»… Ein Beispiel zur Verdeutlichung: Eines Tages kam der junge Jean Q. nach einem Monat gewissenhafter Arbeit an einem schwierigen Fall zu mir. Er wirkte verzweifelt. Wortlos überreichte er mir ein förmliches Schreiben. Ich las es voller Bestürzung. Er bat um seine Entlassung.
›Aber, Jean!‹ rief ich. ›Was hat das zu bedeuten?‹ ›Ich habe versagt, M. Brillon‹, sagte er leise. ›Einen Monat Arbeit völlig umsonst. Ich war auf der falschen Spur. Es ist eine Schande.‹
›Jean, mein Freund‹, antwortete ich ernst, ›soviel zu deiner Entlassung.‹ Mit diesen Worten riß ich das Papier vor seinen erstaunten Augen in Stücke. ›Geh jetzt‹, ermahnte ich ihn, ›und fang noch einmal von vorne an. Halte dir stets den Grundsatz vor Augen: Dem Wissen um das, was richtig ist, geht stets das Wissen um das, was falsch ist, voraus!‹«
Aus Erinnerungen eines Präfekten von Auguste Brillon
in welchem die Queens Mr. Fields beste Freundin kennenlernen
Die Wohnung der Queens in der 87. Straße, West, war, angefangen bei dem Pfeifenständer über dem Kamin bis hin zu den glänzenden Säbeln an der Wand, ein ganz und gar männliches Domizil. Sie wohnten im obersten Stock eines Dreifamilienhauses, einem braunen Sandsteingebäude aus spätviktorianischer Zeit. Man schritt über mit schweren Teppichen bedeckte Stufen durch endlos scheinende Flure von erdrückender Geradlinigkeit. Wenn man fast schon zu der Überzeugung gelangt war, daß einen solch trostlosen Ort nur vertrocknete Gemüter bewohnen könnten, gelangte man zu einer riesigen Eichentür mit dem hübsch beschrifteten und gerahmten Namensschild ›Die Queens‹. Dann grinste einen Djuna durch den Türspalt hindurch an, und man betrat eine völlig andere Welt.
Nicht wenige bedeutende Männer hatten nur zu gerne dieses wenig einladende Treppenhaus durchschritten, um dort oben eine Zuflucht zu finden. Mehr als nur einmal trug Djuna wohlgemut eine Karte mit einem berühmten Namen darauf von der Diele in den Wohnraum.
Die Gestaltung der Diele ging auf Ellery zurück, um der Wahrheit die Ehre zu geben. Sie war so klein und eng, daß die Wände ungewöhnlich hoch zu sein schienen. Mit einem seltsamen Sinn für Humor war eine Wand vollständig mit einem Wandteppich, auf dem eine Jagd abgebildet war, bedeckt worden – eine äußerst passende Dekoration für diesen altertümlich wirkenden Raum. Beide Queens verabscheuten den Teppich von ganzem Herzen und ließen ihn nur hängen, weil er ihnen als Ausdruck fürstlichen Dankes vom Duke of –
– überreicht worden war, jenem jähzornigen Mann, dessen Sohn Richard Queen vor einem entsetzlichen Skandal bewahrt hatte, dessen Einzelheiten nie an die Öffentlichkeit gelangt sind. Unter dem Wandteppich befand sich ein schwerer Altartisch, auf dem eine mit Pergament bespannte Lampe und ein Paar bronzener Buchstützen, die eine dreibändige Ausgabe der ›Märchen aus Tausendundeiner Nacht‹ hielten, standen.
Zwei Gebetsstühle und ein kleiner Läufer vervollständigten die Einrichtung der Diele.
Wenn man diesen niederdrückenden, fast immer düsteren und abweisenden Ort durchschritten hatte, war man auf alles andere gefaßt als auf die vollkommene Heiterkeit des dahinterliegenden großen Zimmers. Dieser Gegensatz war Ellerys Privatvergnügen; denn der alte Mann hätte – ginge es nach ihm – bereits seit langem die Einrichtungsgegenstände der Diele in irgendeiner Rumpelkammer verstaut.
Das Wohnzimmer war auf drei Seiten von dicht beieinanderstehenden und den Geruch von Leder ausströmenden Bücherschränken umgeben, die bis an die hohe Decke reichten. Auf der vierten Seite befand sich ein echter Kamin mit einer Einfassung aus massivem Eichenholz und einem glänzenden Eisengitter vor der Kaminöffnung. Über dem Kamin hingen die berühmten gekreuzten Säbel, ein Geschenk des alten Fechtmeisters von Nürnberg, bei dem Richard in seinen Jugendjahren während seines Studiums in Deutschland gelebt hatte. Lampen glänzten und blinkten überall in dem großzügigen Raum; bequeme Sessel, Lehnstühle, niedrige Chaiselongues, Fußschemel und helle Lederpolster standen herum. Kurzum, es war ein äußerst gemütlicher Raum, wie ihn sich nur zwei geistig tätige Menschen als ihr Refugium entwerfen konnten. Und wenn vielleicht nach einer bestimmten Zeit ein solcher Ort langweilig geworden wäre – allein durch die bloße Vielfalt der Dinge –, so verhinderte dies der geschäftige Djuna, Laufbursche, Faktotum, Diener und guter Geist des Hauses in einer Person.
Djuna war von Richard Queen während Ellerys Zeit am College aufgenommen worden, als sich der alte Mann oft sehr allein fühlte. Er war ein fröhlicher junger Mann, neunzehn Jahre alt, Waise, solange er zurückdenken konnte und in entzückender Weise ahnungslos, was die Notwendigkeit eines Familiennamens anbelangt. Er war klein und schlank, immer freudig erregt, in überschäumender Stimmung, aber auch mucksmäuschenstill, wenn die Situation es erforderte. Djuna verehrte den alten Richard ungefähr in der gleichen Weise, wie sich die Ureinwohner Alaskas vor ihren Totempfählen niederbeugten. Auch zwischen ihm und Ellery bestand ein scheues Band der Verbundenheit, das seinen Ausdruck aber nur in dem leidenschaftlichen Diensteifer des Jungen fand. Er schlief in einem kleinen Zimmer hinter den Schlafräumen von Vater und Sohn und konnte, wie es Richard stets schmunzelnd ausdrückte, »mitten in der Nacht sogar vom Liebesgesang eines Flohs aufgeweckt werden«.
Am Morgen nach dem ereignisreichen Abend, an dem Monte Field ermordet worden war, deckte Djuna gerade den Tisch fürs Frühstück, als das Telefon klingelte. An Anrufe am frühen Morgen bereits gewöhnt, nahm er den Hörer ab.
»Hier ist Djuna bei Inspektor Queen. Wer ist da bitte?«
»Oh, so, so«, brummte eine tiefe Stimme aus dem Hörer. »Nun, du Sohn eines streunenden Polizisten, weck den Inspektor, und zwar schnell!«
»Inspektor Queen darf nicht gestört werden, Sir, solange sein Vertrauter Djuna nicht weiß, wer anruft.« Djuna, der den Klang von Sergeant Velies Stimme sofort erkannt hatte, grinste und steckte dabei die Zunge in die Backe.
Eine schlanke Hand packte Djuna fest am Nacken und wirbelte ihn halb durchs Zimmer. Der Inspektor, bereits fertig angezogen und mit noch von der ersten Morgenprise Schnupftabak bebenden Nasenflügeln, sprach in den Hörer: »Kümmere dich nicht um Djuna, Thomas. Was ist los? Hier ist Queen.«
»Oh, Sie sind’s, Inspektor. Ich hätte Sie nicht schon so früh am Morgen gestört, wenn nicht Ritter gerade aus Monte Fields Wohnung angerufen hätte. Es gibt was Interessantes zu berichten«, polterte Velie.
»Gut, gut«, schmunzelte der Inspektor. »Unser Freund Ritter hat also jemanden eingefangen? Wer ist es denn, Thomas?«
»Sie haben es erraten, Sir«, antwortete Velie mit unbewegter Stimme. »Er sagt, er befände sich dort in einer etwas peinlichen Situation mit einer nur leicht bekleideten Dame, und falls er sich noch länger dort mit ihr aufhalten sollte, wird sich seine Frau wohl von ihm scheiden lassen. Irgendwelche Befehle, Sir?«
Queen lachte herzhaft. »Aber sicher, Thomas. Schick sofort ein paar Männer als Anstandswauwaus dorthin. Ich selbst werde auf der Stelle dort sein, das heißt, sobald ich Ellery aus dem Bett geschmissen habe.«
Grinsend hängte er ein. »Djuna!« rief er. Augenblicklich erschien dessen Kopf in der Küchentür. »Beeil dich mit den Eiern und dem Kaffee, mein Sohn!« Der Inspektor ging ins Schlafzimmer und traf dort auf Ellery, der ihm – noch ohne Kragen, aber unverkennbar dabei, sich anzukleiden – mit abwesendem Gesichtsausdruck gegenüberstand.
»Du bist schon auf?« brummte der Inspektor und machte es sich in einem Lehnstuhl bequem. »Ich dachte, ich müßte dich aus dem Bett schmeißen, du Faulpelz!«
»Du kannst beruhigt sein«, sagte Ellery abwesend. »Ich bin tatsächlich schon auf und werde auch auf bleiben. Und sobald Djuna für mein leibliches Wohl gesorgt hat, bin ich auf und davon.« Er schlenderte noch einmal ins Schlafzimmer und kam wenig später, Kragen und Krawatte schwingend, zurück.
»Hiergeblieben! Wo willst du denn hin, junger Mann«, rief Queen aufgebracht und sprang auf.
»Zu meiner Buchhandlung, liebster Inspektor«, antwortete Ellery widerspenstig. »Du glaubst doch nicht etwa, daß ich es zulasse, daß mir die Falconer-Erstausgabe durch die Lappen geht? Also wirklich – sie könnte tatsächlich noch dort sein.«
»Dieses nutzlose Zeug«, sagte sein Vater grimmig. »Du hast etwas begonnen, und du wirst mir auch helfen, es zu Ende zu bringen. Hierher, Djuna – wo ist der Junge nur wieder?«
Djuna betrat flink den Raum, auf der einen Hand balancierte er ein Tablett, mit der anderen Hand trug er die Milchkanne. Im Nu hatte er den Tisch gedeckt, Kaffe aufgebrüht und das Brot getoastet; wortlos schlangen Vater und Sohn ihr Frühstück hinunter. »Nun«, bemerkte Ellery und setzte seine leere Tasse ab, »nun, da ich dieses gemütliche Mahl beendet habe, sag mir bitte, wo es brennt.«
»Zieh dir Hut und Mantel an und hör auf, sinnlose Fragen zu stellen«, knurrte Queen. Drei Minuten später standen sie unten auf dem Bürgersteig und winkten ein Taxi herbei.
Das Taxi hielt vor einem imposanten Appartmenthaus. Detective Piggott schlenderte, eine Zigarette im Mund, den Bürgersteig entlang. Der Inspektor zwinkerte ihm zu und trat in die Eingangshalle. Der Aufzug brachte sie geschwind in die vierte Etage, wo Detective Hagstrom sie begrüßte und ihnen die Wohnungstür mit der Nummer 4-D zeigte. Ellery, der sich vorgebeugt hatte, um die Schrift auf dem Namensschild lesen zu können, wollte sich gerade mit einer übermütigen Beschwerde an seinen Vater wenden, als auf Queens energisches Klingeln hin die Tür geöffnet wurde und ihnen das breite gerötete Gesicht von Ritter entgegenblickte.
»Morgen, Inspektor«, murmelte der Detective und hielt die Tür auf. »Ich bin froh, daß Sie kommen, Sir.«
Queen und Ellery gingen hinein. Sie befanden sich in einer verschwenderisch eingerichteten Diele. Direkt vor sich sahen sie das Wohnzimmer, dahinter eine geschlossene Tür. Die offene Tür gab den Bück frei auf eine verzierte Damensandalette und einen schlanken Knöchel.
Der Inspektor ging los, überlegte es sich dann aber anders und rief schnell noch nach Hagstrom, der draußen auf dem Gang herumging. Der Detective kam herangeeilt.
»Kommen Sie rein«, sagte Queen scharf. »Ich hab’ hier noch was für Sie.« Mit Ellery und den beiden Männern in Zivil in seinem Gefolge schritt er in das Wohnzimmer.
Eine Frau von reifer, bereits ein wenig verlebter Schönheit, deren blasser, ruinierter Teint unter einer dick aufgetragenen Schicht von Rouge sichtbar wurde, sprang auf. Sie trug ein fließendes, durchscheinendes Neglige; ihr Haar war zerzaust. Nervös trat sie eine Zigarette auf dem Boden aus.
»Sind Sie hier die große Nummer?« brüllte sie Queen voller Wut an. Er rührte sich nicht und betrachtete sie unbeteiligt. »Was erlauben Sie sich eigentlich, einen Ihrer Plattfüße herzuschicken und mich die ganze Nacht über festzuhalten?«
Sie machte einen Satz nach vorne auf Queen zu, so als wollte sie handgreiflich werden. Ritter ging dazwischen und packte ihren Arm. »Sie haben die Klappe zu halten, bis Sie gefragt werden«, knurrte er.
Sie starrte ihn an. Dann entwand sie sich katzenartig seinem Griff und ließ sich keuchend und mit wildem Blick in einem Sessel nieder.
Die Arme in die Seiten gestemmt, musterte der Inspektor sie mit unverhohlener Abscheu von oben bis unten. Ellery hatte ihr nur einen kurzen Blick zugeworfen und dann begonnen, im Zimmer herumzuhantieren, sich die Wandbehänge und die japanischen Drucke anzusehen, ein Buch von einem Beistelltisch zu nehmen, seine Nase in die dunklen Ecken zu stecken.
Queen winkte Hagstrom heran. »Bringen Sie diese Dame ins Nebenzimmer, und leisten Sie ihr eine Zeitlang Gesellschaft«, sagte er. Recht unsanft brachte der Detective die Frau auf die Füße. Trotzig warf sie den Kopf zurück und zog ab ins nächste Zimmer; Hagstrom folgte ihr.
»Nun, Ritter, mein Junge, erzählen Sie mir, was passiert ist«, seufzte der alte Mann und ließ sich in einen Sessel sinken.
Ritter antwortete unbewegt. Seine Augen waren überanstrengt und blutunterlaufen. »Ich bin Ihren Anweisungen letzte Nacht genauestens gefolgt. Ich bin im Polizeiwagen hierher gerast; an der Ecke hab’ ich ihn stehenlassen, weil ich nicht wußte, ob nicht schon jemand Ausschau hielt, und bin dann hoch zur Wohnung spaziert. Alles war ruhig; Lichter hab’ ich auch nirgends bemerkt – vorher war ich noch kurz in den Hof gerannt, um mir die Fenster der Wohnung von der Hinterseite anzusehen. Ich hab’ also brav geklingelt und gewartet.
Keine Reaktion«, fuhr Ritter fort, während sich sein Kiefer anspannte. »Ich hab’ noch mal geklingelt – diesmal länger und lauter. Und nun rührte sich was. Ich hörte drinnen das Schloß gehen und diese Frau da trällern: ›Bist du es, Liebling? Wo ist denn dein Schlüssel?‹ Aha – dachte ich – Mr. Fields Liebchen! Ich hab’ meinen Fuß zwischen die Tür geschoben und sie gepackt, noch bevor sie wußte, was überhaupt los war. Nun, Sir, ich war dann auch ziemlich verblüfft. Irgendwie hab’ ich erwartet« – Ritter grinste dabei dämlich – »hab’ ich erwartet, eine angezogene Frau vorzufinden, aber alles, was ich zu fassen bekam, war ein dünnes seidenes Nachthemd. Muß wohl etwas rot geworden sein…«
»Ah, die günstigen Gelegenheiten für unsere tapferen Häscher«, murmelte Ellery, während er sich eine Lackvase näher anschaute.
»Jedenfalls bekam ich sie zu fassen«, fuhr der Detective fort. »Sie hat ganz schön gekreischt. Hab’ sie dann ins Wohnzimmer befördert, wo sie das Licht angemacht hatte, und sie mir angeschaut. Sie war vor Schreck ganz bleich geworden, aber sie war doch irgendwie mutig; denn sie fing an, mich zu beschimpfen, wollte wissen, wer zum Teufel ich wäre, was ich mitten in der Nacht in der Wohnung einer Frau vorhätte und so weiter. Ich zückte schnell meine Polizeimarke. Sobald diese Furie meine Marke sah, Inspektor, ging bei ihr die Klappe runter, und sie hat keine einzige Frage von mir beantwortet!«
»Warum wohl?« Der alte Mann ließ seinen Blick über die Einrichtung des Zimmers schweifen.
»Schwer zu sagen, Inspektor«, sagte Ritter. »Zunächst schien sie erschrocken zu sein, aber als sie meine Marke sah, riß sie sich schnell wieder zusammen. Je länger ich hier war, desto unverschämter wurde sie.«
»Das mit Field haben Sie ihr nicht erzählt?« fragte der Inspektor.
Ritter sah seinen Vorgesetzten vorwurfsvoll an. »Nicht ein Sterbenswörtchen, Sir«, sagte er. »Nun, als klar war, daß nichts aus ihr herauszubringen war – sie kreischte immer nur ›Mann, warte nur, bis Monte nach Hause kommt!‹ –, hab’ ich mir das Schlafzimmer angeschaut. Es war niemand da; also hab’ ich sie dort hineingesteckt, hab’ die Tür offen und das Licht brennen gelassen und so die ganze Nacht durchgehalten. Nach einiger Zeit ging sie ins Bett und schlief wohl auch ein. Heute morgen um sieben sprang sie dann auf und fing wieder mit dem Geschrei an. Dachte anscheinend, Field wäre von der Polizei geschnappt worden. Wollte unbedingt eine Zeitung haben. Ich sagte ihr, sie solle gar nichts tun, und dann hab’ ich die Dienststelle angerufen. Seitdem ist nichts weiter mehr passiert.«
»Hör mal, Vater«, rief Ellery plötzlich aus einer Zimmerecke. »Was glaubst du wohl, was unser Freund, der Rechtsanwalt, liest? Du würdest es nie erraten. ›Was die Handschrift über die Persönlichkeit verrät‹!«
Der Inspektor erhob sich murrend. »Hör endlich mit diesem ewigen Bücherquatsch auf«, sagte er, »und komm mit.«
Er riß die Tür zum Schlafzimmer auf. Die Frau saß mit übereinandergeschlagenen Beinen auf dem Bett, einem reichverzierten Möbelstück aus einer Mischung französischer Stile, mit Baldachin und von oben bis unten behangen mit schweren Damastvorhängen. Teilnahmslos lehnte Hagstrom am Fenster.
Queen schaute sich rasch um. Er wandte sich an Ritter. »War das Bett zerwühlt, als Sie letzte Nacht hier eindrangen? Sah es so aus, als hätte jemand darin geschlafen?« flüsterte er ihm zu.
Ritter nickte. »Also gut, Ritter«, sagte Queen freundlich. »Gehen Sie nach Hause, und ruhen Sie sich aus. Sie haben es verdient. Schicken Sie Piggott bei der Gelegenheit rauf.« Der Detective grüßte und ging fort.
Queen wandte sich nun der Frau zu. Er trat zum Bett, setzte sich neben sie und betrachtete das halb abgekehrte Gesicht. Trotzig zündete sie sich eine Zigarette an.
»Ich bin Polizeiinspektor Queen, meine Liebe«, stellte sich der Alte mit sanfter Stimme vor. »Ich mache Sie darauf aufmerksam, daß Sie sich mit dem Versuch, weiter hartnäckig zu schweigen oder mich anzulügen, selbst die allergrößten Unannehmlichkeiten bereiten werden. Aber was red’ ich! Natürlich begreifen Sie das.«
Sie rückte von ihm fort. »Ich werde solange keine einzige Frage beantworten, Inspektor, bis ich weiß, welches Recht Sie haben, überhaupt welche zu stellen. Ich hab’ nichts Unrechtes getan, ich hab’ eine reine Weste. Das können Sie sich hinter die Ohren schreiben.«
Der Inspektor genehmigte sich zunächst eine Prise Schnupftabak. Dann sagte er besänftigend: »Das ist nicht mehr als recht und billig. Sie, eine einsame Frau, werden plötzlich mitten in der Nacht aus dem Bett geworfen – Sie waren doch im Bett, nicht wahr –?«
»Selbstverständlich«, gab sie auf der Stelle zurück; dann biß sie sich auf die Lippen.
»– und stehen auf einmal einem Polizisten gegenüber… Es wundert mich gar nicht, daß Sie erschrocken sind, meine Liebe.«
»Bin ich überhaupt nicht!« sagte sie schrill.
»Darüber wollen wir uns nicht streiten«, entgegnete der Alte wohlwollend. »Aber sicher haben Sie nichts dagegen, mir Ihren Namen zu nennen?«
»Ich weiß zwar nicht, warum ich das sollte, aber schaden kann es ja niemandem«, erwiderte die Frau. »Ich heiße Angela Russo – Mrs. Angela Russo –, und ich bin, nun – ich bin mit Mr. Field verlobt.«
»Ich verstehe«, sagte Queen ernst. »Mrs. Angela Russo und verlobt mit Mr. Field. Sehr schön! Und was haben Sie letzte Nacht in der Wohnung hier gemacht, Mrs. Angela Russo?«
»Das geht Sie nichts an!« sagte sie unverfroren. »Sie lassen mich jetzt wohl besser gehen – ich hab’ nichts Unrechtes getan. Sie haben kein Recht, mir die Ohren vollzuquasseln, alter Knabe!«
Ellery, der aus dem Fenster schaute, mußte lächeln. Der Inspektor beugte sich vor und ergriff sanft die Hand der Frau.
»Meine liebe Mrs. Russo«, sagte er, »glauben Sie mir, wir haben wirklich zwingende Gründe, daß wir unbedingt wissen müssen, was Sie letzte Nacht hier gemacht haben. Kommen Sie schon – erzählen Sie es mir.«
»Ich werd’ solange den Mund nicht aufmachen, bis ich weiß, was ihr mit Monte angestellt habt«, schrie sie und schüttelte seine Hand ab. »Wenn ihr ihn geschnappt habt, warum quälen Sie mich dann noch? Ich weiß von nichts.«
»Mr. Field ist zur Zeit sehr gut aufgehoben«, fuhr der Inspektor sie an und erhob sich. »Ich hab’ Ihnen jetzt lang genug zuhören müssen. Monte Field ist tot.«
»Monte – Field – ist –« Die Lippen der Frau bewegten sich mechanisch. Sie sprang auf, hielt das Neglige gegen ihre mollige Gestalt gepreßt und starrte in Queens unbewegtes Gesicht.
Sie lachte kurz und warf sich dann wieder aufs Bett. »Weiter so – Sie wollen mich doch nur reinlegen«, sagte sie höhnisch.
»Ich pflege über den Tod keine Scherze zu machen«, antwortete der alte Mann mit einem leisen Lächeln. »Sie können meinen Worten Glauben schenken – Monte Field ist tot.« Sie blickte zu ihm auf, lautlos bewegten sich ihre Lippen. »Und was noch dazu kommt, Mrs. Russo – er wurde ermordet. Vielleicht geruhen Sie nun, meine Fragen zu beantworten. Wo waren Sie gestern abend um Viertel vor zehn?« flüsterte er ihr ins Ohr und brachte sein Gesicht ganz nah an das ihre heran.
Mrs. Russo war kraftlos auf dem Bett zusammengesunken. Furcht spiegelte sich in ihren großen Augen. Sie starrte den Inspektor an, fand aber wenig Trost in seinem Anblick; mit einem Aufschrei warf sie sich herum und schluchzte in das zerdrückte Kopfkissen hinein. Queen trat einen Schritt zurück und sprach leise zu Piggott, der kurz zuvor das Zimmer betreten hatte. Plötzlich hörte die Frau zu schluchzen auf. Sie setzte sich auf und betupfte ihr Gesicht mit einem spitzenbesetzten Taschentuch. Ihre Augen glänzten ungewöhnlich hell.
»Jetzt versteh’ ich Sie«, sagte sie ruhig. »Gestern abend um Viertel vor zehn war ich in dieser Wohnung hier.«
»Können Sie das beweisen, Mrs. Russo?« fragte Queen und tastete nach seiner Schnupftabakdose.
»Ich kann überhaupt nichts beweisen und brauch’ es auch nicht«, erwiderte sie dumpf. »Aber wenn Sie auf ein Alibi aus sind – der Portier unten muß gesehen haben, wie ich etwa um halb zehn das Gebäude betreten habe.«
»Das läßt sich leicht überprüfen«, gab Queen zu. »Sagen Sie mir, warum sind Sie gestern abend überhaupt hierhergekommen?«
»Ich hatte eine Verabredung mit Monte«, erklärte sie mit matter Stimme. »Er rief mich gestern nachmittag bei mir zu Hause an, und wir verabredeten uns für den Abend. Er sagte, er würde geschäftlich bis etwa zehn Uhr unterwegs sein, und ich sollte hier auf ihn warten. Ich komm’ hier« – sie stockte und fuhr dann frech fort – »ich komm’ hier öfters einfach so hoch. Meistens machen wir es uns gemütlich und verbringen den Abend gemeinsam. Sie wissen ja, wie das ist, wenn man verlobt ist.«
»Hmm. Versteh’ schon.« Der Inspektor räusperte sich verlegen. »Und dann, als er nicht pünktlich kam –?«
»Ich dachte, er wäre vielleicht etwas länger als geplant aufgehalten worden. Also – nun, ich wurde müde und machte ein Nickerchen.«
»Sehr gut«, sagte Queen rasch. »Hat er Ihnen erzählt, wohin er ging oder um was für Geschäfte es sich handelte?«
»Nein.«
»Ich wäre Ihnen sehr verbunden, Mrs. Russo«, sagte der Inspektor vorsichtig, »wenn Sie mir sagen würden, ob Mr. Field etwas fürs Theater übrig hatte.«
Die Frau blickte ihn neugierig an. Langsam schien sie sich wieder zu fangen. »Er ging nicht allzu oft«, stieß sie hervor. »Warum?«
Der Inspektor strahlte. »Das war nur so eine Frage«, sagte er. Er gab Hagstrom ein Zeichen, der daraufhin ein Notizbuch aus der Tasche holte.
