9. Kapitel Auf zum Nest der Nester!

Die ganze Woche hindurch waren mit wachsender Dringlichkeit und immer größerer Hast die Nachrichten über die Relaisstationen in Nord und Süd zu Salaman gelangt.

Thu-Kimnibol rückte von Dawinno aus an der Spitze eines gewaltigen Heeres heran. Schon war er Yissou nahe, vielleicht nicht einmal mehr ein paar Tagesmärsche entfernt. Jeder einzelne in Salamans Agentenkette hatte sich tief beeindruckt geäußert über die Größe der heranziehenden Streitmacht. Hatte Thu-Kimnibol etwa sämtliche Dawinnoaner im kampffähigen Alter rekrutiert und brachte sie jetzt her? Fast schien es so.

An der Front im Norden war das vierhundert Mann starke Heer des Königs Tag für Tag weiter in Hjjk-Gebiet vorgestoßen, genau auf der Route, welche die kleine Siedlergruppe von Akzeptänzlern eingeschlagen hatte.

Wir haben sie entdeckt, kam schließlich der Bericht. Sie sind alle tot.

Und dann: Wurden selbst von den Hjjks angegriffen.

Dann: Ihre Übermacht ist zu groß.

Und dann. Stille.

„Bereits zum zweitenmal“, verkündete Salaman von seinem Pavillon auf der Mauer den Bürgern von Yissou, die sich in gewaltiger Zahl auf dem Platz unter ihm versammelt hatten, „hat das Volk der Hjjks — ohne Provokation — unser Volk angegriffen. Zuerst wurden die unschuldigen Kolonisten abgeschlachtet, die Zechtior Lukin in ein unbesiedeltes Gebiet geführt hatte. Und nun haben sie die Armee massakriert, die wir zur Rettung Zechtior Lukins und seiner Leute entsandt hatten. Von jetzt an kann es für uns nur noch eine Politik geben!“

„Krieg! KRIEG!“ ertönte des Gebrüll aus tausend Kehlen.

„Ja, den Krieg“, erwiderte Salaman. „Den totalen Krieg aller vom VOLK gegen diesen unversöhnlichen Erzfeind. Die Hjjks bedrohen von frühester Zeit an unablässig die Existenz dieser unserer Stadt! Aber jetzt werden wir mit dem Beistand unsrer Bündnispartner aus Dawinno das Feuer in ihr eigenes Reich tragen. Wir werden sie zu Hackfleisch verarbeiten. Wir werden ihre abscheuliche Königin hervorzerren ans Licht des Tages. und ihrer Scheußlichkeit und ihrem Leben ein Ende machen!“

„KRIEG! KRIEG!“ brüllte die Menge wieder.

Später aber, am Nachmittag selbigen Tages, nachdem Salaman in seinen Palast zurückgekehrt war und auf dem Thron Harruels Platz genommen hatte, trat sein Sohn Biterulve vor ihn und sprach: „Vater, ich will mit dem Heer ziehen, wenn es ins Land der Hjjks aufbricht. Ich ersuche dich pflichtgemäß um deine Erlaubnis. Aber ich flehe dich an, versage sie mir nicht.“

Salaman spürte, wie eine Hand sich um sein Herz krallte. Damit hatte er nicht gerechnet.

„Du?“ Er stierte den blassen schlanken Knaben verblüfft an „Was verstehst du schon vom Kriegshandwerk, mein Biterulve?“

„Ich habe befürchtet, daß du das sagen wirst. Aber, weißt du, ich reite schon lange regelmäßig mit meinen Brüdern ins weitere Land um die Stadt. Und ich habe von ihnen auch einige Fertigkeit im Kämpfen erlernt. Du darfst mir diesen Krieg nicht vorenthalten, Vater!“

„Aber die Gefahren.“

„Willst du mich zu einem feigen Weib machen, Vater? Ja, schlimmer noch als ein Weib, denn ich weiß genau, daß in deinen Kampfbrigaden auch Frauen mitziehen. Und ch soll daheim hockenbleiben? Mit den Tattergreisen und greinenden Säuglingen?“

„Aber du bist kein Krieger, Biterulve.“

„Doch, das bin ich.“

Die ruhige Beharrlichkeit des Jungen verriet eine Stärke, die Salaman nie vordem an ihm bemerkt hatte. Und er sah den funkelnden Zorn und den verletzten Stolz in Biterulves Augen. Und der König erkannte, daß dieser sein sanftmütiger, eher zur Gelehrsamkeit neigender Sohn ihn in eine unmögliche Lage manövriert hatte. Verweigerte er Biterulve die Teilnahme am Krieg, dann beraubte er ihn für alle Zeit seiner Fürstennatur. Und der Junge würde es ihm nie verzeihen. Ließ er ihn aber ziehen, dann würde ihm womöglich der Knabe von einem scharfen Hjjk-Speer aufgespießt und getötet. Und eine derartige Vorstellung vermochte Salaman nicht einmal als Möglichkeit in Betracht zu ziehen.

Es war eine unmögliche Situation. Und er spürte, wie schon wieder der Zorn in ihm herauf quoll. Wie konnte das Kerlchen es wagen, ihm eine solche Entscheidung aufzubürden? Aber Salaman beherrschte sich.

Biterulve wartete. Hoffnungsvoll und furchtlos.

Er läßt mir keine Wahl, dachte Salaman bitter.

Schließlich sprach der König mit einem tiefen Seufzen: „Ich hätte es nie für möglich gehalten, Junge, daß dich die Lust nach Kämpfen packen würde. Aber ich erkenne, ich habe mich getäuscht in dir.“ Er wandte den Blick ab und verabschiedete seinen Sohn mit einer brüsken Handbewegung. „Also — dann geh! Geh, mein Sohn! Mach dich marschbereit. wenn du es denn schon tun mußt.“

Biterulve grinste, klatschte und eilte aus dem Saal.

„Bring mir Athimin her!“ befahl der König einem der Hoflakaien.

Als der Prinz sich einfand, sagte Salaman verdrossen zu ihm: „Biterulve hat mir soeben eröffnet, daß er mit uns in den Krieg ziehen will“…

Athimins Augen funkelten vor Überraschung. „Aber, das wirst du ihm doch sicher verbieten, Vater!“

„Nein. Ich habe es ihm gestattet. Er sagte, ich würde ihn entmannen, ein Weib aus ihm machen, wenn ich ihn zwingen sollte, daheimzubleiben. Nun, so sei es denn also. Aber du wirst sein Pädagoge und Beschützer sein, ist das klar? Wenn ihm auch nur ein Finger verletzt wird, lasse ich dir drei von den deinen abhacken. Hast du mich verstanden, Athimin? Ich liebe sämtliche meiner Söhne, wie ich mich selber liebe. Biterulve aber liebe ich über alle Maßen. Bleib also auf dem Schlachtfeld stets und getreulich an seiner Seite. Immer!“

„Das will ich, Vater.“

„Und sieh zu, daß er uns heil und ganz aus dem Kampf zurückkehrt. Denn wenn nicht, dann tätest du besser daran, selber droben in der hjjkischen Wüstnis zu bleiben, als daß du mir wieder unter die Augen kommst.“

Athimins Blick war starr.

„Ihm wird nichts Böses widerfahren, Vater“, sagte der Prinz schließlich mit erstickter Stimme. „Ich schwöre es dir.“

Und ohne ein weiteres Wort verließ Athimin den Audienzsaal. Dabei wurde er fast von einem atemlosen Eilboten über den Haufen gerannt, der soeben hereingekeucht kam.

„Was gibt’s?“ blökte Salaman.

„Das Heer. das Heer aus Dawinno“, hustete der Läufer. „Sie sind am Laternenwaldforst angekommen. In ein paar Stunden haben sie die Stadt erreicht.“


„Da! Schaut euch das mal an!“ sagte Thu-Kimnibol. „Die Große Mauer von Yissou!“

Unter einem purpurgoldenen Himmel erstreckte sich ein wuchtigmassiges tiefstschwarzes Band undenkbar weit über den Horizont, bis es schließlich am Rande sich zurückkrümmte und in der Dunkelheit jenseits verschwand. Es hätte eine tiefhängende dunkle Wolkenformation sein können, doch nein, das Ausmaß und die Festigkeit waren dermaßen erdrückend, daß man sich kaum vorzustellen vermochte, wie die Erde unter diesem unglaublichen Gewicht standhielt.

„Das kann doch nicht wirklich da sein?“ fragte Nialli Apuilana schließlich. „Oder ist es nur eine Illusion, irgendein Trick, den Salaman unserm Hirn aufzwingt?“

Thu-Kimnibol lachte. „Wenn es ein Trick ist, dann hat Salaman sich damit selber übers Ohr gehauen. Die Mauer, Nialli, die ist schon real und fest genug. Seit einem Zeitraum, zweimal so lang, wie du auf Erden bist, oder doch fast, hat der Mann sämtliche Ressourcen seiner Stadt in den Bau von diesem Monsterding da gestopft. Während wir bei uns Brücken und Türme und Straßen und Parks errichteten, hat Salaman sich einen Wall gebaut. Sozusagen einen Super-Mauerwall, der über Äonen hin standhalten soll. Und wenn diese Stadt dort so alt sein wird wie Vengiboneeza und dann doppelt so tot und verlassen, wird diese Mauer immer noch dastehen.“

„Ist der Mann krank im Hirn, was meinst du?“

„Höchstwahrscheinlich. Aber dabei stark und schlau in all seinem Wahnwitz. Es wäre ein großer Fehler, ihn jemals zu unterschätzen. Es lebt auf der Welt keiner, der so stark wäre und so entschlossen zielstrebig wie Salaman. Oder so verrückt.“

„Ein Verbündeter, der wahnsinnig ist. Mich läßt das schaudern.“

„Besser man hat einen Irren zum Verbündeten als zum Feind“, sagte Thu-Kimnibol.

Er wandte sich um und gab seinen Männern in den Wagen dicht hinter dem seinen ein Zeichen. Sie hatten ebenfalls angehalten. Nun setzten auch sie sich wieder in Bewegung und zogen die schräge Tafelebene hinauf und auf die Erhebung zu, über der die sagenhafte Mauer sich quer über den Himmel zog. Nialli konnte auf der Wallkrone bereits kleine Figuren ausmachen, Krieger, deren Speere vor der dunkelnden Luft wie schwarze Stachelborsten aufragten. Einen Augenblick lang stellte sie sich vor, das wären Hjjks, die sich irgendwie der Stadt bemächtigt hatten. Dieser Ort war dermaßen absurd-fremdartig, daß er zu Phantasievorstellungen anregte. So dachte sie sich auch aus, daß die Mauer, trotz ihrer kolossalen Masse, nur in einem instabilen Gleichgewicht leicht über der wuchtigen Basis schwebe, und daß nur ein leiser Windstoß genügen würde, sie nach außen und über sie fallen zu lassen; ja, daß der Wall bereits langsam auf sie zuzuwanken begonnen habe, als der Wagen weiterrollte. Nialli lächelte. Wie dumm ich bin, dachte sie. Andererseits, was Yissou-Stadt betraf, so schien da alles denkbar. Die schwarze Mauer zum Beispiel, das gehörte doch wohl eindeutig in den Bereich der Träume — und nicht gerade solcher von besonderer Lieblichkeit.

Thu-Kimnibol sprach weiter: „Als ich hier als Junge lebte, war da nur ein hölzerner Palisadenzaun. Nicht einmal besonders stark außerdem. Als die Hjjks ankamen, hätten sie da mit Leichtigkeit in Massen herüberkommen können, wenn wir nicht eine Methode gefunden hätten, sie zurückzuwerfen. Himmel — wie haben wir an dem Tag gekämpft!“

Er versank in ein Schweigen und schien sich darin völlig zu verlieren.

Nialli schmiegte sich gegen seinen tröstlich-beruhigenden massigen Körper und versuchte sich vorzustellen, wie das an jenem Tag gewesen sein mochte, als die Hjjks nach Yissou gekommen waren. Sie sah vor sich den mannhaften Knaben Samnibolon (der sich später Thu-Kimnibol nennen würde) in der Schlacht um Yissou: Groß war er schon und kräftig und wurde niemals müde, und schwang seine Waffe wie ein Vollmann und mähte die Hjjk-Horden nieder im blutigen Abenddämmer, als die Schatten länger wuchsen. Doch, sie konnte ihn ohne Schwierigkeiten vor sich sehen, diesen Knaben von heldenhafter Gestalt, denn jetzt war er ja ein Mann von heroischen Dimensionen. Erbarmungslos kämpfte er gegen die Eindringlinge, unermüdlich, die seines Vaters junge Stadt bedrohten. Und sich irgendwo tief in sich fühlte sie eine keimende Erregung bei der Vorstellung von Thu-Kimnibol, wie er schweißgebadet und kampfeswütend tobte.

Der kriegerische Knabe Samnibolon, der zu diesem kriegsbegeisterten Manne Thu-Kimnibol aufgeschwollen war — wie waren sie doch alle beide verschieden, ja das Gegenteil von dem sanften Kundalimon, diesem scheuen, seltsam spröden Sendboten und Überbringer der Liebe und des Friedens der KÖNIGIN. Doch, ja, Nialli hatte Kundalimon hemmungslos und über alle Zweifel erhaben geliebt. Sie tat es in gewisser Weise noch immer. Und doch — und doch, wenn sie sich die Wildheit Thu-Kimnibols vor Augen hielt, fühlte sie sich von unwiderstehlichem Liebesverlangen zu ihm hingerissen. Zum erstenmal war sie davon im Stadion über dem Exerzierfeld überkommen worden — voller Erstaunen und Freude. Und seitdem war es ihr Hunderte Male wieder so geschehen. Und hier fast unter dem schrecklichen Wall Salamans war dieses Verlangen stärker denn je, schien ihr. Sie kannte Thu-Kimnibol seit ihrer frühen Kindheit und dennoch, erkannte sie jetzt, hatte sie ihn überhaupt nicht wirklich gekannt; sie kannte ihn erst, seitdem sie einander in diesen letzten paar Wochen auf so eigenartige Weise nahegekommen waren.

Sein Leben lang, überlegte sie, hat er auf die Chance gewartet, wieder zu kämpfen. Und jetzt hat er sie und wird kämpfen. Und auf einmal war ihr klar, daß sie ihn wegen seiner Stärke liebte, wegen dieser Geschlossenheit, dieser Ungebrochenheit seines Wesens, die seit seinen frühesten Kindertagen bestimmend für ihn gewesen war, als der Schutzwall um die Stadt da nichts weiter als ein schütterer Holzzaun war.

Sie war sicher: Die Liebe zu Kundalimon würde unauslöschlich in ihr weiterglühen. Und doch: Dieser andere Mann, der in allem so ganz das Gegenteil von Kundalimon war, erfüllte sie so ganz und vollkommen, daß es für andere keinen Raum mehr zu geben schien.


Nie zuvor war Hresh mit einer derartigen Perfektion in Berührung gekommen. Ja, er hätte sie auch niemals für möglich gehalten. Denn wahrhaftig, das NEST funktionierte so glatt und reibungslos wie eine Maschine.

Er begriff, daß er sich nur in einem unbedeutenden Vorposten-Lager der Hjjks befand, und ganz gewiß nicht im Groß-Nest selbst, aber dennoch erschien ihm die Anlage als dermaßen riesenhaft und komplex, daß er selbst nach mehrtägigem Aufenthalt keinen klaren Begriff von der Anlage gewinnen konnte. Die Tunnelgänge, warm und süßduftend und von einem rosaroten Glühleuchten schwach erhellt, das von den Wandungen ausstrahlte, verzweigten sich radial in verwirrend unübersichtlichen Mustern, bogen hierhin und dorthin ab, überschnitten sich und kehrten wieder an den Anfang zurück. Und dennoch bewegten sich alle in diesen Korridoren rasch und ohne Zögern und wußten offensichtlich ganz genau, welchen Weg sie einzuschlagen hatten.

Die Hjjks hatten ihre unterirdische Riesenstadt auf allereinfachste Weise erbaut, nämlich indem sie die Tunnelgänge mit den bloßen Krallen gegraben hatten (Hresh hatte sie bei der Arbeit beobachten können, denn sie waren unablässig damit beschäftigt, das Nest zu vergrößern) und dann die Wandungen mit einer Paste bedeckten, die aus aufgeweichtem Holz bestand, das sie selbst zerkauten und zu großen feuchten Haufen zusammenspuckten, die dann aufgeschaufelt und an die erwünschten Stellen gebracht werden konnten. In regelmäßigen Abständen stützten Holzbalken die Tunneldecke. Eigentlich hätte Hresh sich von den Hjjks etwas Raffinierteres erwartet. Außer in der Größe unterschied sich das hier nicht besonders von jenen Nestern, wie sie die Ameisen und Termiten der Wälder für sich erbauten.

Und genau wie diese Kleininsekten und Waldbodenbewohner hatten auch die Hjjks ein komplexes Gemeinwesen von Kasten und Funktionsspezialisierung entwickelt. Die größten Exemplare — durchwegs Weibchen, wenn auch anscheinend unfruchtbar — waren die Soldaten. Gewöhnlich wagten sie als einzige sich aus dem Nest in die Welt hinaus. Soldatinnen hatten Hresh hier hingeführt.

Dazu parallel gab es die Kaste der Arbeiter, unfruchtbarer Männchen, deren Aufgaben der Aufbau und die Erweiterung des Nestes und die Wartung der raffinierten Belüftungs- und Heizsysteme waren, durch die es bewohnbar blieb. Sie waren dickleibig und kurz und zeigten kaum etwas von der unheimlichen Grazie der Kämpfer.

Ferner gab es die für die Fortpflanzung zuständigen Kader, die Eiproduzenten und Lebensentfacher, die sogar noch kleiner und untersetzter waren als die Arbeiter und die kurze Gliedmaßen und stumpfe Rundschädel hatten. Wenn sie reif waren, wurden sie der Königin zugeführt, die sie zu voller Fruchtbarkeit brachte, indem sie sie irgendwie mit einer Substanz durchdrang und erfüllte, die sie selbst ausschied; dies nannte man die ‚Berührung der Königin‘. Daraufhin paarten sich die Lebensentfacher und Ei-Produzenten, und aus den befruchteten Eiern schlüpften kleine bleiche Larven. Eine weitere Kaste sogenannter Nahrungspender oder Ammen versorgten und zogen diese Larven in vorgelagerten Höhlen heran. Entsprechend den Befehlen der Königin bestimmten sie sodann, zu welcher Kaste die jungen Hjjks gehören würden und bildeten sie durch Zufuhr der entsprechenden Diät dazu heran. Die Zahl der Kastenangehörigen blieb stets gleich: Wenn das Leben eines hjjkischen Soldaten oder Arbeiters oder Ei-Produzenten oder Lebensentfachers sich dem vorbestimmten Ende näherte, wurde in den Höhlen der Nährammen bereits der Nachfolger herangezogen.

