Vierter Teil

»Der perfekte Verbrecher ist ein Übermensch. Bei der Ausführung muß er übertrieben genau sein. Unbemerkt, fast unsichtbar, ein Einzelgänger. Er darf weder Freunde noch Angehörige besitzen. Er muß sich vor Fehlern in acht nehmen, blitzschnell denken und handeln können … Aber das ist noch nicht alles. Solche Männer gab es bereits … Außerdem muß er ein vom Schicksal Begünstigter sein – denn Umstände, über die er nicht die entfernteste Kontrolle hat, dürfen nie zu seinem Untergang führen. Dies ist meiner Ansicht nach schon sehr schwierig zu erlangen … Doch das letzte ist am allerschwierigsten. Er darf niemals sein Verbrechen wiederholen, noch die gleiche Waffe benutzen oder dasselbe Motiv haben … In all den vierzig Jahren meiner Dienstzeit bin ich nicht einmal auf den perfekten Verbrecher gestoßen oder habe in einem perfekten Verbrechen ermittelt.«

Aus Das amerikanische Verbrechertum und Methoden zu seiner Aufdeckung von Richard Queen

Neunzehntes Kapitel

in welchem Inspektor Queen weitere ernste Unterredungen führt



Vor allem Staatsanwalt Sampson fiel es auf, daß Inspektor Richard Queen an diesem Samstag abend nicht ganz er selbst zu sein schien. Der alte Mann war nervös, bissig und äußerst unangenehm im Umgang. Er schritt mürrisch über den Teppich im Büro des Managers Louis Panzer, biß sich auf die Lippen und brummte vor sich hin. Er schien die Anwesenheit von Panzer, Sampson und einer dritten Person, die noch nie im Allerheiligsten des Theaters gewesen war und die – mit Augen so groß wie Untertassen – zusammengehockt in einem von Panzers großen Stühlen saß, völlig vergessen zu haben. Diese dritte Person war Djuna, der Junge mit den leuchtenden Augen, dem das einmalige Privileg zukam, seinen grauhaarigen Herrn bei dessen letztem Ausflug ins Römische Theater zu begleiten.

In der Tat war Queen ausgesprochen deprimiert. Er war schon viele Male zuvor in seinem Beruf mit anscheinend unlösbaren Problemen konfrontiert gewesen; ebenso viele Male hatte er anscheinende Fehlschläge zu einem triumphalen Abschluß geführt. Sampson, der den alten Mann viele Jahre kannte und ihn noch nie so völlig aus der Fassung erlebt hatte, konnte sich daher das merkwürdige Verhalten des Inspektors kaum erklären.

Die schlechte Laune des alten Mannes hing jedoch nicht so sehr mit dem ausbleibenden Erfolg der Ermittlung in Sachen Field zusammen, wie Sampson sorgenvoll annahm. Der drahtige kleine Djuna, der mit offenem Mund in seiner Ecke saß, war der einzige Zeuge des unruhigen Umherwanderns des Inspektors, der den Grund dafür hätte benennen können. Djuna mit seiner Bauernschläue, ein geborener Beobachter, mit Queens Psyche vertraut dank einer liebevollen Zuneigung, wußte, daß die schlechte Verfassung einzig und allein mit Ellerys Abreise zusammenhing. Ellery hatte New York an diesem Morgen mit dem Expreßzug um 7.45 Uhr verlassen, nachdem er von seinem düster blickenden Vater noch zum Bahnhof geleitet worden war. Im letzten Moment hatte sich der junge Mann noch umentschieden und seinen Beschluß, auf die Reise nach Maine zu verzichten und bis zum Abschluß des Falles an der Seite seines Vaters zu bleiben, verkündet. Davon jedoch wollte der alte Mann nichts wissen. Er kannte seinen Sohn gut genug, um zu wissen, wie sehr sich dieser auf seinen Urlaub seit über einem Jahr gefreut hatte. Es lag nicht in seiner Absicht, seinen Sohn von dieser lang ersehnten Vergnügungsreise abzubringen, obwohl er auf dessen ständige Anwesenheit kaum verzichten konnte.

Dementsprechend hatte er Ellerys Angebot abgelehnt und ihn eigenhändig die Stufen zum Zug hinaufgeschubst, wobei er ihm zur Verabschiedung noch einen Klaps gab und ein müdes Lächeln zeigte. Ellerys letzte Worte von der Plattform, als der Zug schon aus dem Bahnhof ausfuhr, waren: »Ich werde dich nicht vergessen, Vater. Du wirst eher wieder von mir hören, als du denkst!«

Wie er nun den Flor von Panzers Teppich malträtierte, kam dem Inspektor die volle Bedeutung der Trennung erst voll zu Bewußtsein. Sein Kopf war leer, er fühlte sich kraftlos, schwach im Magen, und seine Augen blickten trübe. Er war völlig verstimmt und machte auch keinen Versuch, seinen gereizten Zustand zu verbergen.

»Es dürfte jetzt an der Zeit sein, Panzer«, fuhr er den stämmigen kleinen Manager an. »Wie lange braucht denn dieses verflixte Publikum, um hinauszukommen?«

»Noch einen kurzen Moment, Inspektor, einen kurzen

Moment«, antwortete Panzer. Der Staatsanwalt war immer noch mit den Auswirkungen seiner Erkältung beschäftigt, und Djuna starrte seinen Gott fasziniert an.

Als an der Türe geklopft wurde, wandten sie gleichzeitig ihre Kopfe. Harry Neilson, der flachshaarige Werbemann, streckte seinen eckigen Kopf durch die Türe. »Haben Sie was dagegen, wenn ich bei der Party dabei bin, Inspektor?« fragte er gutgelaunt. »Ich war von Anfang an dabei, und wenn es zu einem Ende kommen sollte – nun, ich will einfach in der Nähe sein, wenn Sie’s erlauben!«

Der Inspektor warf ihm mit zusammengezogenen Brauen einen mürrischen Blick zu. Er stand da in napoleonischer Manier; jedes Haar und jeder Muskel an ihm zeugten von seiner schlechten Laune. Inspektor Queen zeigte eine unerwartete Seite seines Charakters.

»Meinetwegen«, schnauzte er. »Auf einen mehr oder weniger kommt es auch nicht mehr an. Hier sind schon ganze Legionen versammelt.«

Neilson wurde rot und schien sich zurückziehen zu wollen, als der Inspektor ihm – schon wieder etwas besser gelaunt – zuzwinkerte.

»Kommen Sie, setzen Sie sich, Neilson«, sagte er nicht unfreundlich. »Kümmern Sie sich nicht um einen komischen alten Kauz wie mich. Ich bin nur ein bißchen müde. Ich brauche Sie vielleicht noch heute abend.«

»Ich bin froh, daß ich dabei sein kann, Inspektor«, sagte Neilson grinsend. »Was soll das werden – eine Art Inquisition wie in Spanien?«

»Etwas in der Art.« Der alte Mann runzelte die Stirn. »Aber warten wir’s ab.«


In diesem Moment wurde die Türe geöffnet, und Sergeant Velie trat mit forschen Schritten ins Zimmer. Er hatte ein Stück Papier in der Hand, das er dem Inspektor reichte.


»Alles da, Sir«, sagte er.


»Alle draußen?« fragte der Inspektor kurz.


»Ja, Sir. Ich habe die Putzfrauen angewiesen, hinunter in das Foyer zu gehen und dort zu warten, bis wir fertig sind. Die Kassierer sind nach Hause gegangen, ebenso die Platzanweiser. Das Ensemble ist hinter der Bühne, um sich umzuziehen, nehme ich an.«


»In Ordnung. Gehen wir, meine Herren.« Der Inspektor marschierte aus dem Zimmer – Djuna in seinem Gefolge, der den ganzen Abend keinen Ton geredet, sondern nur voller Bewunderung den Mund aufgesperrt hatte; einen Grund dafür hatte der sich darüber amüsierende Staatsanwalt nicht erkennen können. Mit Velie an der Spitze folgten Panzer, Sampson und Neilson ihnen ebenfalls nach.


Wieder einmal lag der Zuschauerraum verlassen vor ihnen, die leeren Sitzreihen öde und kalt. Die Beleuchtung war voll eingeschaltet, und das kalte Licht der Lampen leuchtete in jede Ecke des Parketts.


Als sich die fünf Männer und Djuna in Richtung des linken Seitenganges bewegten, tauchten einige Gesichter auf dem linken Teil des Parketts auf. Es wurde jetzt augenscheinlich, daß eine kleine Gruppe von Menschen auf die Ankunft des Inspektors wartete, der schweren Schrittes den Mittelgang hinunterging und sich so vor die links gelegenen Logen stellte, daß er von allen Anwesenden gesehen werden konnte. Panzer und Sampson standen am Ende des Ganges mit Djuna als aufgeregtem Zuschauer an ihrer Seite.


Die Mitglieder der versammelten Gruppe waren auf eigentümliche Weise plaziert worden. Von der ersten Sitzreihe in der Nähe des Inspektors, der ungefähr in der Mitte des Parketts stand, angefangen und dann weiter in Richtung des rückwärtigen Teils des Theaters waren nur die Sitze direkt zum Gang hin besetzt. Auf den jeweils letzten beiden Plätzen in zwölf Reihen war eine bunte Gesellschaft versammelt worden


– Männer und Frauen, alt und jung. Es waren dieselben Leute, die in der Nacht des Mordes die Plätze innegehabt hatten und die Inspektor Queen nach der Entdeckung der Leiche persönlich befragt hatte. Dort, wo Monte Field gesessen hatte, und auf den Plätzen direkt davor und daneben saßen nun William Pusak, Esther Jablow, Madge O’Connell, Jess Lynch und Pfarrer Johnny. Der Pfarrer blickte verstohlen um sich und flüsterte unruhig hinter seinen Nikotinfingern mit der Platzanweiserin.


Auf einen plötzlichen Fingerzeig des Inspektors hin verfielen alle in eine Grabesstille. Sampson, der die hell erleuchteten Lüster und Scheinwerfer, das verlassene Theater und den herabgelassenen Vorhang betrachtete, hatte das unbestimmte Gefühl, daß die Bühne für eine dramatische Enthüllung bereitet war. Er lehnte sich interessiert vor. Panzer und Neilson waren ruhig und aufmerksam. Djuna ließ den alten Mann nicht aus den Augen.


»Meine Damen und Herren«, sagte Queen in schroffem Ton, während er die versammelte Gesellschaft betrachtete, »ich habe Sie aus einem ganz bestimmten Grunde hierherbringen lassen. Ich werde Sie nicht länger als unbedingt nötig aufhalten, aber was nötig ist und was nicht, ist ausschließlich meine Angelegenheit. Wenn ich den Eindruck habe, daß ich nicht das bekomme, was ich für ehrliche Antworten auf meine Fragen halte, werden Sie alle so lange hierbleiben, bis ich mit Ihnen zufrieden bin. Ich möchte, daß Sie sich darüber völlig im klaren sind, bevor wir fortfahren.«


Er machte eine Pause und sah die vor ihm Versammelten durchdringend an. Er bemerkte ein Nachlassen der Aufmerksamkeit, ein kurzes Aufleben der Unterhaltungen, die jedoch schnell wieder zu einem abrupten Ende kamen.


»Am Montag abend«, fuhr der Inspektor mit frostiger Stimme fort, »waren Sie alle bei der Vorstellung in diesem Theater zugegen, und Sie saßen, mit Ausnahme einiger Angestellter und anderer Leute, die sich jetzt weiter hinten befinden, auf denselben Plätzen wie im Augenblick.« Sampson mußte grinsen, als er bemerkte, wie sich bei diesen Worten die Rücken aufrichteten, als würde jeder einzelne fühlen, wie der Sitz unter ihm plötzlich warm und unbequem wurde.


»Ich möchte, daß Sie sich vorstellen, daß wir jetzt Montag abend haben. Ich möchte, daß Sie sich an diesen Abend zurückversetzen und daß Sie versuchen, sich an alles zu erinnern, was geschah. Damit meine ich jede Einzelheit, die sich Ihnen eingeprägt hat, wie banal und anscheinend unbedeutend sie auch erscheinen mag …«


Der Inspektor fing gerade an, in Fahrt zu kommen, als eine Gruppe von Menschen im hinteren Teil des Parketts auftauchte. Sampson begrüßte sie flüsternd. Die kleine Gesellschaft bestand aus Eve Ellis, Hilda Orange, Stephen Barry, James Peale und drei oder vier anderen Mitgliedern des Ensembles von ›Spiel der Waffen‹. Sie hatten ihre eigenen Kleider angelegt. Peale flüsterte Sampson zu, daß sie geradewegs aus ihren Garderoben kamen und den Zuschauerraum betreten hatten, weil von dort Stimmen zu hören waren. »Queen hält eine kleine Versammlung ab«, gab Sampson flüsternd zurück.


»Glauben Sie, der Inspektor hat etwas dagegen, wenn wir ein Weilchen hierbleiben und zuhören?« fragte Barry leise, mit einem aufmerksamen Blick in Richtung des Inspektors, der verstummt war und eisig zu ihnen herüberstarrte.


»Ich weiß nicht, warum –«, setzte Sampson beunruhigt an, als Eve Ellis »Pst!« murmelte und damit alle zum Schweigen brachte.


»Nun –« sagte der Inspektor in giftigem Ton, nachdem die Unruhe sich gelegt hatte, »die Sache sieht so aus. Denken Sie daran, es ist wieder Montag abend. Der Vorhang zum zweiten Akt ist hochgegangen, und das Theater ist dunkel. Auf der Bühne geht es sehr laut zu, und Sie beobachten gespannt die aufregenden Geschehnisse des Stückes … Hat irgend jemand von Ihnen, vor allem von denjenigen, die auf den Eckplätzen sitzen, zu diesem Zeitpunkt irgend etwas Merkwürdiges, Ungewöhnliches oder Störendes um sich herum oder in seiner Nähe bemerkt?«


Er machte eine erwartungsvolle Pause. Man schüttelte verwirrt oder ängstlich die Köpfe. Niemand gab eine Antwort.