»Können Sie mir die Namen von Mr. Fields persönlichen Freunden geben?« fuhr Queen fort. »Vielleicht wissen Sie auch ein wenig über seine Geschäftsverbindungen Bescheid?«
Mrs. Russo legte kokett die Hände hinter dem Kopf zusammen. »Offen gesagt«, zwitscherte sie, »kenne ich keinen einzigen Namen. Monte habe ich vor ungefähr sechs Monaten bei einem Maskenball in Greenwich Village kennengelernt. Wir haben unsere Verlobung gewissermaßen geheimgehalten, Sie verstehen schon. Ich hab’ wirklich nie auch nur einen seiner Freunde getroffen … Ich glaube auch nicht«, vertraute sie Queen an, »daß Monte viele Freunde hatte. Und selbstverständlich weiß ich nichts darüber, mit wem er geschäftlich zu tun hatte.«
»Wie waren Mr. Fields finanzielle Verhältnisse, Mrs. Russo?«
»Sie trauen einer Frau zu, daß sie darüber Bescheid weiß!« entgegnete sie in ihrer völlig wiederhergestellten schnippischen Art. »Monte war immer sehr großzügig. Schien nie knapp bei Kasse zu sein. Manche Nacht hat er fünfhundert Dollar für mich hingelegt. Das war Monte – ein verdammt anständiger Kerl. Pech für ihn! Armes Schätzchen.« Sie wischte sich eine Träne aus dem Auge und schniefte heftig.
»Aber – wenigstens sein Vermögen auf der Bank?« fuhr der Inspektor entschieden fort.
Mrs. Russo lächelte. Sie schien über einen unerschöpflichen Vorrat stets wechselnder Gefühle zu verfügen. »Bin nie neugierig geworden«, sagte sie. »Solange er mich anständig behandelte, ging mich das nichts an. Und außerdem«, fügte sie hinzu, »hätte er mir sowieso nichts gesagt; was sollte mich das also kümmern?«
»Wo waren Sie gestern abend vor halb zehn, Mrs. Russo?« erklang auf einmal Ellerys gleichgültige Stimme.
Überrascht wandte sie sich dieser neuen Stimme zu. Sie schätzten sich gegenseitig ab; und etwas wie Erregung stand in ihren Augen. »Ich weiß nicht, wer Sie sind, Mister, aber wenn Sie das herausfinden wollen, müssen Sie schon die Liebespaare im Central Park fragen. Ich habe einen kleinen Spaziergang im Park gemacht – ich ganz allein –, etwa von halb acht, bis ich hier ankam.«
»Welch ein Glück!« murmelte Ellery. Der Inspektor eilte zur Tür und gab den drei anderen Männern mit dem Finger ein Zeichen. »Wir lassen Sie jetzt allein, damit Sie sich ankleiden können, Mrs. Russo. Das wäre vorläufig alles.« Spöttisch schaute sie zu, wie sie nacheinander das Zimmer verließen. Queen schloß als letzter die Tür, nachdem er ihr zuvor noch einen väterlichen Blick zugeworfen hatte.
Im Wohnzimmer begannen die vier Männer sofort mit einer eiligen, aber gründlichen Durchsuchung. Auf eine Anordnung des Inspektors hin durchstöberten Hagstrom und Piggott die Schubladen eines mit Schnitzereien verzierten Schreibtisches in einer Ecke des Raumes. Ellery durchblätterte interessiert die Seiten des Buches über die Deutung der Persönlichkeit aus der Handschrift. Queen strich unentwegt umher; er verschwand mit seinem Kopf in einer Kleiderkammer direkt am Eingang des Zimmers, von der Diele aus gesehen. Es war ein geräumiger Aufbewahrungsort für Kleider – die verschiedensten Mäntel, Überzieher, Capes und ähnliches waren dort aufgehängt. Der Inspektor durchwühlte die Taschen. Diverse Gegenstände kamen zum Vorschein – Taschentücher, alte Briefe, Schlüssel, Brieftaschen. Er legte sie beiseite. Auf dem oberen Regalbrett lagen mehrere Hüte.
»Ellery – Hüte«, brummte er.
Ellery kam durchs Zimmer geeilt und stopfte sich das Buch, das er gerade las, in die Tasche. Sein Vater wies bedeutungsvoll auf die Hüte; beide langten sie hinauf, um sie zu untersuchen. Es waren vier Hüte – ein ausgeblichener Panamahut, zwei Hüte aus weichem Filz, einer grau, der andere braun, und ein steifer runder Filzhut. Alle trugen sie innen das Zeichen des Herstellers – Browne Bros.
Die beiden Männer beschauten sich die Hute von allen Seiten. Sie bemerkten sofort, daß drei davon kein Futter hatten
– der Panamahut und die zwei aus weichem Filz. Den vierten Hut, eine wirklich vorzügliche Melone, unterzog Queen einer gründlichen Untersuchung. Er tastete das Futter ab, schob das Schweißband zur Seite und schüttelte dann den Kopf.
»Um ganz ehrlich zu sein, Ellery«, sagte er langsam, »weiß ich selbst nicht so genau, warum ich gerade von diesen Hüten einen Anhaltspunkt erwarten sollte. Wir wissen, daß Field gestern abend einen Zylinder trug, und offensichtlich ist es völlig ausgeschlossen, daß sich dieser Hut hier in der Wohnung befindet. Wie wir herausgefunden haben, befand sich der Mörder noch im Theater, als wir dort ankamen. Ritter war um elf Uhr hier. Der Zylinder konnte daher überhaupt nicht hierher zurückgebracht werden. Schließlich, welchen erdenklichen Grund hätte denn der Mörder für eine solche Tat haben sollen, selbst wenn er tatsächlich dazu in der Lage war? Er muß gewußt haben, daß wir Fields Wohnung sofort durchsuchen würden. Ich glaube, ich fühle mich ein wenig angeschlagen, Ellery. Aus diesen Hüten läßt sich nichts rausholen.« Verärgert warf er die Melone wieder zurück auf das Ablagebrett.
Ellery stand nachdenklich und ernst da. »Du hast ganz recht, Vater, diese Hüte haben keine Bedeutung. Aber ich habe das unbestimmte Gefühl … Übrigens!« Er richtete sich auf und nahm seinen Kneifer ab. »Ist dir letzte Nacht eigentlich aufgefallen, daß außer dem Hut vielleicht noch ein anderer Gegenstand aus dem Besitz von Mr. Field gefehlt hat?«
»Ich wünschte, alle Fragen ließen sich so leicht beantworten«, sagte Queen verbissen. »Natürlich – ein Spazierstock. Aber was hätte ich deshalb schon unternehmen können? Einmal angenommen, Field hätte einen mit ins Theater gebracht – für jemanden, der ohne Spazierstock ins Theater gekommen war, wäre es ziemlich leicht gewesen, das Theater mit dem von Field wieder zu verlassen. Wie hätten wir ihn aufhalten oder den Stock erkennen können? Deshalb habe ich daran zunächst keinen Gedanken verschwendet. Und sollte er sich immer noch auf dem Theatergelände befinden, wird er dort auch bleiben, keine Sorge.«
Ellery schmunzelte. »Als Ausdruck meiner Bewunderung für deine überragenden geistigen Fähigkeiten sollte ich an dieser Stelle in der Lage sein, Shelley oder Wordsworth zu zitieren«, sagte er. »Aber ich kann im Moment an keinen poetischeren Satz denken als ›Du hast mich wieder einmal an der Nase herumgeführt‹. Bis gerade eben habe ich überhaupt nicht daran gedacht. Aber das Entscheidende ist: Es ist kein einziger Stock in diesem Schrank. Wenn jemand wie Field so ein Renommierstöckchen für die Abendgarderobe besessen hätte, hätte er sicher auch noch andere Stöcke passend zu den jeweiligen Anzügen sein eigen genannt. Wenn wir nicht noch Stöcke im Schlafzimmerschrank finden – was ich bezweifele, da die gesamte Oberbekleidung hier zu sein scheint –, schließt das also die Möglichkeit aus, daß Field gestern abend einen Stock bei sich trug. Ergo – können wir das Ganze auch wieder vergessen.«
»Nicht schlecht, El«, antwortete der Inspektor abwesend. »Daran hatte ich nicht gedacht. Nun – wir wollen sehen, wie die Männer vorankommen.«
Sie gingen quer durch das Zimmer hinüber zu Hagstrom und Piggott, die gerade den Schreibtisch durchwühlten. Auf der Schreibtischplatte hatte sich bereits ein kleiner Stapel aus Blättern und Briefen angesammelt.
»Irgend etwas Interessantes gefunden?« fragte Queen.
»Nichts von Bedeutung, soweit ich es beurteilen kann, Inspektor«, antwortete Piggott. »Nur der übliche Kram: ein paar Briefe, vor allem von dieser Russo – ganz schön heiße Sachen! –, Rechnungen, Quittungen und so weiter. Ich glaub’ nicht, daß Sie hier drunter was finden werden.«
Queen ging die Blätter durch. »Nein, wirklich nichts Besonderes«, mußte er zugeben. »Gut, dann wollen wir mal weitermachen.« Sie räumten die Papiere wieder in den Schreibtisch zurück. Piggott und Hagstrom durchsuchten zügig das Zimmer. Sie klopften die Möbel ab, faßten unter die Polsterkissen, schauten unter dem Teppich nach; sie gingen sorgfältig und nach allen Regeln der Kunst vor. Queen und Ellery schauten ihnen schweigend zu, als die Tür zum Schlafzimmer aufging. Mrs. Russo erschien dort in einem keß wirkenden braunen Straßenkostüm mit Hut. Sie blieb in der Tür stehen und besah sich die Szene mit weit aufgerissenen und unschuldig wirkenden Augen. Die beiden Detectives fuhren mit ihrer Arbeit fort, ohne aufzuschauen.
»Was machen die da, Inspektor?« erkundigte sie sich in gelangweiltem Ton. »Suchen sie nach Schmucksachen?« Aber ihr Blick war nun durchdringend und voller Interesse.
»Für eine Frau haben Sie sich aber bemerkenswert rasch angekleidet, Mrs. Russo«, sagte der Inspektor bewundernd. »Sie gehen nach Hause?«
Sie warf ihm einen Blick zu. »Ja, sicher«, antwortete sie und schaute weg.
»Und Sie wohnen wo…?« Sie nannte ihm eine Adresse in der MacDougal Street in Greenwich Village.
»Vielen Dank«, sagte Queen höflich und machte sich eine Notiz. Dann ging sie auf die Haustür zu. »Oh, Mrs. Russo!« Sie wandte sich um. »Bevor Sie gehen – könnten Sie uns vielleicht noch etwas über Mr. Fields Trinkgewohnheiten sagen. War er das, was Sie einen starken Trinker nennen würden?«
Die Frage schien sie zu belustigen. »Wenn das alles ist«, sagte sie lachend. »Ja und nein. Ich habe ihn schon eine halbe Nacht durchsaufen sehen, und er schien nüchtern wie ein Pfarrer. Ein anderes Mal war er schon nach ein paar Gläschen total betrunken. Das kam ganz darauf an, verstehen Sie?« Sie mußte erneut lachen.
»Ja, das geht manchem von uns so«, murmelte der Inspektor. »Ich möchte nicht, daß Sie in Schwierigkeiten kommen, Mrs. Russo – aber vielleicht wissen Sie, woher er seinen Whisky bezog?«
Sie hörte auf der Stelle auf zu lachen; in ihrem Gesicht stand ehrliche Entrüstung. »Was denken Sie eigentlich von mir?« wollte sie wissen. »Ich habe keine Ahnung. Aber selbst wenn ich etwas wüßte, würde ich nichts sagen. Glauben Sie mir, es gibt eine Reihe wirklich hart arbeitender Alkoholschmuggler, die den Kerlen, die versuchen, sie einzulochen, haushoch überlegen sind.«
»So ist nun mal das Leben«, erwiderte Queen beschwichtigend. »Trotzdem, meine Liebe«, fuhr er sanft fort, »bin ich sicher, daß Sie mir, wenn ich diese Information wirklich brauchen sollte, darüber Auskunft erteilen werden. Nicht wahr?« Einen Moment lang herrschte Schweigen. »Ich denke, das war zunächst alles, Mrs. Russo. Bitte bleiben Sie in der Stadt. Es könnte sein, daß wir Ihre Aussage bald brauchen.«
»Also – bis dann«, sagte sie und warf den Kopf zurück. Sie ging hinaus in die Diele.
»Mrs. Russo!« rief Queen auf einmal mit schneidender Stimme. Die Hand bereits auf dem Türgriff, wandte sie sich um. Das Lächeln erstarb auf ihren Lippen. »Wissen Sie eigentlich, was Ben Morgan gemacht hat, seitdem er und Field sich voneinander getrennt haben?«
Ihre Antwort kam nach einem winzigen Zögern. »Wer ist das?« fragte sie und legte dabei die Stirn in Falten.
Queen stand mitten auf dem Teppich. »Ist unwichtig. Guten Tag«, sagte er bekümmert und drehte ihr den Rücken zu. Die Tür schlug zu. Kurz darauf spazierte Hagstrom hinaus; Piggott, Queen und Ellery blieben in der Wohnung zurück.
Wie von einem einzigen Gedanken getrieben, stürzten sie ins Schlafzimmer. Es war offensichtlich so, wie sie es auch verlassen hatten. Das Bett war nicht gemacht; Mrs. Russos Nachthemd und ihr Neglige lagen auf dem Boden. Queen öffnete den Kleiderschrank. »Hui! Der Bursche hat einen gediegenen Geschmack gehabt. Die New Yorker Version eines englischen Dandys.« Ohne Erfolg durchwühlten sie den Kleiderschrank. Ellery streckte sich nach oben, um die Ablage einsehen zu können. »Keine Hüte – keine Stöcke; das wäre also geklärt!« murmelte er befriedigt. Piggott, der in einer kleinen Küche verschwunden war, kam unter der Last einer halbvollen Kiste mit Whiskyflaschen zurückgewankt.
Ellery und sein Vater beugten sich hinunter über die Kiste. Der Inspektor entfernte behutsam einen Korken, beschnüffelte den Inhalt und gab die Flasche dann weiter an Piggott, der dem Beispiel seines Vorgesetzten folgte.
»Sieht gut aus und riecht auch so«, sagte der Detective. »Aber nach dem, was gestern abend passiert ist, möchte ich es wirklich nicht darauf ankommen lassen, das Zeug zu probieren.«
»Ihre Vorsicht ist durchaus gerechtfertigt«, schmunzelte Ellery. »Aber sollten Sie Ihre Meinung ändern und sich dafür entscheiden, Bacchus anzurufen, so schlage ich folgendes Gebet vor, Piggott: O Wein, wenn du noch keinen Namen hast, an dem man dich kennt, so heiße Tod.«1
»Ich werd’ das Feuerwasser analysieren lassen«, brummte Queen. »Rye und Scotch durcheinander. Nach den Etiketten zu urteilen wirklich gutes Zeug. Aber sicher kann man da nie sein …« Ellery packte plötzlich seinen Vater am Arm und beugte sich voller Anspannung vor. Die drei Männer erstarrten.
Ein kaum hörbares Kratzen kam aus der Richtung der Diele.
»Hört sich so an, als würde jemand mit einem Schlüssel die Tür öffnen wollen«, flüsterte Queen. »Piggott, schleichen Sie sich raus, und stürzen Sie sich auf die Person, sobald sie hereinkommt.«
Piggott schoß durch das Wohnzimmer in die Diele. Queen und Ellery warteten außer Sichtweite im Schlafzimmer.
Außer dem Kratzgeräusch an der Eingangstür herrschte nun völlige Stille. Der Ankömmling schien Probleme mit dem Schloß zu haben. Doch plötzlich hörte man, wie das Schloß schnappte und die Tür geöffnet wurde. Direkt darauf wurde sie wieder zugeschlagen. Ein dumpfer Schrei, eine harsche laute Stimme, Piggotts halberstickter Fluch, das verzweifelte Scharren von Füßen – und schon schossen Ellery und sein Vater durch das Wohnzimmer in die Diele.
Piggott wand sich in den Armen eines stämmigen, kraftvollen, in schwarz gekleideten Mannes. Ein Handkoffer lag umgekippt auf dem Boden, als wäre er während des Kampfes weggeschleudert worden. Eine Zeitung flog durch die Gegend und landete gerade auf dem Parkett, als Ellery die beiden fluchenden Männer erreichte.
Nur mit vereinten Kräften gelang es den drei Männern, den Besucher niederzuringen. Schwer keuchend lag er schließlich auf dem Boden; Piggott hielt seinen Oberkörper fest umklammert.
Der Inspektor beugte sich herunter, musterte neugierig das vor Zorn gerötete Gesicht des Mannes und fragte höflich: »Und wer, bitte, sind Sie, mein Herr?«
1 Wahrscheinlich handelt es sich hierbei um die freie Wiedergabe des ShakespeareZitates: »O du unsichtbarer Geist des Weines, wenn du noch keinen Namen hast, an dem man dich kennt, so heiße: Teufel!«
in welchem der geheimnisvolle Mr. Michaels auftritt
Der Eindringling stand unbeholfen wieder auf. Er war ein großer, gewichtiger Mann mit strengen Gesichtszügen und ausdruckslosen Augen. Weder in seinem Aussehen noch in seinem Benehmen gab es etwas Auffälliges. Das Ungewöhnlichste, was man von ihm hätte sagen können, war, daß sowohl sein Aussehen als auch sein Benehmen so unscheinbar waren. Es machte den Anschein, als hätte er, wer auch immer er einmal gewesen oder was seine Tätigkeit war, es darauf angelegt, alle Merkmale einer Persönlichkeit auszumerzen.
»Was soll diese Gewalttätigkeit?« fragte er mit tiefer Stimme. Aber sogar seine Stimme war flach und tonlos.
Queen wandte sich an Piggott. »Was ist passiert?« wollte er wissen und gab sich dabei den Anschein von Strenge.
»Ich stand hinter der Tür, Inspektor«, keuchte Piggott immer noch außer Atem, »und als dieser Wilde hier hereinkam, berührte ich ihn am Arm. Er stürzte sich auf mich wie eine Ladung wildgewordener Tiger. Er schlug mir ins Gesicht – hat einen ganz schön harten Schlag, Inspektor … Versuchte, wieder durch die Türe zu verschwinden.«
Queen nickte mit kritischem Blick. Der Fremde sagte sanft: »Das ist eine Lüge, Sir. Er hat mich angefallen, und ich habe mich gewehrt.«
»So, so!« murmelte Queen. »So kommen wir nicht weiter …«
Die Tür flog plötzlich auf, und Detective Johnson stand auf der Schwelle. Er nahm den Inspektor beiseite. »Velie hat mich erst vor kurzem hierher geschickt, falls Sie mich brauchen sollten, Inspektor … Und als ich gerade kam, sah ich diesen Burschen hier. Ich konnte mir nur vorstellen, daß er hier rumschnüffeln wollte, und da bin ich ihm nachgegangen.«
Queen nickte zustimmend. »Ich bin froh, daß du gekommen bist – ich kann dich hier brauchen«, brummte er, gab den anderen ein Zeichen und begab sich mit ihnen ins Wohnzimmer.
»Nun, mein Lieber«, sagte er barsch zu dem großgewachsenen Eindringling, »die Vorstellung ist zu Ende. Wer sind Sie, und was machen Sie hier?«
»Mein Name ist Charles Michaels – Sir. Ich bin Mr. Monte Fields Diener.« Der Inspektor kniff die Augen zusammen. Die ganze Haltung des Mannes hatte sich auf unmerkliche Weise verändert. Sein Gesicht war ausdrucksleer wie vorher, und sein Verhalten schien gleich geblieben zu sein. Trotzdem nahm der alte Mann eine Verwandlung wahr; er warf einen Blick zu Ellery hinüber und fand die Bestätigung für seinen Gedanken in den Augen seines Sohnes.
»Stimmt das?« hakte der Inspektor nach. »Diener, eh? Und woher kommen Sie zu einer so frühen Stunde mit dieser Reisetasche?« Er zeigte auf einen Koffer, ein billiges, schwarzes Etwas, das Piggott in der Diele aufgehoben und ins Wohnzimmer getragen hatte. Ellery ging ganz plötzlich in die Diele hinüber. Er bückte sich, um etwas aufzuheben.
»Sir?« Michaels schien durch diese Frage aus der Fassung gebracht. »Das ist meiner, Sir«, teilte er ihnen mit. »Ich wollte heute morgen auf Urlaub gehen und hatte mit Mr. Field vereinbart, vor meiner Abreise herzukommen, um meinen Lohn abzuholen.« Die Augen des alten Mannes funkelten. Das war’s! Michaels’ Aussprache und seine normale Haltung waren unverändert; aber seine Stimme und seine Ausdrucksweise hatten sich bemerkenswert gewandelt.
»Sie hatten also vereinbart, Ihren Scheck heute morgen bei Mr. Field abzuholen?« murmelte der Inspektor. »Das ist etwas merkwürdig, jetzt, nach allem, was passiert ist.«
Michaels erlaubte seinen Gesichtszügen, für einen Moment Erstaunen zu zeigen. »Wieso, wo ist Mr. Field?« fragte er.
»Oh, in der kalten Erde liegt der Herr begraben«, kicherte Ellery vom Foyer her. Er kam zurück ins Wohnzimmer und schwenkte die Zeitung, die Michaels bei seinem Zusammenstoß mit Piggott fallengelassen hatte. »Aber wirklich, alter Knabe, das ist ein bißchen viel verlangt, nicht wahr. Hier ist die Morgenzeitung, die Sie bei sich hatten. Und das erste, was ich sehe, als ich sie aufhebe, ist die schöne schwarze Schlagzeile, die Mr. Fields kleinen Unfall beschreibt. Über die ganze Titelseite geschmiert. Und der Artikel ist Ihnen nicht aufgefallen?«
Michaels blickte starr auf Ellery und die Zeitung. Aber dann schlug er die Augen nieder, während er leise sagte: »Ich hatte noch keine Gelegenheit, heute morgen die Zeitung zu lesen, Sir. Was ist mit Mr. Field passiert?«
Der Inspektor schnaufte. »Field ist ermordet worden, Michaels, und Sie haben das die ganze Zeit gewußt.«
»Das habe ich nicht, glauben Sie mir, Sir«, entgegnete der Diener respektvoll.
»Hören Sie auf zu lügen!« fuhr Queen ihn an. »Erzählen Sie uns, warum Sie hier sind, oder Sie werden Zeit genug haben, hinter Gittern zu plaudern!«
Michaels sah den alten Mann geduldig an. »Ich habe Ihnen die Wahrheit erzählt, Sir«, sagte er. »Mr. Field hat mir gestern gesagt, ich solle heute morgen kommen, um meinen Scheck abzuholen. Das ist alles, was ich weiß.«
»Sie sollten ihn hier treffen?«
»Ja, Sir.«
»Warum haben Sie dann vergessen zu läuten? Sie haben einen Schlüssel benutzt, als hätten Sie nicht erwartet, jemanden hier vorzufinden, mein Lieber«, sagte Queen.
»Geklingelt?« Der Diener riß erstaunt die Augen auf. »Ich benutze immer meinen Schlüssel. Ich störe Mr. Field nicht, wenn sich das verhindern läßt.«
»Warum hat Ihnen Mr. Field den Scheck nicht schon gestern gegeben?« schnauzte der Inspektor.
»Ich nehme an, er hatte sein Scheckheft nicht zur Hand, Sir.«
Queen spitzte die Lippen. »Sie haben nicht einmal eine besonders große Vorstellungskraft, Michaels. Wann haben Sie ihn gestern zuletzt gesehen?«
»Ungefähr um sieben Uhr, Sir«, antwortete Michaels prompt. »Ich wohne nicht hier in der Wohnung. Sie ist zu klein, und Mr. Field liebt – liebte seine Privatsphäre. Ich komme gewöhnlich früh morgens, um Frühstück für ihn zu machen, sein Bad zu bereiten und seine Kleider herauszulegen. Wenn er dann ins Büro gegangen ist, mache ich ein wenig sauber, und der Rest des Tages steht zu meiner freien Verfügung bis zum Abendessen. Ich komme gegen fünf zurück und bereite das Abendessen zu, außer Mr. Field hat mir im Laufe des Tages Bescheid gegeben, daß er auswärts speist, und lege ihm seine Abendgarderobe zurecht. Dann bin ich für den Abend fertig … Nachdem ich gestern seine Sachen bereitgelegt hatte, gab er mir Anweisungen wegen des Schecks.«
»Kein besonders ermüdendes Tagewerk«, bemerkte Ellery. »Und welche Sachen haben Sie ihm gestern abend herausgelegt, Michaels?«
Der Mann betrachtete Ellery respektvoll. »Da war seine Unterwäsche, Sir, und seine Socken, seine Abendschuhe, gestärktes Hemd, Manschettenknöpfe, Kragen, weiße Krawatte, Frack, Umhang, Hut –«
»Oh, ja – sein Hut«, unterbrach ihn Queen. »Was für ein Hut war das, Michaels?«
»Sein ganz normaler Zylinder, Sir«, antwortete Michaels. »Er hatte nur diesen einen, und das war ein besonders teurer«, fügte er andächtig hinzu. »Browne Bros., glaube ich.«
Queen trommelte gelangweilt auf die Lehne seines Stuhls. »Erzählen Sie mir, Michaels«, sagte er, »was Sie gestern abend gemacht haben, nachdem Sie hier fertig waren – also nach sieben Uhr?«
»Ich ging nach Hause, Sir. Ich mußte noch meine Tasche packen und war recht erschöpft. Nachdem ich einen Happen gegessen hatte, bin ich sofort schlafen gegangen – es muß ungefähr halb zehn gewesen sein, als ich ins Bett stieg«, fügte er unschuldig hinzu.
»Wo wohnen Sie?« Michaels gab eine Adresse auf der 146. Straße, Ost, an, in dem Teil, der zur Bronx gehört. »Nun gut … Hatte Field irgendwelche regelmäßigen Besucher hier?« fuhr der Inspektor fort.