All dies erfuhr Hresh von den Angehörigen einer wieder ganz anderen Kaste, für die er eine tiefe persönliche Sympathie und Geistesverwandtschaft empfand: die Nest-Denker, die Philosophen und Lehrer im Insektenstaat.

Ob diese Männchen oder Weibchen waren, das vermochte er nicht zu unterscheiden. Sie waren so lang wie die Soldatinnen, was dafür gesprochen hätte, daß sie weiblich sein müßten, hatten dabei aber die untersetzte Gestalt von Arbeitern, und waren, wo ein Segment ihrer Leiber an das nächste stieß, kaum eingeschnürt, was wiederum auf Männchen hindeutete. Jedenfalls, mit Geschlechtlichkeit und Fortpflanzung schienen sie nichts zu schaffen zu haben. Sie saßen den ganzen Tag in dunklen verschlossenen Kammern, und die Jugend kam dort zu ihnen, um zu lernen. Auch Hresh suchte sie auf und lauschte ernst, als sie ihm erklärten, wie das Nest funktionierte. Er war nie sicher, ob er zweimal mit demselben Nest-Denker sprach. Sie waren für ihn ununterscheidbar. Nach einiger Zeit gewöhnte er sich an, sie allesamt als Einheit, als plurale Individualität zu betrachten — Nest-Denker.

Nest-Denker erschloß ihm die Geheimnisse des Nests. Nest-Denker zeigte ihm auf, wie jeder Einzelaspekt des Lebens im Nest auf vollkommene Weise mit allen anderen Aspekten koordiniert war. NestDenker lehrte ihn die Nest-Wahrheit, erklärte ihm die komplizierten Zusammenhänge von Ei-Plan und Königin-Liebe. Nest-Denker bot ihm Trost und Sicherheit in der Nest-Bindung.

Und schließlich war es Nest-Denker, der ihn vor die Königin führte. Und da ruhte das allergrößte Geheimnis und Rätsel: die riesengestaltige bewegungsunfähige Monarchin des Stadtstaates, verborgen in einer Kammer tief unter den übrigen Etagen des Baus, schützend umsorgt von der Elitetruppe der Königlichen Leibgardisten, riesenwüchsigen Soldatinnen von unbezwingbarem Kampfesmut, die IHR Lager mit einem undurchdringbaren schützenden Ring umgaben.

„Die Königin ist unsterblich“, sagte Nest-Denker zu Hresh. „Sie wurde geboren, als die Welt noch jung war, und sie wird leben bis ans Ende der Welt.“ Also wirklich, soll man das wörtlich verstehen? Gewiß, die Königin mochte eine enorm hohe Lebenserwartung haben, und vielleicht lebte sie ja tatsächlich dermaßen lange, daß es allen übrigen so vorkommen mußte, als wäre sie zeitlos. Aber — unsterblich?

Hresh hatte keine Vorstellung mehr, wie lange er bereits in diesem Nest weilte, als man ihn zur Audienz bei der Königin befahl. Zeit besaß hier keine große Bedeutung: Oftmals vergingen ihm seine Tage in traumhaft dämmerigen Meditationszuständen. Er war in eine seltsam friedliche Andersheit geglitten, und die Stürme der Draußenwelt und die hektische Unruhe in Dawinno-Stadt erschienen ihm nun wie Trugbilder aus einem andren Leben. Doch schließlich kam der Tag, an dem NestDenker ihm eröffnete: „Heute trittst du vor die Königin. Folge mir!“

Sie stiegen gemeinsam die schmale Spiralrampe hinab, deren erdige Fläche durch generationenlange Abnutzung durch Myriaden von Füßen spiegelblank poliert war. Hresh überlegte, ob unter diesen Füßen auch welche gewesen waren so wie die seinen. Er zweifelte daran. Höchstwahrscheinlich waren nur die harten Schabekrallen der Hjjks jemals vorher hier entlanggeschlittert.

Abwärts und hinunter und immer tiefer hinab gingen sie. Der Schacht stieg wie ein Schneckenbohrer-Loch hinab durch die Tiefen der Zeit. Scharfe unbekannte Gerüche drifteten zu Hresh herauf. Ein pulsierendes Schwarzlichtglühen war die einzige Beleuchtung.

Je tiefer sie gelangten, desto rascher kamen sie voran. Der langbeinige Nest-Denker schlug eine unerbittlich rasche Gangart ein, und es wurde Hresh beinahe schwindlig, als der Schacht sich immer tiefer und tiefer spiralig senkte. Doch da war eine unbekannte Kraft, die ihm die Seele stützte und stärkte. Vielleicht kam sie ihm vom Nest-Denker, vielleicht gar von der Königin selbst zu.

Und dann erreichten sie schließlich das Allerheiligste.

Es war eine länglich-ovale Kammer mit hoher Tonnendecke. Anstatt der Dachsparren trugen hier hexagonale Kassetten das Gewölbe, die so meisterlich zusammengefügt waren, daß man den Eindruck bekam, sie müßten auch dem heftigsten Erbeben der Erde standhalten können. Am einen Ende der Kammer — da, wo Nest-Denker und Hresh eingetreten waren — standen die Leibdiener der Königin auf einem Podium dicht geschart, und ihre Waffen starrten auswärts. Den restlichen Raum in der Kammer nahm die Königin ein, und sie füllte ihn völlig von einem Ende zum anderen, von Wand zu Wand aus.

Sie war ein Koloß, ein schlauchartiges fleischiges Behältnis, schwammig-schwabbelig und rosig, überhaupt nicht irgendwie hjjkartig: ohne Augen, ohne Kneifschnabel, ohne Gliedmaßen. ohne irgendwelche Individualcharakteristika. Dennoch spürte Hresh, daß er sich in der Gegenwart einer außergewöhnlichen Wesenheit befand, einer Gewalt von solcher Macht und Stärke, daß er Mühe hatte, nicht ehrfürchtig vor ihr auf die Knie zu fallen.

Und dabei war die da bloß eine Unter-Königin, soweit er wußte. Eine Untergebene der Großen Königin-der-Königinnen.

Der einzige Laut im Raum war Hreshs eigener Atem. Er stemmte sich die Hände in die Flanken und grub sie tief ins Fell, um sein Zittern unter Kontrolle zu bringen. Die Königlichen Wachen kamen dicht an ihn heran, umringten ihn von allen Seiten, bedrängten ihn hart mit ihren starren Leibpanzern und ihren borstigen Gliedmaßen. Ihre Klingen pieksten sacht seine Haut. Wenn er auch nur die kleinste unerwartete Bewegung machte, würden die Schneiden tief in ihn eindringen.

Eine Stimme wie eine furchtbare Glocke sprach dröhnend in seinem Gehirn.

„Du hast den Fokalkontakter bei dir?“

Auf irgendeine Weise verstand Hresh, daß die Königin von seinem Barak Dayir sprach.

„Ja.“

„Setze ihn ein.“

Er holte den Wunderstein aus dem Beutel. Er fühlte sich in der Hand an, als brenne er. Ihn überlief aus tiefstem Innern ein Furchtschauder, doch wirkte dem sofort eine ausgleichende Wärme entgegen, die von der Königin auszugehen schien.

Hresh holte tief Luft und ging die Verbindung mit dem Zauberstein ein.

Sofort kommt ein Donnerschlag, oder ein Knall, als bräche die Welt aus ihren Angeln. Sein Bewußtsein schießt im Flug über einen riesigen Abgrund hinweg. Als hätte er sich aufgelöst und führe mit einem Sturm dahin. Es ist ihm unmöglich zu erfassen, wo er sich befindet oder was mit ihm geschieht; er hat nur ein Gefühl von Unermeßlichkeit, in der eine andere Unermeßlichkeit umfangen ist, und irgendwo tief darinnen brennt ein Feuerkern mit der Gewalt von zehntausend Sonnen.

Hresh ist sich der Anwesenheit von Nest-Denker, der Nähe der Leibwachen der Königin, ja nicht einmal seines eigenen Körpers noch klar bewußt. Da ist nur diese Unermeßlichkeit, und sie umfängt ihn ganz.

„Was bist du?“ fragt er.

„Du kennst mich unter dem Begriff Königin-der-Königinnen.“

Und Hresh begreift. Er ist in der Königin, und nicht etwa jener kleineren des Nests, das er kennengelernt hat. Alle Nester sind verbunden; alle Königinnen sind Teil und Ausdruck der ‚Königin‘. Und diese größte Manifestation der Hjjks, die geheimnisvoll im rätselhaften Norden verbogen ruht, besitzt ebenfalls einen Barak Dayir, einen Zauberstein: Er ruht eingebettet in ihrer fleischlichen Unmäßigkeit, ja wahrhaftig, und dieser Wunderstein spricht nun zu dem von Hresh. Und diese Verbindung verbindet ihn, Hresh, mit der Königin-der-Königinnen, und er taucht in diese gigantische Masse von fremder Fleischlichkeit und versinkt darin.

Hresh erinnert sich auf einmal, daß sein geistiger Vater und Mentor Noum om Beng vor langer, langer Zeit zu ihm sagte: „Auch wir hatten einmal das, was du deinen Barak Dayir nennst. Doch er wurde uns von den Hjjks geraubt.“ — Ja, und ihre Königin hat ihn gefressen und in sich hineingeschlungen. Und so war das. SIE besaß den anderen Kontaktfokus, den Wunderstein, den einstmals die Beng besessen und verloren hatten, das Zwillingsstück zu dem alten Zauberding, das er nun mit seinem Sensororgan umfaßt.

„Nun wirst du sehen“, sagt die Königin.

Und die Himmel spalten sich und öffnen sich weit. Die Jahre rollen davon, zurück, zurück, und der Barak Dayir folgt einer schmalen Flammenlinie durch die Jahrhunderte in die ferne Vergangenheit. Die Königin wünscht ihm zu zeigen, wie immens weit das Erbe ihrer Rasse zurückreicht.

Hresh sieht die Welt unter dem Eis des Langen Winters begraben: Frostzungen schieben sich in Landzonen, die früher keine Kälte kannten, und zartes Grün wird unter ihrem Angriff zu kahlem Schwarz. Geschöpfe, für die er nicht einmal einen Namen wüßte, suchen verzweifelt Schutz, und Geschöpfe von seiner eigenen Art fliehen kläglich hierhin und dorthin. Die großen bleichen Schwanzlosen, die er als Menschliche kennt, wandern zwischen ihnen umher und sprechen: Kommt, kommt, hier ist der Kokon, ihr sollt errettet sein.

Und er sieht auch Legionen von Hjjks, die sich unbeirrt auf ihre Speere stützen und dem Schwarzen Wind trotzen, der Schneeflocken um sie peitscht.

Und weiter, tiefer zurück in die Zeit vor der Kälte, die glorreiche Zeit der Großen Welt. Gewaltige schwerfällige, hirnschnelle reptilische Saphiräugige auf den Veranden ihrer Marmorvillen; See-Lords in ihren Sänftenwagen, Vegetabilische, Mechanische, alle die grandiosen Wesen dieser wundersamen Ära. Auch Menschliche wieder. Und Hjjks, immer schon die Hjjks. Myriaden von ihnen, perfekt organisiert, klar im Denken, kaltäugig, stets in Einklang lebend mit dem gewaltigen vieltausendjährigen Schema des Ei-Plans, mitten unter den anderen Rassen lebend, oft sogar jahrelang in den großen Städten der Großwelt, ehe sie wieder in ihr heimatliches Nest zurückkehren.

Wird die Königin ihn noch weiter zurückführen? Bis gar in die Zeit vor der Großen Welt?

Nein. Die Reise ist zu Ende. Hresh fühlt sich mit sinnverwirrender Schnelligkeit wieder vorwärtsgezerrt, die Bilder zucken in blitzhafter Raschheit vorüber, Kometenschweife im Himmel, Todessterne, die niederstürzen, die Luft wird schwarz, die ersten Schneestürme, das verdorrte Laub, die Welt unter Eis begraben, die stoische Gleichmütigkeit der Saphiräugigen, die panische Flucht der verzweifelten wilden Tiere — und wieder die Hjjks, immer sind sie da, und sie ziehen ruhig hinaus und nehmen die eisesstarre Welt in Besitz, sobald die anderen Rassen sie aufgegeben haben.

Es herrschte ziemlich große Stille im Gemach der Königin.

Sie waren wieder im Nest. Der Eindruck uralter Größe und Vervollkommnung der hjjkischen Welt klang in Hreshs Seele nach wie die wogende Fülle einer unermeßlichen Symphonie.

Dann sprach die Königin: „Nun erkennst du uns, wie wir sind. Warum also verwandelt ihr euch in unsere Feinde?“

„Ich bin nicht dein Feind.“

„Dein Volk weigert sich, mit uns in Frieden zu leben. In diesem Augenblick sogar bereitet ihr euch auf den Angriff auf uns vor.“

„Was sie tun, ist übel“, sagte Hresh. „Und ich erbitte deine und eure Vergebung dafür. Ich bitte dich, sage mir, gibt es einen Weg, wie dein Volk und das meine friedlich nebeneinander leben können.“

Wieder Stille, diesmal eine sehr lange.

„Ich habe euch einen Friedensvertrag angeboten“, sagte die Königin.

„Gibt es keine Alternative? Uns einzupferchen in Teilen der Welt, die wir bereits besitzen, und uns daran zu hindern, hinauszustreben und den Rest zu erforschen, wäre das so unmöglich?“

„Wozu ist sie gut, diese ganze Erforscherei? Eine Strecke Erde ist so ziemlich genau wie eine andere. Und es sind eures Volks schließlich nicht so viele, daß ihr die ganze Welt für euch beanspruchen dürftet.“

„Aber jegliche Hoffnung fahren zu lassen und nicht weiter ins Unbekannte vorzustoßen.“

„Vorstoßen! Fortschreiten!“ Die gewaltige Glockenstimme der Königin dröhnte verachtungsvoll. „Das ist alles, wonach ihr strebt, ihr kleinen lächerlichen Pelzlinge! Wieso könnt ihr nicht mit dem zufrieden sein, was ihr habt?“

„Aber ist nicht euer Ei-Plan gleichfalls nach dem Prinzip konstanter Expansion angelegt?“ fragte Hresh kühn.

Die Königin reagierte darauf mit einem gewaltigen kichernden Glucksen, als habe sie es mit einer kindlichen Frage zu tun, die dermaßen impertinent war, daß sie bereits wieder unwiderstehlich charmant wirkte. „Der Ei-Plan ist die Verwirklichung und Erfüllung dessen, was bereits vor dem Anfang der Zeit war. Es ist keine Erschaffung von Neuem, sondern nur die höchst konsequente Aktualisierung des Immer-Gewesenen. Verstehst du das?“

„Ja. Ja, ich glaube schon“, sagte Hresh.

„Deine Art, die aus ihren Schutzkellern herausbrodelte, als die Kaltzeit endete, die sich wie eine Seuche über das Land ausbreitete, ihr, die ihr euch ohne Maß und Plan vermehrt, die Erde mit kalten steinernen Städten zupflastert, die ihr den Boden verseucht, die Luft mit eurem Rauch schwärzt, die Flüsse zu Kloaken macht, damit sie euren Zwecken dienen. Ihr, die ihr euch selber vorantreibt, um irgendwo an Orten anzukommen, die niemals für euch bestimmt waren — ihr seid die Feinde der Nest-Wahrheit. Die Feinde des Ei-Planes. Ihr seid eine wild hereinbrechende Kraft in der Ordnung der Welt. Ihr seid eine Pest, eine Krankheit, und man muß euch in Schach halten. Es ginge nicht an und wäre unmöglich, euch auszurotten. Aber ihr müßt in Schach gehalten werden. Verstehst du mich — du Kind-voller-Fragen? Verstehst du?“

„Ja. Ich verstehe — allmählich.“

Sein Sensor verkrampfte sich um den Barak Dayir. Er zitterte am ganzen Leib, so heftig traf ihn die Offenbarung.

Ja, er hatte begriffen, und über alle Zweifel hinaus begriffen. Aber er wußte auch, daß das, was ihm hier offenbart worden war, weit über das hinausreichte, was die Königin ihm zu sagen glaubte. Die Hjjks des Neuen Frühlings waren nur noch Schatten von jenen, die in den Zeiten der Großen Welt gelebt hatten. Diese Alt-Hjjks waren Abenteurer gewesen, Reisende, eine Rasse von kühnen Kaufleuten und Entdeckern. Sie waren kreuz und quer durch diese Welt — und womöglich viele anderen — gezogen, um ihre Ziele zu verfolgen, und hatten dabei in das üppige, vielschichtige Gewebe der Großen Welt ihren leuchtendroten Faden des Erfolges eingeflochten.

Aber die Große Welt war vorbei und seit langem verschwunden. Was also waren diese Überlebens-Hjjks? Noch immer eine bedeutende Spezies, gewiß. Aber sie waren eine Rasse von Gestrauchelten, Versager, die alle ihre technischen Errungenschaften und ihre Expansionslust verloren hatten. Sie waren zu abgründlich tiefkonservativem Volk verkommen, das sich an die Fetzen einstiger Größe klammerte und alles aufkeimende Neue erstickte.

Denn was ersehnten sie schließlich mehr als alles andere? Nichts weiter, als daß sie Löcher in die Erde graben und im sicheren Dunkel leben dürften. Damit sie dort ihrem ewig gleichen Zyklus frönen könnten: Geborenwerden, Sichfortpflanzen, Sterben. Und in Abständen schicken sie dann ihre überschüssige Bevölkerung fort, damit die irgendwo anders ein neues Loch graben und dort den gleichen alten Kreislauf im Trott weitermachen könne. Ihrer Überzeugung nach konnte die Welt nur Bestand haben, wenn die Lebens-Grundmuster unverändert gewahrt, gepflegt und fortgesetzt wurden. Und für die Erhaltung dieser ihrer stabilen Lebensgrundmuster waren sie zu jedem Einsatz bereit.

Das zeugt von gewaltiger Dummheit, dachte Hresh.

Die Hjjks fürchten Veränderung, weil sie einen derart gewaltigen Abstieg erfahren mußten und ein noch tieferes Absinken befürchten.

Doch Veränderung ist unausweichlich. Und gerade weil die Große Welt sich so erfolgreich angelegen sein ließ, sich gegen jede Veränderung abzusichern, sagte Hresh nun bei sich, haben die Götter die Todessterne über sie verhängt. Diese Große Welt hat eine Art von FastVollkommenheit erreicht gehabt, und Perfektionismus können die Götter einfach nicht dulden.

Was aber die Überlebenden des Langen Winters unter den Hjjks noch immer nicht zu begreifen bereit zu sein schienen, war, daß Dawinno mit ihnen unweigerlich nach SEINEM Willen verfahren würde, ob es ihnen nun paßte oder nicht. Der Große Verwandler machte das immer so. Nichts Lebendiges kann sich der Verwandlung entziehen, und wenn es sich noch so tief unter der Erde zu verbergen versucht und sich verzweifelt an seine angelebten Rituale klammert. Gewiß, man mußte den Hjjks Respekt zollen für das, was sie aus den Scherben und Splittern ihrer früheren Existenz konstruiert hatten. Es war ein starres System, und wegen dieser Inflexibilität dem Untergang geweiht; doch auf seine Weise war es furchtbar und fürchterlich vollkommen.

