; seine Augen leuchteten.
Der Inspektor wandte sich wieder an den wartenden Detective. »Kommen Sie her, Johnson«, sagte er. Queen strich die Seite glatt, die er unter dem prüfenden Blick des Mannes durchgesehen hatte. »Ich möchte, daß Sie Velie suchen und ihm ausrichten, er soll sich auf der Stelle bei mir melden. Nachdem Sie das erledigt haben, schnappen Sie sich diese Frau« – sein Finger zeigte auf einen Namen und die Platznummer daneben – »und bitten sie, mit Ihnen ins Büro des Managers zu kommen. Sie werden dort schon jemanden namens Morgan vorfinden. Bleiben Sie bei den beiden, bis Sie weiteres von mir hören. Im Falle eines Gesprächs zwischen den beiden halten Sie Ihre Ohren offen – ich möchte wissen, was geredet wird. Behandeln Sie die Frau zuvorkommend!«
»Ja, Sir. Velie hat mir auch noch aufgetragen, Ihnen mitzuteilen«, fuhr Johnson fort, »daß er eine Gruppe von Leuten vom Rest des Publikums abgesondert hat – es sind diejenigen ohne Eintrittskarte. Er möchte wissen, was mit ihnen angestellt werden soll.«
»Erscheinen ihre Namen in den beiden Listen, Johnson?« fragte Queen und reichte ihm den zweiten Stoß zur Rückgabe an Velie.
»Ja, Sir.«
»Dann sagen Sie Velie, daß er sie gehen lassen kann – aber erst, nachdem er eine spezielle Liste mit ihren Namen angefertigt hat. Es ist nicht nötig, daß ich sie sehe oder mit ihnen spreche.«
Johnson grüßte und verschwand.
Queen begann sich leise mit Ellery zu unterhalten, der etwas auf dem Herzen zu haben schien. Sie wurden durch das Wiederauftauchen von Panzer unterbrochen.
»Inspektor?« Der Manager hüstelte höflich.
»Ach ja, Panzer«, sagte der Inspektor und wandte sich ihm rasch zu. »Geht alles klar mit den Putzfrauen?«
»Ja, Sir. Gibt es da sonst noch etwas, was ich tun könnte …? Ach, übrigens – ich hoffe, Sie verzeihen mir die Frage – wie lange wird das Publikum noch warten müssen? Es gab schon eine Reihe lästiger Nachfragen von vielen Leuten. Ich hoffe, es wird wegen dieser Sache keinen Ärger geben.« In seinem dunklen Gesicht stand glänzend der Schweiß.
»Oh, machen Sie sich darüber keine Sorgen, Panzer«, sagte der Inspektor gleichgültig. »Ihr Warten wird bald ein Ende haben. Ich werde gleich meine Leute anweisen, sie gehen zu lassen. Aber bevor sie das Theater verlassen, werden sie noch einen weiteren Grund haben, sich zu beschweren«, fügte er mit einem grimmigen Lächeln hinzu.
»Wirklich, Inspektor?«
»Oh, ja«, sagte Queen. »Sie werden eine Durchsuchung über sich ergehen lassen müssen. Zweifellos wird es Proteste geben; man wird Ihnen mit Gerichtsverfahren und auch mit den Fäusten drohen, aber seien Sie unbesorgt. Ich bin verantwortlich für alles, was hier heute abend geschieht, und ich werde dafür sorgen, daß Sie aus dem Ärger herausgehalten werden … Wir brauchen jetzt noch eine Frau, die meinen Leuten bei der Durchsuchung behilflich ist. Wir haben zwar eine Gefängniswärterin hier, aber die ist bereits unten beschäftigt. Wäre es Ihnen möglich, mir eine verläßliche Frau, möglichst mittleren Alters, zu besorgen, die nichts gegen eine undankbare Aufgabe einzuwenden hätte und die zudem noch verschwiegen ist?« Der Geschäftsführer dachte einen Augenblick nach.
»Ich glaube, ich habe die richtige Person für Sie. Sie heißt Mrs. Phillips und ist unsere Garderobenaufsicht. Sie ist schon etwas älter und für eine solche Aufgabe bestens geeignet.«
»Wunderbar«, sagte Queen lebhaft. »Sie holen sie sofort und postieren sie am Hauptausgang. Detective-Sergeant Velie wird ihr die nötigen Anweisungen geben.«
Velie traf gerade noch rechtzeitig ein, um die letzte Bemerkung mitzubekommen. Panzer hetzte den Gang hinunter in Richtung der Logen.
»Hast du Morgan?« fragte Queen.
»Ja, Inspektor.«
»Gut, dann nur noch eine weitere Sache; danach hast du es für heute nacht erst einmal hinter dir, Thomas. Ich will, daß du den Abzug der Leute, die im Parkett und in den Logen gesessen haben, überwachst. Laßt sie nur einzeln heraus, und überprüft sie dabei gründlich. Alle müssen zum Hauptausgang hinaus. Um sicher zu gehen, sag den Männern an den Seitentüren Bescheid, daß sie alle nach hinten schicken sollen.« Velie nickte. »Und nun zur Durchsuchung selbst. Piggott!« Der Detective kam herangesprungen. »Piggott, Sie begleiten Mr. Queen und Sergeant Velie und helfen dabei, jeden, der zum Hauptausgang hinausgeht, zu durchsuchen. Eine Aufseherin wird dort sein, um die Frauen zu durchsuchen. Sucht alles ab! Geht die Taschen nach Verdächtigem durch! Sammelt alle Kontrollabschnitte der Eintrittskarten! Und paßt besonders auf, ob irgendwo ein Hut zuviel ist! Der Hut, den ich brauche, ist ein seidener Zylinder. Aber auch wenn jemand im Besitz von zwei anderen Hüten ist, schnappt ihn euch und sorgt dafür, daß er festgehalten wird. Also, Jungs, an die Arbeit!«
Ellery, der sich gegen eine Säule gelümmelt hatte, richtete sich auf und folgte Piggott. Als auch Velie sich ihnen angeschlossen hatte, rief Queen noch: »Laßt die Leute auf dem Balkon erst gehen, wenn im Parkett alles leer ist. Schickt jemanden hoch, um sie ruhig zu halten.«
Nachdem er diese letzte wichtige Anweisung gegeben hatte, wandte sich der Inspektor an Doyle, der in der Nähe Wache stand, und sagte ruhig: »Laufen Sie schnell die Treppe zur Garderobe runter, Doyle, mein Junge, und halten Sie die Augen offen, während die Leute ihre Sachen holen. Wenn alle weg sind, durchsuchen Sie alles aufs genaueste. Sollte irgend etwas auf den Garderobenständern zurückbleiben, bringen Sie es mir.«
Queen lehnte sich zurück gegen den Pfeiler, der wie ein marmorner Wächter steil neben der Stelle aufragte, an der der Mord geschehen war. Mit leerem Blick, die Hände am Revers, stand er dort, als der breitschultrige Flint mit vor Erregung glänzenden Augen herbeieilte. Inspektor Queen musterte ihn kritisch.
»Irgendwas gefunden, Flint?« fragte er und tastete nach seiner Schnupftabakdose.
Der Detective reichte ihm, ohne etwas zu sagen, die Hälfte einer Eintrittskarte; sie war blau und trug den Aufdruck »LL30 Links«.
»Sehr gut!« rief Queen aus. »Wo haben Sie das gefunden?«
»Direkt am Haupteingang«, sagte Flint. »Sieht so aus, als hätte sie der Besitzer gleich nach Betreten des Theaters dort fallenlassen.«
Queen gab keine Antwort. Er nahm den blauen Kontrollabschnitt, den er bei der Leiche gefunden hatte, aus seiner Westentasche. Schweigend betrachtete er sie – beide in der gleichen Farbe und mit annähernd dem gleichen Aufdruck. Auf dem einen stand LL32 Links, auf dem anderen LL30 Links.
Er kniff die Augen zusammen, als er die harmlos scheinenden Eintrittskarten einer näheren Untersuchung unterzog. Er beugte sich näher darüber und hielt die Kontrollabschnitte mit ihren Rückseiten gegeneinander. Ein wenig verdutzt drehte er dann die Vorderseiten zueinander. Immer noch unzufrieden, hielt er dann eine Rückseite gegen eine Vorderseite.
In keiner der drei Positionen stimmten die abgerissenen Enden der Eintrittskarten überein!
in welchem Inspektor Queen einige ernste Unterredungen führt
Queen hatte seinen Hut in die Stirn gezogen und ging über den breiten roten Teppich, der im Hintergrund den Boden des Zuschauerraumes bedeckte. Er suchte in den Ecken seiner Hosentasche nach der unvermeidlichen Schnupftabakdose. Der Inspektor war offensichtlich mit schwerwiegenden Gedanken beschäftigt, da er mit seiner Hand die beiden blauen Kontrollabschnitte fest umklammert hielt und das Gesicht verzog, als sei er alles andere als zufrieden mit seinen Überlegungen.
Bevor er die grüngesprenkelte Türe mit der Aufschrift ›Büro des Managers‹ öffnete, drehte er sich noch einmal herum, um die Szene hinter sich zu betrachten. Im Zuschauerraum herrschte ein geordnetes Gedränge. Lautes Geschnatter erfüllte die Luft; Polizisten und Detectives gingen zwischen den Reihen umher, gaben Anweisungen, beantworteten Fragen, schoben Leute aus ihren Sitzen und stellten sie im Mittelgang in eine Reihe, um sie dann an der wuchtigen Haupttüre zu durchsuchen. Der Inspektor bemerkte geistesabwesend, daß die bevorstehende Prozedur auf wenig Protest unter den Zuschauern stieß. Sie schienen mittlerweile zu müde zu sein, um sich über das Entwürdigende einer Durchsuchung aufzuregen. Eine lange Schlange halb verärgerter, halb belustigter Frauen hatte sich auf der einen Seite gebildet, wo sie – eine nach der anderen – von einer mütterlichen, ganz in Schwarz gekleideten Frau schnell durchsucht wurden. Queen warf einen kurzen Blick auf die Detectives, die die Türe absperrten. Piggott, der eine langjährige Erfahrung besaß, fuhr mit flinken Händen über die Kleidung der Männer. Velie, der neben ihm stand, beobachtete die unterschiedlichen Reaktionen der Leute, die durchsucht wurden. Ab und zu kontrollierte er selbst einen Mann. Ellery stand ein wenig abseits, hatte seine Hände in den Taschen seines weiten Überziehers vergraben, rauchte eine Zigarette, und schien an nichts Bedeutenderes zu denken als an die verpaßte Gelegenheit, eine Erstausgabe zu erstehen. Queen seufzte und trat ein.
Das Vorzimmer zum Büro war ein winziger Raum mit einer Einrichtung aus Bronze und Eiche. In einem der Sessel an der Wand saß Pfarrer Johnny – vergraben in weiche Lederpolster – und paffte völlig unbeteiligt eine Zigarette. Ein Polizist stand neben dem Sessel, eine wuchtige Hand auf seine Schulter gelegt.
»Hinter mir her, Pfarrer«, sagte der Inspektor im Vorbeigehen. Der kleine Gangster erhob sich träge, schleuderte die Kippe geschickt in einen blinkenden Messingspucknapf und schlurfte hinter dem Inspektor her, den Polizisten an seine Fersen geheftet.
Queen öffnete die Tür zum eigentlichen Büro und schaute sich schnell um, während er noch auf der Schwelle stand. Dann trat er zur Seite und ließ dem Gangster und dem Uniformierten den Vortritt. Die Türe fiel knallend zu.
Die Büroeinrichtung zeugte vom ungewöhnlichen Geschmack Louis Panzers. Eine hellgrüne Lampe erleuchtete den geschnitzten Schreibtisch. Stühle und Rauchtischchen, ein kunstvoll gewundener Kleiderständer, ein seidener Diwan – diese und andere Stücke waren geschmackvoll über den Raum verteilt. Im Unterschied zu den Büros der meisten Theatermanager fehlten bei Panzer die Photographien von Stars, Managern, Produzenten und Mäzenen. Dafür zierten einige anspruchsvolle Drucke, ein großer Gobelin und ein Gemälde von Constable die Wände.
Aber der prüfende Blick des Inspektors galt im Moment nicht den künstlerischen Qualitäten des Privatbüros von Mr. Panzer. Er galt vielmehr den sechs Personen, denen er sich gegenüber sah. Neben Detective Johnson saß ein zu Dickleibigkeit neigender Mann mittleren Alters mit klug blickenden Augen und verwirrtem Gesichtsausdruck. Er trug tadellose Abendgarderobe. Auf dem Stuhl daneben saß ein schönes junges Mädchen, in ein einfaches Abendkleid und einen Umhang gehüllt. Sie sah empor zu einem gutaussehenden jungen Mann in Abendgarderobe, der einen Hut in der Hand hielt, sich über ihren Stuhl neigte und in ernstem Ton mit ihr sprach. Zu ihrer Seite standen zwei weitere Frauen, die sich nach vorn neigten, um zuhören zu können.
Der beleibte Mann hielt sich von den anderen fern. Als der Inspektor eintrat, stand er sofort mit fragendem Blick auf. Die kleine Gruppe verstummte und wandte ihre ernsten Gesichter Queen zu.
Mit einem mißbilligenden Husten und von seiner Eskorte begleitet, schlich Pfarrer Johnny durch das Zimmer in eine Ecke. Er schien überwältigt zu sein von der noblen Gesellschaft, in der er sich wiederfand. Er scharrte mit seinen Füßen und warf einen verzweifelten Blick in Richtung Inspektor.
Queen ging zum Schreibtisch herüber, um die ganze Gruppe im Blick zu haben. Auf seinen Wink hin eilte Johnson an seine Seite.
»Wer sind die drei, die da noch hinzugekommen sind,
Johnson?« fragte er unhörbar für die anderen im Raum. »Der alte Knabe da drüben ist Morgan«, flüsterte Johnson, »und die Schönheit, die ihm am nächsten sitzt, ist die Frau, die ich herholen sollte. Als ich sie im Zuschauerraum suchte, war sie in Begleitung dieses jungen Burschen und der beiden anderen Frauen. Die vier schienen ziemlich vertraut miteinander. Ich gab Ihre Bitte an sie weiter, und sie schien sehr nervös zu werden. Sie stand aber auf und kam mit mir – nur die drei anderen kamen auch. Ich wußte nicht, ob Sie sie nicht vielleicht sehen wollten, Inspektor …« Queen nickte.
»Irgend etwas aufschnappen können?« fragte er leise. »Nicht einen Ton, Inspektor. Der alte Knabe scheint niemanden von diesen Leuten zu kennen. Die anderen wundern sich nur die ganze Zeit darüber, warum Sie gerade dieses Mädchen sprechen wollen.«
Der Inspektor winkte Johnson in eine Ecke und wandte sich an die wartende Gruppe.