Michaels runzelte höflich die Stirn. »Das ist schwer zu sagen, Sir. Mr. Field war nicht gerade ein umgänglicher Mensch. Aber da ich abends nicht hier war, kann ich nicht sagen, wer noch kam, wenn ich gegangen war. Aber –«
»Ja?«
»Da gab es eine Dame, Sir …« Michaels zögerte gekünstelt. »Ich nenne nicht gerne Namen unter diesen Umständen –«
»Ihr Name?« beharrte Queen verdrossen.
»Nun, Sir – irgendwie ist das nicht richtig – Russo. Mrs. Angela Russo ist ihr Name«, antwortete Michaels.
»Wie lange kannte Mr. Field diese Mrs. Russo?«
»Mehrere Monate, Sir. Ich glaube, er traf sie auf einer Party irgendwo in Greenwich Village.«
»Ah ja. Und waren sie vielleicht verlobt?«
Michaels schien etwas verlegen zu sein. »Man könnte es so nennen, Sir, obwohl es eher weniger offiziell war …«
Schweigen. »Wie lange waren Sie in Monte Fields Diensten, Michaels?« fuhr der Inspektor fort.
»Nächsten Monat wären es drei Jahre gewesen.«
Queen schwenkte auf ein anderes Thema der Befragung um. Er fragte nach Fields Interesse an Theaterbesuchen, seiner finanziellen Situation und seinen Trinkgewohnheiten. Michaels bestätigte in allen Einzelheiten die Aussagen von Mrs. Russo. Es wurde nichts Neues ans Licht gebracht.
»Sie sagten vorhin, daß Sie ungefähr drei Jahre für Field gearbeitet haben«, nahm der Inspektor den Faden wieder auf und machte es sich in seinem Sessel bequem. »Wie haben Sie den Job bekommen?«
Michaels zögerte einen Moment mit der Antwort. »Ich habe auf eine Annonce in der Zeitung geantwortet, Sir.«
»Gut … Wenn Sie seit drei Jahren in Fields Diensten waren, kannten Sie sicher auch Benjamin Morgan.«
Michaels lächelte plötzlich breit. »Natürlich kenne ich Mr. Benjamin Morgan«, sagte er herzlich. »Das ist ein richtig feiner Herr, Sir. Er war Mr. Fields Partner, wissen Sie, in ihrem Anwaltsbüro. Aber dann – vor ungefähr zwei Jahren – haben sie sich getrennt, und seither habe ich Mr. Morgan nicht mehr gesehen.«
»Haben Sie ihn vor dem Bruch oft gesehen?«
»Nein, Sir«, gab der stämmige Diener mit einem Ton des Bedauerns zurück. »Mr. Field war nicht gerade Mr. Morgans – ah – Typ, und sie verkehrten gesellschaftlich nicht miteinander. Ich erinnere mich daran, Mr. Morgan drei- oder viermal in dieser Wohnung gesehen zu haben, aber nur, wenn es um dringende geschäftliche Angelegenheiten ging. Aber selbst darüber kann ich wenig sagen, da ich nicht den ganzen Abend über blieb … Natürlich ist er, soweit ich weiß, nicht mehr hier gewesen, seit sie das Unternehmen aufgelöst haben.«
Zum ersten Mal während der Unterhaltung lächelte Queen. »Ich danke Ihnen für Ihre Offenheit, Michaels … Nun noch ein paar Klatschgeschichten für mich – erinnern Sie sich an irgendwelche unerfreulichen Szenen aus der Zeit, als sie sich trennten?«
»Oh nein, Sir!« protestierte Michaels. »Ich habe niemals von einem Streit oder etwas Ähnlichem gehört. Im Gegenteil, Mr. Field erzählte mir unmittelbar nach ihrer Trennung, daß er und Mr. Morgan Freunde bleiben würden – sehr gute Freunde, sagte er.«
Michaels drehte sich mit seinem höflich ausdruckslosen Gesicht herum, als ihn jemand am Arm faßte. Er fand sich Ellery gegenüber. »Ja, Sir?« fragte er respektvoll.
»Michaels, mein Guter«, sagte Ellery streng, »ich hasse es eigentlich, alte Geschichten wieder aufzuwärmen, aber warum haben Sie dem Inspektor nichts über Ihren Aufenthalt im Gefängnis erzählt?«
Als hätte er damit einen Lebensnerv getroffen, wurde Michaels’ Körper steif und bewegungslos. Die Farbe wich aus seinem Gesicht. Seine Selbstsicherheit war wie weggewischt, und er starrte mit offenem Mund in Ellerys lächelndes Gesicht.
»Aber – aber, wie haben Sie das herausgefunden?« stammelte der Diener; seine Redeweise war nun sehr viel weniger höflich und geschliffen. Queen bedachte seinen Sohn mit einem beifälligen Blick. Piggott und Johnson rückten näher auf den zitternden Mann zu.
Ellery zündete sich eine Zigarette an. »Ich wußte es eigentlich gar nicht«, sagte er gutgelaunt. »Das heißt, bis Sie es mir erzählt haben. Es würde sich für Sie lohnen, das Orakel von Delphi wiederzubeleben, Michaels.«
Michaels’ Gesicht war grau wie Asche. Er drehte sich schwankend zu Queen um. »Sie – Sie haben mich nicht danach gefragt«, sagte er schwach. Trotz allem war seine Stimme schon wieder gefaßt und ausdruckslos. »Außerdem erzählt man nun einmal solche Dinge nicht gerne der Polizei …«
»Wo haben Sie Ihre Zeit abgesessen, Michaels?« fragte der Inspektor freundlich.
»Elmira-Gefängnis, Sir«, murmelte Michaels. »Es war meine erste Straftat – ich saß in der Klemme, hatte Hunger und stahl mir etwas Geld … Ich habe nur eine kurze Zeit gesessen, Sir.«
Queen stand auf. »Nun, Michaels, Sie werden verstehen, daß Sie sich nicht ganz uneingeschränkt bewegen können. Sie können nach Hause gehen und sich um einen anderen Job kümmern, aber bleiben Sie in Ihrer augenblicklichen Unterkunft, und halten Sie sich jederzeit zur Verfügung … Einen Moment noch, bevor Sie gehen.« Er ging zu dem schwarzen Koffer herüber und öffnete ihn. Ein unordentlicher Haufen von Kleidungsstücken – ein dunkler Anzug, Hemden, Krawatten, Socken, einige sauber, einige schmutzig – kam zum Vorschein. Queen durchstöberte rasch die Tasche, verschloß sie wieder und reichte sie Michaels, der bekümmert neben ihm stand.
»Sie nehmen aber ganz schön wenig Klamotten mit, Michaels«, bemerkte Queen lächelnd. »Zu schade, daß Sie nun um Ihren Urlaub gebracht worden sind. Nun! So spielt das Leben!« Michaels brummte ein leises »Auf Wiedersehn«, packte seine Tasche und ging. Wenige Augenblicke später verließ auch Piggott die Wohnung.
Ellery warf den Kopf zurück und lachte fröhlich. »Was für ein gesitteter Halunke! Lügt wie gedruckt, Vater … Und was, meinst du, wollte er hier?«
»Er kam natürlich her, um irgend etwas zu holen«, grübelte der Inspektor. »Das bedeutet, daß hier etwas Wichtiges versteckt ist, das wir anscheinend übersehen haben …«
Er wurde nachdenklich. Das Telefon klingelte.
»Inspektor?« dröhnte Sergeant Velie aus dem Apparat. »Ich habe im Präsidium angerufen, aber da waren Sie nicht, da habe ich angenommen, daß Sie noch in Fields Wohnung sind … Ich habe interessante Neuigkeiten für Sie von Browne Bros. Wollen Sie, daß ich zu Ihnen komme?«
»Nein«, antwortete Queen. »Wir sind hier fertig. Ich werde zu meinem Büro fahren, sobald ich Fields Büro auf der Chambers Street einen Besuch abgestattet habe. Sollte in der Zwischenzeit irgend etwas Wichtiges sein, bin ich dort zu erreichen. Wo bist du jetzt?«
»Fifth Avenue – ich stehe direkt vor Browne’s.«
»Dann geh zurück zum Präsidium und warte auf mich. Und, Thomas – schicke sofort einen Polizisten her.«
Queen hängte auf und wandte sich an Johnson.
»Bleiben Sie hier, bis ein Polizist kommt – es wird nicht lange dauern«, ordnete er an. »Lassen Sie ihn die Wohnung bewachen, und sorgen Sie für Ablösung. Dann melden Sie sich im Präsidium. … Komm, Ellery! Wir haben noch einen harten Tag vor uns!«
Ellery versuchte vergeblich, etwas einzuwenden. Sein Vater schob ihn geschäftig aus dem Gebäude auf die Straße, wo seine Stimme vom Getöse eines Auspuffs wirkungsvoll übertönte wurde.
in welchem Mr. Fields Zylinderhüte Gestalt annehmen
Genau um zehn Uhr morgens öffneten Inspektor Queen und sein Sohn die Milchglastür mit der Aufschrift:
Monte Field Rechtsanwalt
Das große Wartezimmer war mit dem guten Geschmack eingerichtet, der sich schon an Mr. Fields Wahl seiner Kleidung gezeigt hatte.
Es war niemand da; ein wenig erstaunt schob sich Inspektor Queen – Ellery spazierte hinter ihm her – durch die Tür und ging weiter ins Hauptbüro, einem langgezogenen Raum voller Schreibtische. Bis auf die mit gewichtigen Gesetzessammlungen gefüllten Bücherregale ähnelte er dem Redaktionsraum einer Zeitung.
Im Büro herrschte ein ziemlicher Aufstand. Aufgeregt schwatzend standen die Stenographinnen in kleinen Grüppchen herum. Einige männliche Büroangestellte flüsterten in einer Ecke; und in der Mitte des Raumes stand Detective Hesse und sprach in ernstem Ton mit einem hageren, finster blickenden Mann mit grauen Schläfen. Offensichtlich hatte der Tod des Rechtsanwalts in seinem Betrieb für einige Aufregung gesorgt.
Beim Eintreten der beiden Queens schauten sich die Angestellten erschrocken an und eilten dann an ihre Schreibtische zurück. Es folgte ein betretenes Schweigen. Hesse kam herbeigestürzt. Seine Augen waren rot und blutunterlaufen.
»Guten Morgen, Hesse«, sagte der Inspektor kurz angebunden. »Wo ist Fields Privatbüro?«
Der Detective führte sie quer durch den Raum zu einer Tür mit der Aufschrift ›Privat‹. Die drei betraten ein kleines, überaus luxuriös eingerichtetes Büro.
»Der Bursche legte wohl Wert auf die passende Umgebung«, sagte Ellery schmunzelnd und ließ sich in einen Ledersessel fallen.
»Erzählen Sie, Hesse«, sagte der Inspektor und folgte Ellerys Beispiel.
Zügig erstattete Hesse Bericht. »Kam letzte Nacht hier an und fand die Tür verschlossen. Drinnen war kein Licht zu erkennen. Ich lauschte auch sehr genau, konnte aber nichts hören und ging deshalb davon aus, daß niemand hier drinnen war; die Nacht über hab’ ich also im Flur draußen mein Lager aufgeschlagen. Ungefähr um Viertel vor neun heute morgen kam der Bürovorsteher hereingefegt. Ich griff ihn mir. Es ist diese hagere Gestalt, mit der ich gerade sprach, als Sie hereinkamen. Heißt Lewin – Oscar Lewin.«
»Bürovorsteher, ja?« bemerkte der alte Mann und schnupfte eine Prise.
»Ja, Chef. Entweder ist er schwer von Begriff, oder er weiß den Mund zu halten«, fuhr Hesse fort. »Natürlich hatte er schon die Morgenzeitungen gesehen und war völlig bestürzt über die Nachricht von Fields Ermordung. Andererseits merkte man ihm aber auch an, daß er meine Fragen nicht allzu sehr mochte … Ich habe nichts aus ihm herausbekommen. Absolut nichts. Er sagte, daß er gestern abend geradewegs nach Hause gegangen wäre – Field hatte anscheinend bereits um vier Uhr das Büro verlassen und ist auch nicht mehr zurückgekehrt – und daß er nichts von dem Mord gewußt hätte, bis er davon in den Zeitungen las. So haben wir also den Morgen damit verbracht, auf Sie zu warten.«
»Holen Sie mir Lewin.«
Hesse kehrte mit dem schlaksigen Bürovorsteher zurück. Oscar Lewin hatte ein wenig anziehend wirkendes Äußeres. Er hatte verschlagen wirkende schwarze Augen und war ungewöhnlich dünn. Etwas Räuberisches ging von seiner spitzen Nase und seiner knochigen Gestalt aus. Der Inspektor musterte ihn mit kühlem Blick.
»Sie sind also der Bürovorsteher«, bemerkte er. »Nun, Lewin, was halten Sie von dieser Angelegenheit?«
»Es ist schrecklich – einfach schrecklich«, stöhnte Lewin. »Ich kann mir einfach nicht vorstellen, wie das passiert sein kann oder warum. Mein Gott, gestern nachmittag um vier Uhr hab’ ich noch mit ihm gesprochen!« Er schien ehrlich erschüttert zu sein.
»Wirkte Mr. Field, als Sie mit ihm sprachen, irgendwie seltsam oder beunruhigt?«
»Überhaupt nicht, Sir«, antwortete Lewin nervös. »Er hatte sogar ungewöhnlich gute Laune. Er riß einen Witz über die Giants und erzählte, er würde am Abend in ein verdammt gutes Stück – ›Spiel der Waffen‹ – gehen. Und nun erfahre ich aus der Zeitung, daß er dort ermordet wurde.«
»Ah, er hat Ihnen also von dem Stück erzählt?« fragte der Inspektor. »Er hat nicht zufällig erwähnt, ob er zusammen mit jemandem dorthin gehen wollte?«
»Nein, Sir.« Lewin scharrte mit den Füßen.
»Ich verstehe.« Queen machte eine Pause. »Lewin, als Vorsteher hier müssen Sie doch Field näher gestanden haben als seine anderen Angestellten. Was wissen Sie über ihn persönlich?«
»Rein gar nichts, Sir, gar nichts«, entgegnete Lewin hastig. »Mr. Field war nicht der Typ, zu dem ein Angestellter ein vertrauliches Verhältnis entwickeln konnte. Gelegentlich erzählte er etwas über sich, aber das war immer mehr allgemeiner Art und eher scherzhaft als ernst gemeint. Nach außen hin war er uns gegenüber stets ein rücksichtsvoller und großzügiger Chef. Mehr kann ich über ihn nicht sagen.«
»Welcher Art war eigentlich das Geschäft, das er leitete? Sie müssen darüber doch einiges wissen.«
»Geschäft?« Lewin schien etwas verwirrt. »Nun, es war eine der besten Anwaltskanzleien, die mir überhaupt begegnet sind. Ich arbeite für Field erst seit ungefähr zwei Jahren, aber er hatte einige bedeutende und einflußreiche Klienten, Inspektor. Ich könnte Ihnen eine Liste zusammenstellen …«
»Tun Sie das, und schicken Sie sie mir zu«, sagte Queen. »Er hatte also eine blühende und angesehene Praxis, ja? Können Sie sich an irgendwelche Privatbesuche – vor allem in letzter Zeit – erinnern?«
»Nein. Ich kann mich nicht erinnern, außer seinen Klienten jemanden hier gesehen zu haben. Er könnte natürlich mit einigen von ihnen auch gesellschaftlich verkehrt haben … Ach, ja! Natürlich kam auch sein Diener manchmal hierher – ein großer, stämmiger Kerl namens Michaels.«
»Michaels? Den Namen sollte ich im Kopf behalten«, sagte der Inspektor nachdenklich. Er schaute zu Lewin auf. »In Ordnung, Lewin. Das wäre es zunächst. Sie können die ganze Truppe nach Hause schicken. Halten Sie sich bitte noch einen Moment hier auf. In kürze erwarte ich einen von Mr. Sampsons Leuten, und er wird zweifellos Ihre Hilfe benötigen.« Lewin nickte ernst und zog sich zurück.
Kaum hatte er die Tür geschlossen, sprang Queen auf. »Wo befindet sich Fields Waschraum, Hesse?« Der Detective wies auf eine Tür am anderen Ende des Zimmers.
Queen öffnete sie; Ellery stand dicht hinter ihm. Sie blickten in ein winziges Räumchen, das in einer Ecke von dem größeren Zimmer abgetrennt war. Es enthielt ein Waschbecken, einen Arzneischrank und einen kleinen Kleiderschrank. Queen schaute zunächst in den Arzneischrank, in dem sich eine Flasche Jod, eine Flasche Wasserstoffsuperoxyd, eine Tube Rasiercreme und andere Rasierutensilien befanden. »Da ist nichts«, sagte Ellery. »Was ist mit dem Schrank?« Neugierig zog der Alte die Schranktür auf. Es hingen dort ein normaler Anzug, ein halbes Dutzend Krawatten und ein weicher Filzhut. Der Inspektor nahm den Hut mit zurück ins Büro und untersuchte ihn. Er reichte ihn an Ellery weiter, der ihn sofort wieder verächtlich an seinen Haken im Schrank zurückbeförderte.
»Zum Teufel mit diesen Hüten!« platzte der Inspektor heraus. Es klopfte an der Tür, und Hesse ließ einen schüchternen, jungen Mann eintreten.
»Inspektor Queen?« erkundigte sich der Neuankömmling höflich.
»Genau«, schnauzte der Inspektor, »und wenn Sie ein Reporter sind, so können Sie schreiben, daß wir den Mörder von Monte Field innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden ergreifen werden. Das ist nämlich alles, was Sie im Moment von mir zu hören bekommen.«
Der junge Mann lächelte. »Verzeihung, Inspektor, aber ich bin kein Reporter. Mein Name ist Arthur Stoates; ich bin erst seit kurzem im Büro von Staatsanwalt Sampson. Der Chef konnte mich erst heute morgen erreichen, und ich hatte noch mit einer anderen Sache zu tun; deshalb bin ich erst so spät hier. Wirklich zu schade um Field, nicht wahr?« Er grinste, als er Mantel und Hut auf einen Stuhl warf.
»Das ist Ansichtssache«, brummte Queen als Antwort. »Auf jeden Fall verursacht er einen Haufen Arbeit. Wie lauten Sampsons Anweisungen?«
»Nun, ich bin natürlich nicht so vertraut mit Fields Werdegang, wie es nötig wäre; deshalb bin ich hier nur als Ersatz für Tim Cronin, der heute morgen noch etwas anderes zu erledigen hat. Ich soll schon einmal anfangen, bis Tim sich voraussichtlich heute nachmittag frei machen kann. Wie Sie wissen, war Cronin derjenige, der vor einigen Jahren hinter Field her war. Er brennt darauf, sich mit den Aktenordnern hier beschäftigen zu können.«
»Nur zu verständlich. Sollte sich irgend etwas Belastendes in den Aufzeichnungen und Akten befinden, so wird es Cronin wohl – nach dem, was mir Sampson über ihn erzählt hat – herausfinden. Hesse, führen Sie Mr. Stoates hinaus, und machen Sie ihn mit Lewin bekannt. Das ist der Bürovorsteher hier, Stoates. Halten Sie ihn im Auge – er sieht ziemlich gerissen aus. Und, Stoates, denken Sie daran, Sie forschen nicht nach einwandfreien Geschäften und Klienten in den Aufzeichnungen, sondern nach krummen Sachen. … Bis später dann.«
Stoates lächelte ihn fröhlich an und folgte Hesse nach draußen. Ellery und sein Vater schauten sich quer durch den Raum an.
»Was hältst du da in der Hand?« fragte der alte Mann auf einmal.
»Ein Exemplar von ›Was uns die Handschrift verrät‹; ich habe es hier aus dem Regal genommen«, erwiderte Ellery träge. »Wieso?«
»Langsam fang’ ich auch an, darüber nachzudenken, El«, erklärte der Inspektor. »An dieser Handschriftensache ist irgend etwas faul.« Ein wenig ratlos schüttelte er den Kopf und erhob sich. »Komm mit, Sohn – hier gibt es nichts zu holen.«
Als sie das Hauptbüro durchquerten, das jetzt bis auf Hesse, Lewin und Stoates verlassen war, winkte Queen den Detective heran. »Gehen Sie nach Hause, Hesse«, sagte er freundlich. »Ich will nicht, daß Sie sich die Grippe holen.« Hesse grinste und verschwand auf der Stelle durch die Tür.
Wenige Minuten später saß Queen in seinem Dienstzimmer in der Center Street. Ellery nannte es das »Starzimmer«. Es war klein und gemütlich, fast wie zu Hause. Ellery ließ sich auf einen Stuhl fallen und fing an, die Bücher über Handschriften zu studieren, die er aus Fields Wohnung und aus seinem Büro stibitzt hatte. Der Inspektor drückte auf einen Summer, und in der Tür erschien die kräftige Gestalt von Thomas Velie.
»Morgen, Thomas«, sagte Queen. »Was ist das für eine aufregende Neuigkeit, die du für mich vom Geschäft der Brüder Browne mitgebracht hast?«
»Ich weiß nicht, wie aufregend sie ist, Inspektor», sagte Velie gelassen und setzte sich auf einen der Stühle, die entlang der Wand standen, »aber für mich hörte es sich sehr wichtig an. Sie haben mir letzte Nacht aufgetragen, etwas über Fields Zylinder herauszufinden. Nun, ich habe das genaue Duplikat davon auf meinem Schreibtisch. Möchten Sie es sehen?«
»Dumme Frage, Thomas«, sagte Queen. »Mach schon!«
Velie verschwand für einen Augenblick und kehrte mit einer Hutschachtel in der Hand zurück. Er öffnete die Verpackung und enthüllte einen sehr gut gearbeiteten, glänzenden Zylinder. Der Inspektor hob ihn neugierig hoch. Auf der Innenseite war die Größe angegeben: 7⅛.
»Unten bei Browne’s hab’ ich mit einem Verkäufer, der schon lange dort arbeitet, gesprochen«, fuhr Velie fort. »Er bedient Field bereits seit Jahren. Es scheint so, als habe Field dort bis auf den kleinsten Knopf alles gekauft – und das schon seit langem. Und er hat immer diesen einen Verkäufer gewünscht. Natürlich weiß der alte Knabe eine ganze Menge über Fields Geschmack und seine Einkäufe.
Er sagt, daß Field ganz schön übertrieb, was seine Kleidung betraf. Sie wurde stets auf Bestellung von Browne’s spezieller Maßschneiderei angefertigt. Er bevorzugte ausgefallene Anzüge und Fräcke und das Neueste in Unterwäsche und Krawatten.«
»Wie war denn sein Geschmack, was Hüte betraf?« warf Ellery ein, ohne von dem Buch, das er gerade las, aufzuschauen.
»Darauf wollte ich noch zu sprechen kommen, Sir«, fuhr Velie fort. »Dieser Verkäufer betonte nachdrücklich die Sache mit den Hüten. Zum Beispiel sagte er, als ich ihn über den Zylinder befragte: ›In dieser Hinsicht war Mr. Field fast fanatisch. In den letzten sechs Monaten hat er nicht weniger als drei davon gekauft!‹ Ich griff das natürlich auf und ließ es anhand der Verkaufsbücher überprüfen. Ganz sicher, Field kaufte drei seidene Zylinder im letzten halben Jahr!«
Ellery und sein Vater sahen sich erstaunt an; beide hatten dieselbe Frage auf den Lippen.
»Drei –«, setzte der Altere an.
»Nun … ist das nicht ein außergewöhnlicher Umstand?« fragte Ellery langsam und griff nach seinem Kneifer.
»Wo in Gottes Namen sind dann die beiden anderen?« fuhr Queen völlig verblüfft fort. Ellery schwieg.
Queen wandte sich ungeduldig an Velie. »Was hast du sonst noch herausgefunden, Thomas?«
»Nichts mehr von Bedeutung«, antwortete Velie, »außer daß Field ein absoluter Kleidernarr war. Das ging so weit, daß er im letzten Jahr fünfzehn Anzüge und nicht weniger als ein Dutzend Hüte, die Zylinder eingeschlossen, gekauft hat!«
»Hüte, Hüte, immer nur Hüte!« stöhnte der Inspektor. »Der Mann muß verrückt gewesen sein. Übrigens – hast du herausgefunden, ob Field jemals Spazierstöcke bei Browne’s gekauft hat?«
Velie machte ein leicht bestürztes Gesicht. »Wieso, Inspektor?« sagte er kläglich. »Ich glaube, da habe ich einen Fehler gemacht. Ich habe überhaupt nicht daran gedacht, danach zu fragen, und letzte nacht haben Sie mir auch nicht gesagt –«
»Verdammt! Keiner von uns ist vollkommen«, brummte Queen. »Sieh zu, daß du den Verkäufer für mich ans Telefon kriegst, Thomas.«
Velie nahm sich einen der Telefonapparate auf dem Schreibtisch und reichte das Gerät wenig später an seinen Vorgesetzten weiter.
»Hier spricht Inspektor Queen«, sagte der alte Mann rasch. »Wie ich höre, haben Sie Monte Field über eine Reihe von Jahren bedient? … Nun, ich möchte noch ein kleines Detail überprüfen. Hat Field jemals bei Ihnen einen Spazierstock gekauft? … Wie bitte? Oh, ich verstehe … Ja. Noch eine andere Sache. Hat er jemals ganz spezielle Anweisungen für die Herstellung seiner Kleidung gegeben – Extrataschen oder etwas in der Art? … Sie glauben nicht. In Ordnung … Was? Oh, ich verstehe. Vielen Dank.«
Er hängte den Hörer ein und wandte sich um.