Die Lösung wäre allerdings auch nicht, dachte Hresh, die Einrichtung einer nur anders gearteten statischen Gesellschaft. Und zum erstenmal seit langer Zeit sah er so etwas wie einen Schimmer von Hoffnung für sein eigenes Volk, diese unsteten, umgetriebenen, unberechenbaren Leute. Vielleicht soll ja wirklich die Welt unser werden, trotz allem, dachte er. Ganz einfach weil wir so ganz und gar unsicher sind, was richtig ist.


Er wußte nicht, wieviel Zeit vergangen war. Eine Stunde, ein Tag, vielleicht ein Jahr. Er wußte nur, daß er sich in einen höchst seltsamen Traum verirrt hatte. In der Königlichen Kammer herrschte absolute Stille. Die Leibgardistinnen der Herrscherin standen starr wie Statuen um ihn herum.

Und wieder vernahm er die glockentönende gewaltige Stimme der Königin in seinem Gehirn: „Gibt es sonst noch etwas, das du zu wissen wünschst, du Kind-voller-Fragen?“

„Nichts. Nein, nichts. Ich danke dir, daß du mich an deiner Weisheit teilhaben ließest, große Königin.“


Mit raschen wuchtigen Zügen zeichnete Salaman mit der Spitze seines Speeres eine Landkarte in die feuchte dunkle Erde.

„Hier ist Yissou-Stadt — ein geschlossener ungebrochener und undurchbrechlicher Kreis — „und hier sind wir jetzt, drei Tagesmärsche im Nordosten. Da hebt sich das Gelände, der langgestreckte bewaldete Bergrücken, der nach Vengiboneeza hinüberreicht. Du erinnerst dich, Thu-Kimnibol, wir sind einmal in diese Richtung ausgeritten.“

Thu-Kimnibol grunzte zustimmend, während er sich intensiv mit der Lageskizze beschäftigte.

Rechts von der Zeichnung brachte Salaman nun ein Dreieck an. „Das da ist Vengiboneeza, völlig hjjk-verseucht. Und hier.“ — er stach heftig in einiger Entfernung von dem Dreieck in den Boden — „liegt ein kleineres Nest, aus dem die Hjjks kamen, die unsere Akzeptänzler abgeschlachtet haben. Hier, hier und hier.“ — drei weitere wütende Speerstöße — „liegen weitere kleine Nester. Dahinter kommt das große weite unbesiedelte Niemandsland, wenn wir uns nicht sehr getäuscht haben. Und da.“ — er stapfte fünf Schritt weiter und bohrte einen grobgezackten Krater in den Boden — „ist unser Ziel: das Nest-der-Nester.“

Er wandte sich um und blickte zu Thu-Kimnibol auf, der ihm an diesem Morgen gigantisch groß, groß wie ein Berg vorkam, jedenfalls doppelt so groß, wie er wirklich war. Und das war schon unerträglich groß gewesen.

In der verflossenen Nacht war des Königs Spitzel Gardinak Cheysz zu ihm gekommen und hatte bestätigt, was Salaman bereits geargwöhnt hatte: Thu-Kimnibols ‚Freundschaft‘ zu seiner Bruderstochter war mehr als bloße familiäre Freundlichkeit; vielmehr waren die beiden Kopulationspartner. Vielleicht gar Tvinnr-Partner. War das eine neue Geschichte? Anscheinend ja, dachte Gardinak Cheysz, jedenfalls waren die beiden vorher im Stadttratsch nie in Verbindung gebracht worden.

Nun, das setzte aller Hoffnung ein Ende, ihn mit Weiawala zu verbinden. Ein Jammer, das! Es wäre so nützlich gewesen, den Mann an das Yissouaner Königshaus zu fesseln. Diese unerwartete Liebesaffäre zwischen Thu-Kimnibol und Tanianes Tochter machten es nur noch wahrscheinlicher, daß er nach Tanianes Ausscheiden als der Beherrscher von Dawinno-Stadt dastehen würde. Ein König in Dawinno, anstatt eines Häuptlings? Salaman fragte sich, was das für ihn selbst und seine Stadt bedeuten konnte. Vielleicht kam ja Gutes dabei heraus. Aber höchstwahrscheinlich nicht.

Thu-Kimnibol fragte: „Und welchen Plan schlägst du jetzt vor?“

Salaman pochte mit dem Speer auf den Boden. „Das unmittelbare Problem ist Vengiboneeza. Yissou allein mag wissen, wie viele Hjjks dort herumwimmeln, aber es sind bestimmt mehr als eine Million. Die müssen wir allesamt neutralisieren, bevor wir weiter nordwärts vorstoßen können, sonst hätten wir eine gewaltige Hjjk-Festung im Rücken sitzen und wären abgeschnitten, wenn wir auf das Große Nest zustoßen.“

„Einverstanden.“

„Kennst du dich gut aus mit der Anlage von Vengiboneeza?“

„Ich kenne den Ort überhaupt nicht“, antwortete Thu-Kimnibol.

„Also, Berge hier, im Norden und Osten. Hier eine Bucht. Dazwischen die Stadt, geschützt hinter Wällen. Hier unten dichtes Dschungelgebiet. Nach dem Auszug aus dem Kokon zogen wir durch diesen Dschungel. Das war vor deiner Geburt. Die Stadt ist schwer anzugreifen, doch es ist möglich. Ich schlage einen Zangenangriff vor, unter Einsatz deiner Großwelt-Waffen. Du kommst von der Seeseite heran und sorgst mit der Schleife und der Feuerschnur für Ablenkung. Inzwischen steige ich mit dem Erdfresser und dem Blasenrohr aus den Bergen hinab und lege die Stadt in Trümmer. Wenn wir rasch und gut zuschlagen, werden die gar nicht merken, was sie getroffen hat. Na, wie ist das?“

Er spürte das Problem, noch ehe Thu-Kimnibol zu sprechen begann.

„Ein guter Plan“, sagte der Riese bedächtig. „Aber die Großweltwaffen müssen in meiner Hand bleiben.“

„Was?“

„Ich kann sie nicht mit dir teilen. Ich besitze sie nur als Leihgaben und bin für sie verantwortlich. Sie dürfen nicht in fremde Hände, in niemandes Hände gelangen. Nicht einmal in die deinen, mein Freund.“

Salaman fühlte heiße Wut wie glutflüssiges Gestein durch seine Adern schießen. Feurige Reifen schraubten sich um seine Stirn. Er verspürte den Impuls, seinen Speer hochzureißen und ihn mit einem wuchtigen Stoß Thu-Kimnibol in die Eingeweide zu rammen; und es bedurfte aller seiner inneren Stärke, sich zu beherrschen.

Zitternd vor Anstrengung, sich seine Erregung nicht anmerken zu lassen und ruhig zu erscheinen, sagte er: „Das kommt mir aber sehr überraschend, mein Cousin.“

„Wirklich? Nun, dann bedaure ich es sehr, mein Cousin.“

„Aber wir sind Verbündete. Ich hatte geglaubt, daß Waffenbruderschaft auch bedeutet, daß man die Waffen miteinander teilt.“

„Ich verstehe dich. Aber ich bin gezwungen, diese Waffen zu schützen.“

„Aber dir ist doch gewiß klar, daß ich sie mit Sorgsamkeit behandeln würde.“

„Das würdest du ohne allen Zweifel tun“, sagte Thu-Kimnibol konziliant. „Doch falls sie dir irgendwie abhanden kämen — sagen wir, die Vengiboneezer Hjjks locken dich in einen Hinterhalt, und die Waffen gingen dabei verloren —, dann träfen Schmach und Schande allein mich, weil ich sie aus meiner Hand gegeben hätte. Nein, Gevatter, es ist unmöglich. Du sorgst für die Ablenkung, und wir zerstören Vengiboneeza von oben her. Und danach ziehen wir brüderlich und in Liebe zum NEST.“

Salaman befeuchtete sich die Lippen. Noch immer mußte er sich zur Ruhe zwingen.

„Wie du willst, Cousin“, sagte er schließlich. „Wir gehen die Stadt vom Wasser her an. Du steigst durch die Berge herab — mit deinen Waffen. Hier — meine Hand drauf!“

Thu-Kimnibol grinste befriedigt. „So sei es denn, Cousin!“

Salaman stand einige Zeit da und blickte dem riesenhaften Prinzen nach, bis dessen Gestalt in der Entfernung schrumpfte. Rasende Wut ließ den König beben, als hätte er ein Schüttelfieber. Von hinten sah Thu-Kimnibol aus wie sein Vater Harruel. Und er ist genauso widerborstig und stur, wie Harruel es war, dachte Salaman. Genauso aufgeblasen und überheblich. Und genauso gefährlich.

Biterulve trat zu ihm und sprach: „Ärger, Vater?“

„Ärger? Was denn für Ärger, Junge?“

„Ich spüre es in der Luft um dich herum.“

Salaman zuckte die Achseln. „Wir kriegen keine von den Großweltwaffen, weiter nichts. Thu-Kimnibol darf sie nicht aus der Hand geben.“

„Wir bekommen gar keine? Nicht mal eine?“

„Er sagt, er darf es nicht riskieren, sie weiterzugeben.“ Salaman spuckte aus. „Götter! Ich hätte ihn auf der Stelle, wie er da stand, umbringen mögen! Er will den ganzen Ruhm als Hjjk-Töter und Sieger im Krieg für sich einheimsen — und uns schickt er nackt gegen das Ungeziefer in den Kampf.“

„Vater, es sind seine Waffen“, sagte Biterulve leise. „Wenn wir sie gefunden hätten, würden wir ihm anbieten, sie mit ihm zu teilen?“

„Aber gewiß würden wir das tun! Sind wir etwa unzivilisierte Tiere, Sohn?“

Biterulve gab darauf keine Antwort. Doch der König erkannte am Ausdruck seiner sanften Augen, daß er seine Worte mit Skepsis aufgenommen hatte, und ob er ihnen geglaubt hatte, war auch zweifelhaft.

Vater und Sohn blickten einander einen Augenblick lang fest an.

Dann wurde Salaman weich, umfaßte die schmalen knochigen Schultern des Jungen mit dem Arm und sagte: „Aber das spielt keine Rolle. Soll er sein Spielzeug ruhig für sich behalten. Wir werden es auch allein ganz gut schaffen. Aber ich sage dir eins, mein Sohn, und gelobe es auch vor sämtlichen Göttern: Es wird das Heer von Yissou sein, und nicht das von Dawinno, das zuerst das Nest stürmen wird, und wenn es mich alles kosten sollte, was ich habe. Und ich werde die Königin mit eigener Hand töten. Ehe Thu-Kimnibol auch nur einen Blick auf sie werfen kann!“

Und dann setzte der König stumm hinzu: Ich will dafür Sorge tragen, daß ich es meinem Gevatter Thu-Kimnibol heimzahle, wenn der Krieg vorbei ist. Doch vorläufig sind wir Verbündete und gute Freunde.

Wieder einmal war einer der Tage, an denen Husathirn Mueri rotationsmäßig den Richterthron in der Basilika einzunehmen hatte. Da Thu-Kimnibol schon wieder einmal nicht in der Stadt weilte, mußten Puit Kjai und er sich täglich in der Routine abwechseln. Nicht daß sie beide in Amtspflichten ertrunken wären. Es gab kaum Prozesse, da die Stadt praktisch, bis auf die sehr Jungen und die sehr Alten, menschenleer war.

Dennoch hockte er pflichtschuldig unter der großen Kuppel und war bereit, Recht zu sprechen, sollte jemand es von ihm verlangen. In den trödelig dahinstreichenden Stunden schweiften seine Gedanken nach Norden, wo zur selben Zeit der Krieg, den er verabscheute, im Gange war. Was geschah dort droben? Hatten die Hjjks Thu-Kimnibol schon niedergeschmettert? Sich diese Szene vorzustellen, das bereitete Husathirn Mueri ein gewisses Vergnügen: die Horden von schrillenden knirschenden Ungezieferlingen strömen in erbarmungslosen Sturzbächen von den Nordbergen herab und stürzen über die Eindringlinge nieder und zersäbeln sie zu Fetzen. Thu-Kimnibol bricht unter ihren Speeren zusammen und stirbt wie sein Vater vor ihm.

„Deine Throngnaden?“

Chevkija Aim war in die Basilika und in Husathirn Mueris Träumereien eingetreten. Der Hauptmann der Stadtwache hatte sich für diesmal mit einem Helm geschmückt, der mit geschwärzten Eisenplättchen geschindelt war und von dessen Flanken zwei grellblinkende goldene Klauen zu großer Höhe aufragten.

„Irgendwelche anhängigen Fälle?“ fragte Husathirn Mueri.

„Bisher keine, deine Throngnaden. Aber einige Neuigkeiten. Die alte Boldirinthe hat sich ins Bett gelegt, und man sagt, sie wird wohl nicht wieder aufstehen. Unser Häuptling hat sich zu ihr begeben. Deine Schwester Cathiriil ist auch schon dort. Sie hat mich hergeschickt, damit ich dir Bescheid sage.“

„Sollte ich nicht ebenfalls gehen? Ja. Ja, ich denke, das muß ich wohl. Aber erst wenn meine Sitzungsstunden in der Basilika abgesessen sind. Egal, ob Streitparteien kommen oder nicht, meine Pflicht ist es, hier zu sein.“ Er lächelte. „Die arme alte Boldirinthe. Na ja, um die Wahrheit zu sagen, ihr letztes Stündlein ist ja eigentlich schon lang überfällig. Was meinst du, Chevkija Aim? Werden zehn starke Männer genügen, um sie zu Grabe zu tragen? Oder fünfzehn?“

Der Wachhauptmann schien das nicht amüsant zu finden.

„Sie ist die Opferfrau der Koshmari, Herr. Das ist ein hohes offizielles Amt, sagt man. Und sie war eine liebe und freundliche Frau. Ich selber würde sie tragen, wenn man mich dazu auffordert.“

Husathirn Mueri wandte den Blick ab. „Meine Mutter war vor ihr die Opferpriesterin. Hast du das gewußt? Torlyri. Das war in der alten Zeit, in Vengiboneeza. Wer wird wohl jetzt Opferfrau werden, das würde ich gern wissen? Wird es überhaupt noch einmal eine geben? Hat überhaupt noch eine das Wissen und die Praxis für die Rituale und Gegenzauber?“

„Wir leben in seltsamen Zeiten, Herr.“

„Ja, wahrlich in seltsamen Zeiten.“

Dann schwiegen beide.

„Wie still es ist in der Stadt“, sagte Husathirn Mueri schließlich. „Alle sind sie fort, um in dem Krieg zu siegen. Außer uns beiden. Jedenfalls sieht es fast so aus.“

„Unsere Pflicht erlaubte es uns nicht, Herr“, sagte Chevkija Aim taktvoll. „Auch in Kriegszeiten kann die Stadt nicht ohne Richter sein und ohne Polizei.“

„Du weißt doch, ich habe gegen diesen Krieg votiert, Chevkija Aim.“

„Dann ist es ja wohl bestens, daß deine Pflichten es dir unmöglich machten, mitziehen, zu müssen. Du hättest kein guter Krieger sein können, bei deinen Überzeugungen.“

„Und wenn du gedurft hättest, wärst du mitgegangen?“

„Ich besuche jetzt unsere Erleuchtungsversammlungen, Herr. Das weißt du ja. Ich teile deinen Abscheu gegen den Krieg. Und ich sehne mich nur danach, daß endlich der Frieden der Königin bei uns einkehrt und unsrer geplagten Welt die Liebe bringt.“

Husathirn Mueris Augen weiteten sich. „Wirklich? Ja, natürlich. Ich hab es vergessen. Auch du bist also ein Jünger der Lehren Kundalimons geworden. Das geht wohl allen so, nehme ich an, die noch hier sind. Die Helden ziehen in den Krieg, und die Friedliebenden bleiben zu Hause. Und so soll es sein. Was meinst du, wo wird das Ganze noch enden?“

„Im Königin-Frieden, Herr. In IHRER allumfassenden Liebe für alle.“

„Ja. Das hoffe ich wirklich zutiefst.“

Tu ich das wirklich? fragte er sich. Diese Hingabe an den neuen Glauben, wenn es denn das wirklich war, blieb ihm immer noch rätselhaft unerklärlich. Er besuchte regelmäßig den Betsaal; er respondierte mechanisch die Litaneien, die Tikharein Tourb und Chhia Kreun vorbeteten; und manchmal, hatte er jedenfalls das Gefühl, kam er dabei der Erfahrung einer religiösen Entrückung recht nahe. Eine vollkommen neue, unbekannte Erfahrung für ihn. Aber schließlich, er war sich in keiner Sache seiner Aufrichtigkeit jemals sicher gewesen. Und es war ja auch nur eine der vielen Absurditäten dieser Zeit, daß er auf einmal da irgendwo kniete und Lobgesänge auf die Königin-der-Königinnen herunterleierte, daß er zu diesen abscheulichen Hjjks betete, sie möchten die Welt aus der Angst befreien Er blickte, halb hoffnungsvoll, in die Vorhalle, ob dort nicht vielleicht doch noch eine wütend schnatternde Schar von Händlern hereinbrechen würde, mit amtlichen Dokumenten fuchtelnd, sich wechselseitig mit Flüchen überschüttend. Aber die Basilika blieb weiterhin still.

„Eine leere Stadt“, sagte er, ebenso zu sich selber wie zu dem Hauptmann der Garde. „Die jungen Männer sind fort. Die alten Leute sterben. Taniane wandert herum, als wäre sie das Gespenst ihrer selber. Keine Präsidialsitzungen. Hresh ist weg, und keiner weiß, wo er ist. Wahrscheinlich stöbert er hinter irgendwelchen Rätseln in den Sümpfen her. Oder er fliegt mal eben mit seinem Wunderstein zum Nest rauf und schwatzt ein bißchen mit der Königin. Das würde genau zu ihm passen, sowas! Das Haus des Wissens — verlassen, bis auf diese eine junge Frau, die nicht mit in den Krieg gezogen ist. Sogar Nialli Apuilana ist in den Kampf gezogen.“ Bei diesem Gedanken überkam ihn dumpfe Traurigkeit. Er hatte ihre Abreise beobachtet: wie sie stolz und aufgeregt winkend neben Thu-Kimnibol stand, als das Heer aufbrach. Das Mädchen war im Geiste verstört, kein Zweifel! Zuerst erzählt sie aller Welt, was für wundervolle gottheilige Geschöpfe die Hjjks doch sind, dann läßt sie sich auf so eine Affäre ein, mit einem fremden Abgesandten, diesem Kundalimon, nachdem sie jeden in Frage kommenden anständigen Kandidaten aus ihrer eigenen Stadt abgelehnt hat. Und dann bringt sie es fertig, sich der Armee anzuschließen, und zieht los, um die Königin zu bekämpfen! Das ergab doch keinen Sinn! Aber schließlich war noch nie etwas, was Nialli Apuilana getan hatte, logisch gewesen!