»Ich habe zwei von Ihnen zu einer kleinen Unterhaltung herbestellt«, sagte er freundlich. »Da die anderen freiwillig hier sind, müssen sie auch die Wartezeit in Kauf nehmen. Im Augenblick muß ich Sie jedoch alle bitten, ins Vorzimmer zu gehen, während ich ein kleines Geschäft mit diesem Herrn hier abwickle.« Er wies mit seinem Kopf auf den Gangster, der peinlich berührt erstarrte.
Die zwei Männer und drei Frauen verließen in aufgeregter Unterhaltung das Zimmer, und Johnson schloß die Tür hinter ihnen. Queen wandte sich geschwind Pfarrer Johnny zu. »Bring die Ratte her!« befahl er dem Polizisten. Er setzte sich auf Panzers Stuhl und verschränkte seine Finger. Der Gangster wurde hochgezerrt und quer über den Teppich direkt vor den Schreibtisch geschubst.
»Jetzt hab’ ich dich da, wo ich dich hinhaben wollte, Pfarrer«, sagte Queen drohend. »Wir werden uns nett unterhalten, ohne daß uns jemand stört. Klar?«
Der Pfarrer gab keine Antwort, seine Augen blickten argwöhnisch.
»Du willst also nichts sagen, Johnny? Wie lange, glaubst du, kommst du damit durch?«
»Ich hab’ es Ihnen schon gesagt – ich weiß nichts, und ich werde außerdem nichts sagen ohne meinen Anwalt«, sagte der Gangster stur.
»Dein Anwalt? Nun, Pfarrer, wer ist denn dem Anwalt?«fragte der Inspektor in einem unschuldigen Ton.
Der Pfarrer biß sich auf die Lippen und schwieg. Queen wandte sich an Johnson.
»Johnson, mein Junge, Sie haben doch damals an dem Babylon-Überfall gearbeitet, nicht wahr?« fragte er.
»Klar doch, Chef«, sagte der Detective.
»Das war«, erklärte Queen dem Gangster sanft, »als du einJahr bekommen hast. Erinnerst du dich, Pfarrer?«
Immer noch Schweigen.
»Und Johnson«, fuhr der Inspektor fort, während er sich in seinem Stuhl zurücklehnte, »helfen Sie mir doch auf die Sprünge. Wer war der Anwalt, der unseren Freund da verteidigt hat?«
»Field«, rief Johnson und starrte den Pfarrer an, »Ganz genau. Der feine Herr, der jetzt auf einer unserer harten Unterlagen im Leichenschauhaus liegt. Nun, Pfarrer, wie ist es damit? Hör mit der Komödie auf! Wann hörst du auf zu behaupten, du würdest Monte Field nicht kennen? Du wußtest sofort seinen Vornamen, als ich nur seinen Nachnamen nannte. Jetzt sag endlich, was du weißt.«
Der Gangster war voll gespielter Verzweiflung zu dem Polizisten herübergesunken. Er leckte sich die Lippen und sagte: »Da haben Sie mich erwischt, Inspektor. Aber ich – ich weiß nichts über diese Sache hier, ehrlich. Ich habe Field seit einem Monat nicht mehr gesehen. Hab’ ich nicht – mein Gott, Sie wollen mir diese Sache doch nicht anhängen, oder?« Er sah Queen ängstlich an. Der Polizist brachte ihn wieder in eine aufrechte Position.
»Pfarrer, Pfarrer«, sagte Queen, »was du doch für voreilige Schlüsse ziehst. Es geht mir ausschließlich um eine kleine Information. Wenn du natürlich den Mord gestehen willst, rufe ich meine Leute herein, und wir können deine ganze Geschichte aufnehmen und nach Hause ins Bett gehen. Wie wär’s damit?«
»Nein!« schrie der Gangster und schlug auf einmal mit seinem Arm um sich. Der Officer fing den Arm geschickt ab und drehte ihn auf den sich windenden Rücken. »Wie kommen Sie darauf? Ich werde überhaupt nichts gestehen. Ich weiß nichts. Ich habe Field heute abend nicht gesehen; ich wußte gar nicht, daß er hier war! Gestehen … Ich habe ein paar ganz schön einflußreiche Freunde, Inspektor, Sie können mir nichts anhängen, das sage ich Ihnen!«
»Das ist zu schade, Johnny«, seufzte der Inspektor. Er nahm eine Prise Schnupftabak. »Gut dann. Du hast Monte Field nicht umgebracht. Um wieviel Uhr bist du heute hierhergekommen, und wo ist dein Ticket?«
Der Pfarrer drehte den Hut in seinen Händen. »Ich habe bisher nichts gesagt, Inspektor, weil ich den Eindruck hatte, daß Sie mir einfach was ans Zeug flicken wollten. Ich kann einwandfrei erklären, wann und wie ich hergekommen bin. Es war ungefähr halb neun, und ich kam mit einer Freikarte rein. Hier ist der Abschnitt als Beweis.« Er durchsuchte sorgfältig seine Manteltaschen und zog einen gelochten blauen Abschnitt hervor. Er gab ihn an Queen weiter, der einen flüchtigen Blick darauf warf und ihn in seine Tasche steckte.
»Und woher«, fragte er, »woher hast du die Freikarte bekommen, Johnny?«
»Ich – meine Freundin hat sie mir gegeben, Inspektor«, antwortete der Gangster nervös.
»Ah – da kommt eine Frau in die Sache hinein«, sagte Queen vergnügt. »Und wie ist wohl der Name der jungen Circe, Johnny?«
»Wer? – nun, sie ist – hey, Inspektor, Sie werden ihr doch keinen Ärger machen, oder?« platzte der Pfarrer heraus. »Sie ist ein anständiges Mädchen, und sie weiß außerdem auch nichts. Ehrlich, ich –«
»Ihr Name?« fiel ihm Queen ins Wort.
»Madge O’Connell«, jammerte Johnny. »Sie ist Platzanweiserin hier.«
Queens Augen leuchteten auf. Er wechselte einen schnellen Blick mit Johnson. Der Detective verließ das Zimmer. »So«, fuhr der Inspektor fort und lehnte sich wieder entspannt zurück. »Mein alter Freund Pfarrer Johnny weiß
überhaupt nichts über Monte Field. Gut, gut! Wir werden sehen, ob die Geschichte deiner Freundin mit deiner Version übereinstimmt.« Während er sprach, blickte er fortwährend auf den Hut, den der Gangster in seinen Händen hielt. Es war ein billiger schwarzer Filzhut, der zu dem klerikalen Anzug paßte, den der Mann trug. »Los, Pfarrer«, sagte er plötzlich. »Gib mir doch mal deinen Hut rüber.«
Er nahm den Hut aus der widerstrebenden Hand des Gangsters und untersuchte ihn. Er zog das Lederband auf der Innenseite herunter, warf einen kritischen Blick darauf und gab den Hut schließlich zurück.
»Wir haben etwas vergessen, Pfarrer«, sagte er. »Officer, was halten Sie davon, Mr. Cazzanelli zu filzen, eh?« Der Pfarrer fügte sich nur widerwillig in die Durchsuchung, verhielt sich aber ruhig. »Kein Schießeisen«, sagte der Polizist kurz und fuhr fort. Er steckte seine Hand in eine der Hosentaschen und zog eine dicke Brieftasche hervor. »Wollen Sie die, Inspektor?«
Queen nahm sie, zählte kurz das Geld und gab sie dem Polizisten zurück, der sie wieder in die Tasche steckte. »Einhundertzweiundzwanzig Dollar, Johnny«, murmelte der alte Mann. »Irgendwie stinkt dieses Geld nach Bonomo-Seide.
Aber was soll’s!« Er lachte und fragte den Uniformierten: »Keine Flasche?« Der Polizist schüttelte den Kopf. »Irgend etwas unter seiner Weste oder seinem Hemd versteckt?«
Wieder negativ. Queen schwieg, bis die Durchsuchung beendet war. Pfarrer Johnny seufzte erleichtert.
»Gut, Johnny, das ist ja ein gelungener Abend für dich.Herein!« sagte Queen, als es an der Türe klopfte. Sie wurde geöffnet, und zum Vorschein kam das schlanke Mädchen in der Uniform der Platzanweiser, das er vorher schon befragt hatte.
Johnson kam hinter ihr herein und schloß die Tür. Madge O’Connell stand da und starrte mit finsterem Blick auf ihren Liebhaber, der gedankenverloren den Boden musterte. Sie warf einen kurzen Blick zu Queen herüber. Der Zug um ihren Mund herum verhärtete sich, und sie fuhr den Gangster an: »Nun? Haben sie dich schließlich geschnappt, du Flasche! Ich hab’ dir gesagt, du sollst nicht versuchen abzuhauen!« Sie kehrte dem Pfarrer verächtlich den Rücken zu und fing an, sich kräftig mit Puder zu bestäuben.
»Warum haben Sie mir nicht direkt erzählt, mein Kind«, sagte Queen mit sanfter Stimme, »daß Sie Ihrem Freund Johnny Cazzanelli eine Freikarte besorgt haben?«
»Ich erzähl’ doch nicht alles, Mr. Bulle«, antwortete sie schnippisch. »Warum sollte ich? Johnny hat mit dieser Sache nichts zu tun.«
»Davon ist auch nicht die Rede«, sagte der Inspektor und spielte dabei mit seiner Schnupftabakdose. »Was ich jetzt gerne von Ihnen wissen möchte, Madge, ist, ob sich Ihr Erinnerungsvermögen in irgendeiner Weise gebessert hat, seit ich mit Ihnen gesprochen habe.«
»Was soll das heißen?« wollte sie wissen.
»Das heißt folgendes. Sie haben mir erzählt, daß Sie an Ihrem gewöhnlichen Standort waren, bevor die Vorstellung begann, daß Sie eine Menge Leute auf ihre Plätze gewiesen haben, daß Sie sich nicht daran erinnern, ob Sie Monte Field-den Toten – in seine Sitzreihe geführt haben oder nicht und daß Sie während der ganzen Vorstellung am Anfang des linken Ganges gestanden haben. Während der ganzen Vorstellung, Madge. Ist das richtig?«
»Natürlich, Inspektor. Behauptet jemand das Gegenteil?«
Das Mädchen wurde immer unruhiger, aber als Queen auf ihre zitternden Finger schaute, hielt sie sie wieder ruhig.
»Oh, Madge, hör auf damit«, platzte der Pfarrer plötzlich heraus. »Mach’s nicht schlimmer, als es schon ist. Er wird früher oder später eh rausfinden, daß wir uns getroffen haben, und dann hat er was gegen dich in der Hand. Du kennst diesen Vogel nicht. Nur raus damit, Madge!«
»So!« sagte der Inspektor und blickte gutgelaunt zuerst auf den Gangster und dann auf das Mädchen. »Pfarrer, mit fortschreitendem Alter wirst du noch richtig vernünftig. Hab’ ich das richtig gehört, daß ihr zwei euch getroffen habt? Wann, warum und für wie lange?«
Madge O’Connells Gesicht war abwechselnd rot und weiß geworden. Sie bedachte ihren Liebhaber mit einem vernichtenden Blick und wandte sich dann wieder Queen zu. »Anscheinend kann ich es genauso gut ausplaudern«, sagte sie angewidert, »wo dieser Schwachkopf es schon hat durchblicken lassen. Das ist jetzt alles, was ich weiß, Inspektor – und wehe Ihnen, wenn Sie das diesem Bastard von Manager erzählen!« Queen zog die Brauen nach oben, unterbrach sie jedoch nicht. »Ich habe eine Freikarte für Johnny besorgt, das stimmt«, fuhr sie trotzig fort, »weil – nun, Johnny mag solche Räuberpistolen, und das war sein freier Abend. Also hab’ ich ihm die Freikarte besorgt. Sie war für zwei Personen – das sind alle Freikarten –, so daß der Platz neben Johnny die ganze Zeit über frei blieb. Es war ein Eckplatz auf der linken Seite, das Beste, was ich für diesen vorlauten Knirps bekommen konnte! Während des ersten Aktes war ich zu beschäftigt, um mich neben ihn zu setzen. Aber nach der ersten Pause, als der Vorhang zum zweiten Akt aufging, flaute der Betrieb ab, und das gab mir Gelegenheit, mich zu ihm zu setzen. Gut, ich gebe es ja zu – ich habe fast den ganzen Akt über neben ihm gesessen! Warum auch nicht – kann ich mir nicht auch ab und zu eine Pause gönnen?«
»Ich verstehe.« Queens Brauen senkten sich wieder. »Sie hätten mir eine Menge Zeit und Ärger erspart, junge Frau, wenn Sie mir das direkt erzählt hätten. Sind Sie während des ganzen zweiten Aktes nicht aufgestanden?«
»Doch, ich glaube, sogar einige Male«, sagte sie vorsichtig.
»Aber da alles in Ordnung und der Manager nicht in Nähe war, ging ich wieder zurück.«
»Haben Sie diesen Field bemerkt, als Sie vorbeigingen?«
»Nein – nein, Sir.«
»Haben Sie bemerkt, ob jemand neben ihm saß?«
»Nein, Sir. Ich wußte ja nicht einmal, daß er im Theater war. Ich hab’ wahrscheinlich einfach nicht in seine Richtung geguckt.«
»Dann gehe ich auch davon aus«, fuhr Queen kühl fort, »daß Sie sich nicht daran erinnern, jemanden während des zweiten Aktes in die letzte Reihe, direkt neben den Eckplatz geführt zu haben?«
»Nein, Sir … Oh, ich weiß, ich hätte das nicht machen sollen, wahrscheinlich, aber ich habe den ganzen Abend über nichts Außergewöhnliches bemerkt.« Sie wurde bei jeder Frage nervöser. Sie blickte verstohlen zum Pfarrer herüber, der aber immer noch auf den Boden stierte.
»Sie waren eine große Hilfe, junge Frau«, sagte Queen, während er sich plötzlich erhob. »Und jetzt raus mit Ihnen!« Als sie sich zur Tür wandte, schlich der Gangster mit unschuldigem Blick durch das Zimmer, um ihr zu folgen.
Queen gab dem Polizisten ein Zeichen. Der Pfarrer fand sich mit einem Satz wieder in seine Ausgangsposition befördert. »Nicht so hastig, Johnny«, sagte Queen eisig. »O’Connell!«
Das Mädchen drehte sich um und versuchte, einen unbeteiligten Eindruck zu erwecken. »Im Augenblick werde ich Mr. Panzer noch nicht davon unterrichten. Aber ich rate Ihnen, aufzupassen, was Sie tun, und sich im Umgang mit Höhergestellten zurückzuhalten. Gehen Sie jetzt, und wenn Ihnen noch ein Schnitzer passiert, dann gnade Ihnen Gott!« Sie fing an zu lachen, war einen Augenblick unschlüssig und lief dann aus dem Zimmer.