»Unser dahingeschiedener Freund«, sagte er voller Abscheu, »scheint eine genauso große Abneigung gegen Stöcke gehabt zu haben, wie er eine Vorliebe für Hüte hatte. Dieser Verkäufer erzählte, er hätte mehrfach versucht, Field für Stöcke zu interessieren, aber der hätte es abgelehnt, einen zu kaufen. Könnte sie nicht leiden, hätte er gesagt. Der Verkäufer hält Extrataschen für ausgeschlossen. So stehen wir wieder mit leeren Händen da.«
»Ganz im Gegenteil«, sagte Ellery gelassen. »Es beweist ziemlich schlüssig, daß der Hut das einzige Kleidungsstück war, das der Mörder an sich genommen hat. Das scheint mir die Dinge doch zu vereinfachen.«
»Ich muß schon ein ziemlicher Trottel sein«, sagte sein Vater mürrisch. »Für mich heißt das noch überhaupt nichts.«
»Übrigens, Inspektor«, warf Velie finster blickend ein, »Jimmy hat Bericht erstattet über die Fingerabdrücke auf Fields Flasche. Es sind einige drauf, aber sie sind zweifellos alle von Field, wie er sagt. Jimmy hatte natürlich einen Fingerabdruck aus der Leichenhalle bekommen, um das zu überprüfen.«
»Nun«, sagte der Inspektor, »vielleicht hat die Flasche auch überhaupt nichts mit dem Verbrechen zu tun. Auf jeden Fall müssen wir erst einmal auf Proutys Bericht warten.«
»Da ist noch etwas, Inspektor«, fügte Velie hinzu. »Dieser Müll – der Kehricht aus dem Theater –, den Panzer auf Ihr Geheiß heute morgen hierher schicken sollte, ist vor ein paar Minuten eingetroffen. Wollen Sie ihn sehen?«
»Auf jeden Fall, Thomas«, sagte der Inspektor. »Bring mir bei der Gelegenheit auch direkt die Liste mit, auf der die Namen der Leute ohne den Kontrollabschnitt der Eintrittskarte stehen. Die jeweiligen Platznummern sind doch jedem Namen beigefügt?«
Velie nickte und verschwand. Queen betrachtete verdrießlich den Hinterkopf seines Sohnes, als der Sergeant mit einem umfänglichen Paket und einer getippten Liste zurückkam.
Sie breiteten den Inhalt des Pakets sorgfältig auf dem Schreibtisch aus. Zum größten Teil bestand er aus zerknüllten Programmheften, Papierfetzen – vor allem aus Konfektschachteln – und vielen Kontrollabschnitten, die nicht von Flint und seinen Mitsuchern gefunden worden waren. Zwei unterschiedliche Damenhandschuhe, ein kleiner brauner Knopf
– vermutlich von einem Herrenjackett –, die Schutzkappe eines Füllfederhalters, ein Damentaschentuch und verschiedene andere Gegenstände, wie sie gewöhnlich in Theatern verloren oder weggeworfen werden, kamen zum Vorschein.
»Sieht nicht so aus, als würden wir hier viel finden«, meinte der Inspektor. »Nun, zumindest sind wir jetzt in der Lage, die Kontrollabschnitte zu überprüfen.«
Velie legte die verlorengegangenen Kontrollabschnitte auf einem Häufchen zusammen und fing an, Queen die Nummern und Buchstaben vorzulesen, der sie dann auf der Liste, die Velie ihm gebracht hatte, abhakte. Es waren nicht viele Abschnitte da, so daß sie mit dem Abhaken schnell durch waren.
»Ist das alles, Thomas?« erkundigte sich der Inspektor und schaute auf.
»Das ist alles, Chef.«
»Nun, nach dieser Liste fehlen immer noch Kontrollabschnitte für etwa fünfzig Personen. Wo ist Flint?«
»Er ist hier irgendwo im Haus, Inspektor.«
Queen nahm das Telefon und gab einen knappen Befehl. Fast auf der Stelle erschien Flint.
»Was haben Sie letzte nacht gefunden?« fragte Queen kurz angebunden.
»Nun, Inspektor«, antwortete Flint schüchtern, »wir sind alles aufs genaueste durchgegangen. Wir haben eine ganze Menge Zeug gefunden, aber das meiste davon waren Programmhefte und solche Sachen, die wir dann für die Putzfrauen liegengelassen haben, die mit uns zusammen dort tätig waren. Wir haben jedoch einen ganzen Haufen Kontrollabschnitte aufgesammelt – vor allem in den Gängen.« Aus seiner Tasche brachte er einen Stapel Eintrittskarten, der ordentlich von einem Gummi zusammengehalten wurde, zum Vorschein. Velie nahm ihn in Empfang und fuhr damit fort, die Nummern und Buchstaben vorzulesen. Als er damit zu Ende war, ließ Queen die getippte Liste auf den Schreibtisch fallen.
»Nichts dabei herausgekommen?« murmelte Ellery und schaute von seinem Buch auf.
»Verflucht, jeder von denen, die wir ohne Eintrittskarte angetroffen haben, ist nun abgehakt!« knurrte der Inspektor. »Es ist kein Name und kein Kontrollabschnitt mehr übrig. Jetzt kann ich nur noch eins machen.« Er durchwühlte den Haufen mit den Abschnitten, bis er gemäß der Liste den Kontrollabschnitt fand, der Frances Ives-Pope gehört hatte. Dann holte er aus seiner Tasche die vier Eintrittskarten, die er am Abend zuvor an sich genommen hatte, und verglich sorgfältig den Kontrollabschnitt des Mädchens mit dem für Fields Platz. Die abgerissenen Kanten stimmten nicht überein.
»Es gibt nur einen Trost«, fuhr der Inspektor fort und steckte die fünf Eintrittskarten in seine Westentasche, »wir haben keine Spur von den Karten für die sechs Plätze unmittelbar neben und vor Fields Platz gefunden!«
»Das hab’ ich mir gleich gedacht«, bemerkte Ellery. Er legte das Buch beiseite und betrachtete seinen Vater mit ungewohntem Ernst. »Hast du dir schon einmal Gedanken darüber gemacht, Vater, daß wir nicht einmal genau wissen, warum Field gestern abend im Theater war?«
Queen zog die Brauen hoch. »Genau über dieses Problem habe ich mir auch schon den Kopf zerbrochen. Von Mrs. Russo und Michaels wissen wir, daß Field nichts an Theaterbesuchen lag.«
»Man weiß nie, welche Laune gerade jemanden überkommen kann«, sagte Ellery entschieden. »Viele Dinge könnten auch einen Mann, der sonst nicht ins Theater geht, dazu bewegen, sich dieser Art von Unterhaltung zu widmen. Tatsache ist – er war dort. Ich wüßte gern, warum er dort war.«
Der alte Mann schüttelte ernst den Kopf. »Handelte es sich vielleicht um eine geschäftliche Verabredung? Denk dran, was Mrs. Russo gesagt hat. Field hatte versprochen, daß er um zehn Uhr zurück sein würde.«
»Die Idee mit der geschäftlichen Verabredung gefällt mir«, sagte Ellery beifällig. »Aber bedenke, was sonst noch möglich ist; diese Russo könnte gelogen haben, und Field hat nichts derartiges gesagt; oder, wenn er es gesagt hat, hat er überhaupt nicht die Absicht gehabt, die Verabredung mit ihr um zehn Uhr einzuhalten.«
»Ich bin nur zu der ziemlich sicheren Überzeugung gelangt, Ellery«, sagte der Inspektor, »daß Field – was auch immer möglich sein mag – gestern abend nicht ins Römische Theater gegangen ist, um sich die Vorstellung anzuschauen. Er ging dorthin, um sich um Geschäftsangelegenheiten zu kümmern.«
»Das denke ich mir auch«, sagte Ellery lächelnd. »Aber man sollte immer sehr sorgfältig alle Möglichkeiten in Betracht ziehen. Nun, wenn er dort geschäftlich unterwegs war, dann doch nur, um jemanden zu treffen. Ob dieser Jemand sein Mörder war?«
»Du stellst zu viele Fragen, Ellery«, sagte der Inspektor. – »Thomas, wir wollen noch einmal das andere Zeug in dem Paket anschauen.«
Vorsichtig reichte Velie dem Inspektor nacheinander die verschiedenen Gegenstände. Die Handschuhe, die Kappe des Füllfederhalters, den Knopf und das Taschentuch warf Queen nach kurzer Betrachtung auf die Seite. Es blieb nichts mehr übrig außer den Papierstückchen aus den Konfektschachteln und den zerknüllten Programmheften. Da das Konfektpapier wohl kaum etwas hergeben würde, befaßte sich Queen mit den Programmheften. Mitten in deren Betrachtung rief er auf einmal hocherfreut aus: »Schaut, was ich hier gefunden habe, Jungs!«
Die drei Männer beugten sich über seine Schulter. Queen hielt ein Programmheft in der Hand, das er glattgestrichen hatte. Allem Anschein nach war es zusammengeknüllt und weggeworfen worden. Auf einer der Innenseiten, neben und über dem üblichen Artikel zur Herrenmode, befanden sich eine Reihe von Hand geschriebener Buchstaben, Zahlen und rätselhafte Kritzeleien, wie man sie in Momenten der Gedankenlosigkeit vor sich hin malt.
»Inspektor, es sieht so aus, als hätten Sie Fields eigenes Programmheft gefunden!« rief Flint.
»Jawohl, mein Herr, so sieht es aus«, sagte Queen knapp. »Flint, suchen Sie unter den Papieren, die wir gestern in den Taschen des Toten gefunden haben, nach einem Brief mit seiner Unterschrift, und bringen Sie ihn mir.« Flint eilte nach draußen.
Ellery untersuchte die Kritzeleien aufmerksam. Auf dem oberen Rand des Blattes stand:
Flint kam mit einem Brief zurück. Der Inspektor verglich die Unterschriften – offenkundig stammten sie von derselben Person.
»Wir werden sie unten im Labor noch von Jimmy überprüfen lassen«, murmelte der alte Mann, »aber ich bin mir ziemlich sicher. Es ist Fields Programmheft. Daran kann eigentlich kein Zweifel bestehen. Was sagst du dazu, Thomas?«
Velie knirschte: »Ich weiß nicht, worauf sich diese anderen Zahlen beziehen, aber diese ›50.000‹ können nichts anderes als Dollar bedeuten, Chef.«
»Der alte Knabe muß wohl an sein Bankkonto gedacht haben«, sagte Queen. »Anscheinend war er auch in den Anblick seines eigenen Namens verliebt.«
»Das ist nicht ganz fair gegenüber Field«, wandte Ellery ein. »Wenn man untätig herumsitzt – wie er es im Theater vor Beginn der Vorstellung getan hat –, ist es nur allzu normal, daß man seine Initialen oder seinen Namen auf den nächsten geeigneten Gegenstand kritzelt. In einem Theater wäre das wohl das Programmheft … Das Niederschreiben des eigenen Namens ist ein allgemeines psychologisches Phänomen. Also war auch Field vielleicht nicht so selbstgefällig, wie es den Anschein hat.«
»Ist ja auch nicht so wichtig«, sagte der Inspektor und untersuchte weiter stirnrunzelnd das Gekritzel.
»Vielleicht«, erwiderte Ellery. »Aber um auf eine dringlichere Angelegenheit zurückzukommen – ich stimme mit dir nicht darin überein, daß sich die ›50.000‹ möglicherweise auf Fields Konto beziehen. Wenn jemand schnell mal seinen Kontostand aufschreibt, dann bestimmt nicht in solchen runden Summen.«
»Wir können das ziemlich leicht überprüfen«, entgegnete der Inspektor und griff zum Telefon. Er bat die Vermittlung im Haus, ihn mit Fields Büro zu verbinden. Nachdem er eine Weile mit Oscar Lewin gesprochen hatte, wandte er sich mit niedergeschlagener Miene wieder zurück an Ellery.
»Du hast recht gehabt, El«, sagte er. »Field besaß nur ein überraschend kleines Privatkonto; es beläuft sich auf weniger als sechstausend Dollar. Und das, obwohl er oft Einzahlungen über zehn- und fünfzehntausend Dollar vornahm. Lewin selbst war überrascht. Er sagte, er hätte nichts von Fields finanzieller Lage gewußt, bis ich ihn eben darum bat, sie zu überprüfen … Ich wette, Field hat an der Börse spekuliert oder sein Geld zum Buchmacher getragen.«
»Ich bin nicht gerade sehr überrascht von der Nachricht«, bemerkte Ellery. »Sie weist auf einen möglichen Grund für die ›50.000‹ in dem Programmheft hin. Die Zahl ist nicht nur einfach eine Geldsumme, sie bedeutet mehr als das – nämlich ein Geschäft, bei dem fünfzigtausend Dollar zu gewinnen waren. Nicht schlecht für eine Nacht, wenn er lebend davongekommen wäre.«
»Und was ist mit den zwei anderen Zahlen?« fragte Queen.
»Darüber werde ich ein wenig nachgrübeln müssen«, antwortete Ellery und ließ sich auf seinen Stuhl fallen. »Ich wüßte wirklich gerne, was das für eine Art von Geschäft ist, bei der eine solch hohe Summe als Preis gezahlt wird«, fügte er hinzu und putzte abwesend seinen Kneifer.
»Was es auch für ein Geschäft gewesen sein mag«, sagte der Inspektor in belehrendem Ton, »mein Sohn, du kannst sicher sein, daß es ein übles war.«
»Ein übles?« fragte Ellery mit ernster Stimme.
»Geld ist die Wurzel allen Übels«, erwiderte der Inspektor grinsend.
»Nicht nur die Wurzel, Vater, sondern auch die Frucht«, sagte Ellery, ohne den Ton zu verändern.
»Wieder ein Zitat?« spottete der alte Herr.
»Fielding«, sagte Ellery gelassen.
in welchem die Vergangenheit ihre Schatten wirft
Das Telefon klingelte. »Q? Hier ist Sampson«, erklang die Stimme des Staatsanwalts aus dem Telefon.
»Guten Morgen, Henry«, sagte Queen. »Wo bist du? Wie fühlst du dich heute morgen?«
»Ich bin in meinem Büro und fühle mich hundsmiserabel«, gab Sampson leise lachend zurück. »Der Doktor ist der festen Überzeugung, daß ich es nicht mehr lange mache, wenn ich so weiterschufte, und in meiner Dienststelle ist man davon überzeugt, daß die Stadt untergeht, wenn ich nicht zur Arbeit erscheine. Nach was soll man sich da richten? … Nun zur Sache, Q.«
Der Inspektor gab Ellery ein Zeichen, als wollte er sagen: »Ich weiß genau, was jetzt kommt!«
»Ja, Henry?«
»Hier ist ein Herr in meinem Privatbüro, den du besser kennenlernen solltest«, fuhr Sampson in etwas gedämpfterem Tonfall fort. »Er will dich sehen, und ich fürchte, du mußt alles stehen und liegen lassen und schleunigst herkommen. »Er« – Sampsons Stimme war nur noch ein Flüstern – »er ist ein Mensch, den ich mir nicht unnötig zum Feind machen will, Q, alter Junge.«
Der Inspektor runzelte die Stirn. »Ich nehme an, du redest von Ives-Pope«, sagte er. »Ist er verärgert, weil wir seinen Sonnenschein gestern abend befragt haben?«
»Nein, das nicht«, sagte Sampson. »Er ist wirklich ein netter alter Knabe. Nur – sei freundlich zu ihm, Q, bitte.«
»Ich werde ihn mit Glacehandschuhen anfassen«, kicherte der alte Mann. »Wenn dich das ein wenig beruhigt, werde ich meinen Sohn mitschleppen. Normalerweise kümmert er sich um unsere gesellschaftlichen Verpflichtungen.«
»Das wäre schön«, sagte Sampson dankbar.
Der Inspektor legte auf und wandte sich an Ellery. »Der arme Henry sitzt wirklich in der Klemme«, sagte er spöttisch, »und ich kann ihm nicht vorwerfen, daß er versucht, es allen recht zu machen. Pfeift aus dem letzten Loch, und die Politiker setzen ihn unter Druck, dieser Krösus lamentiert in seinem Büro herum. … Komm, mein Sohn, wir werden jetzt den berühmten Franklin Ives-Pope kennenlernen!«
Ellery stöhnte und streckte seine Arme von sich. »Du hast bald noch einen Kranken hier, wenn das so weitergeht.« Trotzdem sprang er auf und setzte sich seinen Hut auf. »Dann wollen wir diesen Industriekapitän mal begutachten.«
Queen sah Velie grinsend an. »Bevor ich es vergesse, Thomas … Ich möchte, daß du heute ein wenig herumschnüffelst. Du sollst herausfinden, warum Monte Field, der eine florierende Kanzlei besaß und einen ziemlich aufwendigen Lebensstil führte, nur sechstausend Dollar auf seinem Privatkonto hatte. Vielleicht ist es die Börse oder die Rennbahn, aber das will ich eben genau wissen. Vielleicht geht das aus den eingelösten Schecks hervor. Lewin ist schon in Fields Büro und kann dir dort helfen. Und wenn du schon dabei bist – das könnte ausgesprochen wichtig werden, Thomas –, mach eine vollständige Aufstellung all dessen, was Field gestern unternommen hat.«
Die beiden Queens machten sich auf den Weg zu Sampsons Dienststelle.
Das Büro des Staatsanwalts war ein geschäftiger Ort, und selbst ein Polizeiinspektor wurde in diesen heiligen Hallen nur wenig beachtet. Ellery war schlechtgelaunt, aber sein Vater lächelte, und schließlich kam der Staatsanwalt höchstpersönlich aus seinem Heiligtum gestürzt und richtete ein Wort des Tadels an den Büroangestellten, der seine Freunde hatte warten lassen.
»Hüte deine Zunge, junger Mann«, warnte Queen, während Sampson sie in sein Büro führte, wobei er immer noch Verwünschungen gegen den Missetäter ausstieß. »Bin ich überhaupt fein genug angezogen für ein Treffen mit dem Dollarkönig?«
Sampson hielt ihnen die Tür auf. Vom Eingang aus erblickten die beiden Queens einen Mann, der – die Hände auf dem Rücken ineinandergelegt – durch das Fenster nach draußen auf die langweilige Aussicht blickte. Als der Staatsanwalt die Tür schloß, drehte er sich behend um – erstaunlich beweglich für einen Menschen von seinem Gewicht.
Franklin Ives-Pope war ein Überbleibsel aus einer wirtschaftlich gesünderen Zeit. Er ähnelte jenem starken, selbstsicheren Typ von Magnaten, die wie der alte Cornelius Vanderbilt die Wall Street nicht nur durch ihren Reichtum, sondern ebensosehr durch die Kraft ihrer Persönlichkeit beherrscht hatten. Ives-Pope hatte klare graue Augen, stahlgraues Haar, einen grauen Bart, einen kräftigen, immer noch jugendlich elastischen Körper und den unmißverständlichen Ausdruck gebieterischer Autorität. Wie er so gegen das Licht des schäbigen Fensters stand, war er ein durch und durch eindrucksvoller Mann, und Ellery und Queen war bei ihrem Eintritt sofort klar, daß hier ein Mensch vor ihnen stand, der wußte, was er wollte.
Noch bevor Sampson – etwas verlegen – die Vorstellung übernehmen konnte, sprach der Financier mit einer tiefen, angenehmen Stimme: »Ich nehme an, Sie sind Queen, der Menschenjäger«, sagte er. »Ich wollte Sie schon lange einmal kennenlernen, Inspektor.« Er reichte ihm eine große, kraftvolle Hand, die Queen würdevoll schüttelte.
»Überflüssig zu sagen, daß ich den gleichen Wunsch hatte, Mr. Ives-Pope«, sagte er mit einem leichten Lächeln. »Ich habe auch einmal an der Wall Street spekuliert, und ich glaube, ich habe etwas Geld bei Ihnen gelassen. – Dies, Sir, ist mein Sohn Ellery, der ganze Stolz der Familie Queen.«
Der stattliche Mann betrachtete Ellery wohlwollend von oben bis unten. Er schüttelte ihm die Hand und bemerkte dabei: »Sie haben einen bemerkenswerten Vater, mein Junge!«
»Nun gut!« seufzte der Staatsanwalt, während er den dreien Stühle anbot. »Ich bin froh, daß das schon mal geschafft ist. Sie können sich überhaupt nicht vorstellen, Mr. Ives-Pope, wie mich dieses bevorstehende Treffen nervös gemacht hat. Queen ist nämlich ein kleiner Teufel, wenn es um den Austausch von Höflichkeiten geht, und es hätte mich nicht überrascht, wenn er Ihnen gleich bei der Begrüßung Handschellen angelegt hätte!«
Der stattliche Mann löste die Spannung mit einem herzhaften Lachen.
Der Staatsanwalt kam sofort zur Sache.
»Mr. Ives-Pope ist hier, Q, um sich persönlich zu erkundigen, was in der Angelegenheit seiner Tochter getan werden kann.« Queen nickte. Sampson wandte sich an den Finanzmann. »Wie ich Ihnen schon gesagt habe, Sir, haben wir in jeder Hinsicht vollstes Vertrauen zu Inspektor Queen – immer schon gehabt. Er arbeitet im allgemeinen ohne Kontrolle oder Oberaufsicht durch das Büro des Staatsanwalts. Ich denke, das sollte in Anbetracht der Umstände noch einmal klargestellt werden.«
»Das ist eine vernünftige Einstellung, Sampson«, sagte IvesPope zustimmend. »Ich habe in meinem eigenen Geschäft selbst immer nach diesem Prinzip gearbeitet. Und außerdem, nach allem, was ich über Inspektor Queen gehört habe, ist Ihr Vertrauen vollkommen gerechtfertigt.«
»Manchmal«, sagte Queen ernst, »muß ich Dinge tun, die mir gegen den Strich gehen. Ich sage Ihnen ganz offen, daß mir einige der Sachen, die ich gestern abend pflichtgemäß unternehmen mußte, äußerst unangenehm waren. Ich nehme an, Mr. Ives-Pope, Ihre Tochter ist ziemlich aufgebracht wegen unserer kleinen Unterhaltung gestern abend?«
Ives-Pope schwieg einen Moment. Dann hob er den Kopf und blickte dem Inspektor gerade in die Augen. »Sehen Sie, Inspektor«, sagte er. »Wir beide mußten schon mit allen möglichen seltsamen Menschen umgehen; und wir haben auch schon Probleme gelöst, die anderen enorme Schwierigkeiten bereiteten. Ich denke, wir können daher offen miteinander reden … Ja, meine Tochter Frances ist mehr als nur ein wenig aufgebracht. Unglücklicherweise ist ihre Mutter, ohnehin eine kranke Frau, das auch; und ihr Bruder Stanford, mein Sohn – aber das können wir vielleicht beiseite lassen … Frances hat mir gestern abend, als sie mit ihren Freunden nach Hause kam, alles erzählt. Ich kenne meine Tochter, Inspektor; und ich lege meine Hand dafür ins Feuer, daß zwischen ihr und Field nicht die geringste Verbindung besteht.«
»Mein lieber Herr«, gab der Inspektor ruhig zurück, »ich habe sie in keinster Weise beschuldigt. Niemand weiß besser als ich, welch seltsame Dinge sich im Zuge einer polizeilichen Untersuchung ereignen können; deshalb versuche ich auch, nicht den kleinsten Punkt aus den Augen zu verlieren. Ich habe sie nur darum gebeten, die Tasche zu identifizieren. Nachdem sie das getan hatte, habe ich ihr erzählt, wo sie gefunden worden war. Ich rechnete natürlich mit einer Erklärung. Die kam aber nicht … Sie verstehen doch, Mr. Ives-Pope, daß es die Pflicht der Polizei ist, wenn ein Mann ermordet und die Tasche einer Frau in seinem Anzug gefunden wird, die Besitzerin der Tasche und ihre Verbindung zu dem Verbrechen zu ermitteln.«
Der Dollarkönig trommelte auf der Armlehne seines Stuhles. »Ich verstehe Ihren Standpunkt, Inspektor«, sagte er. »Es war eindeutig Ihre Pflicht, und es ist immer noch Ihre Pflicht, den Dingen auf den Grund zu gehen. Genaugenommen erwarte ich das sogar von Ihnen. Meine ganz persönliche Meinung ist, daß sie ein Opfer gewisser Umstände geworden ist. Aber ich möchte hier nicht als ihr Anwalt auftreten. Ich setze genug Vertrauen in Sie, um mich auf Ihr Urteil zu verlassen, nachdem Sie die Angelegenheit sorgfältig untersucht haben.« Er machte eine kurze Pause. »Inspektor Queen, was würden Sie davon halten, wenn ich für morgen früh eine kleine Befragung in meinem Haus arrangiere? Ich würde Ihnen eine solche Mühe nicht zumuten, wenn sich Frances nicht sehr elend fühlte und ihre Mutter nicht darauf bestände, daß sie zu Hause bleibt. Kann ich mit Ihnen rechnen?«
»Sehr freundlich von Ihnen, Mr. Ives-Pope«, bemerkte Queen befriedigt. »Wir werden dort sein.«
Der Finanzmann schien noch nicht bereit zu sein, das Gespräch zu beenden. Er bewegte sich schwerfällig auf seinem Stuhl hin und her. »Ich bin immer fair gewesen, Inspektor«, sagte er. »Irgendwie habe ich das Gefühl, daß man mich beschuldigt, meine Position auszunutzen, um mir spezielle Privilegien zu sichern. Das ist nicht der Fall. Der Schock über Ihre Vorgehensweise gestern abend machte es für Frances unmöglich, ihre Geschichte zu erzählen. Zu Hause, im Kreise ihrer Familie, wird sie sicherlich ihre Verbindung zu dieser Affäre zu Ihrer Zufriedenheit aufklären können.« Er zögerte einen Moment, fuhr dann aber in etwas reservierterem Tonfall fort. »Ihr Verlobter wird dort sein, und vielleicht wird seine Anwesenheit sie beruhigen.« Seinem Tonfall konnte man entnehmen, daß er selbst diese Ansicht nicht teilte. »Dürfen wir dann um – sagen wir – halb elf mit Ihnen rechnen?«
»Das paßt sehr gut«, stimmte Queen ihm zu. »Ich würde nur gerne genauer wissen, Sir, wer dabei zugegen sein wird.«
»Ich kann das nach Ihren Wünschen arrangieren, Inspektor«, antwortete Ives-Pope, »aber ich kann mir vorstellen, daß Mrs. Ives-Pope dabei sein will, und ich weiß, daß Mr. Barry da sein wird – mein zukünftiger Schwiegersohn«, erklärte er trocken. »Vielleicht noch ein paar von Frances’ Freunden – ihren Schauspielerfreunden. Mein Sohn Stanford wird uns vielleicht auch mit seiner Anwesenheit beehren – ein vielbeschäftigter junger Mann, müssen Sie wissen«, fügte er mit einem Anflug von Verbitterung hinzu.