Eigentlich ist es ja ganz gut, dachte Husathirn Mueri, daß wir nicht zusammengekommen sind. Die hätte mich vielleicht mit in ihren Wahnsinn hineinziehen können.

Doch es schmerzte immer noch, wenn er an sie dachte. Wahnsinn her oder hin!

Chevkija Aim sagte: „Ich glaube, wir könnten die Basilika jetzt zumachen, Herr. Gestern, als Puit Kjai präsidierte, ist niemand gekommen, und ich glaube auch nicht, daß heute noch wer erscheint. Und du könntest auf diese Weise Boldirinthe noch einen Besuch machen, ehe es zu spät ist.“

„Boldirinthe.“, sagte Husathirn Mueri. „Ja. Ich müßte wohl zu ihr gehen.“ Er raffte sich aus dem Richterthron auf. „Also gut, Chevkija Aim. Das Gericht vertagt sich.“


Der Aufstieg über die Spiralrampe aus der Königlichen Kammer hätte eigentlich anstrengender sein müssen als der Weg hinab; doch zu seiner Verblüffung stellte Hresh in sich eine seltsame Vitalisierung fest, er fühlte sich beinahe springlebendig, stapfte frisch hinter Nest-Denker her und fiel kein Schrittchen zurück, als sie aus diesem tiefen Brunnen der Geheimnisse herauf in die ihm inzwischen vertrauten Regionen des Obernests stiegen.

In Hresh schwang eine merkwürdige Hochgestimmtheit nach seiner Begegnung mit der Königin nach.

Ein bestürzendes grandioses Geschöpf, ja. Dieses riesenhafte bleiche Ding, diese monströse Masse bebenden uralten Fleisches. Hunderte von Jahren alt? Tausende? Hresh konnte nicht einmal eine Vermutung darüber aufstellen. Er bezweifelte allerdings, daß SIE aus der Zeit der Großen Welt überlebt hatte, obwohl — unmöglich war auch das nicht. Alles war hier möglich. Er sah nun — fundierter als je zuvor —, wie anders die Hjjks waren, wie fremd, wie wenig sie in fast allem seinem VOLK ähnlich waren.

Und dennoch, sie sind ‚menschlich‘, dachte er. Menschlich in jenem besonderen, ganz speziellen Sinn, den er vor langer Zeit sich ausgedacht hatte: Sie bewahrten sich ein Bewußtsein für Vergangenheit und Zukunft, sie begriffen das Leben als einen Prozeß, als Entfaltung, Entwicklung, sie waren in der Lage, eine historische Tradition von einer Generation zur nächsten Generation aufzubauen. Die kleinen flinken Garaboons, die in den Wäldern herumkreischten, wußten nichts und lernten nichts hinzu, und sie endeten mit nichts. Und dies traf auch auf alle anderen Tiere unterhalb dieses ‚Hreshischen Menschen‘-Niveaus: für die Gorynthen, die sich in den Schlammsümpfen wälzten; für die zornigen, ewig kreischenden Samarange, die edelsteinäugigen Khut-Fliegen und so fort. Sie hätten ebensogut Steine sein können. Zur Menschhaftigkeit, dachte Hresh, gehört nun einmal die Erkenntnis von Zeit und Jahreszeiten, das Sammeln und Aufbewahren und Weiterreichen von Wissen und vor allem: etwas aufbauen und es erhalten. Und nach dieser Begriffsdefinition war Hreshs VOLK ‚menschlich‘; sogar die Caviandis waren es; und definitionsgemäß also auch die Hjjks. Menschlichkeit, das bedeutete nicht nur die Zugehörigkeit zu jener geheimnisvollen uralten Gattung schwanzloser Bleichlinge. Es war viel umfassender, viel universaler. Und es schloß die Hjjks ein.

Er sprach zu Nest-Denker: „Dies war eines der außergewöhnlichsten Erlebnisse meines Lebens. Ich danke den Göttern, daß ich diesen Tag erleben durfte.“

Es erfolgte keine Antwort.

„Was meinst du, werde ich noch einmal zu einer Audienz zu IHR geladen werden?“ fragte Hresh.

„Du wirst es zur rechten Zeit erfahren, wenn es der Fall ist“, antwortete Nest-Denker. „Und dann wirst du wissen.“

Nest-Denker klang ein wenig verdrießlich, und Hresh überlegte, ob der Hjjk ihm die tiefe Kommunion neidete, die er mit der Königin hatte erreichen können. Aber es war gefährlich, wenn man hjjkischen Äußerungen Gefühlsvaleurs unterstellte, wie sie beim VOLK gängig waren.

Inzwischen hatten sie fast die obere Etage erreicht. Hresh erkannte gewisse Artefakte wieder, die in Wandnischen lagen: einen glatten weißen Stein, der fast wie ein Riesenei aussah; einen geflochtenen Stern wie jener von Nialli, doch viel größer; einen kleinen roten Edelstein, in dem ein helles tiefes Feuer brannte. Sie waren ihm beim Beginn des Abstieges aufgefallen. Heilige Hjjk-Talismane? Vielleicht. Oder vielleicht auch bloße Dekorationsstücke.

Seit dem Eintreffen im Nest hatte Hresh in einer nüchternen Zelle an einem der äußeren Korridore gehaust — vielleicht einer Art von Isolations- oder Quarantäne-Trakt für frisch zugereiste Fremde. Es war eine runde Kammer mit einer niederen flachen Decke, auf dem hartgestampften Erdboden eine Schütte von getrockneten Binsen, die ihm als Lager diente; aber alles in allem für seine Anspruchslosigkeit bequem genug. Er freute sich jetzt auf sein Gemach. Zeit haben, um sich zu erholen und zu überdenken, was ihm soeben widerfahren war. Vielleicht würde man ihm später irgend etwas zu essen bringen, das Trockenobst und die Riegel in der Sonne gedörrten Fleisches, die hier die einzige Kost zu sein schienen, an die er sich jedoch ohne Schwierigkeit gewöhnt hatte.

Nun waren sie an der Spitze der Spiralrampe angelangt, an der Stelle, wo es zum Oberstock ging. Hier wandte Nest-Denker sich nicht nach links, wo Hreshs Zelle lag, sondern genau entgegengesetzt. Hresh zögerte. Er überlegte, ob ihm sein Orientierungssinn wieder einmal einen Streich spiele, wie schon so oft während seines Aufenthalts hier. Aber diesmal war er ganz sicher: Seine Zelle lag links. Aber NestDenker, der mittlerweile ein Dutzend Schritt vor ihm war, fuhr herum, schaute zurück und winkte ihm ungeduldig zu.

„Du wirst mir folgen.“

„Ich möchte gern in meine Schlafkammer. Ich glaube, die ist in der Richtung.“

„Du wirst mir folgen“, wiederholte Nest-Denker langsam.

Im Nest kam Ungehorsam einfach nicht in Frage. Hresh wußte, wenn er darauf bestand, in seine Zelle zurückzukehren, würde Nest-Denker nicht so sehr ärgerlich, sondern mit Nichtbegreifen reagieren, und Hresh würde schließlich in jedem Falle doch dorthin gehen, wohin NestDenker ihn führen wollte. Also folgte er ihm. Der Gang stieg leicht an. Nach einiger Zeit erblickte er das eindeutige Schimmern von Tageslicht vor ihnen. Sie strebten auf eine der oberirdischen Öffnungen des Nestes zu. Fünf oder sechs Soldaten erwarteten sie bereits. Nest-Denker überantwortete Hresh an diese und ging ohne ein Wort davon.

Zu den Kämpferinnen sagte Hresh: „Ich wäre euch sehr dankbar, wenn ihr mich jetzt zu meiner Schlafzelle bringen würdet. Ich habe eigentlich nicht gewollt, daß Nest-Denker mich hierher führen sollte.“

Die Hjjks starrten ihn ausdruckslos an, als hätte er überhaupt nicht gesprochen.

„Komm!“ sagte eine Soldatin und deutete auf das Tageslicht.

Dort stand sein Reisewagen bereit und sein Xlendi, das ausgeruht und gutgefüttert wirkte. Die Schlußfolgerung war völlig klar. Er war vor die Königin gebracht worden, und SIE hatte mit ihm gesprochen, und damit hatte sich seine Nützlichkeit für die Zwecke der Königin erledigt. Und nichts anderes zählte an diesem Ort. Seine Zeit im Nest war vorüber, und nun sollte er ausgewiesen werden.

Schock und Bestürzung ließen ihn schaudern. Er wollte doch gar nicht fort. Er hatte hier ohne Mühe und glücklich gelebt, sich dem Rhythmus des Nestes angepaßt, so fremd der auch für ihn war. Er hatte hier sein Heim gefunden. Seine Heimat? Und er hatte einfach angenommen, er werde seine Tage in der stillen, süßen Wärme dieses Ortes beenden dürfen, hier bleibende Wohnstatt finden, bis dann der Zerstörer kommen und ihn zur endgültigen Ruhe führen würde (was höchstwahrscheinlich bald geschehen würde). Die Draußenwelt bot ihm mittlerweile wenig Verlockendes mehr. Er wünschte sich eigentlich nur noch, daß es ihm gestattet sein möchte, in der ihm vielleicht noch verbleibenden Zeit, so viel oder wenig es sein mochte, möglichst immer tiefer in das geheimnisvolle Leben der Hjjks eindringen zu dürfen.

„Bitte!“ sagte Hresh. „Ich möchte hierbleiben.“

Er hätte genausogut zu steinernen Statuen sprechen können. Die Hjjkposten standen reglos auf ihre Speere gestützt da und starrten ihn unbeeindruckt an. Sie wirkten auch kaum irgendwie lebendig, wären da nicht die krausen Wellenbewegungen ihrer orangefarbigen Atemschläuche gewesen, die seitlich an ihren Köpfen hervorragten, deren Segmentspulen im Atemstrom pulsierten.

Das Xlendi gab einen leisen wiehernden Begrüßungs-laut von sich. Es hatte seine Befehle erhalten und drängte jetzt vorwärts.

„Aber versteht ihr denn nicht“, erklärte Hresh den Hjjks. „Ich will nicht von hier fortgehen.“

Schweigen.

„Ich beantrage Asyl und Schutz bei euch.“

Schweigen — eisig — undurchdringlich.

„Im Namen der Königin bitte ich euch.“

Dies löste immerhin eine Reaktion aus. Die beiden Hresh am nächsten stehenden Hjjks richteten sich steif auf, und ein Blitzen, das möglicherweise Verärgerung ausdrückte, glitt rasch über die großen Facettenaugen. Sie hoben die Speere und streckten sie waagerecht vor sich aus, als wollten sie Hresh mit ihnen hinaustreiben.

Eine tonlose Stimme sprach: „Die Königin hat den Wunsch, daß du nun deine Pilgerfahrt fortsetzest. Also — im Namen der Königin, geh!

Hau endlich ab!“

Hresh begriff, jeder weitere Appellationsversuch war zum Scheitern verurteilt. Die Posten starrten ihn unerbittlich eisig an. Die waagerecht ausgerichteten Speere bildeten eine Gasse und sperrten ihn unüberwindlich und endgültig aus dem Nest aus.

„Ja, dann also“, sagte er. „Na schön.“

Er hangelte sich in den Reisewagen. Und das Xlendi zog sofort an und lief fast galoppierend auf die kahle graue Ebene hinaus. Das bestürzte ihn. Das Tier war auf der Fahrt von Dawinno herauf doch so ganz gemächlich gezottelt. Aber wahrscheinlich, vermutete er, lenkt irgendeine Kraft aus dem Nest das Xlendi, ja treibt es sogar voran. Und er hatte auch eine recht gute Vorstellung davon, was für eine Kraft das war. Also setzte er sich gelassen zurecht und ließ den Wagen laufen, und als das Xlendi anhielt, um zu trinken und zu grasen, trank auch er ein Schlückchen Wasser und aß einen Happen von dem Trockenfleisch, das die Hjjks ihm in den Wagen gelegt hatten, und dann wartete er geduldig, daß die Fahrt sich fortsetze. Und so ging es dann weiter, Tag um Tag, und es war eine lange ereignislose Zeit, fast als wäre man in einem traumlosen Schlaf. Zuerst ging es durch eine Zone mit seltsam abgeflachten sandfarbenen Pyramidenhügeln, dann durch ein Gebiet, das gespenstisch von Erosion befallen war und in dem brennend grellrote Felsen zu phantastischen Arkaden und Kolonnaden geformt waren; danach durch einen Landstrich voller groben Riedgrases mit hier und dort verstreut stehenden niederwüchsigen Baumstummeln und verstreuten Gruppen von dunkelgestreiften Weidetieren, wie Hresh sie nie zuvor gesehen hatte. Sie blickten nicht einmal auf, wenn er mit seinem Wagen vorüberzog.

Bis dann eines Mittages Hresh bei der Durchquerung eines wohl noch vor kurzem wasserbedeckten Seengeländes, das aber in dieser Jahreszeit nur mehr eine zerschrundete vertrocknete, von dünnen verwehten Sand- und Staubwächten bedeckte dürre Ödnis war, eine Gestalt auf einem Zinnobären ausmachte, direkt vor ihm auf seinem Weg, jemanden aus dem VOLK. Und das war nun wahrhaftig an diesem unvertrauten Ort ein überraschender Anblick.

Das Xlendi blieb stehen und wartete, bis die riesige rote Kreatur herangewatschelt war. Der Mann, der sie ritt, riß verblüfft Maul und Augen auf.

„Götter! Bist das wahrhaftig du, Herr? Oder träume ich? Es muß ein Traum sein. Bestimmt.“

Hresh lächelte. Er setzte zum Sprechen an. Er hatte seine Stimme so lange nicht mehr gebraucht, daß sie rauh und brüchig klang und nichts weiter war als ein heiseres Krächzen. — „Ich kannte dich einmal, glaube ich“, war alles, was er hervorbrachte.

Der Reiter sprang ab und kam auf ihn zugelaufen. Er lugte über den Wagenkorb, starrte Hresh an und schüttelte verwundert den Kopf.

„Plor Killivash, Herr. Im Haus des Wissens! Du erkennst mich nicht wieder? Ich war einer deiner Mitarbeiter, weißt du nicht mehr? Plor Killivash!“

„Ja, dann sind wir also in — Dawinno?“

„Dawinno, Herr? Nein! Wir sind tief in hjjkischem Gebiet Ich bin beim Heer, in der Armee deines Bruders, Thu-Kimnibol! Wir stehen schon seit Wochen im Kampf. Wir haben in Vengiboneeza gekämpft und in einigen von den kleineren Nestern.“ Plor Killivashs Augen weiteten sich immer mehr. „Herr, wie bist du hierhergekommen? Du kannst doch nicht diese ganze weite Strecke allein geschafft haben? Und warum bist du gekommen? Du solltest dich wirklich nicht im Kampfgebiet aufhalten, Herr, weißt du? Herr? Hörst du mich? Fehlt dir was? Herr?“


Thu-Kimnibol war in seinem Zelt. Das Heer lagerte am Rande eines flachen Terrains, das sie ‚Minbains Ebene‘ benannt hatten. Er hatte alle charakteristischen Punkte dieser unvertrauten Gegenden mit Namen belegt: Harruels Berg, Tanianen-See, Torlyri-Fluß, Boldirinthe-Tal, Koshmar-Paß. Soweit er wußte, taufte Salaman seinerseits auf seinem Vormarsch eben dieselben Plätze auf ihm genehme Namen. Aber das kümmerte Thu-Kimnibol nicht. Für ihn waren die gewaltigen gezackten Felsberge, an denen sie vor dei Wochen vorbeigezogen waren, seines Vaters Berge, und dieses tafelflache lieblichheitere Land war eben seiner Mutter geweiht. Und sollte Salaman sich doch so viele Namen ausdenken, wie es ihm gefiel.

Zu Nialli Apuilana sagte er: „Da! Da ist es wieder. Ich spüre, daß der König näher rückt. An der Spitze seiner Armee. Und sie kommen hierher.“

„Ja. Ich spüre es auch. Oder doch jedenfalls irgend etwas Starkes und Wildes.“

„Salaman! Da gibt es gar keinen Zweifel.“

Sie legte ihm die Hand auf den mächtigen Unterarm, an dem er erst vor wenigen Tagen von einem Hjjk-Speer leicht verletzt worden war. „Du sprichst seinen Namen aus, als wäre er der Feind, nicht die Hjjks. Fürchtest du ihn denn, Geliebter?“

Thu-Kimnibol lachte. „Salaman? Ich? Fürchten? Also, ich denke wirklich kaum je an die Person von irgendeinem, vor dem ich mich in acht nehmen muß. Aber nur ein völliger Narr würde nicht vor Salaman auf der Hut sein, Nialli. Er hat sich zu einem Ungeheuer entwickelt. Ich hab dir ja gesagt, ich bin überzeugt, daß er verrückt ist. Aber jetzt ist er völlig wahnsinnig geworden. Jedenfalls glaube ich das.“

„Ein — Ungeheuer“, wiederholte Nialli. „Ja, aber im Kampf müssen doch alle Krieger Ungeheuer sein, oder?“

„Aber nicht so. Ich habe ihn beobachtet, als unsere Heere zuletzt vereint kämpften. Er kämpfte nicht nur so verbissen und wild, als wollte er jeden Hjjk, der ihm in den Weg lief, niedermachen und töten, sondern als wollte er ihn auch noch am Bratspieß rösten und fressen. Seine Augen loderten geradezu von feuriger Wut. Vor langen Jahren habe ich meinen Vater Harruel im Kampf erlebt, und der war gewiß ein schwergestörter Mann, und in ihm kochte zuweilen ganz schön heftig die Wut; aber in seinen allerübelsten Momenten noch, scheint mir, war er an jenem Tag gelassen und beinahe heiter, wenn ich ihn mit Salamans Gehabe vergleiche.“ Thu-Kimnibols Sensor meldete sich zitternd. „So. Gerade jetzt habe ich ihn erneut gespürt. Er rückt näher. Na ja, vielleicht ist es wirklich am besten, wenn die Heeresgruppen wieder zusammenstoßen. Es war ja nie mein ursprünglicher Plan, getrennt zur Besetzung des Hjjk-Gebietes vorzurücken.“

„Möchtest du einen Becher Wein?“ fragte Nialli.

„Ja. Ja, was für eine gute Idee.“

Die Dämmerung sank herab. Aller Wahrscheinlichkeit nach mußte Salaman mit seinen Heerscharen morgen gegen den Mittag heranrücken, da die Emanationen schon dermaßen stark waren. Der Zusammenschluß der beiden Streitmächte nach Wochen der getrennten Operationen würde wahrscheinlich nicht ohne Spannungen verlaufen. Und allein die Götter mochten wissen, zu was für einer gigantischen Höhe von Irrsinn sich der König inzwischen verstiegen hatte. Denn für Salaman (so schien es jedenfalls Thu-Kimnibol) war der gesamte Feldzug bisher eine Reise in immer tiefere Gefilde des Wahnsinns geworden.