Queen wandte sich rasch an den Polizisten. »Legen Sie ihm die Handschellen an, Officer«, befahl er kurz, indem er mit einem Finger auf den Gangster wies, »und bringen Sie ihn zur Wache!«
Der Polizist salutierte. Man sah das Aufblitzen von Stahl, hörte ein schnappendes Geräusch, und der Pfarrer starrte verblüfft auf die Handschellen an seinen Gelenken. Bevor er noch den Mund aufmachen konnte, hatte man ihn schon aus dem Büro befördert.
Queen machte eine verächtliche Handbewegung, ließ sich in den Ledersessel fallen, nahm eine Prise Schnupftabak und sagte in einem völlig anderen Tonfall zu Johnson: »Johnson, mein Junge, ich möchte, daß Sie Mr. Morgan hereinbitten.«
Benjamin Morgan betrat Queens augenblickliches Heiligtum mit festem Schritt, der jedoch eine gewisse Erregung nicht vollständig verbergen konnte. Er sagte mit heiterer und kräftiger Baritonstimme: »Nun, Sir, da bin ich« und ließ sich in einen der Sessel fallen, wie ein Mann, der es sich nach einem harten Tag in seinem Club bequem macht. Queen ließ sich nicht darauf ein. Er bedachte Morgan mit einem langen ernsten Blick, der den fülligen, grauhaarigen Mann unruhig hin- und herrutschen ließ.
»Ich heiße Queen, Mr. Morgan«, sagte er freundlich. »Inspektor Richard Queen.«
»Das habe ich mir schon gedacht«, sagte Morgan, während er aufstand, um die ihm dargebotene Hand zu schütteln. »Ich glaube, Sie wissen, wer ich bin, Inspektor. Sie haben mich Vorjahren mehr als einmal im Gericht beobachten können. Da gab es einen Fall – erinnern Sie sich daran? – Ich verteidigte Mary Doolittle, als sie wegen Mordes angeklagt war …«
»Genau, ja!« rief der Inspektor erfreut. »Ich habe mich schon gefragt, woher ich Sie kenne. Sie haben sie auch frei bekommen, wenn ich mich recht entsinne. Das war ein schönes Stück Arbeit, Morgan – sehr, sehr gut. Sie sind das also! Gut, gut!«
Morgan lachte. »Ich war damals nicht schlecht«, gab er zu. »Aber ich fürchte, die Zeiten sind längst vorbei, Inspektor. Wissen Sie – ich arbeite nicht mehr als Strafverteidiger.«
»Nein?« Queen nahm eine Prise Tabak. »Das wußte ich nicht. Irgend etwas« – er mußte niesen – »irgend etwas schiefgelaufen?« fragte er mitfühlend.
Morgan gab keine Antwort. Nach einem Augenblick des Nachdenkens schlug er die Beine übereinander und sagte: »Einiges ist schiefgelaufen. Stört es Sie, wenn ich rauche?« fragte er plötzlich. Auf Queens Zustimmung hin zündete er sich eine dicke Zigarre an, deren Rauch ihn nach und nach einhüllte.
Für eine Weile sprach keiner der beiden Männer. Morgan schien genau zu spüren, daß er scharf beobachtet wurde, da er seine Beine immer wieder nervös übereinanderschlug und Queens Blick mied. Der alte Mann machte einen gedankenverlorenen Eindruck, sein Kopf war auf seine Brust gesunken.
Die Stille wurde immer spannungsgeladener und gleichzeitig peinlich. Im Zimmer war kein Geräusch zu hören, außer dem Ticken einer Standuhr, die in einer Ecke stand. Von irgendwo im Theater war plötzlich der Lärm von Stimmen zu hören, die nach Entrüstung und Ärger klangen. Dann waren auch diese wieder wie abgeschnitten.
»Kommen Sie schon, Inspektor …« Morgan hustete. Er war in den dicken, aufsteigenden Rauch seiner Zigarre gehüllt, und seine Stimme war rauh und angespannt. »Was ist das hier – eine ganz besonders raffinierte Foltermethode?«
Queen sah überrascht auf. »Eh? Entschuldigung, Mr. Morgan. Ich hab’ wohl ein wenig geträumt. Ich war mit meinen Gedanken ganz woanders. Mein Gott, ich werde wohl doch allmählich alt.«
Er stand auf und ging durch den Raum, die Hände locker auf dem Rücken zusammengelegt. Morgans Blick folgte ihm.
»Mr. Morgan« – der Inspektor stürzte sich mit einem seiner üblichen Gedankensprünge auf ihn – »wissen Sie, warum ich Sie gebeten habe, noch zu bleiben und sich mit mir zu unterhalten?«
»Nun – nicht so genau, Inspektor. Ich nehme natürlich an, daß es mit dem Unglücksfall heute abend zusammenhängt. Aber ich muß gestehen, daß ich nicht weiß, wie ich damit in Verbindung stehen könnte.« Morgan zog heftig an seiner Zigarre.
»Vielleicht, Mr. Morgan, wird Ihnen das jetzt gleich klar werden«, sagte Queen und lehnte sich gegen den Schreibtisch zurück. »Der Mann, der heute abend hier ermordet wurde – es war kein Unfall, das kann ich Ihnen versichern –, war ein gewisser Monte Field.«
So gelassen diese Eröffnung war, so verblüffend war die Wirkung, die sie auf Morgan hatte. Er schoß geradezu von seinem Sessel hoch, seine Augen traten hervor, seine Hände zitterten, und er atmete rauh und schwer. Seine Zigarre fiel auf den Boden. Queen sah ihm verdrossen zu.
»Monte – Field!« Morgans Aufschrei war erschreckend in seiner Heftigkeit. Er starrte in das Gesicht des Inspektors. Dann fiel er wieder in den Sessel zurück; sein Körper sackte zusammen.
»Heben Sie Ihre Zigarre auf, Mr. Morgan«, sagte Queen. »Ich möchte Mr. Panzers Gastfreundschaft nicht mißbrauchen.« Der Rechtsanwalt griff mechanisch nach unten und nahm seine Zigarre wieder an sich. »Mein lieber Freund«, dachte Queen bei sich, »entweder bist du einer der weltbesten Schauspieler oder hast gerade den Schock deines Lebens bekommen!« Er richtete sich auf. »Kommen Sie, Mr. Morgan – reißen Sie sich zusammen. Warum sollte der Tod von Field Sie so berühren?«
»Aber – aber, Mensch! Monte Field … Oh, mein Gott!« Er warf den Kopf zurück und lachte – ein verrücktes Lachen, das Queen in Alarmbereitschaft versetzte. Die Zuckungen fuhren fort, während Morgans Körper hysterisch hin- und hergeworfen wurde. Der Inspektor kannte die Symptome. Er gab dem Anwalt einen Schlag ins Gesicht und zog ihn an seinem Mantelkragen auf die Füße.
»Sie vergessen sich, Morgan!« fuhr ihn Queen an. Der strenge Tonfall hatte seine Wirkung. Morgan hörte auf zu lachen, sah Queen verlegen an und fiel schwer in den Sessel zurück – immer noch zitternd, aber wieder er selbst.
»Es – es tut mir leid, Inspektor«, murmelte er und tupfte sein Gesicht mit einem Taschentuch ab. »Das war wirklich etwas überraschend.«
»Scheint so«, sagte Queen trocken. »Sie hätten auch nicht überraschter sein können, wenn sich die Erde unter Ihnen aufgetan hätte. Nun, Morgan, was hat das alles zu bedeuten?«
Der Anwalt wischte immer noch den Schweiß von seinem Gesicht. Er zitterte wie Espenlaub, seine Wangen waren gerötet. Er biß sich unentschlossen auf die Lippen.
»In Ordnung, Inspektor«, sagte er schließlich. »Was wollen Sie wissen?«
»Das klingt schon besser«, sagte Queen zustimmend. »Ich schlage vor, Sie erzählen mir, wann Sie Monte Field zuletzt gesehen haben.«
Der Anwalt räusperte sich nervös. »Nun, ich habe ihn ewig nicht gesehen«, sagte er leise. »Ich nehme an, Sie wissen, daß wir früher Partner waren – wir hatten eine erfolgreiche Kanzlei. Dann gab es einen Zwischenfall, und wir trennten uns. Ich – ich habe ihn seither nicht mehr gesehen.«
»Und das ist wie lange her?«
»Gut zwei Jahre.«
»Sehr schön.« Queen lehnte sich nach vorne. »Ich würde auch gerne wissen, warum Sie sich voneinander getrennt haben.«
Der Anwalt betrachtete den Teppich und spielte mit seiner Zigarre. »Ich – nun, Sie werden Fields Ruf genauso gut kennen wie ich. Wir hatten unsere Differenzen, was das Berufsethos anbelangt, hatten eine kleine Auseinandersetzung und entschieden uns für eine Trennung.«
»Sind Sie freundschaftlich voneinander geschieden?«
»Nun – den Umständen entsprechend würde ich sagen, ja.«
Queen trommelte auf den Schreibtisch. Morgan rutschte unruhig hin und her. Er war anscheinend immer noch mit den Nachwirkungen des Schocks beschäftigt. »Um welche Zeit kamen Sie heute abend ins Theater, Morgan?« fragte der Inspektor.
Morgan schien diese Frage zu überraschen. »So ungefähr um Viertel nach acht«, antwortete er.
»Könnte ich bitte Ihren Kontrollabschnitt sehen?« sagte Queen.
Der Anwalt reichte ihn herüber, nachdem er mehrere Taschen danach durchwühlt hatte. Queen nahm ihn, zog aus seiner Tasche die drei Abschnitte, die er dort aufbewahrt hatte, und verschwand mit seinen Händen unter die Oberfläche des Schreibtischs. Einen Moment später sah er schon wieder mit ausdruckslosem Blick auf und steckte die vier Papierschnitzel in seine Tasche.
»Sie saßen also auf M4, Mitte, nicht wahr? Ein sehr guter Platz, Morgan«, bemerkte er. »Wie kamen Sie überhaupt dazu, sich heute abend ›Spiel der Waffen‹ anzusehen?«
»Nun, es ist ein außergewöhnliches Stück, nicht wahr, Inspektor?« Morgan machte einen verlegenen Eindruck. »Ich wäre aber wahrscheinlich nicht auf die Idee gekommen hineinzugehen – ich gehe nämlich nicht oft ins Theater, müssen Sie wissen –, wenn nicht das Management des Römischen Theaters so freundlich gewesen wäre, mir eine Ehrenkarte für die heutige Vorstellung zu schicken.«
»Ist das wahr?« rief Queen erstaunt aus. »Wirklich nett von ihnen, würde ich sagen. Wann haben Sie das Ticket bekommen?«
»Ich habe das Ticket und den Brief am Samstag morgen in meinem Büro erhalten, Inspektor.«
»Oh, Sie haben auch einen Brief dazu bekommen. Sie haben ihn nicht zufällig bei sich?«
»Ich bin – ziemlich – sicher, ich habe«, murmelte Morgan vor sich hin, während er seine Taschen durchsuchte. »Ja! Hier ist er.«
Er reichte dem Inspektor ein kleines, rechteckiges, weißes Blatt Papier mit Büttenrand herüber.
Queen faßte es behutsam an, während er es gegen das Licht hielt. Durch die wenigen, mit Schreibmaschine geschriebenen Zeilen hindurch konnte man deutlich ein Wasserzeichen erkennen. Er spitzte die Lippen und legte das Blatt vorsichtig auf die Schreibunterlage. Während Morgan ihn beobachtete, öffnete er die oberste Schublade von Panzers Schreibtisch und kramte darin herum, bis er ein Stück Schreibpapier gefunden hatte. Es war groß, quadratisch und reich verziert mit einem Theaterwappen, das in eines der oberen Viertel eingestanzt war. Queen legte die beiden Blätter nebeneinander, dachte einen Augenblick nach, seufzte dann und nahm das Blatt, das Morgan ihm gegeben hatte, in die Hand. Er las es langsam durch.
Das Management des Römischen Theaters lädt hiermit Mr. Benjamin Morgan herzlichst zu einem Besuch von ›Spiel der Waffen‹ am Montag, dem 24. September, ein. Um eine Beurteilung des Stückes als eines sozialen und strafrechtlichen Zeitdokuments durch Mr. Morgan, einem führenden Mitglied der New Yorker Anwaltschaft, wird aufrichtig gebeten. Dies ist jedoch in keiner Weise als Bedingung zu betrachten; darüber hinaus möchte das Management versichern, daß mit der Annahme seiner Einladung keinerlei Verpflichtungen verbunden sind.
Das Römische Theater i.A.: S.
Das »S« war ein beinahe unleserlicher Tintenklecks.
Queen sah auf und lächelte. »Wirklich nett von diesem Theater, Mr. Morgan. Ich frage mich jetzt nur –« Er lächelte immer noch, als er Johnson ein Zeichen gab, der – als schweigender Beobachter der Befragung – in einer Ecke gesessen hatte.
»Holen Sie mir Mr. Panzer, den Manager, Johnson«, sagte Queen. »Und wenn gerade der Werbeleiter – ein Knabe namens Bealson oder Pealson oder so – irgendwo herumläuft, dann bitten Sie ihn ebenfalls herzukommen.«
Nachdem Johnson das Büro verlassen hatte, wandte er sich wieder dem Anwalt zu.
»Darf ich Sie für einen Moment um Ihre Handschuhe bitten, Mr. Morgan«, sagte er in harmlosem Ton.
Morgan sah ihn verdutzt an und ließ sie auf den Schreibtisch vor Queen fallen, der sie neugierig aufhob. Sie waren aus weißer Seide – die üblichen Handschuhe zur Abendgarderobe. Der Inspektor gab vor, sie intensiv zu untersuchen. Er drehte sie auf die linke Seite, betrachtete minutenlang einen kleinen Fleck auf einer Fingerspitze und probierte sie, mit einer scherzhaften Bemerkung Morgan gegenüber, sogar an. Als seine Untersuchung abgeschlossen war, gab er die Handschuhe dem Anwalt feierlich zurück.
»Und – oh, ja, Mr. Morgan – Sie haben da einen ungeheuer schmucken Zylinder. Kann ich ihn einmal kurz sehen?«
Ohne Kommentar legte der Anwalt seinen Hut auf den Schreibtisch. Queen nahm ihn auf, während er sorglos in einer etwas zu tiefen Tonlage ›The Sidewalks of New York‹ pfiff. Er drehte den Hut um. Es war ein glänzendes Exemplar von außerordentlich guter Qualität. Auf das schimmernde weiße Seidenfutter war goldfarben der Name des Herstellers ›James Chauncey Co.‹ aufgedruckt. Zwei Initialen – B. M. – waren in der gleichen Weise in das Band eingelegt.