»Denken Sie genau nach«, knurrte der Inspektor. »Sie erinnern sich vielleicht, daß ich am Montag abend diesen Gang heruntergegangen bin und Sie in der gleichen Weise befragt habe. Natürlich will ich keine Unwahrheiten hören, und ich kann nicht gut erwarten, daß Sie mir jetzt etwas Sensationelles berichten, nachdem Sie sich Montag abend an nichts erinnern konnten. Aber wir sind in einer schlimmen Lage. Hier wurde ein Mann ermordet, und wir sind, offen gestanden, ratlos. Es ist einer der schwierigsten Fälle, mit dem wir es je zu tun gehabt haben! In einer solchen Situation, wo wir mit dem Rücken zur Wand stehen und einfach nicht weiter wissen – Sie sehen, ich bin genau so ehrlich, wie ich das von Ihnen erwarte –, muß ich mich an Sie als den Teil des Publikums wenden, der alleine am Montag abend in einer Position war, etwas Wichtiges wahrzunehmen, wenn es überhaupt etwas Wichtiges gab … Meiner Erfahrung nach passiert es recht häufig, daß jemand aus Nervosität oder Aufregung heraus wichtige Einzelheiten vergißt, an die man sich nach einigen Stunden, Tagen oder Wochen, in denen Normalität eingekehrt ist, wieder erinnert. Ich hoffe, daß etwas in der Art auch bei einem von Ihnen geschehen ist …«


Während der Inspektor diese bitteren Worte sprach, ging die Nervosität in gespannte Aufmerksamkeit über. Als er aufhörte zu reden, steckten die Anwesenden die Köpfe zusammen und flüsterten aufgeregt, schüttelten von Zeit zu Zeit die Köpfe und redeten hitzig mit leiser Stimme auf andere ein. Der Inspektor wartete geduldig. »Heben Sie Ihre Hand, wenn Sie mir etwas zu erzählen haben …«, sagte er. Eine Frau hob schüchtern ihre weiße Hand in die Höhe. »Ja, meine Dame?« rief Queen und zeigte mit dem Finger auf sie. »Erinnern Sie sich an etwas Ungewöhnliches?«


Eine verschrumpelte alte Dame stand verlegen auf und stotterte mit piepsiger Stimme. »Ich weiß nicht, ob das wichtig ist oder nicht, Sir«, sagte sie nervös. »Aber ich erinnere mich daran, daß irgendwann im zweiten Akt eine Frau – glaube ich – den Gang hinunter- und einige Sekunden später wieder heraufgegangen ist.«


»Wirklich? Das klingt interessant, gnädige Frau«, bemerkte der Inspektor. »Wissen Sie noch, wann das ungefähr war?«


»An die Uhrzeit kann ich mich nicht erinnern, Sir«, sagte sie mit schriller Stimme, »aber es war etwa zehn Minuten nach Beginn des Aktes.«


»Ich verstehe … Und können Sie sagen, wie diese Frau aussah? War sie jung oder alt? Was hatte sie an?«


Die alte Dame sah ihn gequält an. »Daran kann ich mich nicht genau erinnern, Sir«, stammelte sie. »Ich hab’ mich nicht weiter –«


Eine hohe helle Stimme unterbrach ihre Worte aus dem Hintergrund. Die Köpfe flogen herum. Madge O’Connell war aufgesprungen.


»Sie brauchen diese Show nicht wieder abzuziehen, Inspektor«, verkündete sie frech. »Die Dame sah mich den Gang herauf- und hinuntergehen. Das war, bevor ich – Sie wissen schon.« Sie zwinkerte dem Inspektor unverschämt zu.


Die Menschen schnappten nach Luft. Die alte Dame starrte in mitleiderregender Bestürzung erst auf die Platzanweiserin, dann auf den Inspektor und setzte sich schließlich wieder hin.


»Das ist nichts Neues mehr für mich«, sagte der Inspektor ruhig. »Nun, noch jemand?«


Niemand antwortete. Da ihm klar wurde, daß die Leute zu schüchtern sein könnten, um ihre Gedanken in aller Öffentlichkeit vorzutragen, begann Queen, die Reihen abzugehen und jede Person einzeln und in für andere unhörbarer Lautstärke zu befragen. Als er damit fertig war, kehrte er langsamen Schrittes zu seinem Ausgangspunkt zurück.


»Ich sehe ein, daß ich Ihnen, meine Damen und Herren, erlauben muß, in Ihre friedlichen Heimstätten zurückzukehren. Vielen Dank für Ihre Hilfe … Entlassen!«


Er schleuderte ihnen das letzte Wort entgegen. Sie starrten ihn verwirrt an, standen in flüsternden Gruppen von ihren Plätzen auf, nahmen ihre Mäntel und Hüte und begannen, unter Velies strengem Blick aus dem Theater zu marschieren. Hilda Orange, die in der kleinen Gruppe hinter der letzten Reihe stand, seufzte.


»Es ist fast peinlich zu sehen, wie enttäuscht der arme alte Mann ist«, sagte sie flüsternd zu den anderen. »Kommt, Leute, laßt uns auch gehen.« Die Schauspieler und Schauspielerinnen verließen das Theater zusammen mit dem Rest der Gesellschaft.


Als die letzten gegangen waren, marschierte der Inspektor den Gang hinauf und trat finsteren Blickes vor die kleine Gruppe, die übriggeblieben war. Sie schienen genau zu merken, wie es im Innern des alten Mannes brodelte, und duckten sich unwillkürlich. Aber in einem der für ihn charakteristischen Stimmungswechsel zeigte sich der Inspektor wieder von seiner menschlichen Seite.


Er ließ sich auf einem der Plätze nieder, verschränkte die Arme über der Rückenlehne und betrachtete in Ruhe Madge O’Connell, Pfarrer Johnny und die anderen.


»In Ordnung, Leute«, sagte er freundlich. »Wie steht’s mit dir, Pfarrer? Du bist ein freier Mann, brauchst dir keine Sorgen mehr wegen des Einbruchs zu machen und kannst jetzt wie jeder respektable Bürger frei heraus sprechen. Kannst du uns in dieser Angelegenheit behilflich sein?«


»Nein«, knurrte der kleine Gangster. »Ich hab’ alles gesagt, was ich weiß. Hab’ nichts zu sagen.«


»Ich verstehe … Weißt du, Pfarrer, daß wir an deinen Unternehmungen mit Field interessiert sind?« Der Gangster sah überrascht auf. »Oh, ja«, fuhr der Inspektor fort. »Wir wollen, daß du uns irgendwann etwas über deine früheren Geschäfte mit Field erzählst. Vergiß das nicht, ja? … Pfarrer«, sagte er plötzlich scharf, »wer hat Monte Field umgebracht? Wer hatte es auf ihn abgesehen? Wenn du’s weißt – heraus damit!«


»Ach, Inspektor«, jammerte der Pfarrer, »Sie wollen mir das doch nicht schon wieder anhängen, oder? Wie sollte ich das wissen? Field war ein raffinierter Bursche – er ging nicht mit seinen Feinden hausieren. Nein, Sir! Ich weiß nichts … Zu mir ist er immer gut gewesen, hat mir ein paarmal den Kopf aus der Schlinge gezogen«, gab er unumwunden zu. »Aber verdammt! Ich wußte nicht, daß er Montag abend hier war.«


Der Inspektor wandte sich an Madge O’Connell.


»Was ist mit Ihnen, O’Connell?« fragte er freundlich. »Mein Sohn, Mr. Queen, berichtete mir von Ihrem Geständnis am Montag abend, über die verschlossene Ausgangstür. Sie haben mir nichts davon erzählt. Was wissen Sie?«


Das Mädchen erwiderte gelassen seinen Blick. »Ich habe Ihnen schon einmal erzählt, Inspektor, daß ich nichts zu sagen habe.«


»Und Sie, William Pusak –«, wandte sich Queen an den kleinen verhutzelten Buchhalter. »Erinnern Sie sich an irgend etwas, das Sie Montag abend vergessen hatten?«


Pusak wackelte unruhig auf seinem Sitz herum. »Ich wollte es Ihnen schon längst sagen, Inspektor«, murmelte er unsicher. »Und als ich davon in der Zeitung las, fiel es mir wieder ein … Als ich mich Montag abend über Mr. Field beugte, roch er furchtbar nach Whisky. Ich weiß nicht, ob ich Ihnen das schon erzählt habe?«


»Danke schön«, bemerkte der Inspektor trocken. »Ein äußerst wichtiger Beitrag zu unserer kleinen Untersuchung. Sie können jetzt gehen. Sie alle …«


Der Getränkejunge Jess Lynch sah sehr enttäuscht aus. »Wollen Sie mich nicht auch noch sprechen, Inspektor?« fragte er besorgt.


Der Inspektor lächelte, obwohl er seinen Gedanken nachhing. »Ach, ja. Der hilfsbereite Getränkelieferant … Und was hast du uns zu sagen, Jess?«


»Nun, Sir, bevor dieser Field zu meinem Stand herüberkam, um nach Ginger Ale zu fragen, sah ich zufällig, wie er etwas vom Boden aufhob«, sagte er eifrig. »Es war irgend etwas Glänzendes, aber ich konnte es nicht genau erkennen. Er steckte es sofort in seine Hosentasche.«


Er beendete seine Aussage in triumphierendem Ton und sah sich beifallheischend um. Der Inspektor schien sich tatsächlich für diese Beobachtung zu interessieren.


»Was war das für ein glänzender Gegenstand, Jess?« wollte er wissen. »War es vielleicht eine Pistole?«


»Eine Pistole? Nein, das glaube ich nicht«, sagte der Getränkejunge unschlüssig. »Es war quadratisch, wie …«


»Könnte es eine Damenhandtasche gewesen sein?« unterbrach ihn der Inspektor.


Das Gesicht des Jungen hellte sich auf. »Das ist es!« rief er. »Ich wette, genau das war es. Es war über und über glänzend, wie lauter bunte Steine.«


Queen seufzte. »Sehr gut, Lynch«, sagte er. »Sei jetzt ein guter Junge, und geh nach Hause.«


Schweigend standen der Gangster, die Platzanweiserin, Pusak und seine weibliche Begleitung sowie der Getränkejunge auf und gingen. Velie geleitete sie zum Ausgang.


Sampson wartete, bis sie gegangen waren, bevor er den Inspektor zur Seite nahm.


»Was ist los, Q?« wollte er wissen. »Nichts läuft, wie es sollte, hm?«


»Henry, alter Knabe«, lächelte der Inspektor, »wir haben alles Menschenmögliche getan. Wir brauchen noch ein wenig Zeit … Ich wünschte –« Er sprach nicht aus, was er sich wünschte. Er schob seinen Arm unter Djunas, wünschte Panzer, Neilson, Velie und dem Staatsanwalt eine angenehme Nacht und verließ das Theater.


Als der Inspektor die Tür zu ihrer Wohnung geöffnet hatte, stürzte sich Djuna auf einen gelben Briefumschlag, der auf dem Boden lag. Er war offensichtlich durch den Spalt unter der Türe geschoben worden. Djuna wedelte dem Inspektor damit vor der Nase herum.


»Von Mr. Ellery, wette ich!« schrie er. »Ich wußte, er würde uns nicht vergessen!« Er schien mehr denn je einem Schimpansen zu ähneln, wie er mit dem Telegramm in der Hand breit grinsend dastand.


Der Inspektor schnappte den Umschlag aus Djunas Hand, schaltete – ohne daß er sich die Zeit nahm, Hut oder Mantel auszuziehen – das Licht an und holte gespannt ein gelbes Stück Papier aus dem Umschlag hervor.


Djuna hatte recht gehabt.

gut angekommen stop chauvin und ich begeisterte fischer erwarten guten fang stop habe glaube ich unser kleines problem gelöst stop schließe mich der illustren gesellschaft von rabelais chaucer Shakespeare und dryden an die sagten mach aus der notwendigkeit eine tugend stop warum nicht selbst unter die erpresser gehen stop maule nicht zu viel mit djuna in liebe ellery

Der Inspektor starrte auf den harmlosen gelben Zettel, während ein plötzliches Verstehen die harten Züge seines Gesichtes löste.

Er wirbelte zu Djuna herum, drückte dem jungen Herrn die Mütze auf den zerzausten Kopf und zog ihn entschlossen mit sich.

»Djuna, alter Knabe«, sagte er fröhlich, «komm mit, laß uns zur Feier des Tages ein Eis essen gehen!«


Zwanzigstes Kapitel

in welchem Mr. Michaels einen Brief verfaßt



Zum ersten Mal seit einer Woche war Inspektor Queen wieder ganz der alte, als er vergnügt in sein kleines Dienstzimmer im Präsidium schritt und seinen Mantel über einen Stuhl warf.

Es war Montag morgen. Er rieb sich die Hände und summte eine kleine Melodie vor sich hin; dann ließ er sich hinter seinem Schreibtisch nieder und arbeitete sich rasch durch den Berg an Post und Berichten. Eine halbe Stunde verbrachte er damit, Untergebenen in den verschiedenen Dienststellen der Kriminalpolizei Anweisungen zu erteilen; dann ging er einige Protokolle durch, die der Stenograph ihm vorlegte, und drückte schließlich auf einen der vielen Knöpfe auf seinem Schreibtisch. Umgehend erschien Velie.

»Hallo, Thomas«, sagte der Inspektor herzlich. »Wie geht es dir an diesem wunderschönen Herbstmorgen?«


Velie erlaubte sich ein Lächeln. »Ganz gut, Inspektor«, sagte er. »Und Ihnen? Samstag abend wirkten Sie etwas mitgenommen.«


Der Inspektor schmunzelte. »Wir wollen das Vergangene vergangen sein lassen, Thomas. Zusammen mit Djuna war ich gestern im Zoo und hab’ vier wirklich herrliche Stunden bei unseren Brüdern, den Tieren, verbracht.«


»Ich wette, Ihr kleiner Schlingel hat sich dort sehr wohl gefühlt«, brummte Velie, »vor allem bei den Affen.«


»Aber, aber, Thomas«, sagte der Inspektor tadelnd. »Du täuschst dich in Djuna. Er ist ein cleveres kleines Kerlchen. Bestimmt wird er einmal ein bedeutender Mann werden.«


»Djuna?« Velie nickte ernst. »Ich glaub’, Sie haben recht, Inspektor. Für das Bürschchen würde ich meine Hand ins Feuer legen … Was steht heute an, Sir?«


»Heute gibt es allerhand zu tun, Thomas«, sagte Queen geheimnisvoll. »Hast du Michaels erwischen können, nachdem ich gestern morgen mit dir telefoniert hatte?«


»Sicher. Er wartet draußen bereits seit einer Stunde. Kam schon früh her – mit Piggott an seine Fersen geheftet. Piggott hat ihn rund um die Uhr beschattet und hat ganz schön die Nase voll.«


»Nun, ich sag’ es ja immer – man muß schon ein ziemlicher Narr sein, um Polizist zu werden«, sagte Queen schmunzelnd. »Führ das Unschuldslamm herein.«


Velie ging hinaus und erschien wenig später mit dem großen, wohlbeleibten Michaels. Fields Diener trug dunkle Kleidung. Er schien nervös und voller Unbehagen zu sein.


»So, Thomas«, sagte der Inspektor, nachdem er Michaels auf einen Stuhl neben dem Schreibtisch gewiesen hatte, »du gehst jetzt hinaus, schließt diese Tür ab und läßt selbst den Polizeichef persönlich nicht hinein. Ist das klar?«


Velie unterdrückte einen verwunderten Blick, brummte zustimmend und zog ab. Wenig später waren die Umrisse seiner massigen Gestalt verschwommen durch die Milchglastür erkennbar.


Nach Ablauf einer halben Stunde wurde Velie über Telefon in das Zimmer seines Vorgesetzten gerufen. Er schloß die Tür wieder auf. Auf dem Schreibtisch vor dem Inspektor lag ein einfacher, unverschlossener Briefumschlag, aus dem die Ecke eines Briefbogens hervorschaute. Michaels stand bleich und zitternd da und zerdrückte fast seinen Hut zwischen den kräftigen Händen. Velies aufmerksamem Blick entgingen nicht die Tintenkleckse an den Fingern seiner linken Hand.


»Du wirst dich Mr. Michaels’ sehr gut annehmen müssen, Thomas«, sagte der Inspektor aufgeräumt. »Ich möchte, daß du heute für seine Unterhaltung sorgst. Ich bin sicher, ihr werdet irgend etwas finden; vielleicht geht ihr ins Kino – das wäre eine Idee! Auf jeden Fall kümmere dich solange um diesen Herrn, bis du von mir hörst … Sie werden mit niemandem in Kontakt treten, Michaels – verstanden?« fügte er schroff an den großen Mann gewandt hinzu. »Sie werden einfach nur hinter Sergeant Velie herlaufen und keinen Ärger machen.«


»Sie wissen doch, daß ich ehrlich bin, Inspektor«, murmelte Michaels verdrossen. »Es ist wirklich nicht nötig …«


»Nur eine Vorsichtsmaßnahme, Michaels – eine ganz einfache Vorsichtsmaßnahme«, unterbrach ihn der Inspektor lächelnd. »Ich wünsch’ euch viel Spaß, Jungs.«


Die zwei Männer gingen hinaus. Queen kippte den Drehstuhl, auf dem er saß, etwas nach hinten, nahm nachdenklich den vor ihm liegenden Briefumschlag in die Hand, zog das billige weiße Blatt Papier heraus und überflog den Text darauf mit einem Anflug von Lächeln.