Angefangen haben die ganzen Schwierigkeiten, dachte Thu-Kimnibol, bei der Ausarbeitung des Angriffsplanes auf Vengiboneeza. Der erste Bruch kam, als Salaman vor Wut fast geplatzt wäre, als er ihm erklärte, er könne ihm keinerlei Großweltwaffen aushändigen. Seitdem herrschte zwischen ihnen eine unverkennbare Kühle. Beide hielten sie die Fiktion aufrecht, daß Salaman Oberkommandierender der Streitkräfte und Thu-Kimnibol der Feldmarschall war, aber seit die Kampfhandlungen wirklich begonnen hatten, hatte es zwischen den beiden nicht gerade übermäßig große Herzlichkeit oder wirkliche Kooperation gegeben.

Trotzdem, bisher war alles recht gut gelaufen. Eigentlich besser, als sie hätten erhoffen dürfen.

Die Schlacht von Vengiboneeza war ein überwältigender Triumph geworden. Dort hatten die Hjjks nämlich ein obererdiges Nest errichtet, ein wackeliges absurdes Konstrukt von brüchigen grauen Röhren, die sich hundertfältig in alle Richtungen vom Hafen der alten Stadt bis zu den Vorbergen verzweigten. Salaman drang von Westen her in die Stadt ein, wobei er in der Hafengegend ein fürchterliches Feuerwerk von Explosionen und Flammen entfachte, während Thu-Kimnibols Streitkräfte verstohlen und vorsichtig im Norden und Osten über die Hänge der großen goldenbraunen Bergkette herniederstiegen. Für die Hjjks kam der doppelseitige Angriff völlig überraschend, und sie stürzten an die Hafenmolen, um zu erkunden, was da los sei, und währenddessen setzte Thu-Kimnibol von oben her zum Angriff an.

Und dann kam der Augenblick, in dem die Waffensysteme aus der Großen Welt ins Spiel kamen. Thu-Kimnibol hatte den von ihm ‚Schleife‘ genannten Apparat eingesetzt und die Vorberge entlang eine undurchdringliche Barriere errichtet, um seine Stellungen gegen einen Hjjk-Angriff abzuschirmen. Dann durchkämmte er mit der ‚Feuerschnur‘ die Stadt mit Flammen, bis die Brände über die höchsten Dachfirste hinausloderten und die aus Zellstoffpulpe gezogenen Wände des Hjjk-Nests Vengiboneeza sich schwärzten und auflösten. Mit dem ‚Blasenrohr‘ hatte er so gewaltige Luftturbulenzen erzeugt, daß die uralten Türme der Stadt — diese wundervollen Lanzen aus Scharlachrot und Blau, glitzerndem Purpur, aus schimmerndem Gold und Mitternachtsschwarz — zerbrachen wie morsche Stecken. Und nun setzte er seine stärkste Waffe ein, den ‚Erdfresser‘, und hob in der Infrastruktur der sterbenden Stadt dort unten tiefe Krater aus. Sogar die Boulevards und Avenuen rutschten in Abgründe, ganze Stadtbezirke stürzten in sich zusammen und entschwanden den Blicken, und ein gewaltiges Bahrtuch aus Aschenstaub und Rauch erhob sich und erstickte den Himmel — ganz so, als wären die Todessterne zurückgekehrt.

Selbst der Lange Winter hatte Vengiboneeza in siebenhundert mal tausend Jahren nicht zerstören können. Aber Thu-Kimnibol war dies an einem einzigen kurzen Nachmittag gelungen: Mit der Hilfe von vier kleinen Maschinen, die ein unwissender Bauer bei einem Erdrutsch an einem Berghang gefunden hatte.

Sie waren die Nacht über dageblieben, um den Brand der Stadt zu sehen. Die gesamte, ungeheuer große Bevölkerung mußte dabei gleichfalls zugrunde gegangen sein, denn Thu-Kimnibols Truppen sahen keinen einzigen Hjjk, der ins Bergvorland zu fliehen versucht hätte, und Salamans Krieger an der Seefront machten alle nieder, die sich übers Wasser zu retten versuchten. Die beiden Heeressäulen vereinigten sich jenseits von Vengiboneeza und setzten sich Seite an Seite in Marsch in das wirkliche Kernland der Hjjks. Und da war es, wo Salamans Streitkräfte nach der Zerstörung eines der kleineren Hjjk-Nester hinter Vengiboneeza den Heeresverband verlassen hatten. Den König hatte heiße Mordlust erfaßt, und er bestand darauf, ein paar hundert Hjjks zu verfolgen und abzuschlachten, denen die Flucht gelungen war. Thu-Kimnibol sah ihrer Wiederbegegnung mit nur geringer Freude entgegen. Was für ein Jammer, daß Salaman sich nicht entschließen konnte, auch den Rest der Aufmarschstrecke getrennt zu erledigen!

Er zog Nialli Apuilana dicht an sich, atmete tief ein und füllte seine Lungen mit ihrem Duft. Wenigstens in dieser Nacht würden sie ungestört zu zweit sein können. Und falls Salaman morgen auftauchen sollte, was immer wahrscheinlicher wurde, schön, dann wollte Thu-Kimnibol sich mit dem Problem befassen, wenn es sich ihm stellte.

„Es überrascht mich immer noch“, flüsterte er, „wenn ich aufwache und dann dich wirklich neben mir sehe. Nach so langer Zeit schau ich dich an und sage ganz verwundert zu mir selber: Das ist ja Nialli, da neben mir! Wie seltsam!“

„Weil du natürlich da immer noch Naarinta erwartest, gib es zu!“ sagte sie neckend.

„Götter! Wie unbarmherzig du sein kannst! Du weißt doch genau, was ich meine, Nialli. Natürlich werde ich immer mit Achtung und Freude an Naarinta denken. Ganz gewiß. Aber sie ist schon lange von mir gegangen. Aber ich will dir doch nur sagen, daß ich immer noch und immer wieder darüber staunen muß, daß mir in dir eine solche Liebe geschenkt wurde. Von dir, dem Kind meines leiblichen Halbbruders. Von diesem sonderbaren wilden Mädchen, das keiner in Dawinno zähmen konnte.“

„Und du hast mich jetzt gezähmt, Thu-Kimnibol?“

„Das wohl kaum! Aber ich sehe dich auch nicht mehr als ein Kind an, keines Mannes Kind! Oder als sonderbar. Oder als ungebärdig.“

„Ach. Und wie siehst du mich denn dann jetzt?“ fragte sie und lächelte dabei.

„Nun — als meine höchst.“

„Herr!? Mein Herr und Prinz!“ Eine vertraute dunkle Stimme vor dem Zelt. Thu-Kimnibol zerbiß einen Fluch zwischen den Zähnen.

„Bist du das, Dumanka? Bei allen Göttern, ich hoffe, es ist wirklich was Wichtiges, daß du es wagst, mich hier in meinem Zelt zu stören, wenn.“

„Herr! Es ist es! Es ist wichtig!“

„Ich laß ihm die Haut abziehen, wenn es nicht stimmt“, sagte er leise zu Nialli. „Das schwör ich dir!“

„Sprich mit ihm. Dumanka gehört nicht zu den Leuten, die dich grundlos stören würden.“

„Ja, das denk ich auch.“ Thu-Kimnibol setzte den Weinbecher beiseite und stapfte leise ächzend, denn seine Muskeln waren von der soeben geschlagenen nächtlichen Schlacht noch ein wenig strapaziert, an den Zelteingang und spähte hinaus.

Dumanka wirkte dermaßen durcheinander, als hätte er gesehen, wie die Sonne ihren Lauf am Firmament veränderte. Thu-Kimnibol hatte den Mann noch nie in solcher Aufregung erlebt.

„Mein Herr und Prinz.“

„Himmel! Mann! Reiß dich doch zusammen! Was gibt’s?“

„Es ist Hresh, Herr. Hresh-der-Chronist!“

„Ja, ich weiß durchaus, wer Hresh ist. Und was ist mit ihm? Gibt es eine Botschaft von ihm?“

Dumanka schüttelte den Kopf. Dann krächzte er: „Er ist da. Ich meine, hier!“

„Hier?“

„Ja, Plor Killivash hat ihn grad reingebracht. Hat ihn gefunden, Herr, wie er in einem Xlendi-Wagen in unsrer Sicherungszone herumirrte. Die Patrouille hat ihn sofort ins Lazarettzelt gebracht, Herr. Er scheint sonst ganz in Ordnung, bloß ein bißchen wirr im Kopf. Aber er hat dauernd nach dir verlangt, also hab ich mir gedacht.“

Thu-Kimnibol war benommen. Er winkte dem Mann zu, er solle schweigen. Er wandte sich zu Nialli um. „Hast du das gehört?“

„Nein. Was ist? Ärger?“

„So könnte man es wohl nennen. Nialli, dein Vater ist hergekommen. Mein sternsüchtiger Bruder! Dumanka sagt, er ist einfach so aus dem offenen Niemandsland hereingewackelt. Mueri-Yissou-und-Dawinno! Was, verdammt noch mal, hat er hier zu suchen? Mitten in der Frontlinie, ausgerechnet. Das hat uns gerade noch gefehlt! Oh, ihr Götter!“


Hresh sprach ganz leise und ruhig: „Bruder, komm doch mit mir zu der Königin und laß mich dir beweisen, was sie ist.“

Das war eine Stunde, nachdem man ihn aufgefangen hatte. Und Hresh war einigen Überraschungen ausgesetzt, die ihn wie Bomben trafen: Thu-Kimnibol und Nialli hausten in ein und demselben Zelt, als wären sie Partner. Vengiboneeza — zerstört. die Hjjks in allen Frontabschnitten zurückgeworfen. Doch so müde und ausgelaugt er von seiner Reise auch sein mochte, so bestürzt und unglücklich angesichts der Entwicklungen, Hresh bewahrte sich seine Geistespräsenz und wich nicht von seinem Ziel.

„Was? Zur Königin?“ fragte Thu-Kimnibol und sah recht verdutzt aus. Dann ließ er ein rasches Lächeln übers Gesicht gleiten und setzte dann eine Maske herablassenden Wohlwollens auf. „Du und ich? Wir zwei? Du meinst — zur Königin-der-Königinnen?“

„Ja.“

„Und wir reden mit der? Wir bringen sie nicht um, sondern wir halten einfach nur so ein nettes Schwätzchen mit ihr?“

„Ja.“

„Und wie kommen wir dort hin? In deinem Wägelchen?“

„Ich hab das hier“, sagte Hresh und hob auf der flachen Hand das Beutelchen von seiner Brust, in dem sich der Barak Dayir befand.

Mit verblüfftem Schnaufen: „Du hast den Wunderstein einfach so mitgenommen?“

„Lieber Bruder, der Barak Dayir ist mein Eigentum und Besitz. Ebenso wie die Waffen mein Besitz waren, mit denen du Vengiboneeza vernichtet hast.“

Thu-Kimnibol unternahm keinen Versuch, diese Behauptungen abzuschmettern. „Also, damit wir uns klar verstehen: Du schlägst also vor, daß wir dem NEST einen Besuch abstatten, aber nicht wirklich leibhaftig in unseren Körpern, sondern indem wir diesen deinen Wunderstein benutzen, der uns dort hinbefördert — in unseren Seelen?“

„So ist es.“

„Und warum, lieber Bruder, willst du, daß ich mich in die Gewalt meines Feindes begeben soll?“

„Damit du anfangen kannst zu begreifen, von welcher Art dein Feind ist. Nicht nur die Großmächtigkeit der Königin, die du meiner Ansicht nach unterschätzt, sondern auch ihre Verletzlichkeit. Und die, glaube ich, erkennst du überhaupt nicht.“

„Ihre Großmächtigkeit, ihre Verletzbarkeit.“ Thu-Kimnibol runzelte die Stirn. „Also, von ihrer Großmächtigkeit habe ich eigentlich bisher schon zuviel gehört. Aber Verletzlichkeit. Was meinst du eigentlich damit?“

„Wenn du es herausfinden willst, dann komm mit mir.“

Hreshs heitere Ruhe wirkte wie eine undurchdringbare Rüstung. Thu-Kimnibol warf Nialli einen fast hilfesuchenden Blick zu.

Hresh betrachtete sich nun die vernarbenden Wunden unter dem dichten ziegelroten Pelz seines Bruders; es waren ihrer mindestens ein halbes Dutzend. Er fragte sich, was für monströse Heldentaten er in den Kämpfen vollbracht hatte, wie viele Hunderte von Hjjks er schon in den Tod geschickt hatte.

Nialli sagte: „Was für ein Risiko besteht bei der Sache, Vater?“

„Nur das eine, daß wir Ihrem Zauber erliegen, und der ist stark, wie du ja weißt. Aber ich denke, damit werden wir fertig werden. Ich weiß, daß wir es können. Ich bin ihrer Macht schon einmal entronnen.“

„Willst du damit sagen, du hast die Reise ins Nest bereits selbst schon gemacht?“ fragte Thu-Kimnibol.

„Ja, zu einem der kleineren. Ich habe dort wochenlang gelebt. Und mit der Hilfe des Barak Dayir ging ich ins Nest-der-Nester. Die Großkönigin besitzt ebenfalls einen Wunderstein. Er gehörte einstmals den Bengs. Er befindet sich in ihrem Körper. Wir sprachen miteinander, von einem Zauberstein zum andren. Und danach schickten mich die Hjjks meines Wirtsnestes weiter auf meine Reise. Und lenkten mein Xlendi, glaube ich, bis mich einer deiner Männer aufspürte.“

„Dann ist das Ganze eine Falle“, sagte Thu-Kimnibol.

„Das Ganze ist Teil eines Dawinno-Plans“, entgegnete Hresh.

Thu-Kimnibol schwieg. Hresh betrachtete ihn geduldig. Er fühlte, daß er nun über eine unendliche Menge von Geduld verfügte. Noch nie hatte er eine derartige Seelenruhe gekannt. Nichts konnte ihn mehr von seinem Pfad abbringen.

Natürlich hatte er an allen möglichen Anzeichen sogleich bemerkt, daß seine Tochter und sein Bruder in diesem Zelt intim zusammenlebten. Das hatte ihn aus der Fassung gebracht, doch nur den Bruchteil eines Augenblicks lang. Thu-Kimnibol und Nialli Apuilana besaßen beide Größe. Und daß sie schließlich in dieser Zeit der Unruhe zueinander gefunden hatten, erschien ihm als angemessen. Ja, es war sogar unvermeidlich. Seinen Segen sollten sie haben.

Auch als er von der Zerstörung von Vengiboneeza erfuhr, traf ihn dies als ein Schock, allerdings von anderer Art. Vengiboneeza war von früher Zeit an eine Stadt voller Erhabenheit und Wunder gewesen. Es schmerzte tief, daß diese Schatzkammer antiker Wunderwerke, in der er seine Jugend verbracht hatte, nun durch diesen Krieg gründlicher zerstört worden war, als es selbst der Lange Winter vermocht hatte.

Dann aber schob er seine Bekümmerung beiseite. Nichts war ewig — außer der Ewigkeit selber: Die Vernichtung Vengiboneezas zu beklagen, das hieß Dawinno zu leugnen. Die Götter geben, und die Götter nehmen. Die fließende Veränderung ist das einzig Konstante. Der Verwandler fegt alles zu seiner Zeit davon und setzt Neues an seine Stelle. Und Hresh wußte, es hatte auf dieser Erde gewaltigere Städte gegeben als Vengiboneeza, von denen kein Steinchen übrig geblieben war, nicht einmal ihr Name.

Thu-Kimnibol starrte ihn fest an. Nach langem Schweigen sagte er: „Ich glaube, du bedarfst der Ruhe, Bruder.“

Hresh lachte. „Willst du mir damit zu verstehen geben, daß ich senil bin oder nur ganz schlicht verrückt?“

„Nur daß du von — Yissou mag wissen was für — fürchterlichen Strapazen erschöpft bist. Und daß es so ziemlich für uns zwei im Augenblick der allerletzte Irrsinn wäre, uns der Königin in die Klauen zu stürzen.“

„Ich war bereits in ihren Klauen, wie du sagst, und hier bin ich und will dir darüber berichten. Ich kann mich auch ein zweitesmal von ihr befreien. Ehe dieser Krieg sich noch mehr ausweitet, Bruder, mußt du ein paar Dinge erfahren.“ „Dann berichte mir davon.“

„Nein, Bruder. Du mußt es selbst sehen.“

Wieder blickte Thu-Kimnibol starr vor sich hin. Wieder Schweigen. Es ging nicht weiter.

Schließlich fragte Hresh: „Vertraust du mir, Bruder?“

„Das weißt du doch.“

„Glaubst du, ich würde dich zu etwas verführen wollen, was dir schadet?“

„Du könntest es. Ohne Absicht natürlich. Hresh-voller-Fragen bist du immer geblieben. Du steckst deine Nase überall hinein. Du warst immer furchtlos, mein Bruder. Zu furchtlos vielleicht.“

„Und du? Bist du etwa Thu-Kimnibol-der-Hasenfuß?“

Thu-Kimnibol grinste. „Ach, du denkst wohl, du kannst mich zu diesem Aberwitz verlocken, indem du meinen Stolz am Schwanz kitzelst, Hresh? Gesteh mir eine Spur von Intelligenz zu, Bruder.“

„Das tue ich ja. Und mehr als eine Spur. Ich bitte dich noch einmal, geh mit mir zur Königin. Wenn du die Welt zu beherrschen gedenkst — und ich weiß, das tust du —, dann mußt du die Natur des einen Wesens begreifen lernen, das dir den Weg dazu versperrt. Komm mit mir, Bruder!“

Und Hresh streckte die Hand aus. Seine Stimme war fest. Sein Blick fest.

Thu-Kimnibol verlagerte unruhig sein Körpergewicht von einem Bein aufs andere. Mit verdüsterter Stirn stand er gedankenverloren da und zupfte an der Pelzkrause an seinem Wangenbein. Sein Gesicht war von Zweifeln umdüstert. Dann wandelte sich sein Ausdruck. Er schien weich zu werden — Thu-Kimnibol und Weichwerden! — unter Hreshs nicht nachlassendem psychischen Druck. Mit gedrückter Stimme fragte er: „Was hältst du davon, Nialli? Soll ich es machen?“

„Ich glaube, du solltest es machen.“ Ohne Zögern.