Die drei Männer rutschten verlegen auf ihren Plätzen herum. Ives-Pope stand mit einem Seufzer auf, und Ellery, Queen und Sampson taten es ihm sofort gleich. »Ich denke, das ist alles, Inspektor«, sagte der Finanzmann in etwas weniger bedrücktem Ton. »Gibt es noch etwas, das ich tun kann?«
»Das war wirklich alles.«
»Dann werde ich mich verabschieden.« Ives-Pope wandte sich an Ellery und Sampson. »Wenn Sie sich frei machen können, Sampson, würde ich Sie natürlich gerne dabei haben. Glauben Sie, Sie können das einrichten?« Der Staatsanwalt nickte. »Und Mr. Queen«, sagte er zu Ellery, »werden Sie auch kommen? Wie ich verstanden habe, stehen Sie während der ganzen Untersuchung Ihrem Vater zur Seite. Wir würden uns freuen, wenn Sie kämen.«
»Ich werde dort sein«, antwortete Ellery, und Ives-Pope verließ das Büro.
»Nun, was denkst du, Q?« fragte Sampson, während er unruhig auf seinem Drehstuhl herumzappelte.
»Ein äußerst interessanter Mann«, antwortete der Inspektor. »Und wie aufrichtig er ist!«
»Oh, ja – ja«, sagte Sampson. »Er – Q, bevor du kamst, bat er darum, daß du nicht so ohne weiteres mit der Sache an die Öffentlichkeit gehst. Eine Art von persönlichem Gefallen, weißt du.«
»Er hat sich wohl nicht getraut, mich darum zu bitten, eh?« schmunzelte der Inspektor. »Das macht ihn richtig menschlich. … Nun, Henry, ich werde mein Bestes tun, aber wenn diese junge Frau ernsthaft darin verwickelt ist, kann ich mich nicht dafür verbürgen, daß die Presse die Finger davon läßt.«
»In Ordnung, in Ordnung, Q – das liegt bei dir«, sagte Sampson gereizt. »Mein verdammter Hals!« Er nahm einen Zerstäuber aus einer Schreibtischschublade und besprühte mit schmerzverzerrter Miene seine Kehle.
»Hat Ives-Pope nicht kürzlich der Chemischen Forschungsgemeinschaft hunderttausend Dollar gestiftet?« fragte Ellery plötzlich an Sampson gewandt.
»Ich glaube, ich habe so etwas in Erinnerung«, sagte Sampson gurgelnd. »Wieso?«
Ellery murmelte eine unhörbare Erklärung, die in Sampsons heftigen Bewegungen mit dem Zerstäuber unterging. Queen, der seinen Sohn nachdenklich ansah, schüttelte den Kopf, sah auf seine Uhr und sagte: »Nun, mein Sohn, es ist Zeit für unser Mittagessen. Was meinst du, Henry, willst du nicht einen Happen mit uns essen?«
Sampson grinste etwas gequält. »Ich stecke zwar bis zum Hals in Arbeit, aber selbst ein Staatsanwalt muß ab und zu essen«, sagte er. »Ich gehe unter einer Bedingung mit – nämlich daß ich die Rechnung übernehme. Ich schulde dir sowieso noch etwas.«
Während sie ihre Mäntel anzogen, telefonierte Queen.
»Mr. Morgan? … Oh, hallo, Morgan. Haben Sie heute nachmittag Zeit für eine kleine Unterhaltung? … In Ordnung. Halb drei ist mir recht. Auf Wiederhören.«
»Das wäre das«, sagte der Inspektor zufrieden. »Höflichkeit zahlt sich immer aus, Ellery – das solltest du dir merken.«
Pünktlich um halb drei wurden die Queens in das ruhige Anwaltsbüro von Benjamin Morgan geführt. Es unterschied sich auffallend von Fields verschwenderischer Suite – nobel, aber mit eher geschäftsmäßiger Schlichtheit ausgestattet. Eine lächelnde junge Dame schloß die Türe hinter ihnen. Morgan begrüßte sie zurückhaltend. Er bot ihnen Zigarren an, als sie sich setzten.
»Nein, danke – ich bleibe bei meinem Schnupftabak«, sagte der Inspektor freundlich, während Ellery sich, nachdem er vorgestellt worden war, eine Zigarette anzündete und Rauchringe vor sich hinblies. Morgan zündete sich mit zitternden Händen eine Zigarre an.
»Ich nehme an, Sie sind gekommen, um unsere Unterhaltung von gestern abend fortzusetzen, Inspektor?« sagte Morgan.
Queen nieste, steckte seine Tabakdose wieder ein und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Sehen Sie, Morgan, alter Junge«, sagte er offen heraus. »Sie waren mir gegenüber nicht ganz aufrichtig.«
»Was meinen Sie damit?« fragte Morgan nervös.
»Sie haben mir gestern abend erzählt«, sagte der Inspektor nachdenklich, »Sie haben mir gestern erzählt, daß Sie sich vor zwei Jahren freundschaftlich von Field getrennt haben, als das gemeinsame Unternehmen aufgelöst wurde. Haben Sie das nicht gesagt?«
»Das habe ich«, sagte Morgan.
»Was für eine Erklärung, mein Lieber«, fragte Queen, »haben Sie dann für die kleine Episode im Webster Club? Ich würde es nicht gerade als ›freundschaftliches‹ Ende einer Partnerschaft bezeichnen, wenn man das Leben eines Mannes bedroht!«
Morgan saß für einige Zeit schweigend da, während Queen ihn geduldig ansah und Ellery seufzte. Dann blickte er auf und begann, mit etwas leidenschaftlicherer Stimme zu reden.
»Es tut mir leid, Inspektor«, murmelte er, ohne diesen anzusehen. »Ich hätte mir denken können, daß sich jemand an eine solche Drohung erinnern würde … Ja, es ist nur zu wahr. Wir haben einmal auf Fields Vorschlag hin zusammen im Webster Club gegessen. Was mich betraf, so war es mir am liebsten, gesellschaftlich überhaupt nicht mit ihm zu verkehren. Aber der Zweck dieses Mittagessens war, einige letzte Einzelheiten der Auflösung durchzusprechen, und natürlich hatte ich keine andere Wahl … Ich fürchte, ich bin in Wut geraten. Ich habe ihn mit dem Tod bedroht, aber das war – nun, das war im Eifer des Gefechts gesagt. Ich hatte die ganze Sache vergessen, bevor die Woche vorbei war.«
Der Inspektor nickte verständnisvoll. »Ja, solche Dinge passieren manchmal. Aber« – und Morgan leckte sich ängstlich die Lippen – »ein Mann bedroht doch nicht das Leben eines anderen Mannes – auch wenn er es nicht ernst meint – nur wegen geringfügiger geschäftlicher Differenzen.« Er richtete einen Finger auf Morgans zusammengesunkene Gestalt. »Kommen Sie, Mann – heraus damit. Was versuchen Sie zu verschweigen?«
Morgans ganzer Körper war in sich zusammengefallen. Seine Lippen waren aschgrau, als er hilfesuchend von einem Queen zum anderen blickte. Aber ihre Blicke waren unerbittlich; Ellery, der ihn ansah wie ein Forscher sein Versuchskaninchen, unterbrach das Schweigen.
»Mein lieber Morgan«, sagte er kühl. »Field hatte etwas gegen Sie in der Hand, und er dachte, daß nun der geeignete Zeitpunkt gekommen war, Sie davon in Kenntnis zu setzen. Das ist so klar wie das Rot in Ihren Augen.«
»Sie haben es zum Teil erraten, Mr. Queen. Ich bin einer der unglücklichsten Menschen dieser Erde gewesen. Dieser Teufel Field – wer auch immer ihn getötet hat, verdient eine Auszeichnung für diesen Dienst an der Menschheit. Er war ein Monster – ein seelenloses Ungeheuer. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie glücklich – ja, glücklich! – ich darüber bin, daß er tot ist!«
»Ganz ruhig, Morgan«, sagte Queen. »Auch wenn unser gemeinsamer Freund nach allem, was ich höre, ein ganz schönes Stinktier war, könnten Ihre Bemerkungen doch auch auf weniger verständnisvolle Ohren treffen. Und –?«
»Hier ist die ganze Geschichte«, murmelte Morgan; seine Augen waren starr auf die Schreibunterlage gerichtet. »Es ist keine schöne Geschichte … Als ich ein junger Student am College war, hatte ich mich mit einem Mädchen eingelassen – einer Kellnerin in einem Studentenrestaurant. Sie war kein schlechter Mensch – nur schwach, und ich denke, ich war etwas ausgelassen damals. Auf jeden Fall bekam sie ein Kind – mein Kind … Ich nehme an, Sie wissen, daß ich aus einer sittenstrengen Familie komme. Sollten Sie das noch nicht wissen, werden Sie das im Zuge Ihrer Untersuchungen bald herausfinden. Die Familie hatte große Pläne mit mir, man war gesellschaftlich sehr ambitioniert – um es kurz zu machen, ich konnte das Mädchen also unmöglich heiraten und sie als Ehefrau in das Haus meines Vaters bringen. Ich habe mich ziemlich niederträchtig benommen …«
Er machte eine Pause.
»Aber es war nun einmal geschehen, und das ist alles, was zählt. Ich – ich habe sie immer geliebt. Sie war vernünftig genug, allen Abmachungen zuzustimmen. Ich schaffte es, sie aus meinen großzügig bemessenen Einkünften zu versorgen. Niemand – kein einziger Mensch auf dieser Welt außer ihrer verwitweten Mutter, einer feinen alten Dame – weiß etwas über diese Angelegenheit. Ich glaube, das kann ich beschwören. Und trotzdem –« Er ballte die Fäuste, fuhr aber mit einem Seufzer fort. »Schließlich heiratete ich ein Mädchen, das meine Familie für mich ausgesucht hatte.« Ein schmerzvolles Schweigen entstand, als er innehielt, um sich zu räuspern. »Es war eine Vernunftehe – nicht mehr und nicht weniger. Sie stammte aus einer alten Aristokratenfamilie, und ich hatte das Geld. Wir haben einigermaßen glücklich zusammen gelebt. … Dann traf ich Field. Ich verfluche den Tag, an dem ich einer Partnerschaft mit ihm zugestimmt habe – aber mein eigenes Geschäft war nicht gerade so, wie es hätte sein sollen, und Field war ein aufstrebender und gerissener Anwalt.«
Der Inspektor nahm eine Prise Schnupftabak.
»Zunächst ging alles glatt«, fuhr Morgan mit leiser Stimme fort. »Aber nach und nach kam mir der Verdacht, daß mein Partner nicht so ganz der war, für den ich ihn gehalten hatte. Obskure Klienten – wirklich obskure Klienten – kamen nach Büroschluß in sein Privatbüro; meinen diesbezüglichen Fragen wich er aus; irgend etwas stimmte auf einmal nicht mehr. Schließlich kam ich zu dem Schluß, daß mein eigener Ruf darunter leiden würde, wenn ich weiter mit diesem Mann in Verbindung stehen würde, und ich sprach mit ihm über eine Auflösung der Kanzlei. Field lehnte das vehement ab, aber ich war stur; und schließlich konnte er sich meinem Wunsch nicht mehr widersetzen. Wir trennten uns.«
Ellery trommelte mit den Fingern abwesend auf den Griff seines Spazierstockes.
»Dann diese Sache im Club. Er bestand darauf, daß wir zusammen zu Mittag aßen, um die letzten Einzelheiten zu klären. Das war aber natürlich nicht der wirkliche Grund. Ich denke, Sie erraten schon … In ganz freundlichem Ton kam er mit der Ungeheuerlichkeit heraus, er wisse, daß ich eine Frau und mein uneheliches Kind finanziell unterstütze. Er sagte, er hätte einige meiner Briefe, um das zu beweisen, und einige Zahlungsbelege über Summen, die ich ihr geschickt hatte … Er gab freimütig zu, daß er sie mir gestohlen hatte. Ich hatte jahrelang nicht mehr danach geschaut, natürlich … Dann kündigte er mir höflich an, daß er aus dieser Angelegenheit Kapital zu schlagen gedächte!«
»Erpressung!« rief Ellery aus.
»Ja, Erpressung!« gab Morgan verbittert zurück. »Genau das. Er malte mir sehr genau aus, was passieren würde, wenn die Geschichte herauskäme. Oh, Field war ein gerissener Halunke! Ich sah meine gesamte gesellschaftliche Stellung, die ich mir aufgebaut hatte – die Frucht jahrelanger Mühe – mit einem Mal zerstört. Meine Frau, ihre Familie, meine eigene Familie und mehr noch als das, die Kreise, in denen wir verkehrten – ich hätte bis zum Hals im Dreck gesteckt. Und was das Geschäft betrifft – nun, es braucht nicht viel, damit die wichtigen Klienten zu anderen Anwälten abwandern. Ich saß in der Falle – ich wußte es, und er wußte es.«
»Und wieviel hat er verlangt, Morgan?« fragte Queen.
»Genug! Er wollte fünfundzwanzigtausend Dollar – nur für sein Schweigen. Ich hatte keinerlei Sicherheit, daß die Angelegenheit damit erledigt sein würde. Ich saß in der Klemme – und zwar gründlich. Denn, vergegenwärtigen Sie sich das – das ist keine Sache, die seit Jahren erledigt ist. Ich unterstützte die arme Frau und meinen Sohn. Ich tue das auch heute noch. Ich werde das immer tun.« Er starrte auf seine Fingernägel.
»Ich bezahlte das Geld«, fuhr er trübsinnig fort. »Ich mußte mich etwas einschränken, aber ich bezahlte. Aber der Schaden war nun einmal angerichtet. Ich sah damals rot im Club und – aber Sie wissen ja, was dann passiert ist.«
»Und er erpreßte Sie die ganze Zeit über weiter, Morgan?« fragte der Inspektor.
»Ja, Sir – runde zwei Jahre. Der Mann war unersättlich, das sage ich Ihnen! Ich kann es heute noch nicht begreifen. Er muß enorme Honorare als Anwalt kassiert haben, und trotzdem schien er immer Geld zu brauchen. Und keineswegs Kleingeld
– ich habe ihm nie weniger als zehntausend Dollar auf einmal bezahlt!«
Queen und Ellery warfen sich einen kurzen Blick zu. Queen sagte: »Nun, Morgan, das ist ja eine ganz schöne Bescherung. Je mehr ich über Field höre, desto weniger habe ich Lust, dem Burschen, der ihn erledigt hat, die Handschellen anzulegen. Dennoch – nach allem, was Sie mir erzählt haben, ist Ihre Aussage von gestern abend, daß Sie Field seit zwei Jahren nicht gesehen hätten, offenkundig falsch. Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?«
Morgan schien Schwierigkeiten zu haben, sich zu erinnern. »Oh, das war ungefähr vor zwei Monaten, Inspektor«, sagte er schließlich.
Der Inspektor rutschte auf seinem Stuhl hin und her. »Ich verstehe … Es ist schade, daß Sie mir das nicht gestern abend erzählt haben. Sie können selbstverständlich davon ausgehen, daß Ihre Geschichte bei der Polizei absolut sicher aufgehoben ist. Und es ist eine sehr wichtige Information. Aber nebenbei – kennen Sie zufällig eine Frau namens Angela Russo?«
Morgan überlegte einen Moment. »Nun – nein, Inspektor. Ich kenne sie nicht.«
Queen schwieg für einen Augenblick. »Kennen Sie einen Herrn namens ›Pfarrer‹ Johnny?«
»Darüber kann ich Ihnen, glaube ich, einiges erzählen, Inspektor. Ich bin mir sicher, daß Field während unserer Partnerschaft diesen kleinen Betrüger für einige seiner obskuren Geschäfte benutzt hat. Ich schnappte ihn einige Male, wie er sich nach Geschäftsschluß ins Büro einschlich, und als ich Field über ihn befragte, grinste er nur höhnisch und sagte: ›Oh, das ist nur Pfarrer Johnny, ein Freund von mir!‹ Aber das genügte schon, um über den Mann Bescheid zu wissen. Was genau die Beziehung zwischen den beiden war, kann ich Ihnen nicht erzählen, weil ich es nicht weiß.«
»Danke, Morgan«, sagte der Inspektor. »Ich bin froh, daß Sie mir das erzählt haben. Und nun – noch eine letzte Frage. Haben Sie jemals den Namen Charles Michaels gehört?«
»Sicher habe ich das«, antwortete Morgan grimmig. »Michaels war Fields sogenannter Diener – er benahm sich wie ein Leibwächter und war in Wirklichkeit eher ein Schuft, wenn mich meine Menschenkenntnis nicht ganz täuscht. Er kam ab und an ins Büro. Sonst kann ich mich an nichts erinnern, Inspektor.«
»Er kennt Sie natürlich?« fragte Queen.
»Nun, ich denke schon«, gab Morgan zögernd zurück. »Ich habe nie mit ihm gesprochen, aber er hat mich ohne Zweifel bei seinen Besuchen im Büro gesehen.«
»Nun, es ist in Ordnung, Morgan«, brummte Queen, während er sich erhob. »Das war eine äußerst interessante und informative Unterhaltung. Und – nein, ich glaube nicht, daß es noch etwas gibt. Jedenfalls im Augenblick nicht. Gehen Sie ganz normal Ihren Geschäften nach, Morgan, und bleiben Sie in der Stadt – halten Sie sich zur Verfügung, falls wir Sie noch brauchen. Vergessen Sie das nicht, ja?«
»Das werde ich schon nicht vergessen«, sagte Morgan dumpf. »Und – die Geschichte, die ich Ihnen erzählt habe – über meinen Sohn – das wird unter uns bleiben?«
»Da haben Sie überhaupt nichts zu befürchten, Morgan«, sagte Queen, und wenige Augenblicke später befanden sich Ellery und er auf der Straße.
»Es ging also um Erpressung, Vater«, murmelte Ellery. »Das bringt mich auf eine Idee, weißt du?«
»Nun, mein Sohn, ich habe da selbst so meine Ideen!« kicherte Queen, und in telepathischem Schweigen gingen sie forschen Schrittes die Straße in Richtung Präsidium hinunter.
in welchem die Queens die feine Gesellschaft unsicher machen
Am Mittwochmorgen servierte Djuna einem gedankenverlorenen Inspektor und einem schwatzenden Ellery den Kaffee. Das Telefon läutete. Beide, Ellery und sein Vater, sprangen auf.
»Halt! Was machst du?« rief der Inspektor. »Es ist für mich; ich erwarte einen Anruf.«
»Aber, aber, mein Herr! Du wirst doch wohl einem Bücherliebhaber nicht verwehren, sein eigenes Telefon zu benutzen«, erwiderte Ellery. »Ich hab’ so das Gefühl, daß das mein werter Buchhändler ist, der mich wegen der seltenen Falconer-Ausgabe anruft.«
»Schau, Ellery, fang jetzt nicht an …« Während sie sich noch gutmütig über den Tisch hinweg gegenseitig aufzogen, nahm Djuna den Hörer ab.
»Den Inspektor – den Inspektor, sagten Sie? Inspektor …« sagte Djuna und hielt grinsend den Telefonhörer gegen seine schmale Brust, »es ist für Sie.«
Ellery ließ sich auf seinen Stuhl sinken, während Queen mit triumphierender Miene nach dem Apparat griff. »Ja?«
»Hier ist Stoates aus Fields Büro«, erklang munter eine jungenhafte Stimme. »Ich möchte Sie mit Mr. Cronin verbinden.«
Erwartungsvoll legte sich des Inspektors Stirn in Falten. Ellery lauschte aufmerksam, und sogar Djuna, in dessen kantigem Gesicht sich die Aufmerksamkeit eines Schimpansen zeigte, blieb wie angewurzelt in seiner Ecke stehen, so als würde auch er eine wichtige Nachricht erwarten. In dieser Hinsicht ähnelte er sehr seinen Verwandten im Tierreich – in seinem Gesichtsausdruck und in seiner Haltung war etwas Flinkes, eine aufgeweckte Neugierde, die die Queens immer wieder entzückte.
Schließlich drang eine hohe Stimme durch den Hörer. »Hier spricht Tim Cronin, Inspektor«, sagte sie. »Wie geht es Ihnen? Ich hab’ Sie ja schon seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen.«
»Man wird älter, Tim, aber sonst hat sich nicht viel geändert«, antwortete Queen. »Was gibt’s? Haben Sie was entdeckt?«
»Nun, das ist wirklich das Eigenartigste an der ganzen Sache, Inspektor«, erklang Cronins aufgeregte Stimme. »Wie Sie wissen, bin ich schon seit Jahren hinter diesem Vogel Field her. Er ist mein ganz persönliches Schreckgespenst, solange ich zurückdenken kann. Der Staatsanwalt sagte mir, daß er Ihnen die ganze Geschichte vorletzte Nacht erzählt hat; ich muß also nicht mehr in die Einzelheiten gehen. Aber in all diesen Jahren des Beobachtens, des Wartens und des Herumstöberns ist es mir nie gelungen, gegen diesen Gauner ein einziges Beweisstück zu finden, das ihn hätte vor Gericht bringen können. Und er war ein Gauner, Inspektor. Darauf würde ich mein Leben verwetten … Nun, das ist die alte Geschichte. So wie ich Field kannte, hätte ich wirklich auch nichts anderes erwarten sollen. Und doch – nun, insgeheim habe ich darum gefleht, daß er irgendwann, irgendwie einen Fehler macht und daß ich ihn dann festnageln würde, wenn ich seine persönlichen Aufzeichnungen in die Hände bekommen könnte. Inspektor – es ist nichts damit anzufangen.«
In Queens Gesicht erschien ein Anflug von Enttäuschung; Ellery registrierte das mit einem Seufzen, stand auf und ging ruhelos im Raum auf und ab.
»Wir können wohl nichts dran ändern, Tim«, erwiderte Queen und bemühte sich, herzlich zu klingen. »Nur keine Sorge – wir haben noch andere Eisen im Feuer.«
»Inspektor«, sagte Cronin hastig, »Sie werden alle Hände voll zu tun haben. Field war ein wirklich durchtriebener Bursche. Und für mich sieht es so aus, daß derjenige, dem es gelang, ihn zu überlisten, genauso durchtrieben sein muß. Anders ist es gar nicht möglich, übrigens sind wir noch nicht zur Hälfte mit den Akten durch, und vielleicht gibt das, was wir durchgeschaut haben, doch noch etwas mehr her, als es sich eben angehört hat. Eine ganze Menge hier weist doch auf eine etwas zwielichtige Tätigkeit Fields hin – das Problem ist, es gibt nichts wirklich Belastendes. Wir hoffen, wir werden noch etwas finden, wenn wir weitersuchen.«
»In Ordnung, Tim – machen Sie nur weiter so«, murmelte der Inspektor. »Und lassen Sie mich wissen, was Sie herausgefunden haben … Ist Lewin da?«
»Sie meinen den Bürovorsteher?« Cronin sprach auf einmal leiser. »Er ist hier irgendwo. Warum?«
»Sie sollten ihn genau im Auge behalten«, sagte Queen. »Ich habe den heimlichen Verdacht, daß er nicht so dumm ist, wie er sich gibt. Lassen Sie ihn nicht allzu ungestört mit den Geschäftsunterlagen, die da herumliegen. Er könnte durchaus an Fields kleinem Nebengeschäft beteiligt gewesen sein.«
»Gut Inspektor. Ich ruf Sie später an.« Es klickte, als Cronin einhängte.
Um halb elf öffneten Queen und Ellery das hohe Eingangstor zum Besitz der Ives-Popes am Riverside Drive. Ellery fühlte sich zu der Bemerkung genötigt, das ganze Ambiente verlange geradezu nach förmlicher Kleidung – Cut und gestreifte Hose – und daß er sich äußerst unwohl fühlen werde, wenn sie erst einmal das steinerne Portal durchschritten hätten.
In der Tat war der Anblick des herrschaftlichen Hauses, in dem die Geschicke der Familie Ives-Pope verborgen lagen, in vielerlei Hinsicht ehrfurchteinflößend für jemanden wie die Queens mit ihrem etwas bescheideneren Geschmack. Es war ein riesiges, weitläufiges altes Haus, weit ab von der unruhigen Straße in einem Park von beträchtlichem Ausmaß. »Muß eine hübsche Stange Geld gekostet haben«, knurrte der Inspektor und ließ seinen Blick über die weiten Grünflächen rings um das Gebäude streifen. Gärten und Pavillons, Spazierwege und schattige Plätzchen – man fühlte sich weit weg von der Stadt, deren Getriebe doch nur wenig entfernt hinter dem hohen Eisengitter, das den Besitz umgab, lag. Die Familie Ives-Pope war unermeßlich reich; über diesen nicht unbedingt ungewöhnlichen Besitz hinaus verfügte sie über eine Abstammung, die weit zurückreichte in die halbdunklen Anfänge der amerikanischen Kolonisation.
Die Eingangstür wurde ihnen von einer aristokratisch wirkenden, einen Backenbart tragenden Gestalt geöffnet, deren Rücken aus Stahl zu bestehen schien und deren Nase in fast spitzem Winkel nach oben zeigte. Ellery schlenderte durch die Tür und betrachtete diesen uniformierten Prachtkerl voller Bewunderung, während Inspektor Queen in seinen Taschen nach einer Visitenkarte suchte. Das dauerte seine Zeit; der livrierte Herr mit dem steifen Rücken stand dort wie in Stein gemeißelt. Schon rot im Gesicht, fand der Inspektor schließlich eine abgenutzte Karte. Er legte sie auf das dargebotene Tablett und schaute zu, wie der Butler sich in sein Reich zurückzog.
Ellery mußte schmunzeln, als sein Vater sich beim Anblick der stämmigen Figur von Franklin Ives-Pope, die in einer weiten, mit Schnitzereien versehenen Türöffnung erschien, aufrichtete.
Der Finanzmann eilte auf sie zu.
»Inspektor! Mr. Queen!« rief er herzlich. »Kommen Sie herein. Haben Sie lange warten müssen?«
Der Inspektor murmelte ein paar Worte der Begrüßung. Sie schritten durch einen hohen Flur mit glänzendem Parkett, dessen Einrichtung aus schlichten, alten Möbeln bestand.