Das Schriftstück besaß weder Datum noch Anrede und begann ganz unvermittelt.

Ich nehme an, Sie kennen den Verfasser dieses Briefes; mein Name ist Chas. Michaels. Seit über zwei Jahren war ich Monte Fields rechte Hand.

Ich werde nicht lange um die Sache herumreden. Letzten Montag haben Sie Monte Field im Römischen Theater umgebracht. Monte Field erzählte mir am Sonntag, daß er mit Ihnen eine Verabredung im Theater hätte. Ich bin der einzige, der darüber Bescheid weiß.

Und noch etwas. Ich weiß auch, warum Sie ihn umgebracht haben. Sie haben ihn aus dem Weg geräumt, um an die Papiere in seinem Hut zu gelangen. Was Sie aber nicht wissen, ist, daß die Papiere, die Sie ihm weggenommen haben, nicht die Originale sind. Um Ihnen das zu beweisen, füge ich ein Blatt von den Unterlagen in der Sache Nellie Johnson bei, die in Monte Fields Besitz waren. Sollten die Papiere, die Sie aus Fields Hut genommen haben, noch existieren, vergleichen Sie sie mit diesem Papier hier. Sie werden sehen, daß ich die Wahrheit sage. Den Rest der Originaldokumente habe ich so sicher verwahrt, daß Sie niemals daran kommen werden. Vielleicht sollte ich noch anmerken, daß auch die Polizei fieberhaft danach sucht. Wäre es nicht nett, wenn ich mit den Dokumenten und meiner kleinen Geschichte in Inspektor Queens Büro spazieren würde?

Aber ich werde Ihnen die Gelegenheit geben, diese Papiere zu kaufen. Wenn Sie $25.000 in bar zu dem von mir beschriebenen Treffpunkt bringen, werde ich sie Ihnen aushändigen. Ich brauche das Geld – Sie brauchen die Papiere und mein Schweigen.

Treffen Sie mich morgen, Dienstag, zwölf Uhr nachts an der siebten Bank rechter Hand auf dem gepflasterten Fußweg im Central Park, der im Nordwesten an der Ecke 59. Straße, 5. Avenue beginnt. Ich werde einen grauen Mantel und einen grauen Schlapphut tragen. Sagen Sie zu mir nichts weiter als ›Papiere‹.

Das ist für Sie die einzige Möglichkeit, an die Papiere zu kommen. Versuchen Sie nicht, mich vor der Verabredung ausfindig zu machen. Sollten Sie nicht dort sein, weiß ich, was ich zu tun habe.

Unter dem eng und sehr mühselig hingekritzelten Brief stand als Unterschrift: »Charles Michaels.«

Inspektor Queen seufzte, leckte entlang der Umschlagklappe und verschloß den Brief. Ruhig betrachtete er Namen und Adresse, die in der gleichen Handschrift auf den Umschlag geschrieben waren. Ohne Eile klebte er eine Briefmarke in eine Ecke.

Er drückte auf einen anderen Knopf. In der Tür erschien Detective Ritter.


»Guten Morgen, Inspektor.«


»Morgen, Ritter.« Nachdenklich wog der Inspektor den Brief in seiner Hand. »An was arbeiten Sie gerade?«


Der Detective scharrte mit den Füßen. »An nichts Besonderem, Inspektor. Bis Samstag habe ich Sergeant Velie geholfen; aber heute morgen bin ich mit dem Fall Field noch nicht befaßt gewesen.«


»Nun, dann hab’ ich hier einen hübschen kleinen Auftrag für Sie.« Der Inspektor grinste auf einmal, als er ihm den Brief entgegenhielt. »Hier, gehen Sie mit dem Brief zur Ecke 149. Straße, 3. Avenue, und werfen Sie ihn dort in den nächsten Briefkasten.«


Ritter machte große Augen, kratzte sich am Kopf, schaute Queen an und ging schließlich hinaus, wobei er den Brief in seiner Tasche verstaute.


Der Inspektor lehnte sich in seinem Stuhl zurück und nahm voll tiefer Befriedigung eine Prise Schnupftabak.

Einundzwanzigstes Kapitel

in welchem Inspektor Queen einen Fang macht



Am Dienstag, dem zweiten Oktober, trat abends um genau halb zwölf ein hochgewachsener Mann aus der Empfangshalle eines kleinen Hotels in der 53. Straße, Nähe 7. Avenue und schritt dann rasch weiter die 7. Avenue hinauf in Richtung Central Park. Er trug einen weichen, schwarzen Hut und einen schwarzen Mantel, dessen Kragen als Schutz gegen die kalte Nachtluft hochgeschlagen war.

An der 59. Straße angelangt, wandte er sich nach Osten und setzte seinen Weg entlang der nun menschenleeren Durchgangsstraße in Richtung der 5. Avenue fort. Als er den Eingang, der hinter dem Plaza-Kreisel von der 5. Avenue aus in den Central Park führt, erreicht hatte, verweilte er einen Moment im Schatten eines der großen Betonpfeiler und lehnte sich gelassen zurück. Als er sich eine Zigarette anzündete, beleuchtete das brennende Streichholz sein Gesicht. Es war das eines älteren Mannes, bereits mit einigen Falten. Über seine Oberlippe hing zottelig ein grauer Schnurrbart herab. Eine graue Haarsträhne wurde unter seinem Hut sichtbar. Dann verlosch das Streichholz wieder.

Ruhig stand er gegen den Betonpfeiler gelehnt; die Hände in den Manteltaschen, paffte er vor sich hin. Ein aufmerksamer Beobachter hätte jedoch bemerkt, daß die Finger des Mannes leicht zitterten und er mit seinen schwarzen Schuhen ungeduldig auf der Stelle trat.

Als die Zigarette niedergebrannt war, warf er sie weg und schaute auf seine Armbanduhr; die Zeiger standen auf zehn vor zwölf. Ungehalten fluchte er und schritt durch das Tor in den Park.

Das Licht von den Straßenlaternen her wurde schwächer, als er den gepflasterten Weg hinaufging. Etwas zögernd, so als wäre er unentschlossen, was er nun machen sollte, schaute er sich um, überlegte einen Augenblick, ging dann hinüber zur ersten Bank und ließ sich dort schwerfällig nieder – so wie jemand, der nach einem anstrengenden Arbeitstag ein erholsames Viertelstündchen in der Stille und Dunkelheit des Parks zu verbringen gedenkt.

Allmählich sank sein Kopf vornüber; allmählich schien seine ganze Gestalt zusammenzufallen. Er sah aus, als würde er ein Nickerchen machen.

Die Minuten verstrichen. Niemand ging an dem schwarz gekleideten Mann vorbei, während er dort ruhig auf seiner Bank saß. Von der 5. Avenue kam das Geräusch der vorbeibrausenden Autos; das schrille Pfeifen des Verkehrspolizisten auf der Plaza drang in regelmäßigen Abständen durch die kalte Nachtluft. Ein kühler Wind strich durch die Baumwipfel. Irgendwo aus dem tiefen Innern des Parkes erklang das helle Lachen eines Mädchens – leise und weit entfernt, aber überraschend klar und deutlich. Weiter verstrich die Zeit; der Mann schien fest eingeschlafen zu sein.

Aber als die Glocken der nahe gelegenen Kirchen begannen, zwölf Uhr zu schlagen, richtete sich die Gestalt auf, verweilte einen Augenblick und stand dann entschlossen auf.

Anstatt sich aber dem Ausgang zuzuwenden, ging der Mann weiter schwerfällig den Fußweg hinauf. Forschend blickten seine Augen aus einem durch Hutkrempe und Mantelkragen in völlige Finsternis getauchten Gesicht. Er schien die Parkbänke zu zählen, während er gleichmäßig, aber ohne Eile weiterging. Zwei – drei – vier – fünf. Er blieb stehen. Im Halbdunkel vor sich konnte er gerade noch eine graue Gestalt, die auf einer Bank saß, ausmachen.

Der Mann ging langsam weiter. Sechs – sieben. Er blieb nicht stehen, sondern ging geradewegs weiter. Acht – neun – zehn. Erst dann wandte er sich um und ging wieder zurück. Seine Gangart war nun flotter und entschiedener. Rasch näherte er sich der siebten Bank; dann blieb er abrupt stehen. Plötzlich ging er – so als hätte er einen Entschluß gefaßt – hinüber zu der Stelle, wo die sich undeutlich abzeichnende Gestalt ruhig verharrte, und setzte sich. Die Gestalt brummte etwas und rückte dann ein wenig zur Seite, um dem Neuankömmling Platz zu machen.

Schweigend saßen die beiden Männer da. Nach einer Weile holte der schwarz gekleidete Mann aus seinem Mantel ein Päckchen Zigaretten hervor. Er zündete sich eine an und hielt das Streichholz noch für einen Moment hoch, nachdem die Zigarette bereits rot aufgeglüht war. Im flackernden Licht des Streichholzes beäugte er heimlich den ruhigen Mann an seiner Seite. In der kurzen Zeit sah er nicht viel – die Person, die neben ihm auf der Parkbank saß, war genauso gut umhüllt und verborgen wie er selbst. Dann verlosch das Licht, und um sie herum war wieder Dunkelheit.

Der Mann im schwarzen Mantel schien zu einer Entscheidung zu kommen. Er beugte sich nach vorne, berührte den anderen Mann kurz am Knie und sagte mit leiser und heiserer Stimme nur das eine Wort: »Papiere!«

Auf der Stelle begann sich der andere Mann zu regen. Er wandte sich etwas zur Seite, betrachtete sein Gegenüber genau und brummte, so als wäre er zufriedengestellt. Bedächtig rückte er etwas ab von dem Mann in Schwarz und fuhr mit der rechten Hand in seine Manteltasche. Gespannt und mit leuchtenden Augen beugte sich der andere Mann nach vorne. Als die Hand wieder aus der Tasche herausfuhr, hielt sie etwas fest umklammert.

Dann tat der Mann, zu dem die Hand gehörte, etwas sehr Überraschendes. Unter Anspannung aller Muskeln sprang er von der Bank auf und machte einen Satz nach hinten, weg von dem schwarz gekleideten Mann. Gleichzeitig richtete er seine rechte Hand gerade auf die zusammengekauerte, erstarrte Gestalt. Im Lichtstrahl einer weit entfernten Straßenlaterne erkannte man, daß der Gegenstand in seiner Hand ein Revolver war.

Der Mann in Schwarz schrie heiser auf und sprang mit katzengleicher Gewandtheit von der Bank auf. Blitzschnell fuhr er mit der Hand in seine Manteltasche. Ohne sich um die auf sein Herz gerichtete Waffe zu kümmern, stürzte er auf die vor ihm stehende Gestalt los.

Um sie herum kam Leben auf. Das eben noch so friedliche Bild von weiten Räumen und nächtlicher Stille wurde auf wundersame Weise in einen Ort intensivster Betriebsamkeit verwandelt – in ein tobendes, geräuschvolles Inferno. Aus dem Gebüsch hinter der Parkbank tauchten auf einmal Männer mit gezogenen Waffen auf. Gleichzeitig erschien auf der gegenüberliegenden Seite des Gehweges eine Gruppe von Menschen und rannte auf die beiden Männer an der Parkbank zu. Und aus beiden Richtungen des Weges – vom Parkeingang her und aus der Dunkelheit des Parks – kamen mehrere Polizisten in Uniform mit der Waffe in der Hand gelaufen. Die vier Gruppen trafen fast gleichzeitig aufeinander.

Der Mann, der die Waffe gezogen hatte und zurückgesprungen war, wartete jedoch nicht die Ankunft der Verstärkung ab. Als sein Gegenüber mit der Hand in die Manteltasche fuhr, zielte er sorgfältig und schoß. Das Echo des Schusses hallte im Park wider. Eine orangefarbene Flamme fuhr in den Körper des schwarzgekleideten Mannes. Er taumelte vorwärts; zuckend griff er nach seiner Schulter. Seine Knie gaben nach, und er stürzte auf den Gehweg. Seine Hand steckte immer noch in der Manteltasche.

Aber die auf ihn einstürzenden Männer hielten ihn ab von allem, was er in seiner Raserei vorgehabt haben mochte. Unsanft wurden seine Arme gepackt und heruntergedrückt, so daß er die Hand nicht aus der Tasche ziehen konnte. So hielten sie ihn schweigend, bis hinter ihnen eine lebhafte Stimme erklang: »Vorsicht, Jungs – paßt auf seine Hände auf!« Inspektor Richard Queen mischte sich unter die schwer atmenden Männer. Nachdenklich stand er über der sich krümmenden Gestalt auf dem Pflaster.

»Zieh seine Hand heraus, Velie – aber immer mit der Ruhe! Halt sie fest – richtig fest, Mann! Sonst sticht er doch noch zu.«


Sergeant Thomas Velie, der den Arm fest umspannt hielt, zog ihn trotz der heftigen Bewegungen des Mannes behutsam aus der Tasche. Eine leere Hand erschien – die Muskeln hatten im letzten Moment nachgeben müssen. Sofort nahmen zwei Männer sie in ihren festen Griff.


Velie machte eine Bewegung, so als wollte er in die Tasche greifen. Mit einer scharfen Bemerkung gebot ihm der Inspektor Einhalt und beugte sich selbst hinunter zu dem niedergerungenen Mann auf dem Gehweg.


Vorsichtig, so als hinge sein Leben davon ab, ließ der alte Mann seine Hand in die Tasche gleiten und fühlte an ihren Außenseiten entlang. Er bekam etwas zu fassen, zog es genauso vorsichtig wieder hervor und hielt es gegen das Licht.


Es war eine Injektionsnadel. Die bläßliche Flüssigkeit im Innern schimmerte im Schein der Straßenlaterne.


Inspektor Queen lächelte, als er sich neben dem verwundeten Mann niederkniete. Er zog ihm den schwarzen Filzhut vom Kopf.


»Auch noch maskiert«, brummte er. Er riß den grauen Schnurrbart ab und fuhr mit seiner Hand rasch über die Furchen in seinem Gesicht. Sofort war die Haut verschmiert.


»Schön, schön!« sagte der Inspektor ruhig, während die fieberglänzenden Augen des Mannes zu ihm aufblickten. »Freut mich, Sie wiederzutreffen, Mr. Stephen Barry, Sie und Ihren guten Freund, Mr. Tetrableiäthyl!«

Zweiundzwanzigstes Kapitel

in welchem der Inspektor alles erklärt



Inspektor Queen saß an seinem Schreibtisch im Wohnzimmer und schrieb eifrig auf einen Briefbogen mit dem Aufdruck DIE QUEENS.

Es war Mittwoch morgen – ein sehr schöner Morgen; durch die Mansardenfenster schien die Sonne in das Zimmer, und die heitere Betriebsamkeit der 87. Straße drang gedämpft vom Straßenpflaster herauf. Der Inspektor trug seinen Morgenrock und Hausschuhe. Djuna war gerade damit beschäftigt, den Frühstückstisch abzuräumen.