Queen lächelte verschmitzt, als er sich den Hut auf den Kopf setzte. Er war etwas zu eng. Queen nahm ihn sofort wieder ab und gab ihn an Morgan zurück.
»Es ist sehr freundlich von Ihnen, mir diese Freiheiten zu gestatten, Mr. Morgan«, sagte er, während er schnell eine Notiz auf einen Zettel schrieb, den er seiner Tasche entnahm.
Die Tür wurde geöffnet, und es erschienen Johnson, Panzer und Harry Neilson. Panzer kam nur zögernd näher, und Neilson ließ sich in einen der Sessel fallen. »Was können wir für Sie tun, Inspektor?« fragte Panzer mit leicht zitternder Stimme und machte dabei den heldenhaften Versuch, den grauhaarigen Aristokraten, der in seinem Sessel zusammengesackt war, zu ignorieren.
»Mr. Panzer«, sagte Queen langsam, »wie viele Sorten Briefpapier werden im Römischen Theater verwendet?«
Der Manager sah ihn mit großen Augen an. »Nur eine, Inspektor. Sie haben da ein Blatt vor sich auf dem Schreibtisch liegen.«
»Mmmm.« Queen reichte Panzer das Stück Papier, das er von Morgan hatte. »Ich möchte, daß Sie sich das Blatt sehr genau ansehen, Mr. Panzer. Gibt es Ihres Wissens diese Art Briefpapier hier im Theater?«
Der Manager sah das Papier erstaunt an. »Nein, das glaube ich nicht. Ich bin mir sogar sicher. Was ist das?« rief er aus, als sein Blick auf die ersten maschinengeschriebenen Zeilen fiel. »Neilson!« schrie er, während er sich dem Werbeleiter zuwandte. »Was soll das sein – Ihr letzter Publicitygag?« Er wedelte mit dem Papier vor Neilsons Gesicht herum.
Neilson schnappte es seinem Arbeitgeber aus der Hand und las es schnell durch. »Der Teufel soll mich holen!« sagte er sanft. »Wenn das nicht der Renner der Saison wird!« Er las es noch voller Bewunderung durch. Dann, während vier Augenpaare ihn vorwurfsvoll ansahen, gab er es an Panzer zurück. »Es tut mir leid, daß ich jeden Anteil an dieser brillanten Idee von mir weisen muß«, sagte er gedehnt. »Warum, zum Kuckuck, ist mir das nicht eingefallen?« Er zog sich mit auf der Brust verschränkten Armen in seine Ecke zurück.
Der Manager wandte sich aufgeregt an Queen. »Das ist äußerst merkwürdig, Inspektor. Meines Wissens hat das Römische Theater niemals solches Briefpapier benutzt, und ich kann Ihnen versichern, daß ich einen solchen Werbegag niemals genehmigt habe. Und wenn Neilson bestreitet, damit etwas zu tun zu haben –« Er zuckte die Achseln. Queen steckte das Blatt vorsichtig in die Tasche. »Das ist alles, meine Herren. Ich danke Ihnen.« Er entließ die beiden Männer mit einem Kopfnicken.
Er sah prüfend auf den Anwalt, dessen Gesicht vom Hals bis zu den Haarwurzeln mit feuerroter Farbe überzogen war. Der Inspektor hob die Hand und ließ sie mit einem leichten Knall auf die Schreibtischplatte fallen.
»Was sagen Sie nun, Mr. Morgan?« fragte er knapp.
Morgan sprang auf. »Das ist ein verdammtes abgekartetes Spiel!« rief er und hielt seine Faust drohend vor Queens Gesicht. »Ich weiß auch nicht mehr darüber als – als Sie, wenn Sie diese kleine Unverschämtheit entschuldigen! Außerdem, wenn Sie glauben, Sie könnten mich mit diesem Hokuspokus einschüchtern, von wegen Handschuhe und Hüte untersuchen, mein Gott, Sie haben noch gar nicht meine Unterhosen kontrolliert, Inspektor!« Er hielt inne, um Luft zu holen; sein Gesicht war puterrot.
»Aber mein lieber Morgan«, sagte der Inspektor sanft, »warum regen Sie sich so auf? Man könnte meinen, ich hätte Sie des Mordes an Monte Field beschuldigt. Setzen Sie sich, und beruhigen Sie sich, Mann; ich habe nur eine einfache Frage gestellt.«
Morgan ließ sich in seinen Sessel fallen. Er strich sich mit zitternder Hand über die Stirn und murmelte: »Tut mir leid, Inspektor. Habe die Fassung verloren. Aber von allen gemeinen Tricks –« Er wurde leiser und murmelte nur noch vor sich hin.
Queen saß da und betrachtete ihn spöttisch. Morgan machte ein großes Getue mit seinem Taschentuch und seiner Zigarre. Johnson hustete mißbilligend und sah zur Decke hinauf. Erneuter Lärm drang durch Wände, nur um wiederum auf halbem Wege erstickt zu werden. Queens Stimme unterbrach die Stille. »Das ist alles, Morgan. Sie können gehen.«
Der Anwalt stand schwerfällig auf, öffnete den Mund, als wollte er noch etwas sagen, preßte die Lippen zusammen, setzte seinen Hut auf und spazierte aus dem Zimmer. Auf ein Zeichen des Inspektors hin stand Johnson ebenfalls auf, um ihm die Türe aufzuhalten. Beide Männer verschwanden.
Allein in seinem Zimmer, verfiel Queen in eine wilde Geschäftigkeit. Er nahm die vier Kontrollabschnitte aus der Tasche, den Brief, den Morgan ihm gegeben hatte, und die straßbesetzte Handtasche, die er in der Jacke des Toten gefunden hatte. Diese öffnete er zum zweiten Mal an diesem Abend und breitete ihren Inhalt vor sich auf dem Schreibtisch aus. Einige Visitenkarten, zierlich mit dem Namen ›Frances Ives-Pope‹ bedruckt; zwei verzierte Spitzentaschentücher; ein Kosmetiktäschchen mit Puder, Rouge und Lippenstift; eine kleine Geldbörse, die zwanzig Dollar in Scheinen und einige Münzen enthielt; ein Haustürschlüssel. Queen beschäftigte sich einen Moment lang gedankenverloren mit diesen Gegenständen, legte sie in die Handtasche zurück, und während er Tasche, Papierschnitzel und Brief wieder in seine Taschen zurücksteckte, stand er auf und sah sich langsam um. Er ging herüber zum Kleiderständer, nahm einen einzelnen Hut herunter, einen runden Filzhut, der dort hing, und untersuchte dessen Innenseite. Die Initialen ›L.P.‹ und das Hutmaß ›6¾‹ schienen ihn zu interessieren.
Er hängte den Hut zurück und öffnete die Tür.
Die vier Menschen, die im Vorzimmer saßen, sprangen erleichtert auf. Queen stand lächelnd auf der Türschwelle, die Hände in seine Manteltaschen vergraben.
»Jetzt sind wir endlich so weit«, sagte er. »Würden Sie bitte alle in das Büro kommen?«
Er trat höflich beiseite und ließ sie vorbeigehen – die drei Frauen und den jungen Mann. Sie marschierten aufgeregt herein; die Frauen nahmen Platz, sobald der junge Mann Stühle für sie zurechtgestellt hatte. Vier Augenpaare blickten ernst auf den alten Mann an der Tür. Er lächelte väterlich, sah noch einmal kurz in das Vorzimmer, schloß die Tür und schritt würdevoll zum Schreibtisch, wo er sich niederließ und seine Tabakdose hervorholte.
»Nun!« sagte er freundlich. »Ich muß mich dafür entschuldigen, daß ich Sie so lange habe warten lassen – dienstliche Angelegenheiten, Sie wissen ja … Jetzt wollen wir mal sehen. Hmmm. Ja … Ja, ja. Ich muß! Also gut! Nun, zunächst einmal, meine Damen, mein Herr, was haben wir miteinander zu tun?« Er richtete seinen freundlichen Blick auf die schönste der drei Frauen. »Ich nehme an, Miss, Ihr Name ist Frances Ives-Pope, obwohl ich noch nicht das Vergnügen hatte, Ihnen vorgestellt zu werden. Habe ich recht?«
Das Mädchen zog erstaunt die Augenbrauen hoch. »Das stimmt genau, Sir«, sagte sie mit klangvoller Stimme. »Aber ich verstehe nicht, woher Sie meinen Namen kennen.«
Sie lächelte. Es war ein faszinierendes Lächeln, voller Charme und einer Art von Weiblichkeit, die ungeheuer anziehend wirkte. Ein wohlgeformtes Wesen in der Blüte der Jugend, mit großen braunen Augen und einem cremefarbenen Teint, so strahlte sie eine Vollkommenheit aus, die der Inspektor als erfrischend empfand.
Er strahlte sie an. »Nun, Miss Ives-Pope«, kicherte er. »Ich nehme an, für einen Laien ist das etwas mysteriös. Und die Tatsache, daß ich ein Polizist bin, macht es wahrscheinlich noch schlimmer. Aber es ist ganz einfach. Sie sind doch nicht gerade eine unbekannte junge Dame – tatsächlich habe ich Ihr Bild heute noch in der Zeitung gesehen, auf der Gesellschaftsseite.«
Das Mädchen lachte ein wenig nervös. »So war das also!« sagte sie. »Ich fing schon an, mich zu fürchten. Und was ist es nun, was Sie von mir wünschen?«
»Beruf – immer der Beruf«, sagte der Inspektor wehmütig. »Immer, wenn ich mich für jemanden zu interessieren beginne, komme ich in Konflikt mit meinem Beruf … Bevor wir mit unserer Befragung anfangen, darf ich Sie fragen, wer Ihre Freunde sind?«
Ein verlegenes Hüsteln war von den drei Leuten zu hören, auf die Queen nun sein Augenmerk gerichtet hatte. Frances sagte charmant: »Entschuldigen Sie – Inspektor? Erlauben Sie, daß ich Ihnen Miss Hilda Orange und Miss Eve Ellis vorstelle, zwei sehr liebe Freundinnen von mir. Und das ist Mr. Stephen Barry, mein Verlobter.«
Queen sah sie mit einiger Überraschung an. »Wenn mich nicht alles täuscht – Sie gehören doch zum Ensemble von ›Spiel der Waffen‹?« Die drei nickten einmütig.
Queen wandte sich Frances zu. »Ich möchte nicht zu aufdringlich erscheinen, Miss Ives-Pope, aber ich möchte, daß Sie mir etwas erklären … Warum werden Sie von Ihren Freunden begleitet?« fragte er mit einem entwaffnenden Lächeln. »Ich weiß, es klingt unverschämt, aber ich erinnere mich genau, daß ich meinen Officer angewiesen habe, Sie herzubitten – alleine …«
Die drei Schauspieler erhoben sich steif. Frances sah bittend zuerst auf ihre Begleiter und dann auf den Inspektor.
»Ich – bitte verzeihen Sie mir, Inspektor«, sagte sie hastig. »Ich – ich bin noch nie von der Polizei verhört worden. Ich war nervös und – und ich habe meinen Verlobten und diese beiden Damen, die meine vertrautesten Freunde sind, gebeten, mir während der Befragung zur Seite zu stehen. Mir war nicht klar, daß das Ihren Anordnungen widersprach …«
»Ich verstehe«, gab Queen lächelnd zurück. »Ich verstehe vollkommen. Aber sehen Sie –« Er machte eine abschließende Geste.
Stephen Barry beugte sich über den Stuhl des Mädchens. »Ich werde bei dir bleiben, Liebes, wenn du es wünschst.« Er sah den Inspektor streitlustig an.
»Aber, Stephen, Liebster …« antwortete Frances mit einem hilflosen Jammern. Queen gab sich unnachgiebig. »Ihr – ihr geht besser jetzt alle. Aber wartet bitte draußen auf mich. Es wird nicht lange dauern, nicht wahr, Inspektor?« fragte sie mit unglücklich blickenden Augen.
Queen schüttelte den Kopf. »Nicht sehr lange.« Seine gesamte Ausstrahlung hatte sich verändert. Er schien immer eigensinniger zu werden. Seine Besucher spürten die Veränderung in ihm, und eine Stimmung unterschwelliger Feindseligkeit machte sich breit.
Hilda Orange, eine große, üppige Frau in den Vierzigern, deren Gesicht auch ohne Make-up und im kalten Licht des Büros noch Spuren einstiger Schönheit zeigte, beugte sich über Frances und starrte den Inspektor böse an.
»Wir werden draußen auf dich warten, Liebes«, sagte sie grimmig. »Und wenn du dich schwach fühlst oder sonst etwas, schrei nur einmal kurz, und du wirst sehen, was hier los sein wird.« Sie stürzte aus dem Zimmer. Eve Ellis tätschelte Frances die Hand. »Mach dir keine Sorgen, Frances«, sagte sie mit ihrer sanften, klaren Stimme. »Wir sind ja bei dir.« Sie nahm Barrys Arm und folgte Hilda Orange. Barry sah sich mit einer Mischung aus Zorn und Sorge noch einmal um, wobei er Queen mit einem vernichtenden Blick bedachte, und schlug dann die Türe hinter sich zu.
Sofort war Queen auf den Beinen, sein Ton nun kühl und unpersönlich. Er richtete den Blick auf Frances, seine Handflächen auf die Oberfläche des Schreibtischs gepreßt. »Nun, Miss Frances Ives-Pope«, sagte er betont, »das ist alles, was ich mit Ihnen zu erledigen habe …« Er griff in seine Tasche und zog mit der Geschwindigkeit eines geübten Taschenspielers die Straßtasche hervor. »Ich möchte Ihnen Ihre Tasche zurückgeben.«
Frances erhob sich halb von ihrem Platz, blickte zuerst auf ihn, dann auf die schimmernde Tasche, während alle Farbe aus ihrem Gesicht wich. »Aber, das – das ist ja meine Handtasche!« stotterte sie.
»Ganz genau, Miss Ives-Pope. Man hat sie im Theater gefunden – heute abend.«
»Natürlich!« Das Mädchen ließ sich mit einem kleinen nervösen Lachen wieder zurück auf ihren Platz falten. »Wie dumm von mir! Und ich habe sie bis jetzt nicht einmal vermißt …«
»Aber, Miss Ives-Pope«, fuhr der kleine Inspektor behutsam fort, »die Tatsache, daß wir Ihre Tasche gefunden haben, ist nicht annähernd so wichtig wie die Stelle, an der sie gefunden wurde.« Er hielt einen Moment inne. »Sie wissen, daß heute abend hier ein Mann ermordet wurde?«
Sie starrte ihn mit offenem Mund und vor Angst aufgerissenen Augen an. »Ja, ich habe davon gehört«, sagte sie atemlos.