»Sie sind auf die Minute pünktlich, meine Herren«, sagte Ives-Pope und trat beiseite, um sie in einen großen Raum eintreten zu lassen. »Hier sind noch einige weitere Mitglieder unserer kleinen Vorstandssitzung. Ich denke, alle Anwesenden sind Ihnen bereits bekannt.«
Der Inspektor und Ellery schauten sich um. »Ich kenne alle hier, Sir, außer diesem Herrn – Mr. Stanford Ives-Pope, nehme ich an«, sagte Queen. »Ich fürchte, mein Sohn muß noch bekannt gemacht werden mit – Mr. Peale, nicht wahr – Mr. Barry – und natürlich mit Mr. Ives-Pope.«
Die Vorstellung verlief etwas gezwungen. »Ah, Q!« murmelte Staatsanwalt Sampson und eilte quer durch den Raum. »Das hier hätte ich um alles in der Welt nicht verpassen mögen«, flüsterte er dem Inspektor zu. »Zum ersten Mal habe ich die Bekanntschaft von fast all denen gemacht, die bei der gerichtlichen Untersuchung dabeisein werden.«
»Was macht denn dieser Peale hier?« fragte Queen leise den Staatsanwalt, während Ellery den Raum durchquerte, um die drei jungen Männer am anderen Ende in ein Gespräch zu verwickeln. Ives-Pope selbst hatte sich entschuldigt und war verschwunden.
»Er ist ein Freund des jungen Ives-Pope«, entgegnete der Staatsanwalt, »und natürlich ist er auch mit Barry dick befreundet. Aus dem Geplauder vorhin hab’ ich mitbekommen, daß Stanford, der Sohn von Ives-Pope, ursprünglich seine Schwester mit diesem Künstlervölkchen bekannt gemacht hat. Auf diese Weise hat sie Barry kennengelernt und sich in ihn verliebt. Peale scheint mit der jungen Dame auch auf gutem Fuße zu stehen.«
»Ich frage mich, ob wohl Ives-Pope und seine aristokratische Gemahlin den Umgang ihrer Kinder allzusehr schätzen«, sagte der Inspektor und beobachtete voller Interesse die kleine Gruppe auf der anderen Seite des Raumes.
»Das wirst du bald genug herausfinden«, sagte Sampson schmunzelnd. »Du mußt nur auf die Eiszapfen achten, die jedesmal auf Mrs. Ives-Popes Augenbrauen wachsen, wenn sie einen dieser Schauspieler sieht. Ich vermute, sie sind so willkommen wie ein Haufen Bolschewiken.«
Queen legte die Hände auf den Rücken und sah sich neugierig im Zimmer um. Es war eine mit kostbaren und seltenen Büchern gut ausgestattete Bibliothek, sorgfältig katalogisiert und makellos in Vitrinen angeordnet. Ein Schreibtisch beherrschte die Mitte des Raumes. Als Arbeitszimmer eines Millionärs war es recht bescheiden, bemerkte der Inspektor beifällig.
»Übrigens«, fuhr Sampson fort, »Eve Ellis, das Mädchen, das – wie du sagtest – mit Miss Ives-Pope und ihrem Verlobten Montag abend im Römischen Theater war, ist auch hier. Sie ist oben und leistet der reichen Erbin Gesellschaft, nehme ich an. Glaube nicht, daß das der Dame des Hauses allzusehr gefällt. Aber es sind beides reizende Mädchen.«
»Wie gemütlich es hier wohl sein mag, wenn Familie IvesPope und die Schauspieler privat zusammenkommen«, knurrte Queen.
Die vier jungen Männer kamen auf sie zugeschlendert. Stanford Ives-Pope war ein schlanker, gepflegter, modisch gekleideter junger Mann. Er hatte tiefe Schatten unter den Augen. Er trug einen unzufriedenen und gelangweilten Ausdruck zur Schau, was Queen sehr schnell auffiel. Peale und Barry, die beiden Schauspieler, waren tadellos gekleidet.
»Mr. Queen erzählt mir, daß Sie es mit einem ganz schönen Problem zu tun haben, Inspektor«, sagte Stanford Ives-Pope affektiert. »Uns allen tut es sehr leid, mitanzusehen, wie das arme Schwesterchen da hineingezogen wird. Wie um alles in der Welt konnte nur ihr Handtäschchen in die Tasche dieses Burschen geraten? Glauben Sie mir, Barry hat wegen dieser mißlichen Lage, in der sich Frances befindet, seit Tagen nicht mehr geschlafen.«
»Werter junger Mann«, sagte der Inspektor augenzwinkernd, »wenn ich wüßte, wie Miss Ives-Popes Handtäschchen in Monte Fields Tasche gelangt ist, wäre ich heute morgen nicht hier. Das ist nur einer der Tatbestände, die diesen Fall so verflucht interessant machen.«
»Das Vergnügen sei Ihnen unbenommen, Inspektor. Aber Sie können doch wirklich nicht annehmen, daß auch nur die leiseste Verbindung zwischen Frances und all dem besteht?«
Queen lächelte. »Noch kann ich überhaupt nichts annehmen, junger Mann«, widersprach er. »Ich habe noch nicht gehört, was Ihre Schwester dazu zu sagen hat.«
»Sie wird alles bestens erklären können«, sagte Stephen Barry, auf dessen hübschem Gesicht sich die Müdigkeit abzeichnete. »Da können Sie beruhigt sein. Es ist dieser abscheuliche Verdacht, dem sie ausgesetzt ist, der mich so zornig macht – das Ganze ist doch lächerlich!«
»Ich verstehe Ihre Gefühle, Mr. Barry«, sagte der Inspektor freundlich. »Und ich möchte mich bei dieser Gelegenheit für mein Verhalten in jener Nacht entschuldigen. Ich war vielleicht etwas zu – grob.«
»Ich nehme an, ich sollte mich auch entschuldigen«, entgegnete Barry mit einem matten Lächeln. »Ich glaube, ich habe in dem Büro einiges gesagt, was ich nicht so meinte. In der Erregung des Augenblicks, als ich Frances – Miss IvesPope ohnmächtig werden sah –« Verlegen hielt er inne.
Peale, ein Hüne mit gesunder Gesichtsfarbe und angenehmem Äußeren, legte liebevoll seinen Arm um Barrys Schultern. »Steve, alter Junge, ich bin sicher, der Inspektor versteht das«, sagte er fröhlich. »Nimm es dir nicht zu sehr zu Herzen; es wird bestimmt alles in Ordnung gehen.«
»Das können Sie getrost Inspektor Queen überlassen«, sagte Sampson und gab diesem dabei vergnügt einen Stoß in die Rippen. »Er ist der einzige Spürhund, der mir jemals begegnet ist, der so etwas wie ein Herz unter der Dienstmarke verbirgt; und wenn Miss Ives-Pope diese Angelegenheit zu seiner Zufriedenheit erklären kann, und sei es auch nur in einem eben annehmbaren Maße, wird die Sache damit ein Ende haben.«
»Oh, ich weiß nicht«, murmelte Ellery nachdenklich. »Vater ist immer gut für Überraschungen. Was Miss Ives-Pope betrifft« – er lächelte wehmütig und verbeugte sich vor dem Schauspieler – »so können Sie sich verdammt glücklich schätzen, Mr. Barry.«
»Das würden Sie nicht denken, wenn Sie die Mutter sehen würden«, sagte Stanford Ives-Pope affektiert. »Wenn mich nicht alles täuscht, kommt sie gerade hereingetrampelt.«
Die Männer wandten sich der Tür zu. Eine ungemein korpulente Frau watschelte durch die Tür. Eine Krankenschwester stützte sie behutsam auf einer Seite; sie hielt eine große grüne Flasche in der Hand. Der Finanzmann folgte ihr munter an der Seite eines grauhaarigen, jugendlich wirkenden Mannes in einem dunklen Jackett, der eine schwarze Tasche trug.
»Catherine, mein Liebling«, sagte Ives-Pope zu der unförmigen Frau, als sie sich auf einem breiten Stuhl niedergelassen hatte, »das sind die Herren, von denen ich dir erzählt habe – Inspektor Richard Queen und Mr. Ellery Queen.«
Die beiden Queens verbeugten sich; die kurzsichtige Mrs. Ives-Pope warf ihnen einen frostigen Blick zu. »Bin entzückt«, sagte sie mit schriller Stimme. »Wo ist die Schwester? Schwester! Ich fühle mich schwach, bitte!«
Das Mädchen in Schwesterntracht eilte an ihre Seite und hielt die grüne Flasche bereit. Mrs. Ives-Pope schloß die Augen, atmete tief ein und stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Der Finanzmann stellte eilig den grauhaarigen Mann als Dr. Vincent Cornish, den Arzt der Familie, vor. Der Arzt murmelte einige entschuldigende Worte und folgte dem Butler aus dem Zimmer. »Toller Kerl, dieser Cornish«, flüsterte Sampson Queen zu. »Nicht nur, daß es hier am Drive als schick gilt, ihn zu haben, er ist auch ein guter Wissenschaftler.« Der Inspektor zog die Brauen hoch, sagte aber nichts.
»Mutter ist ein Grund dafür, warum ich nie eine Vorliebe für den Arztberuf entwickelt habe«, sagte Stanford Ives-Pope zu Ellery, ohne allzusehr die Stimme zu senken.
»Ah! Frances, mein Liebes!« Ives-Pope stürmte in Richtung Tür, gefolgt von Barry. Mrs. Ives-Popes trüber Blick traf seinen Rücken mit kalter Mißbilligung. James Peale hüstelte verlegen und machte eine leise Bemerkung zu Sampson.
Mit bleichem und verzerrtem Gesicht betrat Frances in einem dünnen Hauskleid den Raum; sie stützte sich schwer auf den Arm von Eve Ellis, der Schauspielerin. Ihr Lächeln wirkte gezwungen, als sie den Inspektor mit leiser Stimme begrüßte. Eve Ellis wurde von Peale vorgestellt, und die beiden Mädchen setzten sich neben Mrs. Ives-Pope. Die alte Dame thronte breit auf ihrem Stuhl und blickte um sich wie eine Löwin, deren Junges bedroht wird. Zwei Diener erschienen schweigend und rückten die Stühle für die Männer zurecht. Auf die drängende Bitte von Ives-Pope hin nahm Queen an dem großen Schreibtisch Platz. Ellery lehnte das Angebot ab und zog es vor, sich im Hintergrund des Zimmers gegen einen Bücherschrank zu lehnen.
Nachdem die Unterhaltung abgeebbt war, räusperte sich der Inspektor und wandte sich an Frances, die – nach einem ersten unruhigen Flackern der Augenlider – seinen Blick inzwischen erwiderte.
»Zunächst, Miss Frances – ich darf Sie doch wohl so nennen
–«, begann Queen in väterlichem Ton, »erlauben Sie mir, mein Vorgehen am Montag abend zu erklären und mich für das zu entschuldigen, was Ihnen wie völlig ungerechtfertigte Härte vorgekommen sein muß. Wie mir Mr. Ives-Pope mitgeteilt hat, können Sie Ihr Verhalten an dem Abend, an dem Monte Field ermordet wurde, erklären. Aus diesem Grunde gehe ich davon aus, daß unsere kleine Unterhaltung heute morgen ausreichen wird, Ihre Person von der weiteren Untersuchung des Falles auszuschließen. Um noch eins vorwegzunehmen – bitte glauben Sie mir, wenn ich Ihnen sage, daß Sie für mich am Montag abend nur eine von zahlreichen verdächtigen Personen darstellten. Ich ging gemäß meinen üblichen Gepflogenheiten bei solchen Fällen vor. Mir ist nun klar, daß für eine Frau von Ihrer Erziehung und sozialen Stellung ein strenges Verhör unter diesen Umständen einen Schock bedeuten kann, der Ihren gegenwärtigen Zustand hervorrief.«
Frances lächelte nett. »Es sei Ihnen vergeben, Inspektor«, sagte sie leise und deutlich. »Ich bin an meinem törichten Verhalten selbst schuld. Ich bin bereit, alle Fragen, die Ihnen von Bedeutung erscheinen, zu beantworten.«
»Noch einen kleinen Moment, meine Liebe.« Der Inspektor wechselte ein wenig seine Position, um den Rest der schweigenden Gesellschaft in seine nächste Bemerkung mit einzubeziehen. »Auf eine Sache möchte ich noch hinweisen, meine Damen und Herren«, sagte er ernst. »Wir haben uns hier versammelt, um herauszufinden, warum Miss Ives-Popes Handtasche in der Tasche des Toten gefunden wurde und warum sie offensichtlich nicht in der Lage war, diesen Umstand zu erklären. Ob wir nun damit heute morgen Erfolg haben werden oder nicht – auf jeden Fall muß ich Sie bitten, über alles, was hier gesprochen wird, strengstes Stillschweigen zu wahren. Wie Staatsanwalt Sampson weiß, pflege ich im allgemeinen meine Untersuchungen nicht vor einem breiten Publikum zu führen. Ich mache diese Ausnahme, weil ich glaube, daß Sie alle sehr besorgt um die unglückliche junge Dame sind, die in dieses Verbrechen hineingezogen worden ist. Jedoch dürfen Sie keine Rücksicht von meiner Seite erwarten, wenn auch nur ein Wort der heutigen Unterhaltung nach außen dringt. Ich glaube, wir haben uns verstanden.«
»Ich muß schon sagen, Inspektor«, protestierte der junge Ives-Pope, »sind das nicht ein wenig zu starke Geschütze? Wir kennen die Geschichte doch alle schon.«
»Vielleicht, Mr. Ives-Pope, ist das der Grund, warum ich der Anwesenheit aller hier zugestimmt habe«, erwiderte der Inspektor mit einem grimmigen Lächeln.
Ein leises Rascheln war zu hören, und Mrs. Ives-Pope öffnete den Mund, so als wollte sie mit einer wütenden Äußerung herausplatzen. Auf einen strengen Blick ihres Mannes hin schloß sie den Mund wieder, ohne den Protest hervorgebracht zu haben. Sie richtete nun ihren Blick auf die Schauspielerin an Frances’ Seite. Eve Ellis wurde rot. Wie ein Vorstehhund stand die Krankenschwester mit dem Riechsalz neben Mrs. Ives-Pope.
»Also, Miss Frances«, fuhr Queen freundlich fort, »die Sache sieht folgendermaßen aus. Ich untersuche die Leiche eines Mannes namens Monte Field, ein bekannter Rechtsanwalt, der anscheinend an einem interessanten Stück Gefallen fand, ehe er so respektlos ins Jenseits befördert wurde, und finde in der Hintertasche seines Fracks ein Täschchen. Anhand einiger Visitenkarten und einiger persönlicher Papiere identifiziere ich es als Ihre Tasche. Ich sage zu mir selbst: ›Aha! Eine Dame kommt ins Spiel‹ – ist ja nur zu verständlich. Durch einen meiner Männer lasse ich Sie herbeiholen, um Ihnen die Gelegenheit zu bieten, einen äußerst verdächtigen Umstand aufzuklären. Sie kommen – und fallen in Ohnmacht, als man Sie mit Ihrem Eigentum und der Angabe darüber, wo man es aufgefunden hat, konfrontiert. Nun sage ich mir: ›Diese junge Dame weiß etwas‹ – eine nicht unverständliche Schlußfolgerung. Also, wie können Sie mich nun davon überzeugen, daß Sie von nichts wissen und daß Ihre Ohnmacht allein durch die Umstände hervorgerufen wurde? Und halten Sie sich stets vor Augen, Miss Frances – ich behandele die Angelegenheit nicht als der Privatmann Richard Queen, sondern als ganz einfacher Polizist, der die Wahrheit herausfinden will.«
»Meine Geschichte ist vielleicht nicht so aufschlußreich, wie Sie es erwarten mögen, Inspektor«, erklang ruhig Frances’ Antwort in die Stille hinein, die auf den Vortrag Queens folgte. »Mir ist nicht klar, wie sie überhaupt für Sie von Nutzen sein kann. Aber einige Dinge, die mir unwichtig erscheinen, können vielleicht für Ihren geübten Verstand von Bedeutung sein … Also, hier in kurzen Worten meine Geschichte.
Daß ich am Montag abend ins Römische Theater kam, war nicht ungewöhnlich. Seit meiner Verlobung mit Mr. Barry, und obwohl das mehr oder weniger im Geheimen geschah« – Mrs. Ives-Pope schnaufte; ihr Gatte starrte unverwandt auf einen Punkt über dem dunklen Haar seiner Tochter – »kam ich öfters im Theater vorbei, um, wie wir es uns zur Gewohnheit gemacht hatten, meinen Verlobten nach der Vorstellung zu treffen. Bei diesen Gelegenheiten pflegte er mich entweder nach Hause zu begleiten oder irgendwo in der näheren Umgebung zum Essen auszuführen. In der Regel verabreden wir uns, bevor ich ins Theater komme; aber manchmal, wenn sich die Gelegenheit ergibt, komme ich einfach unerwartet vorbei. So war es auch Montag abend …
Ich kam ein paar Minuten vor dem Ende des ersten Akts ins Theater, denn ich habe das Stück natürlich schon häufig gesehen. Ich hatte meinen üblichen Platz – das hatte Mr. Barry schon vor vielen Wochen über Mr. Panzer für mich regeln lassen – und hatte mich gerade erst hingesetzt, um der Vorstellung zuzuschauen, als auch schon der Vorhang zur ersten Pause fiel. Mir war ein wenig warm; die Luft war nicht gerade gut … Ich ging zunächst vom Foyer die Treppe hinunter zum Damenwaschraum. Danach kam ich wieder hoch und ging durch die geöffnete Tür hinaus in den Seitengang. Eine ganze Menge Leute waren da, um Luft zu schnappen.«
Sie hielt einen Augenblick inne; Ellery, der gegen den Bücherschrank gelehnt stand, beobachtete genau die Gesichter der kleinen Zuhörerschaft. Wie ein Ungetüm blickte Mrs. IvesPope umher; Ives-Pope starrte immer noch über Frances’ Kopf hinweg auf die Wand; Stanford kaute an seinen Nägeln; Peale und Barry betrachteten beide Frances voll nervöser Anteilnahme und schauten heimlich zu Queen hinüber, so als wollten sie die Wirkung ihrer Worte auf ihn ablesen; Eve Ellis hatte ihre Hand nach vorne geschoben und hielt Frances’ Hand fest umfaßt.
Der Inspektor räusperte sich erneut.
»Welcher Seitengang war das, Miss Frances – der auf der linken oder der auf der rechten Seite?« fragte er.
»Der auf der linken, Inspektor«, antwortete sie ohne Zögern. »Wie Sie wissen, saß ich auf Platz M8 Links und deshalb, so nehme ich an, war es für mich selbstverständlich, auf dieser Seite auf den Gang hinauszugehen.«
»Sicher«, sagte Queen lächelnd. »Fahren Sie bitte fort.«
»Ich trat also hinaus in den Seitengang«, fuhr sie weniger nervös fort, »und da ich niemanden sah, den ich kannte, stand ich nahe der Backsteinmauer des Theaters, ein wenig hinter der geöffneten Eisentür. Die frische Nachtluft nach dem Regen war herrlich. Ich war kaum zwei Minuten dort, als ich auf einmal merkte, wie mich jemand leicht berührte. Ich trat etwas zur Seite, weil ich dachte, die Person wäre zufällig gegen mich gestoßen. Aber als er – es war ein Mann – es wieder tat, bekam ich es ein wenig mit der Angst zu tun und wollte weggehen. Er
– er packte mein Handgelenk und zog mich zurück. Wir standen halb hinter der Eisentür verborgen, die nicht ganz aufgestoßen worden war, und ich bezweifle, daß sonst jemand etwas davon bemerkt hat.«
»Tja – tjaja«, murmelte der Inspektor teilnahmsvoll. »Es scheint für einen völlig Unbekannten doch recht ungewöhnlich, so etwas in der Öffentlichkeit zu tun.«
»Es schien so, als wollte er mich küssen, Inspektor. Er beugte sich vor und flüsterte ›Guten Abend, Süße!‹, und ich – nun ich zog daraus diesen Schluß. Ich wich ein wenig zurück und sagte so ruhig wie möglich: ›Lassen Sie mich bitte gehen, oder ich werde um Hilfe rufen.‹ Daraufhin lachte er nur und kam noch näher heran. Er stank unerträglich nach Whisky. Mir wurde übel.«
Sie hielt inne. Beruhigend tätschelte Eve Ellis ihre Hand. Peale stieß Barry nachdrücklich in die Rippen, als dieser sich unter leichtem Protest schon halb erhoben hatte. »Miss Frances, ich werde Ihnen nun eine etwas merkwürdige Frage stellen – sie wird Ihnen fast lächerlich vorkommen«, sagte der Inspektor und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Roch sein Atem für Sie nach gutem oder nach schlechtem Whisky? … Sehen Sie! Ich wußte, daß Sie lächeln würden.« Die ganze Gesellschaft kicherte über den schrulligen Ausdruck in Queens Gesicht.
»Nun, Inspektor – das ist schwer zu sagen«, erwiderte das Mädchen freimütig. »Ich fürchte, ich kenne mich nicht allzugut aus mit Alkohol. Aber so wie ich es in Erinnerung habe, war es der Geruch von ziemlich gutem Whisky. Guter Whisky – aber davon eine ganze Menge!« folgerte sie und warf grimmig den Kopf etwas zurück.
»Ich hätte sofort auch noch den Jahrgang erkannt, wenn ich dort gewesen wäre«, murmelte Stanford Ives-Pope.
Die Lippen seines Vaters wurden schmal, entspannten sich aber bereits einen Moment später; der Anflug eines Lächelns erschien auf seinen Lippen. Mahnend schüttelte er den Kopf in Richtung seines Sohnes.
»Weiter, Miss Frances«, sagt der Inspektor.
»Ich war furchtbar erschrocken«, gestand das Mädchen ein, und seine roten Lippen zitterten dabei. »Mir war schlecht vor Ekel, ich entwand mich seiner ausgestreckten Hand und stolperte blindlings ins Theater. Das Nächste, woran ich mich wieder erinnern kann, ist, daß ich auf meinem Platz saß und hörte, wie die Klingel zum zweiten Akt läutete. Ich weiß wirklich nicht, wie ich dorthin gekommen bin. Mein Herz schlug mir bis zum Halse, und jetzt fällt es mir deutlich wieder ein, wie ich dachte, daß ich Stephen – Mr. Barry – nichts von dem Vorfall erzählen würde, weil ich Angst hatte, er würde den Mann finden und übel zurichten. Wissen Sie, Mr. Barry ist schrecklich eifersüchtig.« Zärtlich lächelte sie ihrem Verlobten zu; dieser sandte ihr auf der Stelle ein Lächeln zurück.
»Und das, Inspektor, ist alles, was ich von dem weiß, was Montag abend passiert ist«, fuhr sie fort. »Sie werden mich nun sicher fragen, wo in der ganzen Geschichte meine Tasche vorkommt. Nun, Inspektor – sie kommt überhaupt nicht vor. Denn, auf mein Ehrenwort, an das Täschchen kann ich mich gar nicht erinnern.«
Queen bewegte sich auf dem Stuhl. »Und wie kommt das, Miss Frances?«
»Bevor Sie es mir im Büro des Geschäftsführers gezeigt haben, wußte ich tatsächlich noch nicht einmal, daß ich es verloren hatte«, antwortete sie mutig. »Mir fällt ein, daß ich die Tasche bei mir hatte, als ich am Ende des ersten Akts aufstand, um in den Waschraum zu gehen; und auch, daß ich sie dort öffnete, um die Puderquaste herauszuholen. Aber ob ich sie dort stehengelassen oder später irgendwo anders verloren habe, weiß ich bis zu dieser Minute noch nicht.«
»Können Sie sich nicht vorstellen, Miss Frances«, warf Queen ein, während er nach seiner Schnupftabakdose griff, diese dann aber schuldbewußt wieder losließ, als er dem eisigen Blick von Mrs. Ives-Pope begegnete, »daß Sie die Tasche im Seitengang verloren haben könnten, als dieser Mann an Sie herantrat?«
So etwas wie Erleichterung erschien auf ihrem Gesicht, und sie wurde fast lebhaft. »Ja natürlich, Inspektor!« rief sie. »Das ist genau das, woran ich die ganze Zeit gedacht habe; aber das schien mir so eine schwache Erklärung, und ich hatte so entsetzliche Angst, daß ich mich in etwas wie einem Spinnennetz verfangen könnte. Ich brachte es einfach nicht über mich, Ihnen davon zu erzählen! Auch wenn ich mich an nichts erinnern kann, scheint es ja nur zu logisch, daß ich die Tasche verlor, als er mein Handgelenk packte, und daß ich es später vollkommen vergessen habe.«
Der Inspektor lächelte. »Meine Liebe, es ist ganz im Gegenteil nicht nur logisch, sondern gar die einzige Erklärung, die den Tatsachen zu entsprechen scheint«, sagte er. »Aller Wahrscheinlichkeit nach fand dieser Mann Ihr Täschchen dort, hob es auf und steckte es in einem Anflug von halbtrunkener Verliebtheit in seine Tasche, vermutlich in der Absicht, es Ihnen später zurückzugeben. Auf diese Weise hätte er noch eine Gelegenheit gehabt, Sie zu treffen. Er scheint ganz schön von Ihnen hingerissen gewesen zu sein – ist ja auch kein Wunder, meine Liebe.« Der Inspektor machte eine etwas steife Verbeugung in ihre Richtung, während ihn das Mädchen, in dessen Gesicht inzwischen die Farbe wieder zurückgekehrt war, mit einem strahlenden Lächeln bedachte.
»Nun noch ein paar andere Fragen, Miss Frances, und dann wird diese kleine Untersuchung ein Ende haben«, fuhr Queen fort. »Können Sie seine äußere Erscheinung beschreiben?«
»Oh, ja!« erwiderte Frances rasch. »Wie Sie sich vorstellen können, machte er einen ziemlich starken Eindruck auf mich. Er war nur wenig größer als ich – also etwas mehr als ein Meter siebzig – und neigte zur Fettleibigkeit. Er hatte ein aufgedunsenes Gesicht und tiefe, bleifarbene Säcke unter den Augen. Ich habe noch nie jemanden gesehen, der so nach einem ausschweifenden Leben aussah. Er war glattrasiert. An seinen Gesichtszügen war nichts Bemerkenswertes außer vielleicht der hervorstechenden Nase.«
»Das muß Monte Field gewesen sein«, bemerkte der Inspektor. »Jetzt denken Sie genau nach, Miss Frances. Kannten Sie diesen Mann, oder haben Sie ihn zuvor schon einmal getroffen?«
Das Mädchen antwortete auf der Stelle. »Darüber muß ich gar nicht erst nachdenken, Inspektor. Ich kann Ihnen versichern, daß ich diesen Mann niemals zuvor gesehen habe.«
Die Stille, die daraufhin eintrat, wurde durch Ellerys kühle und ruhige Stimme unterbrochen. Alle Köpfe wandten sich ihm überrascht zu, als er zu reden ansetzte.