Der alte Mann hatte geschrieben:

Mein lieber Sohn, wie ich Dir letzte nacht bereits telegrafiert habe, ist der Fall abgeschlossen. Wir haben Stephen Barry geschnappt, indem wir Michaels’ Namen und Handschrift als Köder benutzt haben. Ich sollte mir wirklich selbst dazu gratulieren, wie psychologisch durchdacht mein Plan war. Barry befand sich in einer verzweifelten Lage, und wie so viele andere Verbrecher dachte auch er, er könnte sein Verbrechen wiederholen, ohne gefaßt zu werden.

Nur sehr ungern schreibe ich Dir, wie müde ich mich fühle und wie wenig mich bisweilen diese Jagd auf einen Mörder innerlich befriedigt. Wenn ich zum Beispiel an Frances, dieses arme liebenswerte Mädchen, denke, das nun vor aller Welt als das Liebchen eines Mörders dasteht … Nun, El, es gibt nur wenig Gerechtigkeit und sicherlich kein Erbarmen in dieser Welt. Und natürlich bin ich mehr oder weniger verantwortlich für ihre Schmach … Dennoch war Ives-Pope selbst recht freundlich, als er mich anrief, nachdem er die Neuigkeit erfahren hatte. Nun, ich nehme an, in gewisser Weise habe ich ihm und Frances damit auch einen Dienst erwiesen. Wir …

Es klingelte an der Tür; Djuna trocknete sich eilig am Küchenhandtuch die Hände ab und lief zur Tür. Staatsanwalt Sampson und Timothy Cronin traten ein – beide redeten gleichzeitig und schienen glücklich und aufgeregt. Queen erhob sich; den Briefbogen bedeckte er mit einem Löschpapier.

»Q, alter Knabe!« rief Sampson und streckte ihm beide Hände entgegen. »Meine Glückwünsche! Hast du die Zeitungen heute morgen schon gelesen?«

»Ruhm und Ehre dem großen Entdecker!« sagte Cronin grinsend und hielt eine Zeitung hoch, auf deren Titelseite mit einer reißerischen Überschrift New York von der Festnahme Stephen Barrys in Kenntnis gesetzt wurde. Ein Photo des Inspektors fiel sofort ins Auge, und ein überschwenglicher Bericht, der über zwei Spalten lief, war überschrieben: ›Queen erntet neue Lorbeeren.‹

Der Inspektor jedoch schien davon seltsam unbeeindruckt. Er bot seinen Besuchern einen Platz an, verlangte nach Kaffee und begann dann, über eine geplante personelle Veränderung in einer der Abteilungen zu reden, so als würde ihn der Fall Field überhaupt nicht interessieren.

»Also wirklich«, sagte Sampson murrend. »Was ist denn mit dir los? Eigentlich solltest du mit stolzer Brust dasitzen. Man könnte meinen, du hättest gerade eine Niete gezogen, dabei hast du doch allen Grund, zufrieden zu sein.«

»Das ist es nicht, Henry«, sagte der Inspektor seufzend. »Ich kann mich ganz einfach über nichts richtig freuen, wenn Ellery nicht bei mir ist. Verdammt – ich wünschte, er wäre hier und nicht in diesen verfluchten Wäldern Maines!«

Die beiden Männer lachten. Djuna servierte den Kaffee, und eine Zeitlang war der Inspektor zu sehr mit seinem Gebäck beschäftigt, als daß er wieder ins Grübeln hätte verfallen können. Eine Zigarette rauchend, bemerkte Cronin: »Ich bin eigentlich nur vorbeigekommen, um Ihnen meine Anerkennung auszusprechen, Inspektor, aber es gibt bei diesem Fall noch einige Aspekte, auf die ich neugierig bin … Über die ganze Untersuchung weiß ich nur das, was mir Sampson auf dem Weg hierher erzählt hat.«

»Ich selbst tappe auch noch so ziemlich im dunkeln, Q«, warf der Staatsanwalt ein. »Ich kann mir vorstellen, daß du uns einiges zu erzählen hast. Also raus damit!«

Inspektor Queen lächelte traurig. »Um mein Prestige zu retten, werde ich es so erzählen müssen, als hätte ich das meiste dazu beigetragen. Tatsächlich aber war es Ellery, der bei dieser ganzen abscheulichen Angelegenheit als einziger wirklich mit Köpfchen gearbeitet hat. Er ist ein schlauer Kerl – mein Sohn.«

Sampson und Cronin machten es sich bequem, und der Inspektor nahm eine Prise und lehnte sich in seinem Sessel zurück. Djuna Heß sich mit gespitzten Ohren in einer Ecke nieder.

»Wenn ich den Fall Field durchgehe«, fing der Inspektor an, »so muß ich hier und da auf Benjamin Morgan zu sprechen kommen, der wirklich das unschuldigste Opfer von allen ist.1 Ich möchte, Henry, daß über das, was ich über Morgan sage, nichts nach außen dringt – weder beruflich noch im Freundeskreis. Tim hat mir sein Schweigen bereits zugesichert.«

Beide Männer nickten wortlos. Der Inspektor fuhr fort: »Ich brauche wohl kaum eigens darauf hinzuweisen, daß die Untersuchung bei einem Mordfall zumeist mit der Suche nach einem Motiv beginnt. Oft kann man einen Verdächtigen nach dem anderen ausscheiden, wenn man den Grund für das Verbrechen kennt. Bei diesem Fall lag das Motiv lange Zeit im dunkeln. Es gab zwar bestimmte Anhaltspunkte – so etwa Benjamin Morgans Geschichte –, aber die waren nicht überzeugend. Morgan war seit Jahren von Field erpreßt worden – eine Betätigung, von der euch trotz eurer Kenntnis seiner anderen gesellschaftlichen Gepflogenheiten nichts bekannt war. Dies schien auf Erpressung als ein mögliches Tatmotiv hinzudeuten. Aber beliebig viele andere Dinge hätten als Motiv in Frage kommen können, zum Beispiel die Rache eines Verbrechers, den Field ins Kittchen gebracht hatte. Vielleicht war es auch ein Mitglied seiner Verbrecherorganisation. Field hatte eine Menge Feinde und zweifellos eine Menge ›Freunde‹, die nur deshalb seine ›Freunde‹ waren, weil Field sie in der Hand hatte. Eine Menge Leute – sowohl Männer als auch Frauen – hätten ein Motiv haben können, den Anwalt umzubringen. So haben wir, da wir uns an jenem Abend im Römischen Theater mit so vielen anderen dringenderen und unmittelbareren Dingen zu beschäftigen hatten, uns nicht allzusehr um das Motiv gekümmert. Es stand stets etwas im Hintergrund, um dann irgendwann zum Vorschein zu kommen.


Aber bleiben wir zunächst dabei. Wenn Erpressung das Motiv war – und davon gingen Ellery und ich aus, weil es am wahrscheinlichsten schien –, befanden sich sicherlich irgendwo in Fields Besitz einige Dokumente, die, um es vorsichtig auszudrücken, zumindest ein wenig weiterhelfen würden. Was wir wußten, war, daß Morgans Dokumente existierten. Cronin beharrte darauf, daß es weitere Dokumente geben mußte, die für ihn interessant sein würden. So hatten wir ständig die Augen offen zu halten nach irgendwelchen Papieren, handfesten Beweisstücken, die vielleicht – vielleicht aber auch nicht – Aufklärung über die eigentlichen Umstände des Verbrechens verschaffen würden.


Was nun die Dokumente angeht, so erweckte zur gleichen Zeit eine Reihe von Büchern zur Handschriftenkunde, die sich in Fields Besitz fanden, Ellerys Interesse. Wir schlossen daraus, daß jemand wie Field, der sich in einem Fall ganz sicher (nämlich bei Morgan) und vermutlich noch bei vielen anderen als Erpresser betätigt hatte und der ein solch großes Interesse für die Handschriftenkunde zeigte, sich zudem auch noch als Fälscher betätigt haben könnte. Wenn das zutraf – und das schien eine plausible Erklärung zu sein –, dann bedeutete das offensichtlich, daß Field es sich angewöhnt hatte, Fälschungen von seinem Erpressermaterial anzufertigen. Der einzige Grund dafür konnte nur darin liegen, daß er die Fälschungen verkaufte, um die Originale für weitere Erpressungen in der Hand zu halten. Seine Verbindungen zur Unterwelt halfen ihm zweifellos dabei, mit den Tücken dieses Geschäfts zurechtzukommen. Später fanden wir heraus, daß unsere Annahme richtig war. Zu diesem Zeitpunkt hatten wir auch endgültig Erpressung als das Motiv für das Verbrechen nachgewiesen. Nur kamen wir damit nicht weiter, da jeder der Verdächtigen von Field hätte erpreßt werden können und wir zunächst keine Möglichkeit hatten, das herauszufinden.«


Der Inspektor legte die Stirn in Falten und machte es sich in seinem Sessel etwas bequemer.


»Aber ich gehe die Auflösung von der falschen Seite an. Es zeigt wirklich nur, wie sehr man in bestimmte Gewohnheiten verfällt. Ich bin so sehr daran gewöhnt, mit dem Motiv anzufangen … Wie auch immer! Ein wichtiger und zentraler Umstand stach von Anfang an bei der Untersuchung hervor. Es war ein verblüffender Anhaltspunkt – oder vielmehr einer, der nicht vorhanden war. Ich meine damit den fehlenden Hut …


Nun hatten wir unglücklicherweise an dem Montag abend im Römischen Theater dermaßen damit zu tun, die unmittelbaren Nachforschungen voranzutreiben, daß wir zunächst nicht die ganze Bedeutung des fehlenden Zylinders erfaßten. Nicht daß uns die Tatsache an sich nicht von Anfang an seltsam vorkam – ganz im Gegenteil. Was Ellery angeht, so ist ihm das sofort aufgefallen, als er in das Theater kam und sich die Leiche näher ansah. Aber was konnten wir tun? Es mußte auf hundert verschiedene Einzelheiten geachtet werden


– es galt Fragen zu stellen, Anweisungen zu geben, Unstimmigkeiten und verdächtige Umstände aufzuklären –, so daß wir, wie ich sagen muß, unsere große Chance verpaßten. Hätten wir zu dem Zeitpunkt bereits voll erkannt, was das Verschwinden des Hutes bedeutete, hätten wir vielleicht schon in jener Nacht den Fall zum Abschluß gebracht.«


»Nun, du Brummbär, allzulange hat es dennoch nicht gedauert«, sagte Sampson lachend. »Heute ist Mittwoch, und der Mord wurde Montag vor einer Woche begangen. Ganze neun Tage – was willst du eigentlich?«


Der Inspektor zuckte die Achseln. »Es hätte schon einen beträchtlichen Unterschied gemacht«, sagte er. »Wenn wir es nur gut durchdacht hätten … Na schön! Als wir endlich soweit waren, die Sache mit dem Hut systematisch anzugehen, stellten wir uns zunächst die Frage: Warum hatte man den Hut weggenommen? Nur zwei Antworten darauf schienen einen Sinn zu ergeben: Entweder war der Hut an sich belastend, oder aber er enthielt etwas, was der Mörder haben wollte und wofür der Mord begangen wurde. Wie sich später herausstellte, war beides richtig. Der Hut war an sich belastend, weil auf der Unterseite des ledernen Schweißbandes Stephen Barrys Name mit wasserfester Tinte geschrieben stand; und der Hut enthielt tatsächlich etwas, was der Mörder ganz entschieden m seinen Besitz bringen wollte – die Papiere, mit denen er erpreßt wurde. Zu diesem Zeitpunkt dachte er natürlich, daß es sich um die Originale handelte.


Das brachte uns nicht allzuweit, aber es war zumindest ein Anfang. Trotz einer gründlichen Suche hatten wir den fehlenden Hut noch nicht gefunden, als wir Montag nacht das Theater wieder verließen – nicht, bevor wir seine Schließung bis auf weiteres veranlaßt hatten. Wir hatten jedoch keinerlei Vorstellung, ob der Hut auf irgendeine geheimnisvolle Weise bereits seinen Weg aus dem Theater gefunden hatte oder ob er sich von uns unentdeckt immer noch dort befand. Als wir dann am Donnerstag morgen noch einmal zum Theater zurückkehrten, haben wir dort ein für alle Mal die Frage nach dem Aufenthalt von Monte Fields verteufeltem Zylinder geklärt – wenn auch nur im negativen Sinne. Er befand sich nicht im Theater – soviel war sicher. Und da das Theater seit Montag nacht verschlossen und versiegelt war, folgte daraus, daß der Hut noch an demselben Abend aus dem Theater verschwunden sein mußte!


Nun ging jeder, der am Montag abend hinausging, nur mit einem Hut hinaus. Nach unserer zweiten Durchsuchung mußten wir also annehmen, daß jemand mit Monte Fields Hut in der Hand oder auf dem Kopf das Theater verlassen hatte und dabei notwendigerweise seinen eigenen Hut im Theater zurückgelassen hatte.


Er hätte den Hut nur hinausschaffen können, als er zusammen mit dem Publikum das Theater verlassen durfte. Denn bis zu diesem Zeitpunkt waren alle Ausgänge bewacht oder abgeschlossen, und im linken Seitengang standen zunächst Jess Lynch und Elinor Libby, später dann John Chase, der Platzanweiser, und noch später einer meiner Polizisten. Der rechte Seitengang bot keine Möglichkeit, etwas beiseite zu schaffen, da er keine anderen Ausgänge als die Türen zum Zuschauerraum besitzt, die den ganzen Abend über bewacht wurden.


Um nun den Gedanken fortzuführen: Da Fields Hut ein Zylinder war und da niemand, der einen normalen Anzug trug, mit einem Zylinder das Theater verlassen hat – das haben wir uns sehr genau angeschaut –, muß also derjenige, der den Hut weggenommen hat, in Frack und Zylinder gekleidet gewesen sein. Man könnte einwenden, daß jemand, der ein solches Verbrechen im voraus plant, ohne einen Hut ins Theater gekommen wäre, um so dann auch keinen verschwinden lassen zu müssen. Aber wenn man genauer darüber nachdenkt, wird man einsehen, daß dies äußerst unwahrscheinlich ist. Vor allem beim Betreten des Theaters wäre es ziemlich auffällig gewesen, ohne einen Zylinder dort zu erscheinen. Es war natürlich eine Möglichkeit, und wir behielten sie im Auge. Aber wir dachten uns, daß jemand, der ein solch vollendetes Verbrechen plant, nicht das unnötige Risiko eingehen würde, aufzufallen. Zudem war Ellery davon überzeugt, daß der Mörder vorher nichts von der Bedeutung des Zylinders wußte. Das machte es noch unwahrscheinlicher, daß der Mörder ohne eigenen Hut dort ankam. Wir dachten, daß er seinen eigenen Hut vielleicht während der ersten Pause hätte verschwinden lassen können – das heißt, bevor das Verbrechen begangen wurde. Aber Ellerys Schlußfolgerung, daß der Mörder vorher nichts von dem Hut wußte, machte dies unmöglich; denn dann hätte für ihn in der ersten Pause noch nicht die Notwendigkeit bestanden, sich seines Hutes zu entledigen. Auf jeden Fall scheint es mir eine berechtigte Annahme gewesen zu sein, daß unser Mann seinen Hut im Theater zurücklassen mußte und daß dies nur ein Zylinder gewesen sein konnte. Ist das soweit einleuchtend?«


»Es klingt ziemlich logisch«, gab Sampson zu, »wenn auch sehr kompliziert.«


»Du machst dir keine Vorstellung davon, wie kompliziert das war«, sagte der Inspektor grimmig, »denn zur gleichen Zeit mußten wir auch noch die anderen Möglichkeiten im Auge behalten – wie etwa, daß derjenige, der mit Fields Hut hinausging, gar nicht der Täter, sondern nur ein Komplize war. Aber laßt uns jetzt weitermachen.