»Nun, Ihre Handtasche, Miss Ives-Pope«, fuhr der Inspektor unerbittlich fort, »wurde in einer der Taschen des Ermordeten gefunden!«
Blanke Angst erschien in den Augen des Mädchens. Dann, mit einem erstickten Schrei, kippte sie auf ihrem Stuhl nach vorne, ihr Gesicht schneeweiß und verzerrt.
Queen sprang zu ihr hin, sofort zeigten sich Betroffenheit und Besorgnis auf seinem Gesicht. Er hatte die zusammengesackte Gestalt kaum erreicht, als die Türe aufgerissen wurde und Stephen Barry mit wehenden Rockschößen ins Zimmer schoß. Hilda Orange, Eve Ellis und Johnson, der Detective, folgten auf dem Fuße.
»Was in aller Welt haben Sie mit ihr gemacht, Sie Schnüffler!« rief der Schauspieler, während er Queen aus dem Weg schob. Er zog Frances zärtlich in seine Arme, strich ihr die schwarzen Haarsträhnen aus dem Gesicht und flüsterte ihr verzweifelt ins Ohr. Sie stöhnte und sah verwirrt auf, als sie das errötete junge Gesicht so nahe bei sich sah. »Steve, ich – bin in Ohnmacht gefallen«, murmelte sie und fiel in seine Arme zurück.
»Jemand muß etwas Wasser besorgen«, knurrte der junge Mann, während er ihre Hände rieb. Sofort wurde ihm von Johnson ein Glas über die Schulter gereicht. Barry ließ einige Tropfen in ihren Mund laufen, sie würgte und kam langsam wieder zu Bewußtsein. Die beiden Schauspielerinnen schoben Barry beiseite und befahlen den Männern in barschem Ton, das Zimmer zu verlassen. Queen schloß sich brav dem protestierenden Schauspieler und dem Detective an.
»Sie sind ja ein feiner Bulle!« sagte Barry in vernichtendem Ton zum Inspektor. »Was haben Sie ihr angetan? Ihr mit dem typischen Einfühlungsvermögen eines Polizisten auf den Kopf gehauen?«
»Nun, nun, junger Mann«, sagte Queen ruhig, »keine groben Worte, bitte. Die junge Dame hat nur einen Schock bekommen.«
Sie standen da in spannungsgeladenem Schweigen, bis sich die Tür wieder öffnete und die Schauspielerinnen mit Frances in ihrer Mitte erschienen. Barry eilte an ihre Seite. »Bist du in Ordnung, Liebes?« flüsterte er, während er ihre Hand drückte.
»Bitte – Steve – bring mich nach Hause«, schluchzte sie und stützte sich mit ihrem ganzen Gewicht auf seinen Arm.
Inspektor Queen stand etwas abseits, um sie vorbeizulassen. Ein trauriger Ausdruck lag in seinen Augen, als er zusah, wie sie langsam auf den Ausgang zugingen und sich der kurzen Schlange auf dem Weg nach draußen anschlossen.
in welchem der Staatsanwalt zum Biographen wird
Inspektor Richard Queen war ein eigenartiger Mensch. Klein und drahtig, mit grauem Haar und dem durch Lebenserfahrung gezeichneten faltigen Gesicht, hätte er als Wirtschaftsboß, als Nachtwächter oder was immer er wollte durchgehen können. Sicherlich würde sich seine unauffällige Gestalt im richtigen Gewand jeder Rolle anpassen können.
Diese rasche Anpassungsfähigkeit demonstrierte er auch in seinem Auftreten. Nur wenige Leute kannten ihn, wie er wirklich war. Für seine Kollegen, auch für seine Gegner, den jammervollen Abschaum der Menschheit, den er dem verdienten Gerichtsverfahren überantwortete, blieb er ein steter Quell der Verwunderung. Er konnte theatralisch sein, wenn er es wollte, oder milde oder wichtigtuerisch oder väterlich oder hartnäckig.
Aber neben all dem besaß der Inspektor, wie es jemand einmal mit übergroßer Sentimentalität ausgedrückt hatte, ›ein Herz aus Gold‹. In seinem Innersten war er friedfertig und sensibel; die Grausamkeit dieser Welt hatte ihm manchen Schaden zugefügt. Es stimmte, daß er sich gegenüber Leuten, mit denen er dienstlich zusammentraf, nie zweimal in der gleichen Weise verhielt. Immer wieder schlüpfte er in eine neue Rolle, eine andere Facette seiner Persönlichkeit. Ihm schien dies sehr vorteilhaft; die Leute konnten sich keinen Reim auf ihn machen, wußten nie, was er sagen oder tun würde und hatten deshalb auch immer ein klein wenig Angst vor ihm.
Nun, wo er sich allein in Panzers Büro befand, wo die Tür fest geschlossen war, wo seine Nachforschungen vorübergehend zu einem Stillstand gekommen waren, trat die wahre Natur dieses Mannes auf seinem Gesicht hervor. In diesem Moment schien es ein altes Gesicht zu sein – körperlich alt, aber alt und weise in geistiger Hinsicht. Der Vorfall mit dem Mädchen, dem er einen solchen Schrecken eingejagt hatte, daß es in Ohnmacht fiel, beschäftigte ihn vor allem anderen. Die Erinnerung an sein verzerrtes, entsetztes Gesicht ließ ihn zusammenzucken. Frances Ives-Pope schien all die Vorzüge in sich zu vereinigen, die ein alter Mann für seine eigene Tochter wünschen konnte. Sie wie unter einem Peitschenhieb zurückschrecken zu sehen, peinigte ihn sehr. Die Erinnerung daran, wie ihr Verlobter sie so wütend verteidigte, ließ ihn vor Scham erröten.
Mit einem Seufzer griff der Inspektor nach dem Schnupftabak, seinem einzigen kleinen Laster, und nahm eine große Prise.
Als es wenig später energisch an der Tür klopfte, glich er schon wieder dem Chamäleon – ein Detective-Inspektor, der an einem Schreibtisch saß und ohne Zweifel über kluge und gewichtige Dinge nachdachte. In Wahrheit wünschte er, Ellery würde zurückkehren.
Auf sein herzliches »Herein« hin ging die Tür auf, und ein dünner, helläugiger Mann, dick angezogen und mit einem wollenen Schal um den Hals, trat ins Zimmer.
»Henry!« rief der Inspektor und sprang auf. »Was zum Teufel machst du denn hier? Hat dir der Doktor nicht strikte Bettruhe verordnet!«
Staatsanwalt Henry Sampson zwinkerte mit den Augen und ließ sich in einen Sessel fallen.
»Ärzte«, sagte er in belehrendem Ton, »verursachen bei mir Halsschmerzen. Wie sieht’s aus?«
Er stöhnte und befühlte behutsam seinen Hals. Der Inspektor setzte sich wieder hin. »Du bist wirklich der aufsässigste Patient, Henry, der mir jemals unter Erwachsenen vorgekommen ist«, sagte er bestimmt. »Menschenskind, du wirst dir eine Lungenentzündung holen, wenn du nicht aufpaßt.«
»Nun«, grinste der Staatsanwalt, »ich bin hoch versichert, da sollte ich mich tatsächlich vorsehen … Aber du hast meine Frage nicht beantwortet.«
»Ach, ja«, brummte Queen. »Deine Frage. Wie es aussieht, hast du gefragt, glaube ich. Im Moment, mein lieber Henry, sieht es absolut düster aus. Reicht dir das?«
»Drück dich doch bitte etwas deutlicher aus«, sagte Sampson. »Denke bitte daran, ich bin ein kranker Mann, und mir dröhnt der Schädel.«
»Henry«, sagte Queen und lehnte sich mit ernstem Gesicht nach vorne, »ich muß dich darauf aufmerksam machen, daß wir mitten in einem der schwierigsten Fälle stecken, mit denen unsere Abteilung je zu tun hatte. Dir dröhnt also der Schädel? Soll ich dir vielleicht sagen, was in meinem vorgeht?«
Sampson blickte finster in seine Richtung. »Wenn es wirklich so ist, wie du sagst – und davon gehe ich mal aus –, dann kommt das zu einem verdammt ungünstigen Zeitpunkt. Wahlen stehen ins Haus, und so ein ungelöster Mordfall als Vorwand für die Gegenseite …«
»Nun, das ist eine Möglichkeit, die Sache zu betrachten«, bemerkte Queen mit leiser Stimme. »An die Wahlen habe ich dabei eigentlich nicht gedacht, Henry. Jemand ist ermordet worden, und im Augenblick habe ich offen gestanden noch nicht die leiseste Vorstellung, von wem und wie dieser Mord begangen wurde.«
»Ich nehme deinen wohlgemeinten Tadel an, Inspektor«, sagte Sampson schon etwas unbeschwerter. »Aber wenn du gehört hättest, was ich mir gerade eben übers Telefon anhören mußte …«
»Einen Augenblick, mein lieber Watson, wie Ellery immer zu sagen pflegt«, sagte Queen schmunzelnd nach einem der für ihn so charakteristischen Stimmungswechsel. »Ich wette, ich weiß, was passiert ist. Du warst zu Hause, wahrscheinlich im Bett. Das Telefon klingelte. Jemand fing an herumzunörgeln, zu protestieren, vor Wut zu schäumen, halt so zu reden, wie jemand redet, der aufgeregt ist. Es klang etwa so: ›Ich werde es mir nicht gefallen lassen, wie ein gewöhnlicher Verbrecher von der Polizei festgehalten zu werden! Ich will, daß dieser Queen einen strengen Verweis erhält. Er stellt geradezu eine Bedrohung der persönlichen Freiheitsrechte dar.‹ Und so weiter und so weiter …«
»Mein lieber Freund!« sagte Sampson lachend.
»Dieser Gentleman, der so lautstark Protest erhebt«, fuhr der Inspektor fort, »ist klein, ziemlich dick, trägt eine Brille mit Goldrand, hat eine überaus unangenehme weibliche Stimme, entfaltet eine wirklich rührende Sorge um seine Familie – seine Frau und eine Tochter – angesichts der möglichen Gegenwart von Presseleuten und beruft sich stets auf dich als seinen ›sehr guten Freund Staatsanwalt Sampson‹. Richtig?«
Sampson saß da und starrte ihn an. Dann verzogen sich seine scharf geschnittenen Gesichtszüge zu einem Lächeln.
»Wirklich verblüffend, mein lieber Holmes«, brummte er. »Wo du schon so viel über meinen Freund weißt, wird es wohl auch ein Kinderspiel für dich sein, mir seinen Namen zu verraten?«
»Eh – aber ich hab’ ihn dir doch richtig beschrieben, oder nicht?« sagte Queen mit purpurrotem Gesicht. »Ich – Ellery, mein Junge! Ich bin froh, dich zu sehen.«
Ellery hatte das Zimmer betreten. Herzlich gaben sich Sampson und Ellery die Hand; der Staatsanwalt begrüßte ihn mit der Freude, die Zeichen einer langen Freundschaft ist. Ellery machte eine Bemerkung über die ständige Lebensgefahr, der sich ein Staatsanwalt aussetzt, und stellte rasch einen großen Behälter mit Kaffee und eine Papiertüte, die etwas so Köstliches wie Kuchen verhieß, auf dem Schreibtisch ab.
»Nun, meine Herren, die große Suchaktion ist beendet, aus und vorbei, und die schwitzenden Detectives werden nun ein mitternächtliches Frühstück zu sich nehmen.« Er lachte und gab seinem Vater einen liebevollen Klaps auf die Schulter.
»Aber, Ellery!« rief Queen entzückt. »Das ist eine willkommene Überraschung! Henry, leistest du uns bei unserer kleinen Feier Gesellschaft?« Er füllte drei Pappbecher mit dampfendem Kaffee.
»Ich weiß zwar nicht, was es zu feiern gibt, aber ich bin mit von der Partie«, sagte Sampson, und die drei langten voller Begeisterung zu.
»Was gibt’s Neues, Ellery?« fragte der alte Mann und schlürfte zufrieden seinen Kaffee.
»Weder essen noch trinken die Götter«, brummte Ellery durch einen Windbeutel hindurch. »Ich bin nicht allwissend; wie wäre es, wenn du mir erzählen würdest, was in deiner improvisierten Folterkammer vorgefallen ist … Ich kann dir lediglich eine Sache erzählen, von der du noch nicht weißt. Mr. Libby von Libbys Eiscafé, woher auch dieses erstklassige Gebäck stammt, bestätigt Jess Lynchs Geschichte mit dem Ginger Ale. Miss Elinor Libby bestätigt aufs genaueste seinen Bericht darüber, was er danach gemacht hat.«
Mit einem riesigen Taschentuch tupfte sich Queen die Lippen ab. »Nun, laß Prouty trotzdem der Sache mit dem Ginger Ale nachgehen. Was mich betrifft, so habe ich einige Leute befragt und habe nun nichts mehr zu tun.«
»Vielen Dank«, bemerkte Ellery trocken. »Das war ein vollständiger Bericht. Hast du den Staatsanwalt bereits mit den Ereignissen dieses turbulenten Abends vertraut gemacht?«
»Ich weiß bisher nur folgendes, meine Herren«, sagte Sampson und stellte seinen Becher ab. »Vor etwa einer halben Stunde rief mich ›einer meiner sehr guten Freunde‹ an, der – wie es sich gerade trifft – einigen Einfluß hinter den Kulissen ausübt, und teilte mir recht unmißverständlich mit, daß während der heutigen Abendvorstellung ein Mann ermordet worden sei. Inspektor Richard Queen wäre zusammen mit seinem Gefolge wie ein Wirbelwind über das Publikum hergefallen und hätte dann die Leute über eine Stunde lang warten lassen – ein unverzeihliches und völlig ungerechtfertigtes Vorgehen, wie mein Freund es nannte. Zudem brachte er vor, daß besagter Inspektor sogar so weit gegangen sei, ihn persönlich des Verbrechens zu beschuldigen und ihn, seine Frau und seine Tochter von unverschämten Polizisten durchsuchen zu lassen, bevor sie das Theater verlassen durften.