»Verzeihen Sie, Miss Ives-Pope, wenn ich unterbreche«, sagte er freundlich, »aber ich würde gerne wissen, ob Ihnen aufgefallen ist, wie der Mann, der Sie belästigt hat, angezogen war.«
Frances lächelte nun Ellery zu, der ein wenig in Verlegenheit geriet. »Ich habe nicht besonders auf seine Kleidung geachtet«, sagte sie und zeigte dabei ihre weißen, leuchtenden Zähne. »Aber ich erinnere mich daran, daß er Frack – auf seiner Hemdbrust waren ein paar Flecken wie von Whisky – und Zylinder trug. So wie ich mich erinnern kann, war er sehr geschmackvoll gekleidet – bis auf die Flecken auf seinem Hemd natürlich.«
Ellery dankte ihr fasziniert und lehnte sich wieder an den Bücherschrank. Queen blickte seinen Sohn scharf an und erhob sich.
»Das wäre dann alles, meine Damen und Herren. Ich denke, wir können den Vorfall nun als erledigt betrachten.«
Auf der Stelle brach allgemeiner Beifall aus, und alle stürmten auf Frances ein, die vor Glück strahlte. Barry, Peale und Eve Ellis führten Frances in einem Triumphmarsch hinaus, während Stanford mit einem kläglichen Lächeln seiner Mutter den vorsorglich gekrümmten Arm bot.
»So endigt nun die erste Lektion«, verkündete er ernst. »Nimm, Mutter, meinen Arm, bevor die Ohnmacht dich umfaßt!« Eine protestierende Mrs. Ives-Pope verließ, schwer auf ihren Sohn gestützt, den Raum.
Ives-Pope schüttelte Queen mit Nachdruck die Hand. »Sie glauben also, daß nun alles vorbei ist, soweit es mein kleines Mädchen betrifft?« fragte er.
»Ich gehe davon aus, Mr. Ives-Pope«, antwortete der Inspektor. »Also, Sir, vielen Dank für Ihre Gefälligkeit. Wir müssen jetzt aufbrechen – es wartet noch eine Menge Arbeit auf uns. Kommst du mit, Henry?«
Fünf Minuten später schritten Queen, Ellery und Staatsanwalt Sampson nebeneinander den Riverside Drive hinunter in Richtung 72. Straße und erörterten dabei ausführlich die Ereignisse des Morgens.
»Bin ich froh, daß dieser Teil der Untersuchung ergebnislos verlaufen ist«, sagte Sampson verträumt. »Herr im Himmel! Ich bewundere den Mut dieses Mädchens, Q.«
»Ein gutes Kind«, sagte der Inspektor. »Was meinst du, Ellery?« fragte er auf einmal und wandte sich an seinen Sohn, der gedankenverloren auf den Fluß starrte.
»Oh, sie ist entzückend«, sagte er auf der Stelle, wobei sein etwas abwesend wirkender Blick aufleuchtete.
»Ich meinte nicht das Mädchen«, sagte sein Vater gereizt. »Ich meinte die allgemeine Lage nach der Arbeit heute morgen.«
»Ach so!« Ellery lächelte ein wenig. »Stört es dich, wenn ich mit Äsop antworte?«
»Ja«, seufzte sein Vater.
»Ein Löwe«, sagte Ellery, »mag einer Maus zu Dank verpflichtet sein.«
in welchem Gespräche im Hause Queen geführt werden
Es war um halb sieben an diesem Abend, als es an der Haustüre klingelte. Djuna hatte gerade den Tisch nach dem Abendessen abgeräumt und wollte den beiden Queens den Kaffee servieren. Er richtete seine Krawatte, zog sein Jackett herunter (während der Inspektor und Ellery ihn mit einem amüsierten Zwinkern beobachteten) und marschierte feierlich in die Eingangshalle. Kurz darauf kam er wieder zurück und trug ein silbernes Tablett, auf dem zwei Visitenkarten lagen. Der Inspektor nahm sie finster blickend auf.
»So ein Umstand, Djuna!« brummte er. »Gut, gut! ›Doc‹ Prouty hat also einen Gast mitgebracht. Führ sie herein, du Knirps!«
Djuna wanderte zurück und kam wieder mit dem Polizeiarzt und einem großen, dünnen, ausgemergelten Mann, der vollkommen kahl war und einen kurzgeschnittenen Bart trug. Queen und Ellery standen auf.
»Ich habe schon auf eine Nachricht von Ihnen gewartet, Doc!« Queen lächelte, während er Prouty begrüßte. »Und wenn mich nicht alles täuscht, ist das hier Professor Jones höchstpersönlich! Willkommen in unserem Heim, Doktor.« Der dünne Mann verneigte sich.
»Das hier ist mein Sohn und zweites Ich«, stellte Queen Ellery vor. »Ellery – Dr. Thaddeus Jones.«
Dr. Jones streckte ihm eine große, kraftlose Hand entgegen. »Sie sind also der Knabe, von dem Queen und Sampson permanent reden!« sagte er mit dröhnender Stimme. »Außerordentlich erfreut, Sie kennenzulernen, Sir.«
»Ich war schon seit langem wild darauf, dem New Yorker Paracelsus und berühmten Toxikologen vorgestellt zu werden«, lächelte Ellery. »Ihnen zu Ehren rasseln alle Skelette dieser Stadt mit den Knochen.« Er schauderte und bot dann den Gästen Stühle an. Die vier Männer setzten sich.
»Trinken Sie doch mit uns Kaffee, meine Herren«, forderte Queen sie auf und rief Djuna herbei, der mit strahlenden Augen durch die Küchentüre linste. »Djuna! Du Halunke! Kaffee für vier!« Djuna grinste und verschwand, um gleich darauf wie ein Springteufel mit vier Tassen dampfenden Kaffees wieder aufzutauchen.
Prouty, der der landläufigen Vorstellung von Mephistopheles ziemlich nahe kam, zückte aus einer Tasche eine seiner schwarzen, gefährlich aussehenden Zigarren und hüllte sich in düstere Qualmwolken.
»Dieses Geplauder mag ja ganz schön sein für Leute, die nichts zu tun haben«, sagte er energisch zwischen zwei Zügen, »ich aber habe den ganzen Tag wie ein Tier gearbeitet, um den Mageninhalt einer Leiche zu analysieren, und ich würde gerne nach Hause schlafen gehen.«
»Hort, hört!« brummte Ellery. »Aus der Tatsache, daß Sie Professor Jones um Beistand gebeten haben, schließe ich, daß Sie bei der Analyse von Mr. Fields sterblichen Überresten auf einige Schwierigkeiten gestoßen sind. Schießen Sie los, Äskulap!«
»Ich schieß’ ja schon los«, gab Prouty grimmig zurück. »Sie haben recht – ich bin auf ziemliche Schwierigkeiten gestoßen. Obschon ich doch einige Erfahrungen – wenn ich mir diese Bescheidenheit erlauben darf – bei der Untersuchung der inneren Organe von Verstorbenen gesammelt habe, muß ich gestehen, daß ich sie noch nie in einem solchen Chaos vorgefunden habe wie bei diesem Knaben Field. Wenigstens das wird Jones Ihnen mit Sicherheit bestätigen. Seine Speiseröhre, zum Beispiel, sowie der ganze Luftröhrenbereich sahen so aus, als wäre jemand liebevoll mit einer Lötlampe von innen darübergegangen.«
»Was war es denn – hätte es nicht eine Quecksilberverbindung sein können, Doc?« fragte Ellery, der sich gewöhnlich mit völliger Unkenntnis der exakten Wissenschaften brüstete.
»Wohl kaum«, knurrte Prouty. »Aber lassen Sie mich berichten, was passierte. Ich testete auf jedes bekannte Gift hin; obwohl dieses hier einige mir vertraute Eigenschaften von Petroleum aufzuweisen schien, konnte ich es nicht exakt einordnen. Ja, mein Herr, ich war ganz schön aufgeschmissen. Und um Ihnen ein Geheimnis anzuvertrauen – selbst mein Chef, der mich einfach für überarbeitet hielt, unternahm eigenhändig einen Versuch mit seinen sensiblen italienischen Händen. Das Resultat war auch in diesem Fall gleich null. Und der Chef ist nicht gerade ein Neuling, was chemische Analyse betrifft. Daher übergaben wir unser Problem an den obersten Lehrmeister auf diesem Gebiet. Aber lassen wir ihn seine Geschichte selbst erzählen.«
Dr. Thaddeus Jones räusperte sich bedrohlich. »Vielen Dank, mein Freund, für diese höchst dramatische Einleitung«, sagte er mit seiner tiefen schleppenden Stimme. »Ja, Inspektor, die Leiche wurde an mich übergeben, und ich muß nachdrücklich an dieser Stelle betonen, daß meine Entdeckung für das toxikologische Institut die größte Sensation der letzten fünfzehn Jahre darstellt!«
»Das ist ein Ding!« murmelte Queen, während er eine Prise Schnupftabak nahm. »Ich bekomme langsam Hochachtung vor dem Verstand unseres Mörders. So viele außergewöhnliche Entdeckungen in letzter Zeit! Und was haben Sie gefunden?«
»Ich konnte mich darauf verlassen, daß Prouty und sein Chef alle normalen Tests sorgfältig durchgeführt hatten«, begann Dr. Jones, während er seine knochigen Beine übereinanderschlug. »Das machen sie immer. So untersuchte ich die Probe zunächst einmal auf eher unbekannte Gifte. Unbekannt heißt hier, vom Standpunkt des kriminellen Benutzers aus gesehen. Nur um Ihnen zu zeigen, wie sorgfältig ich vorging – ich dachte sogar an das bei unseren Freunden, den Kriminalautoren so beliebte Hilfsmittel: Curare, das Gift aus Südamerika, das in vier von fünf Detektivgeschichten vorkommt. Aber selbst dieses so traurig mißbrauchte Mitglied der Familie der Gifte enttäuschte mich …«
Ellery lehnte sich zurück und lachte. »Wenn Sie damit leicht ironisch auf meinen Beruf anspielen, Dr. Jones, kann ich Ihnen nur versichern, daß in keinem meiner Bücher Curare vorkommt.«
Der Toxikologe zwinkerte belustigt. »Sie gehören also auch dazu, eh? Queen, alter Junge«, fügte er mit trauriger Stimme hinzu, während er sich an den Inspektor wandte, der gedankenverloren an einem Stück Gebäck knabberte, »darf ich Ihnen mein Beileid aussprechen … Auf jeden Fall, meine Herren, kann ich Ihnen versichern, daß wir bei seltenen Giftfällen gewöhnlich ohne Schwierigkeiten zu klaren Ergebnissen kommen – das heißt, bei seltenen Giften, die im Arzneibuch stehen. Natürlich gibt es unzählige seltene Gifte, von denen wir überhaupt keine Kenntnisse haben – vor allem fernöstliche Drogen.
Um es kurz zu machen, ich mußte mir leider eingestehen, daß ich in der Klemme saß.« Dr. Jones lachte leise bei der Erinnerung daran. »Das war kein besonders schönes Gefühl. Das Gift, das ich untersuchte, hatte einige halbwegs vertraute Eigenschaften, wie Prouty schon bemerkte, und andere, die sich absolut nicht einordnen ließen. Ich verbrachte fast den gesamten gestrigen Abend damit, über meinen Proben und Reagenzgläsern nachzugrübeln, und spät in der Nacht hatte ich plötzlich die Lösung.«
Ellery und Queen richteten sich kerzengerade auf; Dr. Prouty lehnte sich mit einem entspannten Seufzer auf seinem Stuhl zurück und nahm sich eine zweite Tasse Kaffee. Der Toxikologe streckte seine Beine aus, und seine Stimme dröhnte noch schrecklicher als vorher.
»Das Gift, durch das Ihr Opfer getötet wurde, Inspektor, ist bekannt als Tetrableiäthyl!«
Für einen Wissenschaftler wäre eine solche Bekanntgabe, dazu noch in Dr. Jones’ weihevollem Ton, wahrscheinlich von erschütternder Bedeutung gewesen. Dem Inspektor sagte sie überhaupt nichts. Und Ellery murmelte: »Für mich klingt das nach einem mythologischen Monster!«
Dr. Jones fuhr lächelnd fort. »Das hat Sie nicht sehr beeindruckt, nicht wahr? Aber lassen Sie mich Ihnen ein wenig über Tetrableiäthyl erzählen. Es ist fast farblos – um es genau zu sagen, es ähnelt Chloroform in seiner physischen Erscheinung. Punkt eins. Punkt zwei – es riecht, ganz schwach zwar, aber doch eindeutig, nach Äther. Punkt drei – es ist ungeheuer wirksam. So wirksam – aber lassen Sie mich Ihnen am Beispiel lebender Zellen verdeutlichen, wie diese teuflisch starke chemische Substanz wirkt.«
Der Toxikologe hatte nun die volle Aufmerksamkeit seiner Zuhörerschaft.
»Ich nahm ein gesundes Kaninchen, wie wir es bei unseren Experimenten verwenden, und bestrich die empfindliche Zone hinter dem Ohr des Tieres mit einer unverdünnten Dosis von dem Zeug. Es war keine Injektion, vergessen Sie das nicht. Ich bestrich nur die Haut. Es mußte also zunächst von der Epidermis absorbiert werden, bevor es in die Blutbahn gelangen konnte. Ich beobachtete das Kaninchen eine Stunde lang – und danach erübrigte sich eine weitere Beobachtung. Es war so tot, wie ein Kaninchen nur sein konnte.«
»Das kommt mir nicht so besonders wirkungsvoll vor«, protestierte der Inspektor.
»Kommt es Ihnen nicht? Sie können mir glauben, daß das außergewöhnlich ist. Nach einfachem Bestreichen von intakter, gesunder Haut – ich kann Ihnen sagen, ich war äußerst überrascht. Wenn die Haut irgendeinen Schnitt gehabt hätte oder wenn das Gift innerlich verabreicht worden wäre, das wäre eine andere Sache gewesen. Sie können sich vielleicht jetzt vorstellen, was mit Fields Innereien passierte, als er das Zeug herunterschluckte – und er schluckte eine Menge!«
Ellery hatte nachdenklich die Stirn gerunzelt. Er begann, die Glaser seines Kneifers zu putzen.
»Und das ist noch nicht alles«, fuhr Dr. Jones fort. »Soweit mir bekannt ist – ich arbeitete zwar für diese Stadt schon seit Gott weiß wie vielen Jahren, habe mich aber trotzdem immer über die Fortschritte in meinem Fachbereich in anderen Teilen der Welt auf dem laufenden gehalten –, soweit mir bekannt ist, ist Tetrableiäthyl noch niemals zuvor zu kriminellen Zwecken verwendet worden!«
Der Inspektor fuhr überrascht auf. »Das will schon allerhand heißen, Doktor!« rief er aus. »Sind Sie sicher?«
»Hundertprozentig. Deshalb bin ich doch so sehr daran interessiert.«
»Wie lange würde es dauern, mit diesem Gift einen Menschen zu töten, Doktor?« fragte Ellery langsam.
Dr. Jones verzog das Gesicht. »Das kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen, einfach aus dem Grunde, weil bislang noch kein menschliches Wesen an diesem Gift gestorben ist. Aber ich kann es mit einiger Sicherheit abschätzen. Ich glaube nicht, daß Field noch länger als fünfzehn, höchstens zwanzig Minuten lebte, nachdem er das Gift eingenommen hatte.«
Das Schweigen, das darauf folgte, wurde durch ein Hüsteln Queens durchbrochen. »Auf der anderen Seite, Doktor, dürfte es die außerordentliche Seltenheit des Giftes ziemlich erleichtern, ihm auf die Spur zu kommen. Wie kommt man, würden Sie sagen, normalerweise daran? Woher kommt es? Wie würde ich vorgehen, wenn ich es mir zu einem verbrecherischen Zweck besorgen, dabei aber keine Spuren hinterlassen wollte?«
Ein dünnes Lächeln erschien auf dem Gesicht des Toxikologen. »Das ist nun Ihr Job, Inspektor«, sagte er bestimmt, »diesem Zeug auf die Spur zu kommen. Das überlasse ich Ihnen. Tetrableiäthyl erscheint, soweit ich das feststellen konnte – aber denken Sie immer daran, daß es etwas Neues für uns ist –, vor allem in gewissen Petroleumverbindungen. Ich habe ganz schön herumexperimentiert, bevor ich auf den einfachsten Weg kam, es in größeren Mengen herzustellen. Es kann aus einfachem, gewöhnlichem, alltäglichem Benzin gewonnen werden!«
Die beiden Queens schrien verblüfft auf. »Benzin!« rief der Inspektor. »Wie um alles in der Welt soll man dem auf die Spur kommen?«
»Das ist das Problem«, antwortete der Toxikologe. »Ich könnte zur nächsten Tankstelle gehen, den Tank meines Autos füllen lassen, nach Hause fahren, etwas Benzin aus dem Tank entnehmen, in mein Laboratorium gehen und in bemerkenswert kurzer Zeit, mit bemerkenswert geringem Aufwand Tetrableiäthyl daraus destillieren!«
»Bedeutet das aber nicht«, warf Ellery voller Hoffnung ein, »daß Fields Mörder einige Erfahrung mit Laborarbeit hatte – etwas über chemische Analyse und solchen Kram wußte?«
»Nein, tut es nicht. Jeder, der zu Hause Schnaps brennt, könnte das Gift destillieren, ohne eine Spur zu hinterlassen. Das Schöne bei der Herstellung ist, daß das Tetrableiäthyl im Benzin einen höheren Siedepunkt als alle anderen Bestandteile besitzt. Alles, was man daher tun muß, ist, das Ganze auf eine bestimmte Temperatur zu bringen, und was übrig bleibt, ist unser Gift.«
Der Inspektor nahm mit zitternden Händen eine Prise Schnupftabak. »Ich kann nur sagen – Hut ab vor dem Mörder«, knurrte er. »Sagen Sie, Doktor, müßte jemand nicht eine ganze Menge von Giften verstehen, um so darüber Bescheid zu wissen? Wie hätte er ohne besonderes Interesse und einige Erfahrung auf diesem Gebiet davon erfahren und die ganze Sache vorbereiten können?«
Dr. Jones schnaufte. »Inspektor, ich muß mich über Sie wundern. Ihre Frage ist bereits beantwortet worden.«
»Wieso? Was meinen Sie damit?«
»Habe ich Ihnen nicht gerade erzählt, wie man es macht? Wenn Sie über einen Toxikologen von diesem Gift erfahren hätten, könnten Sie nicht auch welches herstellen, vorausgesetzt, Sie besitzen einen Destillierapparat? Außer dem Siedepunkt von Tetrableiäthyl würden Sie keine Vorkenntnisse brauchen. Hören Sie doch auf, Queen! Sie haben nicht die geringste Chance, dem Mörder durch das verwendete Gift auf die Spur zu kommen. Wahrscheinlich hat er eine Unterhaltung zwischen zwei Toxikologen oder auch zwei Medizinern, die von dem Zeug wußten, mitgehört. Der Rest war einfach. Ich will nicht behaupten, daß es so war. Der Mann könnte natürlich auch ein Chemiker sein. Aber ich will Ihnen einfach nur die Möglichkeiten aufzeigen.«
»Ich nehme an, es wurde mit Whisky verabreicht, nicht wahr, Doktor?« fragte der Inspektor abwesend.
»Darüber gibt es keinen Zweifel«, gab der Toxikologe zurück. »Der Magen beinhaltete eine große Menge an Whisky. Zweifellos wird es so für den Mörder recht problemlos gewesen sein, das Zeug seinem Opfer zu verabreichen. Wo der Whisky heutzutage sowieso meist nach Äther riecht. Und außerdem hatte Field das Gift wahrscheinlich schon heruntergeschluckt, bevor er bemerkte, daß etwas nicht stimmte – wenn ihm das überhaupt aufgefallen ist.«
»Hätte er das Zeug nicht herausschmecken können?« fragte Ellery müde.
»Ich habe es noch nicht probiert, junger Mann, deshalb kann ich es nicht mit Sicherheit sagen«, antwortete Dr. Jones schon etwas gereizt. »Aber ich möchte es bezweifeln; auf jeden Fall nicht so sehr, daß es ihn beunruhigt hätte. Wenn er es einmal geschluckt hatte, hätte es auch keinen Unterschied mehr gemacht.«
Queen wandte sich an Prouty, der seine Zigarre hatte ausgehen lassen. Er hatte ein gesundes Nickerchen eingelegt. »Hören Sie, Doc!«
Prouty öffnete verschlafen die Augen. »Wo sind meine Pantoffeln – immer sind meine Pantoffeln weg – verdammt!«
Trotz der leicht gespannten Atmosphäre brachen alle auf Kosten des Polizeiarztes in schallendes Gelächter aus. Als er so weit zu sich gekommen war, daß ihm bewußt wurde, was er gesagt hatte, stimmte er in ihr Gelächter ein und sagte: »Das zeigt nur, daß ich besser nach Hause gehe, Queen. Was wollten Sie wissen?«
»Erzählen Sie mir«, sagte Queen, sich immer noch vor Lachen schüttelnd, »Was haben Sie bei der Analyse des Whiskys herausgefunden?«
»Oh!« Prouty war sofort wieder bei der Sache. »Der Whisky in der kleinen Flasche war so gut, wie ein Whisky nur sein kann – und ich mache ja seit Jahren nichts anderes mehr als Alkoholproben. Es war das Gift in dem Alkoholgeruch, den er ausdünstete, durch den ich zunächst auf die Idee kam, daß er schlechten Fusel getrunken hatte. Auch der Whisky, den Sie mir aus Fields Wohnung rübergeschickt hatten, war von bester Qualität. Wahrscheinlich waren alle Flaschen gleicher Herkunft. Ich würde sogar behaupten, daß alles importierte Ware war. Ich bin seit dem Krieg auf keinen einheimischen Whisky von diesem Format mehr gestoßen – das heißt, außer diesem Vorkriegszeug, das auf Lager gelegt worden war … Ich nehme an, Velie hat Ihnen berichtet, daß das Ginger Ale auch in Ordnung war.«
Queen nickte. »Nun, damit ist das Thema wohl abgeschlossen«, sagte er betrübt. »Es sieht so aus, als würden wir, was das Tetrableiäthyl angeht, vollkommen im dunklen tappen. Um ganz sicherzugehen, Doc – arbeiten Sie weiter mit dem Professor zusammen, und versuchen Sie, eine mögliche undichte Stelle bei der Verteilung des Giftes zu finden. Ihr Spezialisten wißt mehr darüber als irgendein anderer, den ich auf den Fall ansetzen könnte. Es ist natürlich nur ein Schuß ins Dunkle und wahrscheinlich kommt nichts dabei heraus.«
»Das ist zweifellos richtig«, murmelte Ellery. »Ein Schriftsteller sollte sich eben um seine eigenen Angelegenheiten kümmern.«
»Ich glaube«, bemerkte Ellery eifrig, nachdem die beiden Doktoren gegangen waren, »ich schlendere mal hinunter zu meinem Buchhändler wegen der Falconer-Ausgabe.« Er stand auf und begann, hastig nach seinem Mantel zu suchen.
»Hiergeblieben!« schnauzte der Inspektor und zog ihn auf einen der Stühle zurück. »Nichts zu machen. Dein verdammtes Buch läuft dir nicht weg. Ich will, daß du hier sitzen bleibst und dir mit mir den Kopf zerbrichst.«
Ellery machte es sich mit einem Seufzer in den Lederpolstern bequem. »Immer wenn ich gerade zu der Erkenntnis komme, daß alle Nachforschungen im Bereich des menschlichen Fehlverhaltens sinnlos und reine Zeitverschwendung sind, legt mein werter Herr wieder die Last des Denkens auf meine Schultern. Nun gut! Was steht auf dem Programm?«
»Ich lege dir überhaupt keine Last auf«, knurrte Queen. »Und hör auf, solche Sprüche zu klopfen. Ich bin durcheinander genug. Du sollst mir nur helfen, dieses verflixte Durcheinander von einem Fall durchzugehen und zu sehen – nun, was wir sehen können.«
»Ich hätte es mir denken können«, sagte Ellery. »Wo fange ich an?«
»Du fängst überhaupt nicht an«, brummte der Vater. »Das Reden übernehme ich heute abend, und du hörst zu. Und vielleicht kannst du ab und zu ein paar Notizen machen.
Laß uns mit Field anfangen. Ich glaube, wir können zunächst einmal davon ausgehen, daß unser Freund am Montag abend nicht zu seinem Vergnügen, sondern aus geschäftlichen Gründen ins Römische Theater gegangen ist. Richtig?«
»Daran habe ich keinen Zweifel«, sagte Ellery. »Was hat
Velie über Fields sonstige Aktivitäten am Montag berichtet?« »Wie gewöhnlich kam Field um halb zehn in sein Büro. Er arbeitete bis mittags. Um zwölf Uhr aß er alleine im Webster Club zu Mittag, und um halb zwei kehrte er in sein Büro zurück. Er arbeitete bis vier Uhr durch – und scheint danach direkt nach Hause gegangen zu sein, da sowohl der Portier als auch der Liftjunge bezeugen, daß er um halb fünf bei seiner Wohnung ankam. Mehr konnte Velie nicht herausfinden – außer daß Michaels um fünf Uhr kam und um sechs Uhr wieder ging. Field verließ seine Wohnung abends um halb acht in der Kleidung, in der wir ihn gefunden haben. Ich habe eine Liste der Klienten, die er den Tag über traf, aber die ist nicht sehr aufschlußreich.«
»Und was ist nun der Grund für seinen niedrigen Kontostand?« fragte Ellery.