Die nächste Frage, die wir uns stellten, war: Was passierte mit dem Zylinder, den der Mörder im Theater zurückließ? Was machte er damit? Wo hatte er ihn versteckt …? Ich kann euch sagen, das war ein schwieriges Problem. Wir hatten das Gebäude von oben bis unten durchwühlt. Sicher, wir fanden mehrere Hüte hinter der Bühne, die laut Mrs. Phillips, der Garderobenaufsicht, verschiedenen Schauspielern gehörten. Aber keiner davon war ein Zylinder. Wo also war der Zylinder, den der Mörder im Theater zurückgelassen hatte? Mit dem ihm eigenen Scharfsinn traf Ellery genau ins Schwarze. Er sagte sich: ›Der Zylinder des Mörders muß sich hier befinden. Wir haben keinen einzigen Zylinder gefunden, dessen Existenz auffällig oder ungewöhnlich gewesen wäre. Deshalb muß der Zylinder, nach dem wir suchen, dort sein, wo er überhaupt nicht auffällt.‹ Eigentlich lächerlich einfach, nicht wahr? Aber selbst ich bin nicht darauf gekommen.


Was für Zylinder gab es dort, an deren Gegenwart es so ganz und gar nichts Ungewöhnliches gab, daß sie gar nicht erst in Betracht gezogen wurden? Für das Römische Theater, das die komplette Theaterbekleidung von Le Brun bezog, schien die Antwort einfach: die geliehenen Zylinder, die für das Stück benötigt wurden. Wo befinden sich solche Zylinder gewöhnlich? Entweder in den Umkleideräumen der Schauspieler oder im allgemeinen Garderobenraum hinter der Bühne. Als Ellery zu dieser Schlußfolgerung gelangt war, nahm er Mrs. Phillips mit hinter die Bühne und überprüfte jeden Zylinder in den Umkleideräumen und in der Garderobe. Jeder Zylinder dort – sie waren komplett, keiner fehlte – gehörte zu den Requisiten und trug auf seinem Futter das Zeichen von Le Brun. Fields Hut, unzweifelhaft ein Zylinder von Browne Bros., befand sich nicht unter den zur Requisite gehörenden Zylindern und auch sonst nirgendwo hinter der Bühne.


Da niemand an jenem Montag abend das Theater mit mehr als einem Zylinder verlassen hatte und da ohne Zweifel Monte Fields Zylinder an dem gleichen Abend mit aus dem Theater genommen wurde, war damit eindeutig bewiesen, daß sich des Mörders eigener Zylinder die ganze Zeit über, in der das Römische Theater versiegelt war, dort befunden haben mußte und sich auch zum Zeitpunkt unserer zweiten Suche noch dort befand. Nun, die einzigen Zylinder, die im Theater verblieben, gehörten zur Requisite. Daraus folgt, daß der Zylinder des Mörders (den er zurücklassen mußte, weil er mit Fields Zylinder hinausging) einer der zur Requisite gehörenden Zylinder gewesen sein muß; eine andere Möglichkeit gab es einfach nicht.


Mit anderen Worten – einer dieser Zylinder aus der Requisite gehörte jenem Mann, der am Montag abend im Frack und mit Fields seidenem Zylinder auf dem Kopf das Theater verlassen hat.


Wenn also dieser Mann der Mörder war – sonst konnte es kaum jemand sein –, konzentrierte das unsere Nachforschungen auf ein wesentlich kleineres Umfeld. Der Mörder konnte nur einer der männlichen Mitglieder des Ensembles sein, der das Theater im vollständigen Abendanzug verließ, oder – ebenfalls im Abendanzug – jemand, der mit dem Theater sehr vertraut war. Letzterer hätte zunächst einmal von vornherein einen Zylinder aus der Requisite bei sich tragen müssen, um ihn dann zurücklassen zu können; zum zweiten hätte er ungehinderten Zugang zu den Umkleideräumen und zur Garderobe haben müssen; und drittens hätte er auch die Gelegenheit haben müssen, den Hut dort wieder unterbringen zu können.


Wir wollen nun die Möglichkeit, daß der Mörder in enger Beziehung zum Theater stand, aber selbst kein Schauspieler war, etwas näher betrachten.« Der Inspektor machte eine Pause, um eine starke Prise Schnupftabak aus seiner so sehr geschätzten Dose zu nehmen. »Die Bühnenarbeiter fielen schon einmal weg, da keiner von ihnen die entsprechende Kleidung trug, die nötig gewesen wäre, um Fields Hut mit hinauszunehmen. Die Kassierer, Platzanweiser, Türsteher und andere kleinere Angestellte konnten aus dem gleichen Grund ausgeschieden werden. Harry Neilson, der Werbeleiter, trug ebenfalls einen normalen Straßenanzug. Es stimmt zwar, daß Panzer im Abendanzug gekleidet war, aber ich machte mir die Mühe, seine Hutgröße zu überprüfen – sie war mit 6¾ ungewöhnlich klein. Es wäre für ihn praktisch unmöglich gewesen, Fields Hut mit der Größe 7⅛ auf dem Kopf zu tragen. Zwar haben wir das Theater vor ihm verlassen; aber beim Hinausgehen habe ich Thomas Velie noch ganz entschieden angewiesen, auch bei Panzer keine Ausnahme zu machen und ihn genau wie die anderen zu durchsuchen. Mehr aus einem Pflichtgefühl heraus hatte ich mir bereits früher am Abend, während ich in seinem Büro war, seinen Hut angeschaut; es war ein steifer Filzhut. Velie berichtete später, daß Panzer mit diesem Hut auf dem Kopf hinausging und keinen anderen Hut dabeihatte. Also – wenn Panzer derjenige gewesen wäre, nach dem wir suchten, dann hätte er vielleicht mit Fields Hut trotz seiner Größe hinausgehen können, indem er ihn ganz einfach in der Hand hielt. Aber als er mit einem Filzhut das Theater verließ, folgte daraus zwingend, daß er Fields Hut nicht an sich genommen haben konnte, da das Theater sofort nach seinem Weggang geschlossen wurde und niemand, wirklich niemand – darauf paßten meine Männer dort auf – das Theatergelände bis zum Donnerstag morgen betreten hat. Wenn es Panzer oder sonst jemandem vom Theaterpersonal gelungen wäre, Fields Zylinder dort irgendwo zu verbergen, hätte die betreffende Person auch der Mörder sein können. Aber diese letzte Möglichkeit wurde durch den Bericht von Edmund Crewe, unserem amtlichen Bauexperten, zunichte gemacht; Crewe stellte definitiv fest, daß es nirgendwo im Römischen Theater ein geheimes Versteck gab.


Nachdem also Panzer, Neilson und die Angestellten nicht mehr in Frage kamen, blieben nur noch die Mitglieder des Ensembles übrig. Wie wir das Netz immer enger spannten, bis wir auf Barry stießen, wollen wir hier einen Moment beiseite lassen. Der wirklich interessante Aspekt dieses Falles ist die überraschende und verwickelte Reihe von Schlußfolgerungen, über die wir durch rein logisches Denken zur Wahrheit kamen. Ich sage ›wir‹ – sollte aber lieber ›Ellery‹ sagen …«


»Für einen Polizeiinspektor klingt das ein bißchen zu sehr nach Understatement«, sagte Cronin grinsend. »Das ist besser als ein Kriminalroman. Ich sollte jetzt eigentlich im Dienst sein, aber da mein Chef daran genauso interessiert zu sein scheint wie ich – nur weiter so, Inspektor!«


Queen lächelte und fuhr lebhaft fort.


»Die Tatsache, daß der Kreis der Verdächtigen auf die Schauspieler eingeengt werden konnte, erklärt etwas, was euch wahrscheinlich auch schon in den Sinn gekommen ist und was uns ganz am Anfang ziemliche Schwierigkeiten bereitet hat. Wir konnten zunächst nicht verstehen, warum man ein Theater als Treffpunkt für die Abwicklung dieser Art von Geschäft hätte auswählen sollen. Wenn man einmal genauer darüber nachdenkt, so kommt man zu dem Schluß, daß ein Theater unter normalen Umständen eine Menge Nachteile mit sich bringt. Zum Beispiel müssen – um nur eine Sache zu nennen – zusätzliche Eintrittskarten gekauft werden, um durch die leeren Plätze um sich herum eine ungestörte Geschäftsabwicklung zu gewährleisten. Was für ein unnützer Aufwand, wenn man das mit geeigneteren Treffpunkten vergleicht. Im Theater ist es zumeist dunkel, und die Ruhe dort ist eher störend. Jedes unglückliche Geräusch, jede Unterhaltung fallt auf. Die vielen Menschen dort stellen eine ständige Gefahr dar – man könnte erkannt werden. Jedoch erklärt sich das alles von selbst, wenn man sich vor Augen führt, daß Barry ein Mitglied des Ensembles war. Von seiner Warte aus schien das Theater ideal; denn wer würde schon im entferntesten daran denken, einen Schauspieler des Mordes zu verdächtigen, wenn das Opfer tot im Zuschauerraum gefunden wird? Field willigte natürlich ein, weil er nicht ahnte, was Barry vorhatte und daß er damit seinem eigenen Ende nachhalf. Selbst wenn er ein klein wenig mißtrauisch war – denkt daran, daß er es gewöhnt war, mit gefährlichen Leuten Geschäfte zu machen –, er fühlte sich in der Lage, für seine eigene Sicherheit zu sorgen. Vielleicht hatte er dadurch etwas zuviel Selbstvertrauen; um das herauszufinden, ist es jetzt zu spät.


Ich will nun wieder auf Ellery zurückkommen, mein Lieblingsthema«, fuhr der Inspektor vergnügt fort. »Ganz abgesehen von diesen Schlußfolgerungen, ja schon bevor sie überhaupt zu Ende geführt worden waren, hatte Ellery einen ersten Verdacht während des Treffens im Haus der Ives-Popes geschöpft. Es lag nahe, daß Frances Ives-Pope von Field nicht bloß aus amouröser Absicht während der Pause im Seitengang angesprochen worden war. Es schien Ellery, als gäbe es eine Verbindung zwischen diesen beiden Personen. Nun, das bedeutet nicht, daß Frances von dieser Verbindung hätte wissen müssen. Sie war überzeugt, daß sie niemals zuvor etwas von Field gehört oder gesehen hatte. Wir hatten keine Veranlassung, das in Zweifel zu ziehen; im Gegenteil hatten wir allen Grund, ihr zu glauben. Diese mögliche Verbindung hätte Stephen Barry sein können, vorausgesetzt, Stephen Barry und Field kannten einander, ohne daß Frances davon wußte. Wenn zum Beispiel Field am Montag abend mit dem Schauspieler eine Verabredung hatte und auf einmal Frances sah, konnte es möglich sein, daß er es in seinem halbtrunkenen Zustand gewagt hätte, sich an sie heranzumachen – vor allem, da das, was ihm und Barry am Herzen lag, auch sie sehr betraf. Sie zu erkennen, war kein Problem; Tausende von Menschen, die täglich die Zeitung lesen, kennen jeden einzelnen ihrer Gesichtszüge – sie ist eine der meistphotographierten Damen der Gesellschaft. Field hätte sich schon aus methodischer Gründlichkeit sicher mit ihrem Äußeren und ihren Gewohnheiten vertraut gemacht … Aber um auf das Dreiecksverhältnis – Field, Frances, Barry –, auf das ich später noch näher eingehen werde, zurückzukommen: Euch ist doch klar, daß einem kein anderer aus dem Ensemble als Barry, der mit Frances verlobt war und auch öffentlich mit Photos und dem ganzen journalistischen Drum und Dran als ihr Verlobter bekanntgemacht worden war, als Antwort auf die Frage einfiel: Warum wurde Frances von Field angesprochen?


Der andere störende Umstand in bezug auf Frances, nämlich daß ihre Abendtasche in Fields Kleidung entdeckt wurde, konnte von ihr glaubhaft erklärt werden; sie ließ sie in verständlicher Erregung fallen, als sich der betrunkene Rechtsanwalt an sie heranmachte. Dies wurde später durch Jess Lynchs Aussage bestätigt, daß er sah, wie Frances’ Tasche von Field aufgehoben wurde. Armes Mädchen – sie tut mir wirklich leid.« Der Inspektor seufzte.


»Um jetzt noch einmal auf den Hut zurückzukommen – wie ihr sicher merkt, kehren wir immer wieder zu diesem verfluchten Zylinder zurück –«, fuhr Queen nach einer kurzen Unterbrechung fort. »Ich habe noch nie von einem Fall gehört, in dem ein einziger Faktor so bestimmend war für den gesamten Verlauf der Untersuchung … Jetzt gebt acht: Barry war der einzige aus dem ganzen Ensemble, der das Römische Theater am Montag abend in Frack und Zylinder verließ. Ellery, der den Hauptausgang am Montag abend beobachtete, während die Leute hinausgingen, ist das – wie sollte es auch anders sein – aufgefallen; außer Barry verließen alle anderen Schauspieler das Theater in normalen Anzügen. Ellery hat dies sogar später Sampson und mir gegenüber in Panzers Büro erwähnt; allerdings war sich zu diesem Zeitpunkt keiner von uns der Bedeutung dieser Tatsache bewußt … Barry war folglich das einzige Mitglied des Ensembles, das Fields Zylinder hatte mitnehmen können. Denkt nur ein wenig darüber nach, und ihr werdet einsehen, daß wir nun – von Ellerys Hut-Schlußfolgerungen her gesehen – ohne den geringsten Zweifel Barry als den Schuldigen festgenagelt hatten.


Der nächste Schritt war nun, sich das Stück genau anzusehen; das taten wir dann am Abend des Tages, an dem Ellery zu dem entscheidenden Schluß gekommen war – am Donnerstag. Ihr könnt euch sicher vorstellen, warum. Dadurch, daß wir feststellten, ob Barry während des zweiten Akts die Zeit hatte, den Mord zu begehen, wollten wir eine Bestätigung für unsere Schlußfolgerung. Und erstaunlicherweise war Barry der einzige der gesamten Besetzung, der die Zeit dazu hatte. Er war nicht auf der Bühne zwischen 9.20 Uhr, als er die Handlung des zweiten Akts ins Rollen gebracht hatte und direkt danach wieder verschwand, und 9.50 Uhr, als er wieder auf die Bühne zurückkehrte und dort bis zum Ende des Akts blieb. Das war unbestreitbar Teil eines festen und sich nicht verändernden Zeitplans. Alle anderen Schauspieler waren entweder die ganze Zeit über auf der Bühne oder verließen sie nur für einen ganz kurzen Augenblick. Das bedeutet, daß wir bereits vor annähernd sechs Tagen – die ganze Angelegenheit hat insgesamt nur neun Tage in Anspruch genommen – unser kleines Rätsel gelöst hatten. Aber das Rätsel um die Identität des Mörders gelöst zu haben, bedeutete noch lange nicht, ihn damit auch vor Gericht gebracht zu haben. Ihr werdet gleich sehen, warum.


Die Tatsache, daß der Mörder nicht vor 9.30 Uhr das Theater betreten konnte, erklärt, warum die abgerissenen Enden der Eintrittskarten von LL32 Links und LL30 Links nicht übereinstimmen. Es war erforderlich, daß Field und Barry zu unterschiedlichen Zeiten hereinkamen. Field konnte weder zusammen mit Barry das Theater betreten noch zu einem auffällig späteren Zeitpunkt ankommen, da die Geheimhaltung für Barry äußerst wichtig war; Field sah ein – oder zumindest dachte er so –, wie nötig es war, die Heimlichtuerei mitzumachen.