Thu-Kimnibol nickte. Es war, als tauchte er unter einer Wolke hervor. Und zu Hresh sprach er: „Wie geht das also?“

„Wir werden tvinnern, und dann trägt uns der Barak Dayir ins Nest-der-Nester.“

„Tvinnern? Du und ich, wir beide? Hresh, sowas haben wir doch nie gemacht!“

„Nein, Bruder, nie.“

Thu-Kimnibol lächelte. „Es ist schon ein wenig seltsam, die Vorstellung, daß ich mit meinem leiblichen Bruder tvinnern soll. Aber wenn es sein muß, dann machen wir es, was, Hresh? Also sei es denn!“ Und zu Nialli sagte er: „Wenn ich aus irgendwelchen Gründen nicht zurückkehren sollte.“

„Sprich sowas nicht einmal aus, Thu-Kimnibol!“ „Hresh gibt mir keinerlei Garantien. Und man muß derartige Eventualitäten bedenken. Falls ich also nicht zurückkomme, Liebste — wenn meine Seele nicht nach einiger Zeit in meinen Leib zurückfindet, sagen wir innerhalb von zwei vollen Tagen, dann mache dich auf und begib dich zu Salaman und berichte ihm, was geschah. Ist das abgemacht? Und überantworte ihm unsere Streitmacht als alleinigem Oberbefehlshaber. Und gib ihm auch die vier Waffensysteme aus der Großwelt.“

„Salaman? Aber der ist doch ein Irrer!“

„Trotzdem aber ein sehr großer Krieger. Und außer mir der einzige, der uns in diesem Feldzug führen könnte. Wirst du dies getreulich tun?“

„Wenn ich muß“, sagte Nialli leise.

„Gut.“ Thu-Kimnibol holte tief Luft und streckte Hresh sein SensorOrgan entgegen. „Schön, Bruder, ich bin bereit, wenn du es auch bist. Gehen wir und statten der Königin einen Besuch ab.“


Überall breitet sich Dunkel, eine gewaltige dichtschwarze See von solcher Finsternis, daß selbst die Idee von Helligkeit ausgeschlossen erscheint. Dann, plötzlich, erblüht über dem Horizont ein wildes Glühen wie von einer explodierenden Sonne. Die Schwärze zerbirst zu unendlich vielen feurigscharfen hellen Lichtpunkten, und Thu-Kimnibol fühlt, wie diese Myriaden Flammenpartikel an ihm vorüberschießen wie heiße Luftströme.

In der vor ihm liegenden glühenden Rätselhaftigkeit kann er nun Struktur und Gestalt erkennen. Er erblickt ein Etwas, das ihm wie eine unermeßliche schimmernde Maschine erscheint, ein Ding aus wirbelnden Stangen und kreisenden Kolben, die sich fehlerlos unermüdlich, ohne je langsamer zu werden oder das Laufmuster zu ändern, bewegen. Davon aus sticht ein scharfes reinweißes Licht wie ein Krummschwert durch den Himmel.

Das ist das Nest, denkt Thu-Kimnibol. Das Nest-der-Nester.

Und eine Stimme, die dröhnt wie zusammenprallende Welten, spricht aus dem Zentrum dieser unvorstellbaren, nie ermüdenden Mechanik: „Warum kommst du so bald schon zu mir zurück?“

Das muß die Königin sein.

Die Königin-der-Königinnen, die Superkönigin.

Er verspürt keine Furcht — nur Ehrfurcht und vielleicht, so glaubt er, so etwas wie Demut. Hreshs intime Nähe verleiht ihm bis zu einem gewissen Grade eine Selbstsicherheit, die er in sich selbst nicht mehr finden kann. Noch nie war er in seinem ganzen Leben seinem Bruder so nahe gewesen: Es fällt ihm schwer, zu bestimmen, wo seine eigene seelische Bewußtheit endet und die von Hresh beginnt.

Sie steigen nieder oder fallen oder stürzen. Ob dies auf Befehl der großen Kreatur in der Helligkeit vor ihnen geschieht, oder ob Hresh ihre Reise noch unter Kontrolle hat, das kann Thu-Kimnibol unmöglich entscheiden. Doch als sie näher an das Nest herankommen, sieht er es deutlicher und begreift, daß es überhaupt keine Maschine ist, sondern vielmehr etwas, das aus zerkauter Zellstoffpulpe und Erde besteht, und was ihm als eine schimmernde Mechanik von perfekt koordinierten stoßenden Gestängen und pumpenden Kolben erschien, ist nichts weiter als sein persönliches Wahrnehmungsbild von der bestürzenden Geschlossenheit des hjjkischen Imperiums als solchem, in dem nicht einmal der kleinste neue Schlüpfling freien Willen, Freizügigkeit und Freiheit kennt, sondern alles nach vorbestimmtem Muster so dicht verwoben ist, daß kein Platz ist für das Unvollkommene.

Und im Zentrum dieser Struktur liegt ein Geschöpf, wie er es sich nie hätte vorstellen können: Das riesige bewegungslose Ding ist eine Welt in sich. Dank der Hilfe des Wundersteines, den sein Bruder mit dem Sensor-Organ umschlungen hält, irgendwo tausend Meilen weit entfernt, wo sie ihre bewußtlosen Leiber zurückgelassen haben, vermag Thu-Kimnibol die riesigen Ausmaße des Fleischbehältnisses erkennen, in dem der Geist der Königin haust, und verfolgen, wie die Lebenssäfte langsam durch den gigantischen uralten Leib sickern, wie die unbegreiflichen Leibesorgane schwerfällig arbeiten.

Das — Ding hat eine halbe Ewigkeit auf sein Kommen gewartet, fühlt Thu-Kimnibol. Und er hat sein ganzes Leben in einem Traum verbracht und nur auf diesen Augenblick der endlichen Begegnung gewartet.

„Ihr seid zwei“, erklärt die Königin in demselben überwältigenden Tongedröhne. „Wer ist dein zweites Selbst?“

Hresh gibt keine Antwort. Thu-Kimnibol schickt zu seinem Bruder eine Sonde hinüber, um ihn zu irgendeiner Antwort zu stupsen. Doch Hresh scheint verstummt zu sein, wirkt benommen, als habe die anstrengende Reise ihn der letzten Kraftreserven beraubt.

Also liegt alles bei ihm. Er sagt: „Ich bin Thu-Kimnibol, Sohn des Harruel und der Minbar, von meiner Mutter Seite Bruder Hreshs, des Chronisten, den du ja bereits kennst.“

„Ah, das ist es. Ihr habt einen gemeinsamen Ei-Produzenten, aber verschiedene Lebens-Entfacher.“ Dann folgt eine lange Pause. „Und du bist derjenige, der uns vernichten und ausrotten will. Wie kommt es, daß du solchen Haß wider uns empfindest?“

„Die Götter lenken meine Hand“, erwidert Thu-Kimnibol schlicht.

„Die Götter?“

„Sie, die unser Leben formen und unser Schicksal bestimmen. Sie sagen mir, ich muß die Meinen anführen im Kampf gegen jene, die sich uns hindernd entgegenstellen auf dem Weg zu dem Ziel, das wir erreichen müssen.“

Es ertönt ein gewaltiges schepperndes Gelächter, schwillt an und breitet sich aus wie die Hochwasser eines mächtigen Stromes, so daß Thu-Kimnibol alle seine Kräfte anspannen muß, um von diesem erschreckenden Ausbruch von Spott nicht davongerissen zu werden.

Was er gerade gesagt hat, hallt in seinen Ohren immer und immer wieder nach, wird verstärkt und verzerrt von dem dröhnenden Lachen der Königin, so daß seine Worte klägliche, erbärmlich komische gestammelte Fetzen werden — Schicksal... Führen... Erreichen müssen... Und seine pompöse völkische Absichtserklärung klingt für ihn nunmehr wie das sinnlose Gequassel eines Kindes. Zornig müht er sich, noch einen Fetzen seiner verlorenen Würde zu erhaschen, um seine Blöße zu bedecken.

„So verhöhnst du also die Götter?“ ruft er laut.

Und wieder bricht das gewaltige Gelächter flutend über ihn herein. „Die Götter, sagst du? Die Götter?“

„Ja, wahrlich, die Götter. Die mich heute hierhergeführt haben und die meinem Arm Kraft verleihen werden, bis auch die letzte Kreatur eurer Art aus der Welt geschafft ist.“

Thu-Kimnibol fühlt nun auf einmal die Nähe von Hresh, schwach und undeutlich gegen ihn flatternd wie ein Vogel gegen ein verklebtes Fenster. Als wollte er ihn vor dem Kurs warnen, den er da bezogen hat. Aber er achtet nicht auf die Erregtheit seines Bruders.

„Sag mir nur dies, Königin: Glaubst du überhaupt an die Existenz der Götter? Oder ist deine Anmaßung so immens, daß du sie leugnest?“

„Eure Götter?“ sagt sie. „Ja. Nein.“

„Was soll das heißen?“

„Eure Götter sind symbolhafter Ausdruck für die großen wirksamen Kräfte: Tröstung, Schutz, Nahrung, Heilung, Tod.“

„Ach? Du hast also immerhin soviel verstanden?“

„Aber gewiß.“

„Aber du glaubst nicht an diese Götter?“

„Wir glauben an Tröstung, Schutz, Nahrung, Heilung und Tod. Aber das sind keine Götter.“

„Ihr verehrt und betet also zu keinem Gott, zu nichts?“

„Nicht auf die Art wie ihr Glauben und Verehrung versteht“, antwortet die Königin.

„Nicht einmal euren Erschaffer?“

„Wir sind von den Menschlichen erschaffen worden“, sagt sie ganz beiläufig. „Aber verdienen sie deshalb, daß wir sie verehren und anbeten? Ich denke, das denn doch nicht.“

Und wieder tost das Gelächter der Königin über ihn hinweg. „Sprechen wir nicht von den Göttern. Sprechen wir von dem Unrecht und Schaden, die ihr uns zufügt. Wie könnt ihr, wie kannst du einen derartigen Krieg gegen uns anzetteln, wenn du nicht einmal eine genaue Vorstellung davon hast, was wir sind? Dein anderes Selbst hat unser Nest bereits kennengelernt. Nun bist du an der Reihe. Bereite dich also darauf vor, UNS zu erkennen.“

Aber da bleibt keine Zeit zur Vorbereitung, und er hat auch keine Ahnung, wie so etwas gemacht wird, oder welchem Zweck es dienen soll. Aber noch ehe die Stimme der Königin ganz verhallt ist, bricht die Erkenntnis des Nests in seiner Totalität wie ein Wildbach über Thu-Kimnibols Seele herein.

Er sieht es alles: Die gewaltige schimmernde Maschine, die makellose Weltkonstruktion im Weltkonstrukt. Soldaten und Arbeiter, Ei-Produzenten und Lebens-Zünder, Nest-Denker und Versorger-Ammen und die Leibdienerschaft der Königin und alles andere. Und alle sind sie miteinander unentrinnbar verknüpft im Dienste an der Königin, und das bedeutet: in der Zwangsarbeit für die Totalität. Er begreift, auf welche Weise die Erschaffung von Nest-Überfluß und Nest-Stärke der Hochpäppelung des Ei-Planes dient, durch den die Königin-Liebe letzten Endes im gesamten Kosmos verbreitet werden soll. Und er sieht die kleineren Nester, hier und da verstreut, über den ganzen Planeten verteilt, jedes mit allen anderen verbunden und an das Große ZentralNest durch die gewaltige Kraft der Nest-Wahrheit gebunden, die von dem ungeheuerlichen Ding ausgeht, welches die ‚Königin-der-Königinnen‘ ist.

Wie kläglich nichtig wirken seine Streitkräfte angesichts dieses einen geschlossenen kolossalen und selbstsicheren Kampfverbundes: des HJJK! Wie schäbig und zersplittert und durcheinander, von kleinlichen Eitelkeiten und Ruhmsucht gelähmt! Es besteht keine Hoffnung, mit dem Material in dieser Auseinandersetzung zu obsiegen. Das begreift Thu-Kimnibol. Der hjjkische Ei-Plan steht in Konfrontationskonflikt mit dem Streben des VOLKES, und der Ei-Plan muß einfach kraft purer Willensanspannung und dank der überwältigenden Zahl am Ende triumphieren. Thu-Kimnibol mochte die eine oder andere kleinere Schlacht gewinnen, er mochte der einen oder andren Hjjk-Truppe einen schweren Schlag versetzen, aber die allem zugrundeliegende Stärke der hjjkischen Einheit wird weiterbestehen, stets wird die Macht aus dem Nest immer neue Heerscharen hinausschleudern, bis am Ende diese frechen Aufsteiger aus dem Kokon unweigerlich scheitern müssen.

Unweigerlich — scheitern — müssen!

Oder vielleicht bereits gescheitert sind. Tiefste Verzweiflung drückt ihn nieder. Aus seinen Gliedern scheint alle Kraft zu weichen, und er begreift, daß diese seine Stärke nur Illusion gewesen ist, daß er sich stets für einen Riesen gehalten hat, wo er doch in Wahrheit nichts weiter war als ein Floh, der es wagt, einen unsterblichen Monarchen zu necken und zu piesacken.

Er schwebt auf den Koloß hinunter, dem Leib der Königin zu, als wäre er nichts als ein Aschestäubchen in der Luft. Gleich wird er auf ihrem Riesenleib landen und von IHR verschluckt werden. Und als er sich Hresh hilfesuchend zuwendet, kommt ihm vor, als sei sein Bruder noch weiter weg von ihm als zuvor, irgendwie nur ein kleines Fleckchen in weiter Ferne, längst schon rettungslos und ohne die Möglichkeit zur Flucht in der zwingenden Zauberkraft der Königin gefangen, ganz unrettbar bereits in den Morast der Fleischmassen versinkend.

Und er wird das nächste Opfer sein. Beide sind sie Todgeweihte.

Die Königin ist wie eine große kosmische Kraft, etwas tödlich Elementares, das die Macht besitzt, sein Leben mit einem einzigen verächtlichen Aufzucken ihres Willens zu beenden.

Gedenkt sie ihn zu töten? Er weiß es nicht. Er fragt sich, ob sie ihn vielleicht einfach nur verschlingen, ihn auffressen will? Er überdenkt ihre massive Riesenhaftigkeit und welche Kraft höchstwahrscheinlich der in ihren tiefinneren gigantischen Fleischesmassen verborgene Barak Dayir besitzt, und er kommt zu dem Schluß, daß sie vielleicht nicht die Absicht hat, ihn zu töten, daß er aber — sollte sie es versuchen — ihr mit Hreshs Hilfe, mit dem er vertvinnert daliegt, und mit der des Wundersteins, den Hresh besitzt, einen solchen Flammenstoß wütender Ablehnung entgegenschleudern wird, daß sie sich in unvorstellbaren Qualen winden wird.

Wahrscheinlicher ist es allerdings, so seine Schlußfolgerung, will sie mich wohl absorbieren und neutralisieren und aus sich ausscheiden, umgeformt zu einem ihrer Sklaven. Und auch das wird er nicht mitmachen.

Ihre Stärke ist nicht abzuschätzen. Und doch — und doch.

Auf einmal glaubt er, daß er erkennt, wo ihre Grenzen liegen. Man könnte sie, wenn schon nicht ganz besiegen, so doch zu einem Patt bringen.

Das hjjkische Reich in seiner Perfektionistik summt und schwirrt und glimmert um ihn herum, und die Kraft der Königin fesselt ihn, aber dennoch und trotz der bedrückenden Wucht, die von dieser Macht ausgeht, weiß Thu-Kimnibol auf einmal, was Hresh gemeint hatte, als er sagte, daß er versuchen müsse, die Verletzlichkeit der Hjjks zu begreifen.

Ihr Perfektionismus — genau das ist ihr Schwachpunkt. In der Grandiosität ihrer autonom-abgeriegelten Zivilisation, die sie aufgebaut und so viele hunderttausend Jahre lang bewahrt haben, liegt der Keim für ihren eigenen Untergang. Hresh hat das bereits begriffen; und nun hilft Hresh — wo immer er gerade sein mag — ihm, seinem Bruder, es ebenfalls zu erkennen. Die Hjjks sind eine höchst meisterliche Schöpfungsleistung der Götter, denkt Thu-Kimnibol; aber sie können sich einfach nicht zu der Erkenntnis herablassen, zu begreifen, daß der unendliche und unablässige Wandel, daß Veränderung ein wesentlicher Bestandteil Göttlichen Waltens ist. Die Zeit hat allem, was jemals lebte, Verwandlung aufgezwungen; sie wird es auch bei den Hjjks tun. Oder die Hjjks werden zugrundegehen.

Sie sind zu festgefahren, zu starr, zu stur. Also können sie zerbrochen werden. Wenn sie sich dem von den Göttern Gesetzten nicht beugen wollen, argumentiert Thu-Kimnibol bei sich selbst, dann wird ihnen letztlich unweigerlich das Geschick aller jener zuteil werden, die zu Geschmeidigkeit und Anpassung nicht fähig oder nicht willens sind. Irgendwann kommt die Zeit, da sie einer Kraft begegnen, der sie nicht standhalten können; und dann, dann zerbröseln und zerbrechen sie in einem Nu. Ja.

„Komm, mein Bruder!“ ruft Thu-Kimnibol. „Wir haben uns hier lang genug aufgehalten. Und ich habe erfahren, was du dir für mich gewünscht hast.“

„Thu-Kimnibol?“ Hresh klingt ganz undeutlich. „Bist du das? Wo bist du denn, mein Bruder?“

„Hier bin ich! Hier. Nimm meine Hand.“

„Ich gehöre jetzt der Königin, Bruder.“

„Nein! Das nicht! Niemals! Sie kann dich nicht festhalten. Komm, ich helfe dir, da!“

Weitschallendes Gelächter scheppert von allen Seiten auf ihn ein. Sie glaubt, sie hat sie beide eingefangen. Doch Thu-Kimnibol läßt sich nicht entmutigen. Die anfängliche Ehrfurcht, die er vor der Königin empfand, hat ihn in eine für sie günstige Position manövriert; doch die Ehrerbietung ist inzwischen vergangen, Verärgerung und Verachtung haben sie abgelöst, und sie hat kein anderes Mittel, ihn zu halten.

Gut, er begreift, daß er an ihrem Maßstab gemessen nicht mehr ist als ein Floh. Aber Flöhe besitzen den Vorteil, daß sie ihren Geschäften nachgehen können, ohne daß sie dabei Wesen von größerer Bedeutung auffielen. Das ist das große Plus der Flöhe, denkt er. Die Königin kann uns nicht festhalten, wenn sie uns nicht finden kann. Und sie ist sich ihrer Allmacht dermaßen gewiß, daß sie sich bestimmt auch nicht besonders heftig bemühen wird.

Also entgleitet er ihr. Und Hresh nimmt er mit.

Der Aufstieg aus ihrer Kammer ist wie das Erklettern eines Berges, der halbwegs bis zum Dach des Himmels reicht. Aber jede Reise — und sei sie noch so bedeutend — wird Schritt um Schritt und nach und nach getan. Thu-Kimnibol schleppt sich hinauf und weiter hinauf, und dabei trägt er Hresh in seinen Armen mit sich. Die Königin versucht anscheinend nicht, ihn zurückzuhalten. Wahrscheinlich glaubt sie, er werde ganz von selber ihr wieder zufallen.

Aufwärts und hinan. Hinter ihm steigen Ströme von Licht ihnen nach, werden aber verschwommen, je höher er weitersteigt. Und dann liegt vor ihm wieder die Schwärze. Tief und intensiv.