»Genau das, was ich mir gedacht habe«, gab Queen zurück. »Field hat mit schöner Regelmäßigkeit an der Börse verloren – und nicht gerade Pfennigbeträge. Velie hat einen Wink bekommen, daß Field ständiger Gast an der Rennbahn war, wo er ebenfalls beträchtliche Verluste hatte. Er war anscheinend eine leichte Beute für einige Neunmalkluge, obwohl er selbst so gerissen war. Auf jeden Fall erklärt das, warum er so wenig Bares auf seinem Privatkonto hatte. Und mehr noch – es erklärt wahrscheinlich auch sehr viel schlüssiger den Eintrag ›50.000‹ auf dem Programm, das wir gefunden haben. Er bedeutete Bargeld, und das Geld, auf das er sich bezog, steht in irgendeiner Weise in Verbindung mit der Person, die er im Theater treffen wollte, da bin ich mir sicher. Außerdem können wir, glaube ich, ohne weiteres die Schlußfolgerung ziehen, daß Field seinen Mörder gut gekannt haben muß. Zum einen hat er einen Drink akzeptiert – anscheinend ohne Verdacht; zum anderen muß das Treffen zum Zwecke der Geheimhaltung vorher genau vereinbart worden sein – warum sonst, wenn nicht aus diesem Grund, wurde überhaupt das Theater dafür ausgesucht?«
»In Ordnung. Ich will dir dieselbe Frage stellen«, warf Ellery ein und schürzte die Lippen. »Warum sollte überhaupt ein Theater als Treffpunkt für eine geheime und zweifelsohne schändliche Transaktion ausgewählt werden? Wäre ein Park nicht sehr viel sicherer gewesen? Hätte eine Hotellobby nicht ihre Vorteile gehabt? Erklär mir das!«
»Unglücklicherweise, mein Sohn«, sagte der Inspektor mit sanfter Stimme, »konnte Mr. Field nicht vorher wissen, daß er ermordet werden sollte. Was ihn betraf, hatte er nur die Absicht, sich um seinen Teil der Transaktion zu kümmern. Tatsächlich könnte Field selbst das Theater als Treffpunkt ausgesucht haben. Vielleicht wollte er für irgend etwas ein Alibi haben. Wir können einfach nicht wissen, was er wirklich vorhatte. Was die Hotellobby betrifft – er wäre dabei sicherlich das Risiko eingegangen, erkannt zu werden. Er wollte wahrscheinlich auch nicht riskieren, sich an einen so einsamen Ort wie einen Park zu begeben. Und schließlich hatte er vielleicht einen besonderen Grund, nicht in Gesellschaft dessen, den er traf, gesehen zu werden. Denk daran – die Kontrollabschnitte, die wir gefunden haben, zeigen, daß die andere Person nicht zusammen mit Field das Theater betreten hat. Aber das sind alles sinnlose Spekulationen –«
Ellery lächelte nachdenklich, sagte aber nichts. Er dachte bei sich, daß der alte Mann seinen Einwurf nicht zufriedenstellend beantwortet hatte und daß das ganz merkwürdig war für einen so geradlinig denkenden Menschen wie Inspektor Queen … Aber Queen fuhr schon wieder fort. »Nun gut. Wir müssen immer auch die Möglichkeit im Auge behalten, daß die Person, mit der Field sein Geschäft abwickelte, nicht sein Mörder war. Das ist natürlich nur eine Möglichkeit. Dazu scheint mir das Verbrechen aber zu gut geplant gewesen zu sein. Aber sollte es doch so sein, müssen wir nach zwei Leuten aus dem Publikum von Montag abend suchen, die direkt mit Fields Tod zu tun hatten.«
»Morgan?« fragte Ellery träge.
Der Inspektor zuckte die Achseln. »Vielleicht. Warum hat er uns nichts davon erzählt, als wir uns gestern nachmittag mit ihm unterhalten haben? Er hat doch sonst alles zugegeben. Nun, vielleicht, weil er fürchtete, daß es ihn ein wenig zu sehr belasten würde, erpreßtes Geld an den ermordeten Mann gezahlt und sich im Theater befunden zu haben.«
»Sieh es doch einmal so«, sagte Ellery. »Wir finden also einen Toten, der die Zahl ›50.000‹, die sich anscheinend auf eine Geldsumme bezieht, auf sein Programmheft geschrieben hat. Wir wissen durch das, was sowohl Sampson als auch Cronin über Field berichtet haben, daß er ein Mann von skrupellosem und wahrscheinlich auch kriminellem Charakter war. Des weiteren wissen wir von Morgan, daß er zudem ein Erpresser war. Ich glaube daher, daß wir ohne weiteres daraus schließen können, daß er Montag abend ins Römische Theater ging, um 50.000 Dollar Erpressungsgeld von einer uns unbekannten Person zu kassieren oder einzufordern. Ist das soweit richtig?«
»Mach weiter«, brummte der Inspektor unverbindlich. »Gut«, fuhr Ellery fort. »Wenn wir davon ausgehen, daß die in der besagten Nacht erpreßte Person und der Mörder ein und dieselbe waren, müssen wir nicht weiter nach einem Motiv suchen. Das Motiv liegt auf der Hand – den Erpresser loszuwerden. Gehen wir dagegen weiterhin von der Annahme aus, daß der Mörder und die erpreßte Person nicht identisch waren, sondern zwei völlig unterschiedliche Individuen, dann müssen wir uns weiterhin mit der Suche nach einem Motiv für das Verbrechen abplagen. Meiner ganz persönlichen Meinung nach ist das unnötig, weil Mörder und erpreßte Person identisch sind. Was hältst du davon?«
»Ich bin geneigt, dir zuzustimmen, Ellery«, sagte der Inspektor. »Ich habe die andere Alternative nur erwähnt – das war nicht meine eigene Überzeugung. Laß uns deshalb im Augenblick weitermachen, als seien Fields Erpressungsopfer und sein Mörder ein und dieselbe Person … Dann – möchte ich gerne die Sache mit den fehlenden Eintrittskarten aufklären.«
»Oh, ja – die fehlenden Tickets«, murmelte Ellery. »Ich hab’ mich schon gefragt, was du daraus gemacht hast.«
»Mach jetzt keine Witze, du Schlingel«, schimpfte Queen. »Ich habe folgendes daraus gemacht. Alles in allem haben wir es mit acht Sitzplätzen zu tun. Den Kontrollabschnitt für den Platz, auf dem Field saß, haben wir bei ihm selbst gefunden; den Abschnitt für den Platz, auf dem der Mörder saß, hat Flint gefunden; bleiben schließlich die sechs leeren Plätze, für die zwar Tickets verkauft worden sind, wie uns der Bericht der Verkaufsstelle bestätigt, zu denen aber nirgendwo im Theater oder in der Verkaufsstelle Kontrollabschnitte – seien sie ganz oder abgerissen – gefunden worden sind. Es besteht zumindest die Möglichkeit, daß alle sechs Tickets Montag abend im Theater vorhanden waren und von jemandem aus dem Theater herausgebracht wurden. Denk daran, die Durchsuchung der einzelnen Personen war zwangsläufig nicht erschöpfend genug, um so kleine Gegenstände wie Kontrollabschnitte aufzustöbern. Das ist aber ziemlich unwahrscheinlich. Die plausibelste Erklärung ist, daß entweder Field oder sein Mörder alle acht Tickets zusammen gekauft hat, mit der Absicht, zwei zu verwenden und die anderen sechs freizuhalten, um während der geschäftlichen Transaktion absolut ungestört zu bleiben. In diesem Falle wäre das Vernünftigste gewesen, die Eintrittskarten direkt nach dem Kauf zu vernichten; das wurde wahrscheinlich auch von Field oder seinem Mörder getan, je nachdem, wer das Ganze organisiert hat. Wir können daher die Frage der sechs Tickets ignorieren – sie sind weg, und wir werden niemals an sie herankommen. Weiter wissen wir«, fuhr der Inspektor fort, »daß Field und sein Opfer das Theater getrennt betreten haben. Das kann man mit Gewißheit aus der Tatsache ableiten, daß die abgerissenen Ecken der Kontrollabschnitte nicht zusammenpaßten, als ich sie aneinanderlegte. Wenn zwei Menschen irgendwo zusammen ankommen, werden die Tickets auch zusammen vorgezeigt und unweigerlich zusammen abgerissen. Nun muß das aber nicht bedeuten, daß sie nicht praktisch zur selben Zeit ankamen und aus Sicherheitsgründen nacheinander eintraten, so als würden sie sich nicht kennen. Nun behauptet Madge O’Connell aber, daß niemand während des ersten Aktes auf Platz LL30 saß, und der Getränkejunge Jess Lynch bezeugt, daß sich zehn Minuten nach Beginn des zweiten Aktes immer noch keiner auf LL30 befand. Das bedeutet, daß der Mörder entweder das Theater noch nicht betreten hatte oder daß er zwar schon früher gekommen war, aber mit einem für einen anderen Platz gültigen Ticket irgendwo anders im Parkett saß.« Ellery schüttelte den Kopf. »Ich glaube ebensowenig daran wie du, mein Sohn«, sagte der alte Mann gereizt. »Ich denke das Ganze nur durch. Ich wollte sagen, daß es als nicht wahrscheinlich erscheint, daß der Mörder zur gleichen Zeit ins Theater gekommen ist. Es spricht mehr dafür, daß er erst zehn Minuten nach Beginn des zweiten Aktes hereinkam.« »Ich kann dir das sogar beweisen«, sagte Ellery träge. Der Inspektor nahm eine Prise Schnupftabak. »Ich weiß – diese geheimnisvollen Zeichen auf dem Programm. Was stand da noch? 930 815 50.000
Wir wissen, wofür die 50.000 standen. Die beiden anderen Einträge werden sich wohl nicht auf Dollar, sondern auf Uhrzeiten bezogen haben. Sieh dir die ›815‹ an. Das Stück begann um 8.25 Uhr. Aller Wahrscheinlichkeit nach kam Field um 8.15 Uhr an, oder – falls er früher dort war – hat er aus irgendeinem Grunde um diese Zeit auf die Uhr gesehen. Wenn er nun eine Verabredung mit jemandem hatte, der, so nehmen wir an, sehr viel später ankommen sollte, was hätte dann näher gelegen, als aus Langeweile zunächst einmal die ›50.000‹ niederzuschreiben, die anzeigen, daß er an die bevorstehende Transaktion dachte, bei der es sich um eine Erpressung über 50.000 Dollar handelte; dann 9.30 Uhr, den Zeitpunkt, an dem das Opfer seiner Erpressung von ihm erwartet wurde! Es wäre für Field, wie für jeden anderen, der die Angewohnheit hat, in untätigen Momenten herumzukritzeln, das Natürlichste von der Welt gewesen, dies zu tun. Für uns ist das natürlich Glück, weil es auf zwei Dinge hinweist: erstens auf den genauen Zeitpunkt der Verabredung mit dem Mörder – 9.30 Uhr; und zweitens bekräftigt es unsere Vermutung der genauen Zeit, zu der der Mord verübt wurde. Um 9.25 Uhr sah Lynch Field lebend und alleine; um 9.30 Uhr wurde nach Fields niedergeschriebenem Hinweis der Mörder erwartet, und wir nehmen an, daß er auch kam; nach Dr. Jones’ Aussage hätte es mit diesem Gift fünfzehn bis zwanzig Minuten gedauert, Field zu töten – und in Anbetracht der Tatsache, daß Pusak die Leiche um 9.55 Uhr gefunden hat, können wir sagen, daß das Gift um ungefähr 9.35 Uhr verabreicht wurde. Wenn das Tetrableiäthyl die vollen zwanzig Minuten gebraucht hat, wären wir bei 9.55 Uhr. Natürlich verließ der Mörder lange zuvor den Ort des Verbrechens. Denk daran – er konnte nicht ahnen, daß unser Freund Mr. Pusak plötzlich den Drang verspüren würde, aufzustehen und seinen Platz zu verlassen. Der Mörder hatte sich wahrscheinlich ausgerechnet, daß Fields Leiche nicht vor der Pause um 10.05 Uhr gefunden würde, also noch Zeit genug blieb, daß Field starb, ohne noch irgendeine Nachricht vor sich hinzumurmeln. Zum Glück für unseren geheimnisvollen Mörder wurde Field zu spät gefunden, um noch mehr hervorzukeuchen, als daß er ermordet worden war. Wäre Pusak fünf Minuten früher aufgestanden, hätten wir unseren Unbekannten schon hinter Gittern.«
»Bravo!« murmelte Ellery und lächelte liebevoll. »Ein perfekter Vortrag. Meine Glückwünsche.«
»Ach, scher dich zum Teufel«, schimpfte sein Vater. »An dieser Stelle möchte ich noch einmal das wiederholen, was du am Montag abend in Panzers Büro bereits bemerkt hast – nämlich die Tatsache, daß der Mörder, obwohl er den Ort des Verbrechens bereits zwischen 9.30 und 9.55 Uhr verließ, den ganzen Rest des Abends im Theater anwesend war, bis wir alle nach Hause entließen. Unsere Befragung der Wachen und Madge O’Connells, die Zeugenaussagen der Portiers, Jess Lynchs Anwesenheit im Seitengang, durch die Schließerin bestätigt – das alles spricht genau dafür … Er war da, die ganze Zeit.
Trotzdem sind wir im Augenblick in einer Sackgasse. Wir können nichts weiter tun, als uns einige Personen, auf die wir im Laufe unserer Ermittlungen gestoßen sind, noch einmal vorzunehmen«, fuhr der Inspektor mit einem Seufzer fort. »Erstens – hat Madge O’Connell die Wahrheit gesagt, als sie uns erzählte, daß sie niemanden während des zweiten Aktes den Mittelgang hat herauf- oder heruntergehen sehen? Und daß sie überhaupt zu keinem Zeitpunkt im Laufe des Abends die Person gesehen hat, von der wir wissen, daß sie von halb zehn bis zehn oder fünfzehn Minuten vor der Entdeckung der Leiche auf LL30 gesessen hat?«
»Das ist eine kniffelige Frage, Vater«, bemerkte Ellery ernsthaft. »Denn wenn sie in diesen Dingen gelogen hat, verlieren wir eine wichtige Informationsquelle. Wenn sie wirklich gelogen hat – gütiger Gott! –, dann könnte sie zu diesem Zeitpunkt in der Lage sein, den Mörder zu beschreiben, zu identifizieren oder sogar zu benennen! Aber ihre Nervosität und ihr merkwürdiges Verhalten könnten ebensogut ihrem Wissen darum zugeschrieben werden, daß Pfarrer Johnny im Theater war, zusammen mit einer Meute von Polizisten, die ihn liebend gerne zwischen die Finger bekommen hätte.«
»Klingt einleuchtend«, knurrte Queen. »Nun, was ist mit Pfarrer Johnny? Wie paßt er da hinein – oder paßt er überhaupt hinein? Wir dürfen nicht vergessen, daß Cazzanelli – laut Morgans Aussage – tatkräftig mit Field verbunden war. Field ist sein Anwalt gewesen und hat sich vielleicht sogar für die zwielichtigen Geschäfte, denen Cronin auf der Spur ist, seine Dienste erkauft. Wenn der Pfarrer nicht zufällig dort war, war er dann wegen Field dort oder wegen Madge O’Connell, wie beide behaupten? Ich glaube, mein Sohn«, fügte er hinzu und zog dabei heftig an seinem Schnurrbart, »daß ich Pfarrer Johnny einmal die Peitsche spüren lassen werde – es wird seinem dicken Fell schon nicht schaden! Und diese schnippische kleine O’Connell – es wird ihr ganz guttun, wenn ihr das Vorlaute ein wenig ausgetrieben wird …«
Er nahm eine große Prise Schnupftabak und nieste zu der Melodie von Ellerys zustimmendem Gelächter.
»Und der gute alte Benjamin Morgan«, fuhr der Inspektor fort. »Hat er die Wahrheit erzählt über den anonymen Brief, der ihm bequem eine geheimnisvolle Bezugsquelle für seine Eintrittskarte verschaffte?
Und diese überaus interessante Dame, Mrs. Angela Russo. … Ach, die Frauen, zum Teufel mit ihnen! Sie bringen die Männer ständig um den Verstand. Was hat sie gesagt – sie sei um 9.30 Uhr in Fields Wohnung angekommen? Ist ihr Alibi wirklich dicht? Natürlich, der Portier in Fields Haus hat ihre Aussage bestätigt. Aber es ist einfach, einen Portier zu ›beeinflussen‹ … Weiß sie vielleicht mehr über Fields Geschäfte – vor allem über seine Privatgeschäfte? Hat sie gelogen, als sie behauptete, Field hätte ihr erzählt, er sei um zehn Uhr zurück? Denn wir wissen ja, daß Field um halb zehn eine Verabredung im Römischen Theater hatte; ging er davon aus, daß er sie hätte einhalten und trotzdem um zehn Uhr in seiner Wohnung zurücksein können? Mit einem Taxi wäre es bei dem Verkehr eine Fahrt von fünfzehn bis zwanzig Minuten, womit nur zehn Minuten für die Transaktion übrig geblieben wären – ist natürlich möglich. Mit der Untergrundbahn wäre man auch nicht schneller gewesen. Wir dürfen auch nicht vergessen, daß diese Frau sich zu keinem Zeitpunkt an diesem Abend im Theater aufgehalten hat.«
»Du wirst noch alle Hände voll zu tun haben mit dieser lieblichen Tochter Evas«, bemerkte Ellery. »Es ist so wunderschön offensichtlich, daß die mit irgend etwas hinter dem Berg hält. Hast du ihren unverschämten Trotz bemerkt? Das war nicht allein herausforderndes Benehmen. Sie weiß etwas, Vater. Ich würde sie auf jeden Fall im Auge behalten – früher oder später wird sie sich verraten.«
»Hagstrom wird sich um sie kümmern«, sagte Queen abwesend. »Nun, was ist mit Michaels? Er hat kein überzeugendes Alibi für Montag abend. Aber vielleicht würde das auch keinen Unterschied machen. Er war nicht im Theater … An diesem Knaben ist irgend etwas faul. Wollte er wirklich etwas holen, als er Dienstag morgen zu Fields Wohnung kam? Wir haben alle Räumlichkeiten gründlich durchsucht – ist es möglich, daß wir etwas übersehen haben? Es ist klar, daß er gelogen hat, als er die Geschichte mit dem Scheck von sich gab und angeblich nichts von Fields Tod wußte. Und überlege eines
– ihm muß klar gewesen sein, daß er sich in Gefahr begab, als er zu Fields Wohnung kam. Er hatte von dem Mord gelesen und konnte nicht darauf hoffen, daß die Polizei einen Besuch der Wohnung herausschieben würde. Er machte also einen verzweifelten Versuch – aus welchem Grunde? Kannst du mir das sagen?«
»Vielleicht hatte es etwas mit seinem Gefängnisaufenthalt zu tun – er sah ganz schön überrascht aus, als ich ihm das unter die Nase rieb, nicht wahr?« kicherte Ellery.
»Kann sein«, antwortete der Inspektor. »Da fällt mir ein, Velie hat mir von Michaels’ Zeit in Elmira erzählt. Thomas berichtet, daß in diesem Fall einiges vertuscht wurde – es war sehr viel schwerwiegender, als es seine milde Bestrafung damals erscheinen läßt. Michaels war der Urkundenfälschung verdächtig, und es sah ganz schön schwarz für ihn aus. Aufgrund eines von Rechtsanwalt Field ins Spiel gebrachten völlig anderen Anklagepunktes – irgend etwas mit einem kleinen Diebstahl – ist Mr. Michaels noch einmal billig davongekommen, und man hat niemals mehr etwas von dieser Fälschungssache gehört. Dieser Michaels sieht sehr vielversprechend aus – ich muß ihm ein wenig auf die Füße treten.«
»Ich habe da so eine eigene Idee, was Michaels angeht«, sagte Ellery nachdenklich. »Aber lassen wir das im Augenblick.«
Queen schien nicht zuzuhören. Er stierte in das knisternde Kaminfeuer. »Da ist auch noch Lewin«, sagte er. »Es ist kaum zu glauben, daß ein Mensch von seiner Art in einer solchen Vertrauensstellung bei seinem Arbeitgeber stand, ohne einiges mehr zu wissen, als er heute zugibt. Hält er Informationen zurück? Wenn er das tut, gnade ihm Gott – weil Cronin ihn dann fertig machen wird!«
»Eigentlich mag ich diesen Cronin«, seufzte Ellery, »Wie um alles in der Welt kann ein Mensch so von einer Idee besessen sein? … Hast du darüber schon einmal nachgedacht? Ich frage mich, ob Morgan Angela Russo kennt? Obwohl ja beide abstreiten, sich gegenseitig zu kennen. Wäre verdammt interessant, wenn sie es täten, nicht wahr?«
»Mein Sohn«, seufzte Queen, »mach nicht alles noch verwirrender. Es ist eh schon kompliziert genug; du mußt es nicht noch schlimmer machen …«
Behagliches Schweigen breitete sich aus, während sich der Inspektor im Schein der lodernden Flammen ausstreckte. Ellery ließ sich zufrieden einen Keks schmecken. Djunas strahlende Augen blinkten in der äußersten Ecke des Raumes auf, wo er sich lautlos hingeschlichen und auf dem Boden niedergehockt hatte, um der Unterhaltung zuzuhören.
In einer plötzlichen Gedankenübertragung trafen sich die Blicke des alten Mannes und Ellerys.
»Der Hut …«, murmelte Queen. »Wir kommen immer wieder auf den Hut zurück.«
Ellery schaute betrübt. »Und es ist nicht das Schlechteste, darauf zurückzukommen, Vater. Hut – Hut – Hut! Wo gehört er hin? Was wissen wir über ihn?«
Der Inspektor rutschte auf seinem Stuhl hin und her. Er schlug die Beine übereinander, nahm eine neue Prise Schnupftabak und fuhr mit frischer Energie fort. »In Ordnung. Wir können uns bei diesem verdammten Seidenzylinder keine Nachlässigkeit leisten«, sagte er barsch. »Was haben wir bislang erfahren? Erstens, daß er das Theater nicht verlassen hat. Das ist doch merkwürdig, nicht wahr? Es erscheint doch kaum möglich, daß wir nach der gründlichen Durchsuchung keine Spur von ihm gefunden haben … Es wurde nichts in der Garderobe zurückgelassen, nachdem alle gegangen waren; in den zusammengekehrten Abfällen wurde nichts gefunden, das nach den Resten eines zerrissenen oder verbrannten Hutes aussah; überhaupt keine Spur, kein Hinweis, dem wir nachgehen könnten. Aus diesem Grunde, Ellery, ist die einzig vernünftige Schlußfolgerung, die wir an diesem Punkt ziehen können, daß wir den Hut nicht an der richtigen Stelle gesucht haben! Und weiter, daß er dank unserer Vorsichtsmaßnahme, das Theater seit Montag abend geschlossen zu halten, noch dort ist – wo immer es auch sein mag. Ellery, wir müssen morgen früh zurück ins Theater und das Oberste zuunterst kehren. Ich werde nicht ruhig schlafen können, bis wir etwas Licht in diese Angelegenheit gebracht haben.«
Ellery schwieg. »Das gefällt mir alles ganz und gar nicht, Vater«, murmelte er schließlich. »Dieser Hut – irgend etwas stimmt da nicht!« Er verfiel wieder in Schweigen. »Nein! Der Hut ist der Angelpunkt dieser Untersuchung – da führt nichts dran vorbei. Löse das Rätsel um Fields Hut, und du wirst den einen entscheidenden Hinweis finden, der den Mörder verrät. Davon bin ich so überzeugt, daß ich erst dann glauben werde, daß wir auf dem richtigen Weg sind, wenn wir bei der Entdeckung des Hutes Fortschritte gemacht haben.«
Der alte Mann bestätigte dies durch ein kräftiges Nicken. »Seit gestern morgen, als ich Zeit hatte, über die Sache mit dem Hut nachzudenken, hatte ich das Gefühl, daß wir irgendwo vom rechten Weg abgekommen sind. Und jetzt haben wir Mittwoch abend – und immer noch kein Land in Sicht. Wir haben die notwendigen Schritte unternommen – sie haben zu nichts geführt …« Er starrte ins Feuer. »Alles ist so furchtbar verworren. Ich habe hier die ganzen losen Enden in meiner Hand, aber aus irgendeinem verfluchten Grund kann ich sie nicht zusammenbringen oder auch nur irgend etwas erklären … Zweifelsohne, mein Sohn, was uns fehlt, ist die Lösung der Zylinderfrage.«
Das Telefon klingelte. Der Inspektor stürzte sich darauf. Er hörte der gemächlichen Stimme eines Mannes aufmerksam zu, gab eine kurze Antwort und hängte wieder auf.
»Wer war dieser Schwätzer zu mitternächtlicher Stunde, oh du Empfänger vieler Geheimnisse?« fragte Ellery grinsend.
»Das war Edmund Crewe«, sagte Queen. »Vielleicht erinnerst du dich daran, daß ich ihn gestern morgen zum Römischen Theater geschickt habe. Er war gestern und heute den ganzen Tag dort. Und er berichtet, daß es definitiv kein geheimes Versteck irgendwo auf dem Theatergelände gibt. Wenn Eddie Crewe, die letzte Instanz bei bautechnischen Angelegenheiten, sagt, es gäbe dort kein Versteck, dann kann man sich darauf absolut verlassen.«
Er sprang auf und entdeckte den in der Ecke hockenden Djuna. »Djuna! Mach das gute alte Bett fertig«, donnerte er. Djuna huschte durch das Zimmer und verschwand mit einem Grinsen. Queen wandte sich Ellery zu, der schon seine Jacke ausgezogen hatte und sich nun an seiner Krawatte zu schaffen machte.
»Wir werden morgen früh als erstes zum Römischen Theater gehen und noch einmal von vorne anfangen!« sagte der alte Mann entschieden. »Und ich sage dir eins, mein Sohn – ich lasse mich nicht länger an der Nase herumführen! Jemand sollte jetzt besser auf der Hut sein!«
Ellery legte seinem Vater liebevoll einen Arm um die Schulter. »Komm ins Bett, du alter Gauner!« lachte er.