Als wir dann Donnerstag abend von Barrys Schuld überzeugt waren, beschlossen wir, die anderen Mitglieder des Ensembles und auch die Bühnenarbeiter insgeheim zu befragen. Wir wollten natürlich herausfinden, ob zufällig jemand Barry hatte weggehen und wieder zurückkommen sehen. Wie sollte es auch anders sein – keiner hatte etwas gesehen. Alle waren viel zu sehr mit ihrem Auftritt, mit Umziehen oder mit Arbeiten hinter der Bühne beschäftigt. Wir führten diese kleine Nachforschung nach der Aufführung an jenem Abend durch, als Barry bereits das Theater verlassen hatte. Das Ganze war ein ziemlicher Fehlschlag.


Wir hatten uns bereits einen Lageplan des Theaters von Panzer ausgeliehen. Dieser Plan sowie eine nähere Untersuchung des Seitengangs auf der Linken und der Anordnung der Umkleideräume hinter der Bühne, die wir am Donnerstag abend direkt nach dem zweiten Akt durchführten, ließen uns erkennen, wie der Mord ausgeführt worden war.«


Sampson rührte sich. »Darüber habe ich mir bereits den Kopf zerbrochen«, gab er zu. »Schließlich war Field nicht gerade, was man als vertrauensselig bezeichnet. Dieser Barry muß ein Zauberkünstler sein, Q. Wie hat er es angestellt?«


»Jedes Rätsel erscheint simpel, wenn du erst die Antwort kennst«, erwiderte der Inspektor. »Barry, der ab 9.20 Uhr frei war, kehrte sofort in seinen Umkleideraum zurück, legte schnell, aber perfekt eine Gesichtsmaske auf, zog Cape und Zylinder, die zu seinem Bühnenkostüm gehörten, an – ihr erinnert euch sicher, daß er bereits einen Gesellschaftsanzug trug – und schlich sich aus seiner Garderobe in den Seitengang.


Ihr könnt natürlich nicht genau wissen, wie das Theater angelegt ist. Auf der linken Seite, hinter dem Seitengang, sind in mehreren Etagen übereinander die Umkleideräume angeordnet. Barrys Raum ist ganz unten auf der Etage; eine Tür führt von dort auf den Seitengang. Über eine Eisentreppe gelangt man dort hinunter.


Durch diese Tür verließ er den Umkleideraum und ging durch den düsteren Seitengang; die Türen von dort ins Theater waren während des zweiten Akts noch geschlossen. Er konnte sich hinaus auf die Straße schleichen, da dort im Seitengang zu diesem Zeitpunkt – wie er genau wußte – niemand aufpaßte. Es war Glück für ihn, daß bis zu diesem Zeitpunkt weder Jess Lynch noch dessen Freundin dort eingetroffen waren. Dreist betrat er dann das Theater durch den regulären Vordereingang


– so als wäre er ein Nachzügler. In sein Cape gehüllt und natürlich so geschminkt, daß man ihn nicht erkennen konnte, zeigte er seine Eintrittskarte – LL30 Links – am Eingang vor. Als er hineinging, warf er absichtlich den Kontrollabschnitt weg. Das schien ihm ein schlauer Zug zu sein; denn falls der Rest der Eintrittskarte dort gefunden würde, so dachte er, würde das mehr auf jemanden aus dem Publikum als Täter hindeuten als auf jemanden vom Theater. Außerdem wäre der Abschnitt, wenn man ihn im Falle des Mißlingens seines Planes bei einer anschließenden sorgfältigen Durchsuchung bei ihm gefunden hätte, ein eindeutig belastendes Indiz gewesen. Kurzum, er dachte, seine Idee mit der Eintrittskarte würde nicht nur in die Irre führen, sondern auch von ihm ablenken.«


»Aber wie hatte er es sich vorgestellt, zu seinem Platz zu gelangen, ohne dorthin geführt und damit auch gesehen zu werden?« brachte Cronin vor.


»Er konnte nicht davon ausgehen, der Platzanweiserin zu entgehen«, entgegnete der Inspektor. »Da das Stück schon lief und es im Theater schon dunkel war, hatte er natürlich gehofft, die letzte Reihe, die ja am nächsten zum Eingang liegt, zu erreichen, bevor die Platzanweiserin an ihn herantreten konnte. Aber selbst wenn die Platzanweiserin ihm zuvorgekommen wäre und ihn zu seinem Platz geführt hätte, so war er gut maskiert und im Dunkeln des Theaters dagegen gefeit, erkannt zu werden. Was ihm im ungünstigsten Fall passieren konnte, war, daß man sich daran erinnerte, wie ein unbekannter Mann, den man gerade noch in groben Umrissen beschreiben konnte, wahrend des zweiten Aktes das Theater betrat. Wie es der Zufall wollte, trat niemand an ihn heran, da Madge O’Connell glücklich bei ihrem Geliebten saß. Es gelang ihm also, auf den Platz neben Field zu schlüpfen, ohne bemerkt zu werden.


Was ich euch gerade erzählt habe«, fuhr der Inspektor fort und räusperte sich, »beruht nicht auf unseren Schlußfolgerungen und Nachforschungen. Wir hätten solche Einzelheiten nicht herausfinden können. Barry hat gestern abend ein Geständnis abgelegt und uns darüber Aufklärung verschafft … Da wir wußten, daß Barry der Schuldige war, hätten wir uns den ganzen Ablauf auch denken können – es ergibt sich von selbst, wenn man den Täter kennt. Nun, das war gar nicht erst nötig. Klingt das nicht wie eine faule Ausrede für Ellery und mich?« Der alte Mann zeigte ein schwaches Lächeln.


»Als er sich neben Field hinsetzte, hatte er seine Schritte sorgfältig geplant. Ihr dürft nicht vergessen, daß er an einen strengen Zeitplan gebunden war und es sich nicht leisten konnte, Zeit zu verschwenden. Auf der anderen Seite wußte auch Field, daß Barry schnell wieder zurück mußte; also verzögerte er das Ganze auch nicht unnötig. Tatsächlich hatte Barry – wie er uns mitteilte – sehr viel weniger Schwierigkeiten mit Field, als er erwartet hatte. Denn Field stand Barrys Vorschlägen offen gegenüber; wahrscheinlich deshalb, weil er ziemlich betrunken war und in Kürze den Empfang einer großen Geldsumme erwartete.


Barry verlangte zunächst die Papiere. Als Field vorsichtigerweise erst einmal das Geld zu sehen verlangte, bevor er die Dokumente hervorholte, zeigte Barry ihm eine Brieftasche, aus der scheinbar echte Banknoten hervorquollen. Es war ziemlich dunkel im Theater, und Barry fächerte die Banknoten nicht auf. Tatsächlich war es nachgemachtes Geld aus der Requisite. Eindringlich spielte er damit herum und tat dann das, was Field wohl auch erwartet hatte: Er weigerte sich, das Geld zu übergeben, bevor er nicht die Dokumente überprüft hatte. Haltet euch immer vor Augen, daß Barry ein ausgezeichneter Schauspieler ist und eine solch schwierige Situation mit dem Selbstvertrauen, das ihm seine lange Bühnenerfahrung verlieh, bewältigen konnte … Field griff unter seinen Sitz und brachte zu Barrys maßlosem Erstaunen seinen Zylinder hervor. Barry sagt, daß Field bemerkte: ›Sie haben wohl kaum erwartet, daß ich die Papiere hier drin aufbewahre? Diesen Hut habe ich sogar ganz ausschließlich Ihrer Vergangenheit gewidmet. Sehen Sie – auf der Innenseite steht Ihr Name.‹ Und mit dieser erstaunlichen Feststellung drehte er das Band um. Im Schein seiner winzigen Taschenlampe konnte Barry seinen mit Tinte auf die Unterseite des ledernen Schweißbandes geschriebenen Namen erkennen.


Jetzt stellt euch vor, was ihm in diesem Augenblick durch den Kopf ging. Was er dort sah, schien zunächst seinen sorgfältig ausgearbeiteten Plan völlig zunichte zu machen. Wenn man Fields Zylinder untersuchen würde – natürlich würde man es tun –, nachdem man seine Leiche gefunden hatte, wäre der Name Stephen Barry auf dem Schweißband wohl ein ziemlich starkes Beweismittel gegen ihn … Barry hatte keine Zeit mehr, das Band herauszutrennen. Zum einen hatte er – Pech für ihn – kein Messer; zum anderen war das Schweißband eng und fest auf das harte Material genäht. Da seine Zeit knapp bemessen war, erkannte er sofort, daß der einzige Weg, der ihm offenstand, war, den Hut wegzunehmen, nachdem er Field getötet hatte. Da Field ungefähr die gleiche Statur und mit 7⅛ eine durchschnittliche Hutgröße wie er hatte, beschloß er sogleich, das Theater mit Fields Hut auf dem Kopf oder in der Hand zu verlassen. Er würde seinen eigenen Hut in der Garderobe lassen, wo er nicht weiter auffallen würde, Fields Hut aus dem Theater mitnehmen und ihn vernichten, sobald er zu Hause angekommen war. Ihm kam außerdem der Gedanke, daß – sollte er zufällig beim Verlassen des Theaters durchsucht werden – sein Name auf der Innenseite ihn von jedem Verdacht befreien würde. Wahrscheinlich war es genau diese Tatsache, die Barry das Gefühl gab, keine größere Gefahr einzugehen, obwohl er die unerwarteten Umstände nicht hatte vorhersehen können.«


»Schlauer Fuchs«, murmelte Sampson.


»Ein bißchen zu schlau, Henry, ein bißchen zu schlau«, sagte Queen ernst. »Das hat schon manchen Mann an den Galgen gebracht … Als er sich blitzschnell entschloß, den Hut mitzunehmen, war ihm klar, daß er nicht seinen eigenen dagegen austauschen konnte. Zum einen war sein Hut ein Chapeau claque – ein Bühnenhut –, aber was noch wichtiger war, der Name von Le Brun, dem Theaterausstatter, war innen aufgedruckt. Klar, daß das sofort auf jemanden aus dem Ensemble hingewiesen hätte – was er natürlich unbedingt vermeiden wollte. Er erzählte mir außerdem, daß ihm in diesem Augenblick und während der ganzen Zeit danach bewußt war, daß die Polizei aus dem Fehlen des Hutes im äußersten Falle schließen konnte, daß er etwas Wertvolles enthalten haben mußte. Er konnte sich nicht vorstellen, wie durch diese bloße Vermutung im Zuge der Ermittlungen auch nur die Spur eines Verdachtes auf ihn fallen würde. Als ich ihm die Schlußfolgerungen, die Ellery aus der einfachen Tatsache, daß der Zylinder fehlte, gezogen hatte, auseinanderlegte, war er äußerst überrascht. Man sieht, daß der einzig wirklich schwache Punkt in seinem Verbrechen nicht auf einem Versehen oder einem Fehler von seiner Seite beruhte, sondern auf einem Vorfall, den er nicht hatte vorhersehen können. Das zwang ihn zum Handeln, und die Ereignisse nahmen ihren Lauf. Hätte Barrys Name nicht in Fields Hut gestanden, so wäre er ohne Frage immer noch ein freier Mann und bis zum heutigen Tag ohne jeden Verdacht. Die Polizeiakten hätten einen weiteren unaufgeklärten Mordfall zu verzeichnen.


Ich muß wohl nicht extra betonen, daß ihm dieser ganze Gedankengang sehr viel schneller durch den Kopf schoß, als ich zu seiner Schilderung benötigte. Er erkannte, was er zu tun hatte; auf der Stelle wurde sein Plan den neuen Gegebenheiten angepaßt … Als Field die Dokumente aus dem Hut hervorholte, untersuchte Barry sie flüchtig unter dem wachsamen Blick des Rechtsanwalts. Die Untersuchung nahm er mit Hilfe seiner schon erwähnten winzigen Taschenlampe vor, deren schwacher Lichtschein fast vollständig von ihren Körpern abgeschirmt wurde. Die Papiere schienen in Ordnung und vollständig zu sein. Aber zu diesem Zeitpunkt verbrachte Barry nicht allzuviel Zeit über den Papieren. Kläglich lächelnd schaute er auf und sagte: ›Der Teufel soll Sie holen – es scheinen alle da zu sein.‹ Das klang sehr spontan – als herrschte zwischen ihnen Waffenstillstand und als würde er sich als guter Verlierer zeigen. Field faßte die Bemerkung auch so auf, wie sie gedacht war. Barry griff in seine Tasche – die Lampe hatte er wieder ausgemacht – und nahm aus einer kleinen Flasche mit Whisky einen kräftigen Schluck, so als ob er nervös wäre. Dann schien er sich auf einmal seiner guten Manieren zu entsinnen und fragte Field ziemlich freundlich, ob er nicht auch einen Schluck trinken wolle, um ihren Handel zu beschließen. Da Field gesehen hatte, wie Barry aus der Flasche getrunken hatte, konnte er keinen Verdacht geschöpft haben. Er hätte vermutlich noch nicht einmal im Traum daran gedacht, daß Barry versuchen würde, ihn umzubringen. Barry reichte ihm die Flasche …


Aber es war nicht dieselbe Flasche. Im Schutze der Dunkelheit hatte er zwei verschiedene Flaschen herausgenommen – die eine, aus der er selbst getrunken hatte, befand sich in der linken Seitentasche, die Flasche, die er Field gab, kam aus der rechten Seitentasche. Er tauschte die Flaschen nur aus, bevor er sie Field reichte. Das war recht einfach, vor allem, weil es dunkel war und sich der Anwalt dazu noch in recht angesäuseltem Zustand befand … Der Trick mit den Flaschen klappte. Aber Barry war kein Risiko eingegangen. In seiner Tasche trug er eine Spritze mit dem Gift. Wenn Field sich geweigert hätte zu trinken, war Barry darauf vorbereitet, ihn mit der Injektionsnadel in den Arm oder ins Bein zu stechen. Die Spritze in seinem Besitz hatte ihm ein Arzt vor einer Reihe von Jahren besorgt. Damals hatte er an einer Nervenkrankheit gelitten und konnte nie länger in der Obhut eines Arztes bleiben, da er mit einem Schauspielerensemble von Ort zu Ort zog. Das war so lange her, daß man die Spritze nicht mehr mit ihm hätte in Verbindung bringen können. Er war also für den Fall vorbereitet, daß Field sich zu trinken geweigert hätte. Wie ihr seht, war sein Plan selbst in diesem Detail narrensicher …


Die Flasche, aus der Field trank, enthielt guten Whisky, der allerdings sehr reichlich mit Tetrableiäthyl vermischt war. Der leichte Äthergeruch des Giftes verlor sich im Alkoholdunst; und Field kippte sofort einen Riesenschluck hinunter, bevor er


– wenn überhaupt – merkte, daß damit etwas nicht in Ordnung war. Automatisch reichte er die Flasche Barry zurück, der sie einsteckte und sagte: ›Ich denke, ich werde mir die Papiere noch einmal genauer ansehen. Es gibt wirklich keinen Grund, warum ich Ihnen trauen sollte, Field …‹ Field, dem das zu diesem Zeitpunkt bereits äußerst gleichgültig geworden war, nickte etwas verwirrt und sank in seinem Sessel zusammen. Barry untersuchte tatsächlich die Papiere, beobachtete aber gleichzeitig wie ein Habicht aus den Augenwinkeln Field. Nach ungefähr fünf Minuten sah er, daß Field so gut wie fertig war. Er war zwar noch nicht völlig bewußtlos, aber auf dem besten Wege dorthin. Sein Gesicht war verzerrt, und er schnappte nach Luft. Er schien nicht mehr in der Lage zu sein, eine heftige Bewegung zu machen oder aufzuschreien. Bei seinem Todeskampf hatte er Barry bereits vollkommen vergessen; wahrscheinlich blieb er auch nicht mehr lange bei Bewußtsein. Die wenigen Worte, die Pusak ihn stöhnen hörte, können nur noch mit der fast übermenschlichen Anstrengung eines praktisch bereits Toten hervorgestoßen worden sein …


Barry sah nun auf seine Uhr. Es war 9.40 Uhr. Er hatte sich nur zehn Minuten bei Field aufgehalten. Um 9.50 Uhr mußte er auf der Bühne zurück sein. Da er weniger Zeit als vorgesehen gebraucht hatte, beschloß er, noch weitere drei Minuten zu warten, um sicherzugehen, daß Field nicht doch noch Krach schlagen würde. Um genau 9.43 Uhr, als Field von seinen inneren Schmerzen schon entsetzlich geschwächt war, nahm Barry den Hut seines Opfers, ließ seinen eigenen Zylinder zusammenschnappen und unter seinem Cape verschwinden und erhob sich. Er wußte genau, wohin er sich zu wenden hatte. Eng entlang der linken Seitenwand ging er so vorsichtig und unauffällig wie möglich den Gang hinunter, bis er, ohne daß ihn jemand bemerkt hatte, die Rückseite der Logen vorne links erreicht hatte. Das Stück war gerade auf dem Höhepunkt der Spannung angelangt. Alle Augen waren auf die Bühne gerichtet.