So weit also die Version meines Informanten; der Rest der Unterhaltung war weniger gewählt im Ton und braucht hier nicht wiedergegeben zu werden. Das einzige, was ich sonst noch weiß, habe ich draußen von Velie erfahren, nämlich wer der Ermordete war. Und das, meine Herren, war bis jetzt für mich das Interessanteste an der ganzen Geschichte.«
»Du weißt über diesen Fall schon fast genauso viel wie ich«, brummte Queen. »Wahrscheinlich sogar mehr; denn ich kann mir vorstellen, daß du recht gut über Fields Geschäfte informiert bist … Ellery, was geschah draußen während der Durchsuchungsaktion?«
Ellery schlug bequem die Beine übereinander. »Wie du dir vielleicht schon gedacht hast, verlief die Durchsuchung des Publikums vollkommen ergebnislos. Es wurde nichts Außergewöhnliches gefunden. Nicht ein einziger Gegenstand. Niemand machte ein schuldbewußtes Gesicht, und niemand wollte es auf sich nehmen, zu gestehen. Mit anderen Worten – es war ein totaler Mißerfolg.«
»Natürlich, natürlich«, sagte Queen. »Hinter der ganzen Sache steckt ein besonders kluger Kopf. Vermutlich ist euch auch nicht die kleinste Spur eines nicht einmal verdächtig aussehenden überzähligen Huts untergekommen?«
»Um die zu finden, Vater, habe ich das Foyer mit meiner Anwesenheit beehrt«, bemerkte Ellery. »Nein – kein Hut zuviel«
»Sind inzwischen alle durch?«
»Sie waren gerade fertig, als ich hinüber auf die andere Straßenseite schlenderte, um Verpflegung zu holen«, sagte Ellery. »Es blieb nichts anderes mehr zu tun, als dem zornigen Haufen oben auf dem Balkon die Erlaubnis zu geben, herunterzukommen und das Theater zu verlassen. Es sind jetzt alle draußen – die Zuschauer von oben, die Angestellten, die Mitglieder des Ensembles. Ein seltsames Völkchen, diese Schauspieler. Jeden Abend stehen sie wie unsterbliche Götter im Rampenlicht, und dann finden sie sich plötzlich wieder in ihren normalen Straßenanzügen und Kleidern mit all den menschlichen Problemen. Übrigens, Velie hat auch die fünf Leute, die hier aus dem Büro kamen, durchsuchen lassen. Die junge Dame war ziemlich aufgeregt. Miss Ives-Popes und ihr Anhang, vermute ich … Hätte mich nicht gewundert, wenn du das vergessen hättest«, sagte er schmunzelnd.
»Wir sind also in einer ziemlich verzwickten Lage, was?« brummte der Inspektor. »Also hier noch einmal der ganze Hergang, Henry.« Und er gab Sampson, der schweigend und mit finsterer Miene zuhörte, eine knappe Zusammenfassung dessen, was sich an diesem Abend zugetragen hatte.
»Und das«, schloß Queen, nachdem er noch kurz die Ereignisse, die in dem kleinen Büro stattgefunden hatten, beschrieben hatte, »ist alles. Henry, jetzt hast du uns sicherlich etwas über Monte Field mitzuteilen. Wir wissen, daß er ein raffinierter Kerl war – aber mehr auch nicht.«
»Das wäre noch milde ausgedrückt«, sagte Sampson wütend. »Ich kann seine Lebensgeschichte fast schon auswendig herunterbeten. Es sieht so aus, als hättet ihr eine schwierige Aufgabe vor euch, und irgendein Vorfall in seiner Vergangenheit könnte vielleicht ein Anhaltspunkt für euch sein.
Field war bereits zur Zeit meines Vorgängers zum ersten Mal einer genaueren Beobachtung unterzogen worden. Er stand im Verdacht, an unsauberen Maklergeschäften beteiligt gewesen zu sein. Cronin, der damalige Assistent des Staatsanwalts, konnte ihm nichts nachweisen. Field hatte seine Unternehmungen bestens abgesichert. Alles, was wir in der Hand hatten, war der Bericht eines Zuträgers, der wahr oder aber auch unwahr hätte sein können, eines Spitzels, der von seiner Bande rausgeschmissen worden war. Natürlich ließ Cronin Field weder direkt noch indirekt wissen, daß er unter Verdacht stand. Die ganze Angelegenheit geriet allmählich in Vergessenheit; obwohl Cronin hartnäckig war, stellte sich jedes Mal, wenn er dachte, er hätte etwas gegen Field in der Hand, wieder heraus, daß es doch nichts war. Ja, Field war ausgesprochen raffiniert.
Als ich mein Amt antrat, begannen wir auf Cronins dringendes Anraten hin mit einer erschöpfenden Untersuchung von Fields persönlichem Hintergrund. Natürlich im Geheimen. Herausgefunden haben wir das folgende: Monte Field stammt aus einer wirklich guten Familie aus Neuengland – einer Familie, die es nicht nötig hat, ständig auf ihre Vorfahren von der ›Mayflower‹ hinzuweisen. Als Kind hatte er Privatunterricht, ging anschließend auf eine vornehme Mittelschule, wo er nur mit knapper Not durchkam, und wurde dann – ein letzter verzweifelter Versuch – von seinem Vater nach Harvard geschickt. Er scheint damals schon ein ziemliches Früchtchen gewesen zu sein. Nicht kriminell, aber ziemlich ungestüm. Andererseits muß er da noch ein Fünkchen Ehrgefühl gehabt haben; denn als es zum ersten großen Krach kam, änderte er tatsächlich seinen Namen. Sein Familienname war Fielding – er machte Monte Field daraus.«
Queen und Ellery nickten; Ellerys Blick war eher nach innen gewandt, Queen hielt den Blick unverwandt auf Sampson gerichtet.
»Field«, fuhr Sampson fort, »war jedoch kein völliger Versager. Er hatte Verstand. Er absolvierte ein ausgezeichnetes Jurastudium in Harvard. Eine besondere Begabung schien er für die Redekunst zu haben, wobei ihm noch beträchtlich seine gründliche Kenntnis der juristischen Fachterminologie zur Hilfe kam. Aber kurz nach seinem Examen, noch bevor seine Familie überhaupt die Freude über sein erfolgreiches Studium ganz auskosten konnte, war er in eine schmutzige kleine Sache mit einem Mädchen verwickelt. Sein Vater brach mit ihm auf der Stelle und enterbte ihn. Er war erledigt – er hatte den Namen der Familie in den Schmutz gezogen –, die übliche Geschichte …
Nun, anscheinend ließ sich unser Freund aber nicht vom Kummer überwältigen. Er machte das Beste aus dem Verlust seines netten kleinen Erbteils; er beschloß, draußen auf eigene Faust an Geld zu kommen. Wie er es schaffte, in der ersten Zeit zurecht zu kommen, haben wir nicht herausfinden können; das nächste, was uns von ihm zu Ohren kam, war, daß er mit einem Kerl namens Cohen, einem der raffiniertesten Winkeladvokaten der Stadt, eine Teilhaberschaft einging. Was für ein tolles Paar muß das gewesen sein! Sie heimsten ein Vermögen ein, indem sie sich eine feste Klientel verschafften, die sich aus den größten Gaunern der Unterwelt zusammensetzte. Ihr wißt ja so gut wie ich, wie schwer es ist, einem solchen Kerl, der sich besser mit den Hintertürchen im Gesetz auskennt als die Richter des Obersten Gerichtshofs, etwas anzuhängen. Sie kamen einfach mit allem durch – es war die goldene Zeit des Verbrechens. Gauner hielten sich dann für erstklassig, wenn Cohen & Field sich herabließen, ihre Verteidigung zu übernehmen.
Und dann fand Mr. Cohen, der der Erfahrenere in dem Gespann war, alle Kniffe kannte und die Kontakte mit den Klienten der Praxis herstellte sowie die Gebühren festsetzte und der das alles wunderbar bewerkstelligte trotz seiner Unfähigkeit, ein tadelloses Englisch zu sprechen – dieser Mr. Cohen fand in einer Winternacht am Ufer des North River ein sehr trauriges Ende. Er wurde tot mit einer Kugel im Kopf aufgefunden; und obwohl nun zwölf Jahre vergangen sind seit diesem freudigen Ereignis, ist der Mörder immer noch unbekannt. Unbekannt im streng juristischen Sinne. Wir hatten einen ziemlich starken Verdacht, was die Identität des Täters betrifft. Ich wäre ganz und gar nicht überrascht, wenn wir mit Mr. Fields Tod auch die Akte Cohen schließen könnten.«
»So einer war das also«, murmelte Ellery. »Sogar tot sah sein Gesicht noch äußerst unangenehm aus. Wirklich zu schade, daß mir seinetwegen eine Erstausgabe durch die Lappen ging.«
»Vergiß es, du Bücherwurm«, brummte sein Vater. »Erzähl weiter, Henry.«
Sampson nahm das letzte Stück Kuchen vom Schreibtisch und biß herzhaft hinein. »Nun kommen wir zu einem lichten Punkt in Mr. Fields Leben; denn nach dem unglückseligen Hinscheiden seines Partners schien er ein neues Leben anfangen zu wollen. Er fing tatsächlich an zu arbeiten, wirklich legal zu arbeiten, und natürlich hatte er auch die Fähigkeiten, das erfolgreich zu tun. Mehrere Jahre lang arbeitete er allein; er versuchte nach und nach, den schlechten Ruf, den er in seinem Beruf hatte, loszuwerden. Hier und da gelang es ihm sogar, sich ein wenig Anerkennung von den hochnäsigen Leuchten der Justiz zu verschaffen.
Diese Zeit offensichtlich guter Führung währte ungefähr sechs Jahre lang. Dann traf er auf Ben Morgan, einen zuverlässigen Mann mit einer weißen Weste und einem guten Ruf, dem vielleicht nur ein wenig dieses entscheidende Fünkchen abging, das einen großen Rechtsanwalt ausmacht. Irgendwie überredete Field Morgan, sich mit ihm in einer Anwaltspraxis zusammenzuschließen. Und dann kamen die Dinge ins Rollen.
Ihr werdet euch sicherlich daran erinnern, daß sich zu dieser Zeit in New York eine Reihe höchst zwielichtiger Dinge abspielte. Wir bekamen Wind von einer riesigen Verbrecherorganisation, die sich aus Hehlern, Gaunern, Anwälten und auch einigen Politikern zusammensetzte. Einige bemerkenswerte Raubzüge wurden durchgeführt; Alkoholschmuggel wurde ein florierender Geschäftszweig in den Vororten; und einige tolldreiste bewaffnete Raubüberfälle mit Todesfolge hielten unsere Abteilung auf Trab. Aber ihr wißt das genauso gut wie ich. Ein paar von den Burschen habt ihr geschnappt; aber sprengen konntet ihr den Ring nie, und an die Leute weiter oben seid ihr nicht herangekommen. Und ich habe guten Grund zu der Annahme, daß unser unlängst verstorbener Freund Mr. Monte Field als Kopf hinter diesen ganzen Unternehmungen stand.
Überlegt nur, wie einfach es für jemanden mit seiner Begabung war. Unter der Anleitung von Cohen, seinem ersten Partner, waren seine guten Beziehungen zu den Bossen der Unterwelt hergestellt worden. Als Cohen zu nichts mehr zu gebrauchen war, wurde er folglich umgelegt. Dann – denkt daran, daß ich hauptsächlich auf Vermutungen aufbaue, weil es so gut wie keine Beweise gibt –, dann begann Field unter dem Deckmantel einer korrekten, redlichen Anwaltspraxis in aller Ruhe eine weitverzweigte Verbrecherorganisation aufzubauen. Wie er das zuwege brachte, entzieht sich leider unserer Kenntnis. Als er dann fast bereit war loszuschlagen, verband er sich mit einem bekannten und angesehenen Partner, Morgan, und begann nun aus gesicherter Stellung heraus die meisten der in den letzten fünf Jahren durchgeführten großen Verbrechen in die Wege zu leiten.«
»Wo kommt dieser Morgan ins Spiel?« fragte Ellery träge.
»Darauf wollte ich gerade zu sprechen kommen. Wir können davon ausgehen, daß Morgan absolut nichts mit Fields geheimer Tätigkeit zu tun hatte. Er ist grundehrlich und hat oft Fälle abgelehnt, wenn der Klient ein zwielichtiger Charakter war. Ihre Beziehungen müssen bereits sehr gespannt gewesen sein, als Morgan einen Tip bekam, was wirklich vorging. Ob das alles so stimmt, weiß ich nicht genau, aber das könntest du leicht aus Morgan selbst herausbekommen. Auf jeden Fall brachen sie miteinander. Seit der Trennung hat Field etwas weniger versteckt operiert; aber immer noch gibt es nicht die Spur eines handfesten Beweises, der vor Gericht Bestand haben würde.«
»Entschuldige bitte die Unterbrechung, Henry«, sagte Queen nachdenklich, »aber kannst du mir nicht über den Bruch zwischen den beiden ein paar mehr Informationen geben? Damit ich über Morgan Bescheid weiß, wenn ich nochmals mit ihm rede.«
»Mit Vergnügen«, erwiderte Sampson grimmig. »Gut, daß du mich daran erinnert hast. Bevor noch das letzte Wort in der Auflösung ihrer Partnerschaft gesprochen war, kam es zu einem fürchterlichen Krach zwischen den beiden, der beinahe mit einem Unglück endete. Im Webster Club, wo sie zu Mittag aßen, hörte man sie heftig miteinander streiten. Die Auseinandersetzung spitzte sich dermaßen zu, daß es einigen Zuschauern nötig erschien einzugreifen. Morgan war vollkommen außer sich vor Wut und stieß bei der Gelegenheit sogar Drohungen gegen Fields Leben aus. Soviel ich weiß, war Field ziemlich gelassen.«
»Hatte keiner der Zeugen mitbekommen, worum es bei dem Streit ging?« fragte Queen.
»Leider nicht. Die Sache war übrigens schnell wieder vergessen; die beiden gingen friedlich auseinander. Und das war alles, was man jemals wieder darüber gehört hat. Abgesehen von heute abend natürlich.«
Nachdem der Staatsanwalt seine Ausführungen beendet hatte, trat ein bedeutungsvolles Schweigen ein. Ellery pfiff einige Takte eines Schubertliedes, während Queen mit grimmigem Nachdruck eine Prise Schnupftabak zu sich nahm.
»Zunächst einmal würde ich meinen, daß Mr. Morgan ganz schön in der Tinte sitzt«, murmelte Ellery und schaute dabei ins Leere.
Sein Vater brummte zustimmend. Sampson sagte ernst: »Nun gut, das ist eure Angelegenheit, Gentlemen. Ich weiß, was ich zu tun habe. Jetzt, wo Field aus dem Weg geräumt ist, werde ich seine Akten und seine Aufzeichnungen auf das genaueste durchkämmen lassen. Ich hoffe doch, daß seine Ermordung wenigstens zur völligen Zerschlagung seiner Organisation führen wird. Morgen früh wird einer von meinen Männern in seinem Büro sein.«
»Einer von meinen Männern hat dort schon sein Lager aufgeschlagen«, bemerkte Queen zerstreut. »Du glaubst also, daß es Morgan war?« sagte er und blickte Ellery fragend an.
»Es scheint mir fast, ich hätte vor etwa einer Minute eine Bemerkung in dem Sinne gemacht, daß Mr. Morgan ziemlich in der Tinte sitzt«, sagte Ellery ruhig. »Weiter habe ich mich nicht festgelegt. Ich gebe zu, daß Morgan der richtige Mann zu sein scheint. – Von einer Sache jedoch abgesehen, Gentlemen«, fügte er hinzu.