„Bruder?“ sagt Thu-Kimnibol fragend. „Bruder, jetzt sind wir frei und in Sicherheit.“

Er blinzelte. Dann öffnete er die Augen. Nialli stand über ihn gebeugt und stieß jetzt einen schnurrenden leisen Freudenseufzer aus.

„Endlich bist du zurück!“

Er nickte. Er blickte zu Hresh hinüber. Der hatte die Augen ebenfalls schlitzhaft geöffnet, aber er wirkte noch arg benommen, ja wie betäubt. Thu-Kimnibol streckte den Arm hinüber und berührte den seines Bruders. Hresh schien sehr unterkühlt; sein Arm zuckte ein wenig, als Thu-Kimnibols Finger darüberstrichen.

„Kommt er wieder in Ordnung?“ fragte Nialli.

„Er ist sehr erschöpft. Ich übrigens auch. Wie lange waren wir weg, Nialli?“

„Knapp anderthalb Tage.“ Sie starrte ihn an, als wäre mit ihm eine grandiose Metamorphose geschehen. „Ich hab schon fast gedacht, daß du. daß.“

„Anderthalb Tage“, sagte er nachdenklich. „Mir kam es vor wie Jahre. Was war inzwischen hier los?“

„Nichts. Nicht mal Salaman ist erschienen. Er ist ohne anzuhalten einfach an unserm Lager vorbeimarschiert und zieht jetzt ohne uns weiter nach Norden.“

„Ja, der ist wirklich verrückt. Na schön, soll er seinen Weg gehen.“

„Und du?“ Nialli starrte ihn noch immer an. „Wie war es denn? Hast du das Nest gesehen? Kontakt zu der Königin aufnehmen können?“

Er machte die Augen kurz wieder zu. „Ich hab nicht die Hälfte von alldem kapiert gehabt. Wie ehrfurchtgebietend sie ist. wie gewaltig das Nest. wie höchst raffiniert das Leben dort.“

„Ich habe es euch allen damals zu sagen versucht, an dem Tag im Präsidium. Aber keiner hat mir zuhören wollen. Nicht mal du.“

„Ganz besonders ich nicht, Nialli.“ Er lächelte. „Diese Wesen sind ein beängstigender Feind. Sie kommen mir so sehr viel klüger vor, als wir es sind. Und sehr viel mächtiger. In jeder Hinsicht überlegene Geschöpfe. Irgendwie hab ich das Gefühl, daß ich mich vielleicht fast vor ihnen verneigen müßte.“

„Ja.“

„Also, jedenfalls vor ihrer Königin.“ Ein Beiklang von Mutlosigkeit hatte sich in seine Stimme geschlichen. Seine triumphale Flucht kam ihm jetzt vor, als wäre es in einer fernen Vergangenheit passiert. „Sie ist beinahe sowas wie eine Gottheit. Dieses uralte riesenhafte Geschöpf, das überallhin verzweigt ist und alles bestimmt. Sich ihr zu widersetzen, das ist fast irgendwie — ja, irgendwie blasphemisch und gotteslästerlich.“

„Ja“, sagte Nialli. „Ich weiß, was du meinst.“

Müde schüttelte er den Kopf. „Trotzdem müssen wir Widerstand leisten. Es gibt keine Möglichkeit zu einer gütlichen Einigung mit ihnen. Wenn wir sie nicht weiter bekämpfen, werden sie uns zermalmen. Sie werden uns verschlucken. Aber wenn wir den Krieg fortsetzen und falls wir ihn gewinnen, verstoßen wir dann nicht gegen den Willen der Götter? Immerhin haben die Götter sie durch den Langen Winter geleitet und beschützt. Und vielleicht haben die Götter ihnen bestimmt, das Erbe der Welt anzutreten.“ Er blickte sie verwirrt an. „Ich rede Widersprüchliches. Ergibt irgendwas davon einen Sinn?“

„Die Götter haben aber auch uns über den Langen Winter hinweggerettet, Thu-Kimnibol. Vielleicht erkennen sie jetzt, daß die Hjjks ein Irrtum waren, ein fehlgeschlagenes Experiment. Also wurden wir auf den Plan geschickt, um sie zu besiegen und ihre Stelle einzunehmen.“

Überrascht sah er sie an. „Glaubst du das wirklich? Könnte das möglich sein?“

„Du hast sie als erhabene, überlegene Geschöpfe bezeichnet. Aber du hast doch selbst gesehen, wie beschränkt sie in Wirklichkeit sind, wie inflexibel, wie geisteseng. Das hast du doch? Nicht wahr? Das nämlich wollte Hresh dir demonstrieren: Daß die Hjjks nicht wirklich etwas schaffen wollen, ja daß sie dazu nicht einmal fähig sind. Sie wollen nur eins, sich vermehren und neue Nester bauen. Aber nichts anderes steckt dahinter, kein Ziel. Sie bemühen sich nicht, hinzuzulernen. Sie versuchen nicht, geistig zu wachsen.“ Sie lachte. „Nun stell dir das mal vor. Da hab ich die Kühnheit besessen und mich vor dem ganzen Präsidium aufgebaut und euch erklärt, wir müßten über die Hjjks denken, als wären sie menschlich. Aber das sind sie eben nicht. Ich habe mich geirrt, und ihr alle hattet recht, sogar Husathirn Mueri. Sie sind nichts weiter als Ungeziefer. Gräßliche übergroße Wanzen. Alles, was ich über sie glaubte, hatten sie mir selber in den Kopf gestopft.“

„Du darfst sie nicht unterschätzen, Nialli“, sagte Thu-Kimnibol. „Vielleicht übertreibst du jetzt zu stark in der anderen Richtung.“ Hresh gab einen leisen Seufzer von sich. Thu-Kimnibol wandte sich um und betrachtete ihn. Doch Hresh schien zu schlafen, und sein Atem ging sanft und ruhig. Er sprach weiter zu Nialli. „Es gibt da noch etwas, das die Königin zu mir sagte, und das erscheint mir noch eigenartiger und fremder als alles andere. Hat man dich in deiner Zeit bei ihnen jemals gelehrt, daß die Hjjks glauben, sie seien eine Schöpfung der Menschlichen?“

Und nun starrte sie ihrerseits ihn bestürzt an. „Nein. Nein, niemals!“

„Was meinst du, könnte es wahr sein?“

„Warum nicht? Die Menschen waren doch beinahe gottähnlich. Vielleicht waren sie sogar die Götter.“

„Aber dann sind die Hjjks ihr auserwähltes Volk.“

„Nein“, unterbrach sie ihn. „Die Hjjks waren ein auserwähltes Volk. Auserkoren, zu überleben und den Langen Winter zu überdauern und danach die Welt in Besitz zu nehmen. Doch irgendwie haben sie es nicht recht geschafft. Also haben die Götter uns geschaffen. Oder die Menschlichen. Das ist mir egal. Als Ersatz für sie.“ Ihre Augen glühten in einem Feuer, wie er es selten vorher je gesehen hatte. „Und eines Tages werden die Menschlichen zur Erde zurückkehren“, fuhr sie fort. „Dessen bin ich mir ganz sicher. Sie werden sich vergewissern wollen, was sich seit ihrem Abschied hier getan hat. Und sie werden bestimmt nicht gern sehen, daß der ganze Planet hier ein einziges gigantisches Nest geworden ist, Thu-Kimnibol. Sie haben uns zu einem bestimmten Zweck in diese Kokons gesteckt, und sie werden wissen wollen, ob wir diesem Zweck gerecht wurden. Und deshalb müssen wir weiterkämpfen, begreifst du nicht? Wir müssen unser Erbrecht gegen die Königin verteidigen und uns behaupten. Nenne sie Götter oder von mir aus die Menschen, was immer sie sein mögen, sie haben uns gemacht. Und sie erwarten das von uns.“


„Genau die Art von Gegend, wie dieses Wanzenvolk sie liebt“, brummte Salaman. „Ein totes Land, in dem überall das Gerippe durchschaut.“ Der König brachte sein Xlendi zum Stehen und blickte sich nach seinen drei Söhnen um. Athimin und Biterulve ritten an seiner Seite, Chham war ein Stückchen zurückgefallen.

„Glaubst du, da draußen liegt ein Nest, Vater?“ fragte Chham.

„Da bin ich aber sicher. Ich fühle seinen Druck auf meiner Seele lasten. Hier spüre ich’s. Und da. Und da.“ Er berührte seine Brust, sein Sensor-Organ und seine Lenden.

Das Land vor ihnen wirkte dürr und ausgelaugt. Der Erdboden war fahl und sandig, darüber spannte sich ein Himmel so blau und so scharf wie ein Peitschenknall. Einziges Anzeichen von Leben war die bösartig aussehende niedere hölzerne Wölbung eines Gewächses, das einem verwitterten Schädel ziemlich ähnlich sah, und von dem zwei dicke graue riemenhafte Blätter, vom Wind zerfetzt und zerschlissen, sich enorm weit über den Wüstenboden erstreckten. Diese Pflanzen wuchsen in großem Abstand voneinander, und jede herrschte über ihren kleinen Bereich wie ein verdrießlicher bewegungsunfähiger Kaiser. Sonst gab es hier nichts.

Athimin fragte: „Soll ich Befehl zum Lagern geben, Vater?“

Salaman nickte. Er starrte in die Ferne. Ein kalter salziger Wind fuhr ihm ins Gesicht, ein Wind, der Unheil verkündete. „Und schickt Späher aus. Und zu ihrem Schutz dicht hinter ihnen Patrouillen. Es sind Hjjks da draußen, massenhaft. Ich kann sie riechen.“

Eine seltsame Unruhe wuchs immer stärker in ihm herauf. Er wußte nicht, warum.

Bis zu diesem Augenblick war er zuversichtlich, ja sicher gewesen, daß sein Heer — und zwar allein! — fähig sein werde, die ganze Strecke zum Großnest zu marschieren und es zu zerstören. Sicher, bisher waren sie auf keinerlei wirkliche Abwehr gestoßen. Die Hjjks besaßen den Vorteil der zahlenmäßigen Überlegenheit, und sie waren starke unermüdliche Kämpfer. Doch sie schienen keine rechte Ahnung davon zu haben, wie man kämpft. So war es auch vierzig Jahre früher schon gewesen, erinnerte er sich, als sie versuchten, die neugegründete Stadt Yissous zu erstürmen.

Sie kamen stets nur in gewaltigen Horden hereingebrochen, kreischend und die Speere und Schwerter wirbelnd. Die meisten mit zwei Waffen gleichzeitig, manche sogar mit noch mehr. Es war ein Anblick, der einem das Blut verkehrt herum durch die Adern rinnen lassen konnte, wenn man sich von ihrer Wut und ihrem scheußlichen Aussehen beeindrucken ließ.

Doch wenn man standhielt, ein fester Keil von Kriegern Seite an Seite und Hieb um Hieb und Stoß um Stoß erwiderte, etwa dann konnte man sie überwältigen. Entscheidend, daß man die Schlacht nicht zu ihnen brachte, sondern sie herankommen ließ. Denn bei all ihrem wilden Herumgehopse waren sie im Kampf ineffizient, weil sie in zu großer und zu dichtgepackter Zahl angriffen. Man brauchte nur seine eigenen stärksten und furchtlosesten Kämpfer in einer Phalanx an die Spitze zu stellen und sie auf jeden zu nahe kommenden Hjjk lossäbeln zu lassen. Man mußte versuchen, ihre Atemschläuche durchzuhauen, diese orangefarbigen lose vom Kopf bis zur Brustseite baumelnden Lungen, dort waren sie am leichtesten verwundbar. Wenn man einen dieser Schläuche aufschlitzte, ging der Hjjk augenblicks von Luftmangel gelähmt zu Boden.

Und so war Salamans Heer weiter und weiter ins Land gezogen, von dem rauchenden Trümmerhaufen fort, der einmal Vengiboneeza gewesen war, in das immer kargere, immer versengtere Nordland, und wo sie unterwegs auf Hjjks trafen, da rotteten sie sie aus. Bisher hatte es vier größere Schlachten gegeben, und alle hatten in Niederlagen für den Feind geendet. Er fühlte im Herzen noch immer den wollüstigen Kitzel, wenn er an diese Siege dachte — die Hjjks bis zum letzten Krieger ins Verderben gehetzt, die abgehackten klauenbesetzten Gliedmaßen über das Schlachtfeld verstreut, die dürren gewichtlosen Leiber zu Haufen gestapelt. Jedem Heer, das die Königin ihm entgegensandte, war ein gleiches Schicksal widerfahren.

Nun jedoch rückte die Invasionsarmee dem ersten der kleineren wirklichen Nester näher, die sich an der Grenze des eigentlichen Hjjk-Gebietes aneinanderreihten.

Salamans Plan war es, diese Nester mitsamt ihren Königinnen nach und nach zu vernichten, während er weiter nordwärts zog, so daß in seinem Rücken keine feindlichen Streitkräfte mehr übrig wären, wenn er das andere Ende der Großen Leere erreicht hatte und zum Angriff auf das Haupt-Nest ansetzte. Er hatte noch keine sehr klare Vorstellung davon, wie er sie zerstören würde. Vielleicht, indem er irgendwie flüssiges Feuer in die Eingänge gießen würde. Alles wäre so sehr viel leichter gewesen, hätten ihm eine oder zwei von Thu-Kimnibols handlichen Superwaffen zur Verfügung gestanden. Er war jedoch zuversichtlich, er würde eine Vernichtungsmethode finden, wenn es soweit war. In dieser Hinsicht hatte er sich keine Sekunde lang Sorgen gemacht.

Jetzt aber — wo ihm dieser stinkende Wind entgegenwehte, dieses urplötzliche Beklommenheitsgefühl, diese Ahnungen einer bevorstehenden Katastrophe ihn überkamen.

„Vater!“ rief Biterulve.

Aus dem Nichts tauchte vor ihnen eine Mauer aus Wasser auf, die wie eine gewaltige Meereswoge aus dem Wüstenboden heraufschoß und den halben Himmel verdeckte. Die Xlendis wieherten und bäumten sich in Panik auf. Salaman fluchte und warf vor Verblüffung den Arm über das Gesicht. Hinter sich hörte er die Entsetzensschreie seiner Leute.

Aber er brauchte nur einen Augenblick, um wieder gefaßt zu sein.

„Ein Trick, ich meine ein Trug!“ brüllte er. „Eine Illusion! Wie könnte es Wasser geben in der Wüste!“

Tatsächlich hing diese titanenhaft große Woge über ihnen, schlug aber nicht auf sie herab. Er sah die weiß-gischtende Schaumkrone, die tiefe grüne Undurchdringlichkeit dahinter, die riesige Krümmung der unvorstellbaren stürzenden Wassermassen. Aber das Wasser stürzte nicht herab.

„Eine Täuschung!“ brüllte Salaman erneut. „Die Hjjks greifen an! Stellt die Keilformation auf! Den Keil!“

Chham preschte mit wildem Blick dicht an ihn heran. Salaman scheuchte heftig zu der Hauptmasse des Heeres zurück. „Bring sie in Kampfstellung!“ befahl er. Er sah, daß Athimin bereits nach hinten ritt und wie er gestikulierend und brüllend die Truppe vom Auseinanderstieben abzuhalten sich mühte.

Die Truppe schien zu begreifen, daß der plötzlich aufgetauchte Ozean nicht wirklich da war. Doch nun begann der Erdboden selbst zu schwingen wie eine Decke, von der man Krümel abschüttelt. Mit Entsetzen sah Salaman, wie die Erde ringsum sich wellte und aufbäumte. Ihm wurde schwindlig, und er sprang von seinem Reitxlendi. Ein echtes Beben der Erde? Oder wieder nur ein neuer TrugTrick. Er wußte es nicht.

Aus dem Wasserwall war eine Mauer aus Feuer geworden, die sie von drei Seiten her einschloß. Die Luft zischte und knisterte und sauste. Er spürte die Hitze auf sich eindringen. Blauzüngelnde Flammen zuckten aus der bebenden Erde empor.

Und jetzt rasten grelle Lichtkeile wie verrücktgewordene Speertänzer, die Amok liefen, über den Himmel. Salaman fuhr herum, um nicht von ihnen geblendet zu werden, und sah von Norden her feuerspeiende Drachen heranrücken. Freßgierige Maulkreaturen. Vögel mit Fängen so scharf wie Messerklingen.

„Trickbilder!“ schrie er. „Sie schleudern uns Wundersteinträume entgegen!“

Auch andere erkannten dies dann. Das Heer sammelte sich wieder. Man versuchte verzweifelt, die Schlachtordnung wieder aufzubauen.

Dann aber erblickte er in dem wahnsinnigen Wirbel eine kantige gelbschwarze Gestalt direkt gegenüber, die in einer borstigen Klaue ein Kurzschwert hielt und einen Speer in einer anderen. Unter dem Deckmantel dieser Halluzinationstricks war eine Hjjk-Einheit herangerückt und setzte zum Angriff an.

Der König zerfetzte mit einem blitzschnellen Schwerthieb einen Atemschlauch, und als er sich abwandte, sah er einen weiteren Hjjk von links auf sich zukommen. Er erwischte das Geziefer am ungeschützten Kniegelenk und sandte es zu Boden. Zu seiner Rechten hieb Chham auf zwei weitere Insekten-Krieger ein. Einer ging nieder, der andere taumelte bereits. Salaman fletschte grinsend die Zähne. Na, sollen sie doch ihre Drachen senden! Und ihre Erdbeben und ihre Ozeane! Wenn es zum Kampf Mann gegen Mann kam, dann metzelten seine Leute diese Kakerlaken noch immer glatt erbarmungslos nieder.

Die Trugbilder hielten an. Geysire aus Blut, Fontänen von blitzenden Lichtern, ganze Berge, die aus der Luft niederstürzten, plötzlich nur eine Handbreit weiter vorn sich auftuende Abgründe — ihrem Erfindungsreichtum schienen keine Grenzen gesetzt. Aber solange du dich einfach nicht darum kümmerst, dachte Salaman, und dich auf das Wesentliche konzentrierst, nämlich jeden Hjjk in Stücke zu hauen, der in die Reichweite deiner Waffe kommt.

Und da! Da hast du’s! Da! Schlag zu! Stich zu! Töte!

Die wilde Kampfeslust hatte ihn nun erfaßt wie vielleicht nie zuvor. Er kämpfte sich quer übers Schlachtfeld und achtete nicht der zuckenden Schlangen, die ihm vorm Gesicht schwebten, und nicht auf höhnisch zischende Leuchtgespenster, die zu allen Seiten aus klaffenden Erdspalten schweflig heraufstiegen, nicht auf körperlose Augen, die sein Haupt umschwirrten, und nicht auf in Panikstampede heranbrausende Zinnobären oder herabstürzende Felsen. Seine Krieger hatten sich, von Chham und Athimin geführt, zu einer Schlachtordnung von drei Kampfkeilen formiert und schlugen sich tapfer.

Doch was war das? Biterulve in der vordersten Linie in einer der Phalangen?