Hinter den Logen riß er sich die falschen Haare herunter, brachte sein Gesicht rasch wieder in Ordnung und ging durch den Bühneneingang. Die Tür führte in einen schmalen Durchgang; dieser endete wiederum in einem Korridor, der zu den verschiedenen Bereichen hinter der Bühne führte. Sein Umkleideraum lag direkt am Eingang zum Korridor. Er schlüpfte hinein, warf den Requisitenzylinder zu seinen anderen Sachen, schüttete den restlichen Inhalt der todbringenden Flasche ins Waschbecken und wusch die Flasche aus. Dann leerte er den Inhalt der Spritze in den Abfluß und legte sie dann, nachdem er sie gesäubert hatte, beiseite. Wenn sie gefunden wurde – was machte das schon? Er hatte eine wirklich überzeugende Erklärung dafür, daß er sie besaß; und außerdem war der Mord überhaupt nicht mit Hilfe dieses Gegenstands begangen worden … Er war nun bereit für sein Stichwort – ruhig, heiter und ein wenig gelangweilt. Sein Aufruf kam genau um 9.50 Uhr; er ging auf die Bühne und blieb dort auch, bis der große Tumult um 9.55 Uhr im Zuschauerraum losbrach …«


»Jetzt erzähl weiter von diesem komplizierten Plan!« stieß Sampson hervor.


»Er ist gar nicht so kompliziert, wie er sich zunächst anhört«, entgegnete der Inspektor. »Denk immer daran, daß Barry ein überaus gewitzter junger Mann ist und darüber hinaus ein ausgezeichneter Schauspieler. Nur ein perfekter Schauspieler hätte einen solchen Plan ausführen können. Die Durchführung selbst war dann einfach; das Schwierigste dabei war, den Zeitplan einzuhalten. Sollte er von jemandem gesehen werden, so trug er eine ausgezeichnete Verkleidung. Der einzig gefährliche Teil in seinem Plan war das Wegkommen vom Tatort, als er den Gang hinunter und durch die Tür an den Logen hinter die Bühne ging. Auf den Gang und die Platzanweiser dort achtete er bereits, als er noch neben Field saß. Natürlich hatte er von vornherein gewußt, daß die Platzanweiser, gemäß den Erfordernissen des Stückes, mehr oder weniger pflichtgetreu auf ihren Posten blieben, aber er zählte auf seine Verkleidung und seine Injektionsnadel, die ihn durch alle möglichen Notsituationen hindurchbringen sollten. Nun, Madge O’Connell war sehr nachlässig in ihrer Pflichtauffassung, und so war selbst das noch zu seinen Gunsten. Er erzählte mir gestern abend nicht ohne einen gewissen Stolz, daß er auf jede Eventualität vorbereitet war … Was den Bühneneingang betraf, so wußte er aus Erfahrung, daß zu diesem Zeitpunkt des Stückes so gut wie jeder auf der Bühne war. Auch die Techniker waren alle auf ihren Posten sehr beschäftigt … Bei der Planung des Verbrechens wußte er also schon im voraus über die genauen Bedingungen Bescheid, unter denen er vorzugehen hatte. Und wenn es da noch eine Spur von Unsicherheit, von Gefahr gab – ›es war nun einmal ein gewagtes Unternehmen, nicht wahr?‹ fragte er mich gestern abend und lächelte dabei; und wenn auch für sonst nichts, so konnte ich ihm für diese Einstellung meine Anerkennung nicht versagen.«


Der Inspektor machte ohne Pause weiter. »Das macht deutlich, so hoffe ich, wie Barry den Mord begangen hat. Was unsere Nachforschungen betrifft … Trotz unserer Schlußfolgerungen bezüglich des Zylinders und unseres Wissens um die Identität des Mörders hatten wir immer noch keine Ahnung von den eigentlichen Umständen dieses Verbrechens. Wenn ihr euch noch einmal vor Augen führt, welches Beweismaterial wir bis Donnerstag abend zusammen hatten, so war das eigentlich nichts, mit dem wir etwas anfangen konnten. Das beste, was passieren konnte, war, daß sich irgendwo unter den Papieren, nach denen wir alle suchten, ein Anhaltspunkt befand, über den wir eine Verbindung zu Barry herstellen konnten. Selbst das wäre noch nicht ausreichend gewesen, aber … Das nächste war also«, sagte der Inspektor nach einem Seufzen, »die Entdeckung der Dokumente in Fields nettem Versteck auf dem Baldachin über seinem Bett. Das war ganz und gar Ellerys Leistung. Wir hatten herausgefunden, daß Field kein Bankschließfach, kein Postfach und keinen weiteren Wohnsitz besaß und auch keine freundlichen Nachbarn oder Ladenbesitzer kannte; die Dokumente befanden sich auch nicht in seiner Kanzlei. Weil alle anderen Möglichkeiten nicht in Frage kamen, beharrte Ellery darauf, daß sie sich irgendwo in Fields Wohnung befinden müßten. Ihr wißt, wie die Suche ausging – wieder eines von Ellerys Glanzstücken. Wir fanden Morgans Papiere; wir fanden die Dokumente, hinter denen Cronin her war, die Aufschluß über Fields Verbindungen zum organisierten Verbrechen gaben. Tim, ich bin ziemlich gespannt, was passiert, wenn wir uns damit jetzt ans große Aufräumen machen! Und schließlich fanden wir noch ein Bündel verschiedener Papiere – darunter die von Michaels und Barry. Du weißt sicher noch, Tim, daß Ellery aus Fields Beschäftigung mit der Handschriftenkunde geschlossen hatte, daß wir vielleicht Barrys Originaldokumente finden würden – und so war es auch.


Michaels’ Fall ist hochinteressant. Daß die Anklage gegen ihn damals nur auf Diebstahl lautete, verdankte er ausschließlich Fields cleveren Schachzügen vor Gericht. Aber Field besaß Material über Michaels, und er bewahrte die schriftlichen Beweise seiner wirklichen Schuld in seinem Lieblingsversteck auf – für den Fall, daß er sie zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal benutzen wollte. Eine wirklich sehr vorausschauende Natur, dieser Field … Als Michaels aus dem Gefängnis entlassen wurde, setzte Field ihn ohne Skrupel für seine schmutzigen Geschäfte ein, indem er ihn ständig mit diesen Beweisen seiner Schuld unter Druck setzte.


Michaels hatte nun schon seit langem danach Ausschau gehalten. Wie ihr euch vorstellen könnt, wollte er die Papiere unbedingt haben. Bei jeder Gelegenheit durchsuchte er die Wohnung danach. Und als das jedesmal wieder erfolglos blieb, wurde er immer verzweifelter. Ohne Zweifel hat sich Field in seiner teuflisch zynischen Art köstlich darüber amüsiert, daß Michaels Tag für Tag die Zimmer durchwühlte … Am Montag abend machte Michaels das, was er uns auch gesagt hatte – er ging nach Hause und legte sich schlafen. Aber als er Dienstag früh aus der Zeitung erfuhr, daß Field ermordet worden war, begriff er, daß das Spiel nun aus war. Er mußte noch ein letztes Mal nach den Papieren suchen; fand er sie nicht, so würde die Polizei es vielleicht tun, und er wäre in ziemlichen Schwierigkeiten. Deshalb ging er also das Risiko ein, der Polizei in die Arme zu laufen, als er am Dienstag morgen noch einmal in Fields Wohnung zurückkehrte. Die Geschichte mit dem Scheck war natürlich Unsinn.


Aber ich will jetzt auf Barry zu sprechen kommen. Die Originaldokumente, die wir in dem Hut mit der Aufschrift ›Diverses‹ gefunden haben, erzählen eine schmutzige Geschichte. Um es kurz zu machen: Stephen Barry hat einen Schuß schwarzes Blut in seinen Adern. Er kam aus einer armen Familie im Süden, und es gab einwandfreies Beweismaterial – Briefe, Geburtsregister und so etwas –, daß seine Abstammung einen schwarzen Schönheitsfleck besaß. Wie ihr wißt, war es Fields Geschäft, solche Dinge aufzustöbern. Irgendwie kam er an die Dokumente heran; wie lange das schon her ist, wissen wir nicht, sicherlich aber schon vor einiger Zeit. Als er sich Barrys Vermögenslage zu diesem Zeitpunkt anschaute, sah er, daß er nur ein Schauspieler war, der sich mühsam nach oben kämpfte, öfters abgebrannt als bei Kasse. Er beschloß, den Burschen zunächst einmal in Ruhe zu lassen. Wenn Barry irgendwann einmal zu Geld oder Ruhm kommen sollte, wäre immer noch Zeit genug, ihn zu erpressen … Aber selbst in seinen kühnsten Träumen konnte Field nicht Barrys Verlobung mit Frances Ives-Pope, der Tochter eines Multimillionärs, einer blaublütigen Dame der feinen Gesellschaft, vorausgesehen haben. Ich brauche wohl nicht zu erklären, was es für Barry bedeutet hätte, wenn die Ives-Popes von seiner Abstammung erfahren hätten. Außerdem – und das ist auch nicht ohne Bedeutung – litt Barry wegen seiner Spielleidenschaft an permanentem Geldmangel. Alles, was er verdiente, landete in den Taschen der Buchmacher auf der Rennbahn; außerdem hatte er Riesenschulden gemacht, die er niemals hätte begleichen können, wenn die Heirat mit Frances nicht zustande gekommen wäre. Tatsächlich brauchte er so dringend Geld, daß er selbst es war, der unterschwellig auf eine schnelle Heirat drängte. Ich habe mich gefragt, welche Gefühle er wohl Frances entgegenbrachte, um fair zu sein – ich glaube nicht, daß er sie nur wegen des Geldes heiraten wollte. Wahrscheinlich liebt er sie wirklich; aber wer würde das nicht?«


Der alte Mann lächelte, in Gedanken verloren, und fuhr dann fort. »Field machte sich vor einiger Zeit mit den Dokumenten an Barry heran. Barry zahlte, soviel er konnte, aber das war jämmerlich wenig und stellte natürlich diesen unersättlichen Erpresser nicht zufrieden. Verzweifelt hielt er sich Field mit Vertröstungen vom Leib. Aber Field war selbst in Schwierigkeiten geraten und trieb nun nach und nach seine ›Außenstände‹ ein. Barry, der mit dem Rücken zur Wand stand, wurde klar, daß alles verloren war, wenn Field nicht zum Schweigen gebracht wurde. So plante er den Mord. Denn soviel war ihm klar: Selbst wenn es ihm gelingen sollte, die 50.000 Dollar, die Field verlangte, aufzutreiben – eine schiere Unmöglichkeit – und selbst wenn er in den Besitz der Originaldokumente gelangen sollte, so konnte Field immer noch alle seine Hoffnungen zunichte machen, indem er einfach die Geschichte in Umlauf brachte. Es blieb ihm nichts anderes mehr übrig – er mußte Field umbringen. Und das tat er auch.«


»Schwarzes Blut, ja?« murmelte Cronin. »Armer Teufel.«


»Seiner Erscheinung merkt man das ja wohl kaum an«, bemerkte Sampson. »Er sieht nicht weniger weiß aus als wir.«


»Barry ist weit davon entfernt, ein Vollblutneger zu sein«, wandte der Inspektor ein. »Er hat nur ein Tröpfchen davon in seinen Adern, aber das wäre schon mehr als genug für die IvesPopes gewesen … Nun aber weiter. Als wir die Dokumente entdeckt und gelesen hatten, wußten wir alles. Von wem, wie und warum das Verbrechen begangen wurde. So wandten wir uns unserem Beweismaterial zu, um ihn überführen zu können. Man kann niemanden unter Mordanklage vor Gericht bringen, ohne Beweise zu haben … Nun, was glaubt ihr wohl, was wir da hatten? Nichts!


Laßt mich kurz auf die Anhaltspunkte eingehen, die vielleicht als Beweis hätten von Nutzen sein können. Die Abendtasche der jungen Dame etwa – sie gab nichts her; wertlos, wie ihr wißt … Die Herkunft des Gifts – ein völliger Fehlschlag. Zufällig verschaffte Barry es sich genau so, wie Dr. Jones – Jones, der Toxikologe – es angedeutet hatte. Barry kaufte sich ganz gewöhnliches Benzin und gewann daraus das Tetrableiäthyl. Er hinterließ keine Spuren … Ein anderer möglicher Anhaltspunkt, Monte Fields Zylinder, war verschwunden … Die zusätzlichen Eintrittskarten für die sechs leeren Plätze – wir hatten sie nie zu sehen bekommen, und es schien auch kaum eine Chance zu bestehen, daß wir sie jemals sehen würden … Das einzige weitere konkrete Beweismaterial


– die Dokumente – wies auf ein Motiv hin, bewies aber gar nichts. Ebensogut hätte dann auch Morgan das Verbrechen begehen können oder irgendein Mitglied aus Fields verbrecherischer Organisation.


Unsere einzige Hoffnung, Barry zu überführen, beruhte auf unserem Vorhaben, in seine Wohnung einbrechen zu lassen; wir hofften, daß sich dort entweder der Hut, die Eintrittskarten oder ein anderer Fingerzeig wie etwa das Gift oder der Apparat zu seiner Herstellung finden lassen würden. Velie besorgte mir einen professionellen Einbrecher, und in Barrys Wohnung wurde Freitag abend, während er auf der Bühne stand, eingebrochen. Nicht die Spur eines Beweises kam ans Tageslicht. Der Hut, die Eintrittskarten, das Gift – alles war vernichtet worden. Es war zu erwarten, daß Barry das getan haben würde; wir konnten uns nur noch dessen versichern.


Voller Verzweifelung ließ ich noch einmal mehrere der Theaterbesucher von Montag abend zusammenkommen, in der Hoffnung, daß ich auf jemanden stoßen würde, der sich daran erinnerte, Field an jenem Abend gesehen zu haben. Wir ihr sicher wißt, ist es manchmal so, daß Leute sich erst später wieder an etwas erinnern, was sie wegen der Aufregung bei einer früheren Befragung völlig vergessen hatten. Aber wie es nun einmal so kommt, war auch das ein Fehlschlag. Das einzige von Wert, was dabei herauskam, war die Aussage des Jungen vom Getränkestand, daß er gesehen hatte, wie Field eine Abendtasche im Seitengang aufhob. Was Barry anbelangt, so brachte es uns aber nirgendwo hin. Und ihr wißt ja noch, daß sich aus der Befragung des Theaterensembles am Donnerstag abend auch kein konkreter Anhaltspunkt ergeben hatte.