»Dem Hut«, sagte Inspektor Queen sofort.
»Nein«, sagte Ellery, »dem anderen Hut.«
in welchem die Queens Bestandsaufnahme machen
»Mal sehen, wo wir im Augenblick stehen«, fuhr Ellery ohne Unterbrechung fort. »Laß uns die Angelegenheit mal auf die grundlegenden Einzelheiten reduziert betrachten.
Das sind in etwa die uns bekannten Fakten: Ein Mann von etwas zweifelhaftem Charakter, Monte Field, möglicherweise der Kopf einer weitreichenden Verbrecherorganisation mit zweifellos einer Menge Feinde, wird ermordet im Römischen Theater aufgefunden, zehn Minuten vor dem Ende des zweiten Aktes um genau 9:55. Er wird von einem Mann namens William Pusak entdeckt, einem ziemlich einfältigen Büroangestellten, der fünf Plätze weiter in derselben Reihe sitzt. Bei dem Versuch, seine Sitzreihe zu verlassen, muß dieser Mann an dem Opfer vorbei, das, bevor es stirbt, noch ›Mord! Bin ermordet worden!‹ oder so etwas Ähnliches flüstert.
Ein Polizist wird herbeigerufen, der sich, um sicherzugehen, daß der Mann tot ist, der Hilfe eines Arztes aus dem Publikum bedient; der erklärt, daß das Opfer an einer Art Alkoholvergiftung gestorben ist. Später bestätigt Dr. Prouty, der Polizeiarzt, diese Aussage, fügt hinzu, daß es da einen störenden Umstand gibt: Niemand würde so schnell an einer tödlichen Dosis Alkohol sterben. Die Frage nach der Todesursache muß daher im Augenblick unbeantwortet bleiben, da nur eine Autopsie sie mit Sicherheit bestimmen kann.
Da er ein großes Publikum zu beaufsichtigen hat, ruft der Polizist Hilfe herbei; Kollegen aus der näheren Umgebung kommen hinzu, um Aufsichtspflichten zu übernehmen, und schließlich kommen auch die Männer aus dem Präsidium an, um die eigentliche Untersuchung durchzuführen. Die erste wichtige Frage, die sich stellt, ist, ob der Mörder Gelegenheit hatte, den Tatort in dem Zeitraum zwischen Ausübung der Tat und ihrer Entdeckung zu verlassen. Doyle, der Polizist, der als erster am Ort des Geschehens war, gab dem Manager unverzüglich die Order, alle Ausgänge und die beiden Seitenwege mit Wachposten zu besetzen.
Als ich ankam, dachte ich genau an diesen Punkt zuallererst und führte selbst eine kleine Untersuchung durch. Ich ging an allen Ausgängen vorbei und befragte die Wachposten. Ich stellte fest, daß während des gesamten zweiten Aktes Aufseher an allen Ausgängen gestanden hatten – von zwei Ausnahmen abgesehen, auf die ich gleich noch zu sprechen komme. Anhand der Zeugenaussage des Getränkejungen Jess Lynch wurde ermittelt, daß das Opfer sich nicht nur in der Pause zwischen dem ersten und dem zweiten Akt – wo der Zeuge Field sah und mit ihm sprach –, sondern auch noch zehn Minuten, nachdem der Vorhang zum zweiten Akt hochgegangen war, offensichtlich guter Gesundheit erfreute. Das war, als der Junge die Flasche Ginger Ale bei Field ablieferte; dieser saß genau auf dem Platz, auf dem er später tot aufgefunden wurde. Was das Innere des Theaters betrifft, so konnte ein Platzanweiser, der am Fuße des Aufgangs zum Balkon postiert war, beschwören, daß während des zweiten Aktes weder jemand hinauf- noch heruntergegangen war. Damit scheidet die Möglichkeit, daß der Mörder Zugang zum Balkon hatte, aus.
Die zwei Ausnahmen, die ich erwähnte, sind die beiden Türen auf der äußersten Linken, die zwar hätten bewacht sein sollen, es aber nicht waren, weil die Platzanweiserin, Madge O’Connell, im Zuschauerraum neben ihrem Liebsten saß. Dadurch erschien es mir zumindest möglich, daß der Mörder durch eine der beiden Türen, die für eine Flucht günstig gelegen waren, hätte verschwinden können, sofern er dies gewollt hätte. Auch diese Möglichkeit konnte jedoch durch die Aussage dieser Madge O’Connell ausgeschlossen werden, die ich noch einmal unter die Lupe nahm, nachdem sie von Vater befragt worden war.«
»Du hast wohl heimlich mit ihr gesprochen, du Schlingel?« bemerkte Queen mit donnernder Stimme.
»Genau das hab’ ich getan«, antwortete Ellery leise vor sich hin lachend, »und ich habe die eine wichtige Tatsache entdeckt, auf die es zum gegenwärtigen Zeitpunkt der Untersuchung anzukommen scheint. Die O’Connell hat geschworen, daß sie, bevor sie die Ausgänge verließ, um sich neben Pfarrer Johnny zu setzen, die Türen von innen verriegelte. Als die Unruhe ausbrach, stürzte sie von der Seite des Pfarrers weg und fand die Türen verschlossen, wie sie sie zurückgelassen hatte; sie entriegelte sie, während Doyle versuchte, das Publikum im Zaum zu halten. Sofern sie nicht gelogen hat – und ich glaube nicht, daß sie das hat –, beweist dies, daß der Mörder nicht durch eine der Türen geflohen ist, da diese zu dem Zeitpunkt, als die Leiche entdeckt wurde, immer noch von innen verriegelt waren.«
»Das darf doch wirklich nicht wahr sein!« schimpfte Queen. »Davon hat sie mir nicht einen Ton gesagt. Zum Teufel mit ihr! Warte, bis ich die in die Finger kriege!«
»Bleib doch bitte sachlich, Hüter des Gesetzes«, lachte Ellery. »Der Grund dafür, daß sie dir nichts von den verriegelten Türen erzählt hat, ist, daß du sie nicht danach gefragt hast. Sie spürte, daß sie sich ohnehin schon in einer etwas ungemütlichen Position befand.
Wie dem auch sei, auf diese Aussage hin können wir auch die beiden Ausgänge in der Nähe des Ermordeten streichen. Man muß aber zugeben, daß noch andere Möglichkeiten mit ins Spiel kommen könnten – zum Beispiel die, daß Madge O’Connell eine Komplizin ist. Ich erwähne das nur als eine Möglichkeit, nicht einmal als Theorie. So oder so hätte es der Mörder meiner Meinung nach nicht riskiert, beim Verlassen einer der Nebenausgänge gesehen zu werden. Außerdem wäre ein Abgang auf so ungewöhnliche An und Weise und zu einem so ungewöhnlichen Zeitpunkt um so auffälliger gewesen, als nur wenige Leute während des zweiten Aktes weggehen. Und dazu noch – der Mörder hätte das Pflichtversäumnis der O’Connell nicht vorhersehen können, es sei denn, sie war seine Komplizin. Da das Verbrechen sorgfältig geplant war – und dafür spricht aller Anschein –, wird der Mörder die Seitentüren als Fluchtweg von vornherein ausgeschlossen haben.
Nachdem diese Möglichkeit ausgesondert war, blieb – meiner Meinung nach – nur noch eine Richtung, in die weiter ermittelt werden konnte. Das war der Haupteingang. Doch auch hier erhielten wir eine eindeutige Zeugenaussage durch den Kartenkontrolleur und den Portier draußen; niemand hat das Gebäude auf diesem Wege während des zweiten Aktes verlassen. Mit Ausnahme natürlich des unverdächtigen Getränkejungen.
Da alle Ausgänge bewacht oder verschlossen waren, der Seitengang von 9:35 an unter permanenter Aufsicht von Lynch, Elinor, Johnny Chase – dem Platzanweiser – und später durch die Polizei stand – da dies also die Tatsachen sind, führt meine gesamte Befragung und Überprüfung, meine Herren«, fuhr Ellery in bedeutungsvollem Tonfall fort, »zu dem unausweichlichen Schluß, daß von dem Zeitpunkt an, als der Mord entdeckt wurde, und während der ganzen folgenden Zeit, während der die Untersuchung stattfand, der Mörder im Theater war!«
Ellerys Ausführungen wurden mit Schweigen aufgenommen. »Zufällig«, fügte er ruhig hinzu, »fiel mir, als ich mit den Platzanweisern sprach, ein, danach zu fragen, ob sie jemanden bemerkt haben, der nach Beginn des zweiten Aktes seinen Platz verließ; sie können sich an niemanden erinnern, der seinen Platz gewechselt hat!«
Queen nahm träge eine weitere Prise Schnupftabak. »Gute Arbeit – und eine sehr saubere Beweisführung, mein Sohn –, aber trotz allem nichts, was überraschend oder überzeugend wäre. Angenommen es stimmt, daß der Mörder die Zeit über im Theater war – wie hätten wir ihn denn überhaupt schnappen können?«
»Er hat nicht gesagt, daß du das gekonnt hättest«, warf Sampson lächelnd ein. »Sei nicht so empfindlich, alter Knabe; niemand will dich der Nachlässigkeit bei der Ausübung deiner Pflicht bezichtigen. Nach allem, was ich heute abend gehört habe, hast du die ganze Angelegenheit ausgezeichnet erledigt.«
Queen brummte. »Ich muß gestehen, ich ärgere mich ein wenig über mich selbst, weil ich der Sache mit den Türen nicht sorgfältiger nachgegangen bin. Aber selbst wenn es für den Mörder möglich gewesen wäre, das Theater direkt nach dem Verbrechen zu verlassen, hätte ich die Untersuchung in derselben Weise durchführen lassen müssen, wie ich es tat – allein auf die Möglichkeit hin, daß er sich immer noch im Theater aufhielt.«
»Aber Vater – natürlich!« sagte Ellery ernst. »Du mußtest dich schließlich um so viele Dinge kümmern, während ich nichts anderes zu tun hatte, als herumzustehen und weise dreinzuschauen.«
»Was ist mit den Leuten, die ihr schon näher unter die Lupe genommen habt?« fragte Sampson neugierig.
»Nun, was ist mit ihnen?« nahm Ellery den Faden wieder auf. »Zweifellos können wir weder aus ihren Aussagen noch aus ihren Handlungsweisen irgendwelche definitiven Schlüsse ziehen. Wir haben einmal Pfarrer Johnny, einen Schurken, der anscheinend nur hier war, um ein Stück zu genießen, das interessante Aufschlüsse über sein eigenes Metier bietet. Dann ist da noch Madge O’Connell, ein etwas zwielichtiger Charakter, über den wir uns beim augenblicklichen Stand der Dinge kein endgültiges Bild machen können. Sie könnte eine Komplizin sein – sie konnte unschuldig sein – sie könnte einfach nachlässig sein – sie könnte fast alles sein. Dann haben wir William Pusak, der Field gefunden hat. Haben Sie die auf leichten Schwachsinn hindeutende Form seines Schädels bemerkt? Und Benjamin Morgan – auch hier sind wir völlig auf Spekulationen angewiesen. Was wissen wir schon über seine Aktivitäten heute abend? Natürlich klingt seine Geschichte mit dem Brief und dem beigefügten Ticket seltsam, weil jeder den Brief hätte schreiben können, sogar Morgan selbst. Und wir dürfen nicht die öffentliche Drohung gegen Field vergessen; und ebenso nicht die Feindschaft, die seit zwei Jahren zwischen ihnen bestand. Und zu guter Letzt haben wir Miss Frances Ives-Pope. Es tut mir außerordentlich leid, daß ich während der Befragung nicht dabei war. Die Tatsache bleibt nun einmal bestehen – und das ist doch nicht uninteressant –, daß ihre Handtasche in einer der Taschen des Toten gefunden worden ist. Erkläre das, wer will.
Das wäre also der augenblickliche Stand«, fuhr Ellery traurig fort. »Das ganze Ergebnis unserer heutigen Abendunterhaltung ist ein Zuviel an Verdachtsmomenten und ein Zuwenig an Fakten.«
»Bisher, mein Sohn«, sagte Queen gemütlich, »bist du ja noch auf ziemlich sicherem Terrain geblieben. Aber du hast zum Beispiel die wichtige Sache mit den verdächtig leeren Plätzen vergessen. Ebenso die verblüffende Tatsache, daß Fields Kontrollabschnitt und der einzige andere Abschnitt, der dem Mörder gehört haben könnte – ich meine den Abschnitt zu LL30 Links, den Flint gefunden hat –, daß diese beiden Abschnitte nicht zueinander passen. Das heißt, die abgerissenen Seiten weisen darauf hin, daß der Kartenkontrolleur sie zu unterschiedlichen Zeitpunkten einkassiert hat!«
»Richtig«, sagte Ellery. »Aber lassen wir das für einen Moment beiseite und beschäftigen uns mit dem Problem von Fields Zylinder.«
»Der Hut – nun, wie denkst du darüber?« fragte Queen neugierig.
»Ich sehe das so. Zunächst einmal haben wir eindeutig festgestellt, daß der Hut nicht zufällig fehlt. Der Ermordete wurde von Jess Lynch mit dem Hut in der Hand gesehen, zehn Minuten, nachdem der zweite Akt begonnen hatte. Da er jetzt fehlt, ist die einzig schlüssige Theorie, die sein Fehlen erklärt, daß der Mörder ihn mitgenommen hat. Nun – vergessen wir für einen Augenblick das Problem, wo sich der Hut augenblicklich befindet. Die unmittelbare Schlußfolgerung ist, daß der Hut aus einem der zwei folgenden Gründe entfernt wurde. Erstens: Der Hut selbst war belastend und hätte – wäre er zurückgelassen worden – auf die Identität des Mörders hingewiesen. Welcher Art dieser belastende Hinweis gewesen wäre, können wir im Augenblick nicht einmal vermuten. Zweitens: Der Hut hat etwas enthalten, das der Mörder haben wollte. Man könnte einwerfen: Warum hat er nicht den geheimnisvollen Gegenstand genommen und den Hut zurückgelassen? Vielleicht, wenn diese Annahme richtig ist, weil er entweder nicht genug Zeit hatte, ihn herauszuholen, oder weil er nicht wußte, wie er an ihn herankommen sollte, und deshalb den Hut mitnahm, um ihn in Ruhe zu untersuchen. Stimmst du mir soweit zu?«
Der Staatsanwalt nickte beifällig. Queen saß schweigend da und blickte vor sich hin.
»Wir wollen einmal darüber spekulieren, was der Hut enthalten haben könnte«, nahm Ellery den Faden wieder auf, während er seinen Zwicker polierte. »Aufgrund von Größe und Form gibt es nur eingeschränkte Möglichkeiten. Was kann man in einem Zylinder verstecken? Die einzigen Dinge, die mir einfallen, sind: irgendwelche Papiere, Schmuck, Geldscheine oder andere kleine Wertgegenstände, die nicht so einfach in einem solchen Versteck entdeckt werden können. Es ist klar, daß der besagte Gegenstand kaum in der Höhlung des Hutes getragen wurde, da er jedes Mal herausgefallen wäre, wenn sein Träger ihn abgenommen hätte. Wir gelangen daher zu der Annahme, daß der Gegenstand, was auch immer es war, im Hutfutter versteckt war. Das schränkt unsere Liste der Möglichkeiten noch mehr ein. Feste Gegenstände von einiger Größe scheiden aus. Ein Schmuckstück hätte versteckt sein können; Geldscheine oder Dokumente hätten versteckt sein können. Von dem, was wir über Field wissen, können wir aber meiner Meinung nach das Schmuckstück ausschließen. Wenn er etwas von Wert bei sich trug, dann hatte es wahrscheinlich in irgendeiner Weise mit seinem Beruf zu tun.
Einen Punkt gibt es noch bei dieser vorläufigen Analyse der Zylinderfrage zu bedenken. Und, meine Herren, diese Überlegung könnte bald zum Dreh- und Angelpunkt des Falles werden. Es ist für uns von allerhöchster Bedeutung, herauszufinden, ob der Mörder von vornherein gewußt hat, daß es für ihn nötig sein würde, Monte Fields Zylinder an sich zu nehmen. Mit anderen Worten: Wußte der Mörder von der Bedeutung des Hutes, was auch immer sie gewesen sein mag? Ich behaupte, daß die vorliegenden Tatsachen – so logisch, wie das Tatsachen überhaupt können – beweisen, daß der Mörder nichts davon wußte.
Gebt genau acht … Da Monte Fields Zylinder fehlt und da kein anderer Zylinder an seiner Stelle gefunden wurde, ist das ein unbestreitbarer Hinweis darauf, daß es außerordentlich wichtig war, ihn mitzunehmen. Ihr müßt mir zustimmen, daß – wie ich bereits angedeutet habe – höchstwahrscheinlich der Mörder den Hut entfernt hat. Nun! Ungeachtet der Frage, warum er weggenommen werden mußte, stehen wir vor zwei Alternativen: der einen, daß der Mörder von Anfang an wußte, daß er ihn mitnehmen mußte, oder der zweiten, daß er es nicht von vorneherein wußte. Laßt uns die Möglichkeiten im ersten Fall durchspielen. Wenn er es vorher gewußt hätte, kann vernünftiger- und logischerweise angenommen werden, daß er eher einen Hut mit ins Theater gebracht hätte, um den von Field zu ersetzen, als eine offensichtliche Spur, die das Fehlen des Hutes nun einmal darstellt, zu hinterlassen. Es wäre das Sicherste gewesen, einen Ersatzhut mitzubringen. Der Mörder hätte keine Probleme mit der Beschaffung eines Ersatzhutes gehabt, da er sich rechtzeitig mit ausreichenden Informationen über Hutmaß, Zylindertyp und anderen kleinen Details hätte versorgen können, wenn er dessen Bedeutung von Anfang an gekannt hätte. Aber es gibt keinen Ersatzhut. Bei einem so sorgfältig geplanten Verbrechen wie diesem hier könnten wir mit gutem Recht einen Ersatzhut erwarten. Da es aber keinen gibt, bleibt uns nur der Schluß, daß der Mörder vorher nichts von der Bedeutung von Fields Hut gewußt hat; ansonsten wäre er mit Sicherheit klug genug gewesen, einen anderen Hut dazulassen. Auf diese Weise wäre der Polizei niemals aufgefallen, daß Fields Hut überhaupt eine Bedeutung hat.
Ein weiterer Punkt, der das bekräftigt: Auch wenn der Mörder aus irgendwelchen unklaren Gründen keinen Ersatzhut zurücklassen wollte, hätte er sich darauf vorbereitet, das, was im Hut war, herausschneiden zu können. Er hätte sich nur von vornherein mit einem scharfen Werkzeug – einem Taschenmesser zum Beispiel – ausstatten müssen. Der leere Hut hätte – selbst mit einigen Schnitten – nicht das Maß an Folgeproblemen mit sich gebracht wie der fehlende Hut. Der Mörder hätte diese Vorgehensweise sicher bevorzugt, wenn er Kenntnis vom Inhalt des Hutes gehabt hätte. Aber selbst das hat er nicht getan. Das, so scheint es, bestätigt in starkem Maße, daß er, bevor er ins Römische Theater kam, nicht gewußt hat, daß er einen Hut oder dessen Inhalt würde an sich nehmen müssen. Quod erat demonstrandum.«
Der Staatsanwalt betrachtete Ellery mit geschürzten Lippen. Inspektor Queen schien in völlige Lethargie verfallen zu sein. Seine Hand schwebte auf halbem Wege zwischen seiner Tabakdose und seiner Nase.
»Um was geht es eigentlich genau, Ellery?« wollte Sampson wissen. »Warum ist es für dich so wichtig zu wissen, daß der Mörder keine Vorkenntnis von der Bedeutung des Hutes gehabt hat?«
Ellery lächelte. »Es ist einfach so. Das Verbrechen wurde nach dem Beginn des zweiten Aktes begangen. Ich möchte bei meinen Überlegungen sichergehen, daß der Mörder, da er vorher nichts von der Bedeutung des Hutes wußte, die erste Pause nicht in irgendeiner Weise als wichtigen Bestandteil seines Planes genutzt haben kann … Natürlich, Fields Hut könnte irgendwo im Hause auftauchen, und seine Entdeckung würde alle diese Überlegungen wertlos machen. Aber – ich glaube nicht, daß er das wird …«
»Diese Analyse mag ein wenig einfach sein, mein Junge, aber mir scheint sie ausgesprochen logisch«, sagte Sampson zustimmend. »Du hättest Anwalt werden sollen.«
»Das Gehirn eines Queen ist unschlagbar«, lachte der alte Mann plötzlich vor sich hin; ein breites Lächeln stand auf seinem Gesicht. »Aber ich werde mich noch mit einer anderen Spur beschäftigen, die etwas mit diesem Huträtsel zu tun haben könnte. Ist dir der Name des Ausstatters aufgefallen, Ellery, der in Fields Mantel eingenäht war?«
»Nichts leichter als das«, antwortete Ellery grinsend. Er zog eines der schmalen Bändchen, die er in der Tasche seines Mantels trug, heraus, schlug es auf, und wies auf eine Notiz auf dem Vorsatzblatt. »Browne Bros., meine Herren – keine Geringeren als diese.«
»Richtig, und ich werde Velie morgen früh hinschicken, um das zu überprüfen«, sagte der Inspektor. »Es ist dir wahrscheinlich aufgefallen, daß Fields Kleidung von außerordentlich guter Qualität ist. Dieser Abendanzug kostet wenigstens dreihundert Dollar. Und Browne Bros. sind genau die Könner, die solch vornehme Preise verlangen. Es gibt noch einen anderen Punkt in diesem Zusammenhang: Jedes Kleidungsstück am Körper des Toten trug dieselbe Herstellerbezeichnung. Das ist bei wohlhabenden Männern nichts Ungewöhnliches; und es ist eine Spezialität von Browne, ihre Kunden von Kopf bis Fuß auszustatten. Was liegt also näher, als –«
»Als daß Field auch seine Hüte dort gekauft hat!« rief Sampson, so als sei er stolz auf seine Entdeckung.
»Richtig, Tacitus«, sagte Queen schmunzelnd. »Velie wird dieser Sache mit der Kleidung nachgehen und, wenn möglich, ein genaues Duplikat von Fields Hut anfertigen lassen. Ich bin richtig gespannt darauf, es mir anzusehen.«
Hustend stand Sampson auf. »Ich denke, ich sollte besser wieder ins Bett gehen«, sagte er. »Ich bin eigentlich nur hergekommen, um zu verhindern, daß du den Bürgermeister einsperrst. Junge, mein Freund war ganz schön böse! Das werde ich noch ewig zu hören kriegen!«
Queen sah ihn mit einem fragenden Lächeln an. »Bevor du gehst, Henry, würde ich gerne von dir wissen, wo genau ich bei diesem Fall dran bin. Ich weiß, daß ich heute abend reichlich eigenmächtig gehandelt habe, aber du mußt einsehen, wie nötig das war. Wirst du jemanden von deinen eigenen Leuten auf den Fall ansetzen?«
Sampson starrte ihn an. »Wie kommst du nur darauf, daß ich mit deiner Durchführung der Untersuchung nicht zufrieden war, alter Knabe!« knurrte er. »Ich habe dir nie Vorschriften gemacht und werde auch jetzt nicht damit beginnen. Wenn du diese Angelegenheit nicht zu einem erfolgreichen Abschluß bringen kannst, wüßte ich nicht, wer das sonst könnte. Mein lieber Q, mach weiter, und nimm halb New York in Haft, wenn du das für nötig hältst. Ich stehe hinter dir.«
»Danke, Henry«, sagte Queen. »Ich wollte nur sichergehen. Und nun, weil es dir so gut gefallen hat, solltest du dir meinen nächsten Zug ansehen!«
Er schlenderte durch das Zimmer in den Vorraum, steckte seinen Kopf durch die Türöffnung und rief: »Mr. Panzer, würden Sie für einen Augenblick herkommen?«
Grimmig lächelnd kam er zurück; der dunkelhäutige Theatermanager folgte auf dem Fuße.
»Mr. Panzer, das ist Staatsanwalt Sampson«, sagte Queen. Die beiden Männer gaben sich die Hand. »Nun, Mr. Panzer, ich habe noch eine Aufgabe für Sie, dann können Sie nach Hause und zu Bett gehen. Ich möchte, daß das Theater vorläufig geschlossen bleibt und zwar so fest, daß keine Maus hineingelangen kann!«
Panzer erblaßte. Sampson zuckte die Achseln, als wollte er die Verantwortung an dieser Aktion von sich schieben. Ellery nickte zustimmend.
»Aber – aber Inspektor, gerade jetzt, wo wir jeden Abend volles Haus haben!« stöhnte der kleine Manager. »Ist das wirklich nötig?«
»Es ist so nötig, mein lieber Mann«, antwortete der Inspektor kühl, »daß ich zwei Männer zur permanenten Bewachung des Gebäudes abstellen werde.«
Panzer rang mit den Händen und schielte zu Sampson hinüber. Aber der Staatsanwalt hatte ihnen den Rücken zugekehrt und betrachtete ein Bild, das an der Wand hing.
»Das ist furchtbar, Inspektor!« jammerte Panzer. »Ich kann mir lebhaft vorstellen, was Gordon Davis, der Produzent … Aber selbstverständlich, wenn Sie es anordnen, wird es auch geschehen.«
»Kopf hoch, Mann, sehen Sie doch nicht so schwarz«, sagte Queen freundlicher. »Sie werden dadurch so viel Publicity bekommen, daß Sie nach der Wiedereröffnung noch anbauen müssen. Und ich gehe sowieso nicht davon aus, daß das Theater für mehr als ein paar Tage geschlossen bleibt. Ich werde meinen Männern draußen die notwendigen Anordnungen geben. Sobald Sie Ihre Routinearbeit für heute abend erledigt haben, geben Sie meinen Männern Bescheid und gehen nach Hause. Ich werde Sie benachrichtigen, sobald Sie wieder aufmachen können.«
Panzer schüttelte betrübt den Kopf, gab allen die Hand und ging. Sampson stürzte sich sofort auf Queen und sagte: »Guter Gott, Q, ist das nicht übertrieben? Warum läßt du das Theater schließen? Du hast es doch schon völlig auf den Kopf gestellt, oder?«
»Das schon, Henry«, antwortete Queen bedächtig, »aber der Hut ist noch nicht gefunden worden. Die Leute haben nacheinander das Theater verlassen und sind durchsucht worden – jeder hatte nur einen Hut. Bedeutet das nicht, daß der Hut, nach dem wir suchen, noch irgendwo in der Nähe ist? Und wenn er das ist, werde ich niemandem die Gelegenheit geben, herzukommen und ihn herauszuholen. Wenn ihn jemand in die Finger kriegt, dann werde ich das sein.«
Sampson nickte. Ellery sah immer noch besorgt aus, als die drei Männer aus dem Büro in den fast leeren Zuschauerraum gingen. Hier und da beugte sich noch eine fleißige Gestalt über einen Sitz, um den Boden darunter zu untersuchen. Einige Männer kontrollierten die vorderen Logen. Sergeant Velie stand am Haupteingang und sprach leise mit Piggott und Hagstrom. Detective Flint, der eine Gruppe von Männern beaufsichtigte, arbeitete ganz vorne im Zuschauerraum. Ein kleines Grüppchen von Putzfrauen schob müde Staubsauger vor sich her. In einer Ecke, weiter im hinteren Teil, sprach eine füllige Polizistin mit einer älteren Frau, der Frau, die Panzer als Mrs. Phillips bezeichnet hatte.
Die drei Männer begaben sich zum Hauptausgang. Während Ellery und Sampson schweigend die stets deprimierende Atmosphäre eines verlassenen Zuschauerraumes betrachteten, sprach Queen rasch mit Velie und gab diesem halblaut Anweisungen. Schließlich drehte er sich um und sagte: »Nun, meine Herren, das wäre alles für heute nacht. Wir können gehen.«
Auf dem Gehweg hatten einige Polizisten einen größeren Bereich mit einem Seil abgesperrt, hinter dem sich eine große Schar Neugieriger versammelt hatte.
»Selbst um zwei Uhr morgens bevölkern diese Nachteulen den Broadway«, knurrte Sampson. Er verabschiedete sich mit einem Handzeichen und stieg in sein Auto, nachdem die Queens ein Mitfahrangebot höflich abgelehnt hatten. Eine Horde geschäftiger Reporter drängte sich durch die Menschenmenge hindurch und umringte sie.
»Na, na! Was soll das, meine Herren?« fragte der alte Mann unwirsch.
»Wie wär’s mit den genauen Fakten über heute abend, Inspektor?« fragte einer von ihnen aufdringlich.
»Ihr werdet alle Informationen bekommen, die ihr wollt, Jungs, von Detective-Sergeant Velie – drinnen.« Er lächelte, als sie daraufhin geschlossen durch die Glastüren stürzten.
Ellery und Richard standen schweigend auf der Bordsteinkante und beobachteten die Polizisten, die die Menschenmenge im Zaum hielten. Dann sagte der alte Mann in einem plötzlichen Anflug von Müdigkeit: »Komm, mein Sohn, laß uns ein Stück des Heimweges zu Fuß gehen.«