So standen wir nun da mit einem wundervollen hypothetischen Tatbestand, aber ohne auch nur einen wirklichen Beweis. Der Fall, den wir vorzutragen hatten, hätte einem gerissenen Verteidiger keinerlei Schwierigkeiten bereitet. Es waren reine Indizienbeweise, die vor allem auf Schlußfolgerungen beruhten. Ihr wißt genausogut wie ich, welche Chancen ein solcher Fall vor Gericht gehabt hätte … Und dann fingen meine Schwierigkeiten erst richtig an, denn Ellery ging auf eine Reise.


Ich zermarterte mir den Kopf.« Queen blickte finster auf seine leere Kaffeetasse. »Es sah ziemlich schlecht aus. Wie konnte ich jemanden ohne Beweismaterial überführen? Es war zum Verrücktwerden. Aber dann tat Ellery mir noch einen letzten Gefallen, indem er mich telegrafisch auf eine Idee brachte.«


»Was für eine Idee?« fragte Cronin.


»Auf die Idee, es selbst ein wenig mit Erpressung zu versuchen.«


»Du als Erpresser?« Sampson blickte erstaunt. »Wozu hätte das denn führen sollen?«


»Wenn Ellery einen Vorschlag macht, solltet ihr ihm schon vertrauen, auch wenn es vielleicht etwas zwielichtig erscheinen mag«, erwiderte der Inspektor. »Ich erkannte sofort, daß unser einziger Ausweg darin bestand, das Beweismaterial selber zu fabrizieren.«


Die beiden Männer runzelten verblüfft die Stirn.


»Es war ganz einfach«, sagte Queen. »Field wurde durch ein ungewöhnliches Gift getötet. Er wurde umgebracht, weil er Barry erpreßt hatte. Lag es da nicht auf der Hand anzunehmen, daß Barry erneut Gift benutzen würde, wenn er plötzlich wieder auf die gleiche Weise erpreßt werden würde – und zwar aller Wahrscheinlichkeit nach das gleiche Gift? Ich brauche euch wohl nicht an den Spruch ›Einmal ein Giftmörder, immer ein Giftmörder‹ zu erinnern. Wenn ich Barry nur dazu bringen konnte, es mit diesem Tetrableiäthyl bei jemand anderem zu versuchen, dann hatte ich ihn. Dieses Gift ist nahezu unbekannt


– aber das brauche ich nicht weiter auszuführen. Wenn ich ihn mit Tetrableiäthyl geschnappt hätte, wäre das ein ausreichender Beweis gewesen.


Das Ganze in die Tat umzusetzen, war eine andere Sache … Die Idee einer Erpressung entsprach ausgezeichnet den Gegebenheiten. Ich besaß wirklich die Originaldokumente über Barrys nicht lupenreine Abstammung. Barry hatte geglaubt, sie seien vernichtet – er hatte keinen Grund zu der Annahme, daß die Dokumente, die er von Field hatte, raffinierte Fälschungen waren. Wenn ich ihn erpreßte, saß er genauso in der Klemme wie zuvor. Folglich würde er auch wieder genauso handeln.


Und so bediente ich mich unseres lieben Freundes Charly Michaels. Der einzige Grund, warum ich mich seiner bediente, war, daß es für Barry nur folgerichtig erscheinen mußte, daß sich Michaels, Fields Kumpan und ständiger Begleiter, im Besitz der Originaldokumente befand. Ich brachte Michaels dazu, einen von mir diktierten Brief zu schreiben. Ich wollte, daß Michaels ihn schrieb, weil Barry möglicherweise durch seine Verbindung zu Field mit dessen Handschrift vertraut war. Dies mag euch vielleicht unwichtig vorkommen, aber ich konnte kein Risiko eingehen. Nur ein kleiner Fehler von meiner Seite – und Barry hätte sofort alles durchschaut, und ich hätte ihn nie mehr zu fassen bekommen.


Ich legte dem Brief ein Blatt aus den Originaldokumenten bei, um zu zeigen, daß an dieser Erpressung wirklich etwas dran war. Ich legte dar, daß Barry von Field nur Kopien bekommen hatte; das beigefügte Blatt unterstrich diese Behauptung. Es gab für Barry nicht den geringsten Grund, daran zu zweifeln, daß Michaels ihn wie zuvor sein Dienstherr schröpfen würde. Ich bestimmte Ort und Zeit, und – um es kurz zu machen – unser Plan klappte …


Ich denke, das war’s, meine Herren. Barry kam; er trug seine kleine zuverlässige Spritze mit Tetrableiäthyl bei sich. Dazu noch ein Fläschchen – also abgesehen von der Örtlichkeit eine exakte Wiederholung des Verbrechens an Field. Ich hatte meinen Mann – es war Ritter – angewiesen, kein Risiko einzugehen. Sobald er Barry erkannte, hielt er ihn mit der Waffe in Schach und schlug Alarm. Glücklicherweise saßen wir fast direkt hinter ihnen im Gebüsch. Barry war völlig verzweifelt und hätte sich und auch Ritter umgebracht, wenn er Gelegenheit dazu gehabt hätte.«


Ein bedeutungsvolles Schweigen entstand, als der Inspektor zum Ende gekommen war, seufzte und sich dann nach vorne beugte, um etwas Schnupftabak zu nehmen.


Sampson rutschte ein wenig auf dem Stuhl herum. »Das klingt ja wie ein echter Reißer, Q«, sagte er voller Bewunderung. »Aber einige Punkte sind mir noch nicht ganz klar. Wenn zum Beispiel dieses Tetrableiäthyl so wenig bekannt ist, wie kam ausgerechnet Barry darauf, und wie brachte er es fertig, es sogar selbst herzustellen?«


»Ah.« Der Inspektor lächelte. »Das hat mich auch beschäftigt, seit Jones mir das Gift beschrieben hat. Selbst nach der Festnahme war ich mir darüber noch nicht im klaren. Und doch war die Antwort für mich die ganze Zeit über zum Greifen nahe; das soll nur deutlich machen, wie dumm ich manchmal bin. Du erinnerst dich sicher daran, daß uns bei unserem Treffen bei den Ives-Popes ein gewisser Dr. Cornish vorgestellt wurde. Nun, Cornish ist der persönliche Freund des alten Financiers, und beide sind sehr interessiert an der Forschung im medizinischen Bereich. Tatsächlich erinnere ich mich daran, wie Ellery einmal fragte: ›Hat Ives-Pope nicht kürzlich 100.000 Dollar für die Chemical Research Foundation gestiftet?‹ Das stimmte. Es war im Rahmen einer Zusammenkunft im Haus der Ives-Popes vor einigen Monaten, daß Barry zufällig von dem Tetrableiäthyl erfuhr. Auf Vermittlung von Dr. Cornish war eine Abordnung von Wissenschaftlern an Ives-Pope herangetreten, um eine finanzielle Unterstützung der Foundation durch ihn zu erbitten. Im Verlauf des Abends wandte man sich natürlich auch dem neuesten Medizinerklatsch und den letzten wissenschaftlichen Entdeckungen zu. Barry gab zu, mit angehört zu haben, wie einer der Direktoren der Foundation, ein berühmter Toxikologe, den Anwesenden von jenem Gift erzählt habe. Zu diesem Zeitpunkt dachte Barry noch nicht im entferntesten daran, sich dieses Wissen jemals zunutze zu machen. Erst als er beschlossen hatte, Field umzubringen, erkannte er sofort die Vorteile dieses Giftes, vor allem den, daß man seine Herkunft nicht zurückverfolgen konnte.«


»Was um alles in der Welt bedeutete dann die Botschaft, die Sie mir am Donnerstag morgen durch Louis Panzer zukommen ließen, Inspektor?« fragte Cronin neugierig. »Sie erinnern sich? Sie baten mich, Lewin und Panzer bei ihrem Aufeinandertreffen zu beobachten, um herauszufinden, ob sie sich bereits kannten. Wie ich Ihnen schon berichtete, fragte ich Lewin später danach, und er stritt jede Bekanntschaft mit Panzer ab. Was steckte dahinter?«


»Panzer«, wiederholte der Inspektor leise. »Panzer war mir nie so ganz geheuer, Tim. Zu dem Zeitpunkt, als ich ihn zu dir schickte, hatten wir die Schlußfolgerungen aus der Art seines Hutes, die ihn von aller Schuld freisprachen, noch nicht gezogen … Ich schickte ihn aus reiner Neugierde zu dir. Wenn Lewin ihn wiedererkannt hätte, so dachte ich mir, hätte das auf eine mögliche Verbindung zwischen Panzer und Field hingedeutet. Aber der Verdacht erhärtete sich nicht; es war auch von Anfang an nicht besonders vielversprechend. Panzer hätte auch, ohne daß Lewin davon Kenntnis hatte, mit Field bekannt sein können. Auf der anderen Seite war mir auch sehr daran gelegen, daß Panzer an jenem Morgen nicht im Theater herumstand; so hatte der Botengang für uns beide sein Gutes.«


»Nun, ich hoffe, Sie waren vollauf mit dem Packen Zeitungen zufrieden, den ich Ihnen auf Ihre Anweisung hin zurückbringen ließ«, sagte Cronin mit einem Grinsen.


»Was ist mit dem anonymen Brief, den Morgan erhielt? War das ein Täuschungsmanöver oder was?« fragte Sampson.


»Das war wirklich eine nette kleine Intrige«, antwortete Queen grimmig. »Barry hat mir das gestern abend erklärt. Er hatte von Morgans Morddrohung gegen Field gehört. Er wußte selbstverständlich nicht, daß Field auch Morgan erpreßte. Aber er dachte sich, daß es vielleicht eine ausgezeichnete falsche Fährte sein würde, wenn er Morgan am Montag abend ins Theater kriegen könnte – und dann noch unter solch fragwürdigen Umständen. Kam Morgan nicht, so würde das keinen Schaden anrichten. Kam er aber … Er ging folgendermaßen vor. Er besorgte sich gewöhnliches Briefpapier, ging zu einem dieser Schreibmaschinenläden und tippte – dabei trug er Handschuhe – den Brief, unterschrieb ihn mit diesen einfach dahingekritzelten Initialen und warf ihn am Hauptpostamt ein. Er war sehr sorgfältig, was Fingerabdrücke anbelangt; das Schreiben ließ sich auf keinen Fall auf ihn zurückführen. Wie es das Glück nun einmal so will – Morgan schluckte den Köder und kam. Seine wirklich lächerliche Geschichte und die offensichtliche Unechtheit des Schreibens ließen Morgan, so wie Barry es auch beabsichtigt hatte, in einen starken Verdacht geraten. Die göttliche Vorsehung scheint aber andererseits für den Ausgleich gesorgt zu haben. Denn die Informationen, die wir von Morgan über Fields Tätigkeit als Erpresser erhielten, haben Barry doch ziemlich zum Nachteil gereicht. Aber das konnte er nicht vorhersehen.«


Sampson nickte. »Im Moment fällt mir nur noch eine weitere Sache ein. Wie hat Barry den Kauf der Eintrittskarten bewerkstelligt? Oder ging das gar nicht von ihm aus?«


»Doch, sicher. Barry konnte Field davon überzeugen, daß es aus Gründen der Fairneß ihm gegenüber wohl angebracht wäre, daß ihr Treffen und die geschäftliche Transaktion im Theater mit der größtmöglichen Heimlichkeit abgewickelt werden. Field war einverstanden und auch leicht zu überreden, die acht Eintrittskarten an der Theaterkasse zu kaufen. Ihm war ja selbst klar, daß sie die sechs zusätzlichen Karten benötigten, um eine ungestörte Abwicklung des Geschäfts zu gewährleisten. Sieben der Karten schickte er Barry; Barry vernichtete sie natürlich alle sofort außer LL30 Links.«


Müde lächelnd erhob sich der Inspektor. »Djuna!« sagte er leise. »Noch etwas Kaffee.«


Mit einer Handbewegung hielt Sampson ihn auf. »Danke, Q, aber ich muß jetzt gehen. Cronin und ich haben noch einen Haufen Arbeit vor uns mit dieser Verbrecherorganisation. Ich hätte aber keine Ruhe gehabt, bevor ich nicht von dir selbst die ganze Geschichte gehört hätte … Q, altes Haus«, fügte er noch etwas unbeholfen hinzu, »ganz offen möchte ich dir sagen, daß du meiner Meinung nach Außerordentliches geleistet hast.«


»Eine solche Geschichte habe ich noch nie gehört«, bemerkte Cronin ganz ehrlich. »Was für ein rätselhafter Fall, und was für eine glasklare Beweisführung vom Anfang bis zum Ende!«


»Meinen Sie wirklich?« fragte der Inspektor ruhig. »Das freut mich sehr. Aber die Ehre gebührt vor allem Ellery. Ich bin ganz schön stolz auf meinen Jungen …«


1 Inspektor Queens Feststellung hier entspricht nicht ganz der Wahrheit. Benjamin Morgan war weit davon entfernt, völlig ›unschuldig‹ zu sein. Aber der Gerechtigkeitssinn des Inspektors zwang ihn dazu, den Anwalt in Schutz zu nehmen und bezüglich seines Stillschweigens Wort zu halten. – E. Q.

Nachdem Sampson und Cronin gegangen waren und Djuna sich in die winzige Küche zurückgezogen hatte, um das Frühstücksgeschirr abzuwaschen, setzte sich der Inspektor wieder an den Schreibtisch und nahm den Füllfederhalter in die Hand. Rasch überlas er noch einmal das, was er seinem Sohn geschrieben hatte. Mit einem Seufzer setzte er dann wieder zu schreiben an.

Wir wollen vergessen, was ich gerade geschrieben habe. Mehr als eine Stunde ist seitdem vergangen. Sampson und Tim Cronin waren hier, und ich mußte ihnen unsere Arbeit an diesem Fall ausführlich schildern. So ein Gespann hab’ ich noch nie vor mir sitzen gesehen. Beide wie die Kinder. Haben die Geschichte verschlungen, als wäre das Ganze ein Märchen … Während ich erzählte, wurde mir mit Schrecken klar, wie wenig ich eigentlich zur Lösung des Falls beigetragen habe und wie groß Dein Anteil daran war. Ich sehne mich jetzt schon nach dem Tag, an dem Du Dir ein nettes Mädchen angeln und Dich verheiraten wirst und sich die ganze Queen-Sippe dann nach Italien davonmachen kann, um sich dort zu einem Leben voller Ruhe niederzulassen … Nun, El, ich muß mich jetzt ankleiden und rüber ins Präsidium gehen. Eine Menge Routinearbeit hat sich seit letztem Montag angesammelt, und es ist mehr als genug zu tun …

Wann kommst Du zurück? Glaube bitte nicht, daß ich Dich drängen möchte, aber es ist so schrecklich einsam hier, mein Sohn. Ich … Nein, ich glaube, ich bin zu egoistisch und zu müde. Ein seniler, komischer Kauz, der verhätschelt werden will. Aber Du kommst doch bald nach Hause, nicht wahr? Djuna läßt Dir Grüße bestellen. Der Halunke macht mich noch wahnsinnig mit dem Radau, den er in der Küche veranstaltet.

Dein Dich liebender Vater


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