Das war gegen seinen ausdrücklichen Befehl. Der Junge hätte niemals auf diese Weise in Gefahr gebracht werden dürfen! Athimin wußte das. Gut, laßt ihn im zweiten Glied kämpfen, aber doch nie in der vordersten Linie! In rasendem Zorn blickte Salaman umher. Wo war Athimin? Er hatte den ausdrücklichen Befehl, seinen Bruder keinen Moment aus den Augen zu lassen.

Ah, dort war er ja. Fünf, sechs Männer weiter unten im Glied, und nicht bei Biterulve. Und er hackte mit Eifer auf den Feind ein.

Salaman rief ihn an und gab ihm Zeichen. „Siehst du ihn nicht? Geh sofort zu ihm rüber! An seine Seite, du Trottel!“

Athimin glotzte dumm, dann nickte er. Biterulve schien sich keine Gedanken wegen seiner persönlichen Unversehrtheit zu machen. Er hieb auf die anstürmenden Hjjks mit einer wilden Wut ein, die der König ihm niemals zugetraut hätte. Athimin machte nun kehrt und kämpfte sich durch das Getümmel auf den Kleinen zu, um ihm Schutz zu bieten. Auch Salaman stürzte voran, in der Absicht, die Hjjks niederzumachen, die Biterulve am nächsten gekommen waren, und um den Jungen in der Kriegerphalanx weiter nach hinten zu drängen.

Es war jedoch zu spät.

Salaman war immer noch zwanzig Schritt entfernt, kämpfte sich durch einen Ring von Phantom-Monstern und trübschwarzem Gewölk, als er — wie durch einen plötzlich aufzuckenden Blitz — vor Biterulve einen Hjjk auftauchen sah, der zweimal so groß war wie Thu-Kimnibol und der seinen Speer dem Jungen durch den Leib rammte, so daß er bluttriefend im Rücken wieder herausfuhr.

Der König stieß ein ungeheuerliches Wutgebrüll aus. Ihm war, als hätte man ihm einen glühenden Eisenstab in die Stirn getrieben. Im Nu war er an der Stelle, wo Biterulve gestürzt war, und schleuderte mit einem raschen Hieb den Schädel des Hjjk über das Schlachtfeld. Und gleich danach war auch Athimin da und sprudelte ihm nutzlose Entschuldigungen und Erklärungen entgegen, und Salaman richtete, ohne zu zögern, seine ganze unbändige Wut gegen ihn und mähte ihn mit der Wucht seines Ausschwungs nieder und zerfetzte ihm die Brust, tief durch das Fell, bis ins Fleisch und die Knochen.

„Vater.?“ gurgelte Athimin in einem Blutschwall, der ihm aus dem Mund quoll, und brach vor seinen Füßen zusammen.

Salaman schaute schreckensstarr hin. Links vor ihm lag Biterulve und rechts Athimin. Sein Verstand weigerte sich, den Anblick für real zu halten. Und in seiner Seele wühlte bohrend die qualvolle Frage:

Was hab ich getan? Was habe ich nur getan?!

Ringsum tobte der Kampf weiter; und der König stand still und stumm da und war in einem Nu und Augenblick von all seinem Wahnsinn und seiner Blutrünstigkeit frei. Es drangen an sein Ohr das Keuchen der verwundeten Krieger und das qualvolle Stöhnen der Sterbenden und das irrwütige Brüllen derer, die noch nicht tot waren und weiterschlachteten, und es war ihm auf einmal alles ganz unbegreiflich, daß er sich hier, an diesem Ort, zu dieser Zeit befinden sollte, und daß zwei seiner Söhne tot zu seinen Füßen lagen, daß überall ringsum Gespenster und Ungeheuer herumtanzten und daß kreischende Insektenkreaturen mit riesigen Augen ihm mit Schwertern vor dem Gesicht herumfuchtelten. Warum? Wozu das alles?

Es war Irrsinn. War nutzlose Vergeudung.

Er stand da wie zu Eis erstarrt. Betäubt und verwirrt. In seinem Schmerz gefangen.

Dann spürte er einen stechenden scharfen Schmerz ganz anderer Art, als eine Hjk-Waffe ihm einen Muskel seines Armes durchstieß. Die Stärke der Schmerzempfindung war verblüffend. Plötzlich sprangen ihm heiße Tränen aus den Augen. Er blinzelte verwirrt. Um seine Seele breitete sich ein schwerer Nebeldunst. Unter der Schockwirkung seiner Verwundung fielen die Jahre wie Schuppen von ihm ab, und er glaubte für einen Moment, daß er wieder der ehrgeizige junge Krieger sei und fast so gescheit wie Hresh, dessen einziges Ziel im Leben es war, eine große Stadt zu erbauen, eine Dynastie, ein Großreich. Aber wenn das so war, wieso hockte er dann gefangen in diesem steifen alten Körper, und wieso tat der ihm so weh, und warum blutete er? Ah, ja. Die Hjjks. Ja, die Hjjks stürmten zum Angriff auf ihre kleine neue Siedlung. Und Harrual war bereits den Heldentod im Kampf gestorben. Es sah alles hoffnungslos aus. Aber es gab keine andere Möglichkeit, als weiterzukämpfen. weiterzukämpfen.

Der Nebeldunst zerteilte sich, sein Kopf war wieder klar. Da lagen sie, Biterulve und Athimin, vor ihm auf der Erde, und er selber war dem Tode nahe. Und auf einmal überkam ihn mit völliger Klarheit, wie dumm, wie nutzlos und wie sinnlos sein Leben dahingegangen war alle die Jahre, die er verschwendet hatte, um einen Wall zu bauen, um einen fernen und ihm unbekannten Feind zu hassen, den er am einfachsten besser völlig ignoriert hätte.

Er wandte sich um und sah, daß die schimmernde gelbschwarze Kreatur ihn ernst betrachtete, ganz so, als hätte sie noch nie einen Mann aus dem VOLK erblickt. Dann hob sie erneut die Waffe.

„Nur los!“ sagte Salaman. „Was spielt es schon für eine Rolle!“

„Vater! Zurück!“

Chham war das. Salaman lachte. Er wies auf seine zwei gefallenen Söhne. „Da, sieh und schau!“ sagte er. „Biterulve kämpfte in der vordersten Linie. Und dann Athimin. Athimin. “

Er spürte, wie er beiseite gestoßen wurde. Vor ihm schnitt ein Schwert durch die Luft. Der hjjkische Gegner fiel zurück. Chhams Gesicht war dann seinem ganz nahe. Aber das war ja das gleiche Gesicht wie sein eigenes, es war, als blickte er in einen Spiegel, der weit in die Zeit, aus der Zeit reflektiert.

„Vater, du bist verwundet.“

„Biterulve. Athimin.“

„Komm, laß mich dir helfen.“

„Biterulve.“


Thu-Kimnibol war erstaunt. „Was? Salaman ist hier bei uns? Und seine Armee?“

„Was noch von ihr übrig ist“, sagte Esperasagiot. „Ein trauriger Anblick, Herr. Es ist wohl am besten, du reitest ihnen entgegen. Es sieht kaum so aus, als würden sie es noch bis zu uns hierher schaffen.“

„Könnte das eine Finte sein?“ fragte Nialli Apuilana. „Haßt er uns vielleicht dermaßen, daß er uns aus dem Lager locken will, um uns dann auch noch anzugreifen?“

Esperasagiot lachte. „Nein, Herrin. In dem Mann ist kein Platz mehr für Haß. Wenn du ihn sehen würdest, du würdest es gleich merken. Das ist ein geschlagener Haufen. Ein Wunder, daß es überhaupt einer lebendig bis zu uns geschafft hat.“

„Wo stehen sie?“ fragte Thu-Kimnibol.

„Eine halbe Stunde im Sattel.“

„Laß mein Xlendi bringen. Du, Dumanka, Kartafirain begleitet mich, und zehn Krieger.“

„Soll ich auch mitkommen?“ fragte Nialli.

Thu-Kimnibol funkelte sie an. „Du bleibst besser bei deinem Vater. Man hat mir berichtet, daß er heute morgen recht geschwächt ist. Einer von uns sollte bei ihm sein, falls es zu Ende geht.“

„Ja“, sagte sie leise und wandte sich ab.

Die kläglichen Überreste der Streitmacht der Stadt Yissous hatten eine Art Lager an einem Flüßchen in ungeschütztem Gelände etwas nördlich von Thu-Kimnibols eigenem Lager bezogen. Esperasagiot hatte keineswegs übertrieben: Es war ein trauriger Anblick. Nur wenige hundert Mann aus der gewaltigen Kriegerhorde, die von Yissou aufgebrochen war, befanden sich da, und jeder einzelne von ihnen schien verwundet zu sein. Sie lagen wie weggeworfene Kleidungsstücke über den Grund verstreut, und dahinter ragten drei zerfledderte schiefe Zelte auf. Als Thu-Kimnibol heranritt, kam ihm humpelnd zur Begrüßung ein Mann mit grimmer Miene entgegen, den er als den Prinzen Chham, Salamans Sohn, erkannte.

„Eine beklagenswerte und betrübliche Wiederbegegnung, Prinz. Es erfüllt mich mit Beschämung, daß ich dir so unter die Augen treten muß.“

Thu-Kimnibol suchte nach Worten und fand nichts Tröstliches. Nach einem peinlichen Schweigen beugte er sich nieder und umarmte Chham stumm und sehr behutsam, aus Furcht, dabei eine Wunde wieder aufplatzen zu lassen.

„Können wir etwas für euch tun?“ fragte er.

„Heilkundige. Arzneien. Nahrung. Aber vor allem brauchen wir Ruhe und Erholung. Wir sind auf dem Rückzug — ich kann dir gar nicht sagen, wie lange schon. Seit einer Woche, seit zweien? Wir haben sie nicht gezählt.“

„Es betrübt mich zu sehen, wie schlimm die Lage sich für euch entwickelt hat.“

Es gelang Chham, seinen alten Mannesstolz kurz aufflackern zu lassen. „Ach, zu Beginn lief alles großartig. Wir haben sie geschlagen und immer wieder geschlagen. Wir haben sie erbarmungslos niedergemacht. Mein Vater kämpfte wie ein Gott. Nichts konnte seinem Ansturm standhalten. Aber dann. “ — er wandte den Blick ab — „. dann haben die Wanzlinge trickreichen Trugzauber wider uns eingesetzt. Wunderstein-Illusionen, zauberische Phantasiegebilde, Traumstoffe. Du wirst es selber sehen, denn sie werden sie auch gegen dich einsetzen, wenn du nächstesmal auf sie stößt.“

„Also kam es zu einer Traumschlacht. Und zu einer großen Niederlage.“

„Ja. Einer sehr schweren Niederlage.“

„Und euer Vater, der König?“

Chham wies mit dem Kinn über die Schulter zu dem größten Zelt hinüber. „Er lebt noch. Aber du würdest ihn nicht wiedererkennen. Mein Bruder Athimin ist tot. Und der kleine Biterulve ebenfalls.“

„Ach! Auch Biterulve.“

„Und mein Vater ist schwer verwundet worden. Aber er ist auch innerlich anders geworden, sehr viel anders. Du wirst es ja sehen. Es war schierstes Glück, daß wir überhaupt davongekommen sind. Es erhob sich ein plötzlicher Sturm. Die Luft war voll von Staub und Sand. Die Hjjks konnten nicht mehr sehen, wo wir waren. Also haben wir uns unbemerkt verzogen. Und da sind wir jetzt, Prinz. Da sind wir, Thu-Kimnibol.“ „Der König? Wo?“

„Komm, ich führe dich zu ihm.“

Der eingeschrumpfte schwächliche Mann, der da im Zelt auf einer Pritsche lag, sah dem Salaman recht wenig gleich, den Thu-Kimnibol gekannt hatte. Das weiße Fell war stumpf und feuchtverklebt. An einigen Stellen war er völlig kahl. Auch die Augen blickten dumpf und glanzlos, diese weitstehenden grauen Augen, die einstmals so bohrend blicken konnten. Der Oberkörper wirkte unter den Bandagen wie eingesunken und sehr zerbrechlich. Salaman schien es nicht wahrzunehmen, daß Thu-Kimnibol ins Zelt getreten war. Ein dürres altes Weib, das er als die Oberste Opferfrau der Yissou-Stadt erkannte, hockte an seinem Lager, und heilige Talismane waren überall ringsum ausgebreitet.

„Wacht er?“ flüsterte Thu-Kimnibol.

„So ist er schon die ganze Zeit.“ Chham trat einen Schritt vor. „Vater? Prinz Thu-Kimnibol ist hier.“

„Thu-Kimnibol?“ Ein schwaches papierenes Flüstern. „Wer?“

„Harruels Sohn“, sagte Thu-Kimnibol ruhig.

„Ah ja, der Kleine vom Harruel. Samnibolon heißt er. Hat er sich einen neuen Namen zugelegt? Wo ist er denn? Sag ihm, er soll näher kommen.“

Thu-Kimnibol blickte auf den Mann da hinab. Es war ihm fast nicht möglich, diesem leergebrannten Blick zu begegnen.

Salaman lächelte. Mit derselben dünnen Stimme fragte er: „Und wie befindet sich dein Vater, Junge? Der gute König und große Krieger Harruel?“

„Mein Vater ist schon lange tot, mein Cousin“, sagte Thu-Kimnibol freundlich.

„Ach? Ach ja, das stimmt ja.“ Ein kurzes Erkennen zuckte in seinen Augen auf. Salaman bemühte sich, sich von seinem Lager aufzurichten. „Sie haben uns besiegt. Hat Chham dir das gesagt? Ich hab zwei Söhne auf dem Schlachtfeld verloren — und Tausende andrer Männer. Sie haben uns glatt in Stücke gehauen. Na, wir haben es ja auch nicht besser verdient, um die Wahrheit zu sagen. Was für eine absolute Idiotie das war, sie zu bekriegen und wie die Trottel in ihr Gebiet einzumarschieren! Es war Wahnsinn, nichts weiter als Wahnsinn. Das erkenne ich nun. Und du vielleicht auch, Samnibolon. Wie? Erkennst du es auch?“

„Seit vielen Jahren nennt man mich Thu-Kimnibol!“

„Aber ja, natürlich. Thu-Kimnibol.“ Salaman brachte ein kleines Lächeln zustande. „Und wirst du den Kampf fortsetzen, Thu-Kimnibol?“

„Bis der Sieg unser ist, ja.“

„Es wird niemals einen Sieg geben. Die Hjjks werden dich zurückwerfen, wie sie es mit mir getan haben. Sie werden dich in Träumen ersäufen.“ Langsam, denn anscheinend bereitete es ihm Mühe, bewegte Salaman den Kopf verneinend her und hin. „Dieser Krieg war ein Fehler. Wir hätten ihr Vertragsangebot annehmen und eine Grenzlinie durch die Welt ziehen sollen. Ich sehe das jetzt ein, aber jetzt ist es zu spät. Zu spät für meinen Biterulve, zu spät für Athimin, zu spät für mich.“ Er stieß ein hohles Lachen aus. „Aber mach du nur, wie es dir beliebt. Für mich ist der Krieg zu Ende. Und ich wünsche mir nun nichts weiter, als daß die Götter mir vergeben mögen.“

„Vergeben? Was?“ Zum erstenmal erhob Thu-Kimnibol die Stimme über das in Krankenstuben übliche Murmeln.

Chham zupfte ihn am Arm, wie um ihm zu erklären, daß der König für derlei Auseinandersetzungen nicht mehr kräftig genug sei. Doch Salaman sprach — und nun ebenfalls mit lauterer Stimme: „Vergebung wofür? Dafür, daß ich meine Krieger in dieses Drecksland geführt habe, damit sie hier niedergemetzelt werden. Dafür, daß ich getreue Akzeptänzer ins Verderben geschickt habe, und das Expeditionskorps, das ihnen folgte, auch. Und das alles bloß, um einen Krieg anzuzetteln, den es niemals hätte geben dürfen! Die Götter wollten nicht, daß wir gegen die Hjjks losschlagen sollten. Denn die Hjjks sind ebenso die Geschöpfe der Götter wie wir. Daran gibt es jetzt für mich keinen Zweifel mehr. Also habe ich mich versündigt, und dafür werde ich mich einer Katharsis unterziehen, und wenn Mueri und Friit mir gnädig sein wollen, werde ich entsühnt sein, bevor ich sterbe. Wahrscheinlich sollte ich auch die Verzeihung der Königin zu erlangen versuchen. Aber wie stelle ich das an?“ Salaman hob die Hand und faßte Thu-Kimnibol mit erstaunlicher Kraft am Handgelenk. „Würdest du mir eine Eskorte stellen, die mich heimgeleitet, Thu-Kimnibol? Ein paar Dutzend von deinen Soldaten? Die uns den Rückmarsch durch dieses elendige Ödland erleichtern, das wir unter solch furchtbaren Verlusten durchquert haben. Sie mögen mich zurückbringen in meine Stadt, damit ich in dem Tempel, den ich ihnen vor langer Zeit erbaute, vor das Angesicht der Götter treten und sie anflehen kann, sie möchten mir Frieden schenken. Mehr verlange ich nicht von dir.“

„Wenn dies dein Wunsch ist, sicher. So soll es sein. Und — würdest du über mich beten, wenn du weiterziehst? Zum Nest? Beten, daß mein Geist Ruhe findet, Thu-Kimnibol? Ich will für deine Seele gleiches erbitten.“

Er schloß die Augen. Chham winkte Thu-Kimnibol aus dem Zelt.

Draußen sagte er: „Er ist außer sich vor Schuldgefühlen über den Tod meiner Brüder. Sein Herz quillt über vor Reue darüber und über alles in seinem Leben, was er jetzt als Sündenschuld ansieht. Ich habe nicht gewußt, daß ein Mensch sich in einem einzigen Nu und Augenblick so sehr verändern könnte.“

„Er soll seine Eskorte in die Heimat haben, das garantiere ich dir.“

Chham lächelte trüb. „Er wird Yissou niemals wiedersehen. Zwei, drei Tage — mehr bleiben ihm nicht, versichert mir die Heilerin. Wir werden ihn im Hjjk-Land zur Ruhe betten müssen. Und was uns andere angeht, den kläglichen Rest.“ Er zuckte die Achseln. „Wir sind bereit, uns für den restlichen Feldzug unter dein Kommando zu stellen. Wenn du uns haben willst, heißt das, so geschlagen und zerlumpt, wie wir es sind. Und wenn du das ablehnst, werden wir halt in unsere Stadt zurückhumpeln und dort darauf warten, von deinem Kriegsglück zu hören.“

„Nein, schließt euch uns an“, sagte Thu-Kimnibol. „Zieht mit uns und kämpft an unsrer Seite, natürlich nur, wenn ihr weitermarschieren könnt. Warum sollten wir euch zurückweisen? Deine und meine Stadt, sind sie nicht auf ewig Verbündete?“


Die Dunkelheit brach früh herein. Nialli Apuilana kniete bei ihrem Vater. Thu-Kimnibol stand taktvoll etwas entfernt, im Schatten, wohin der Schein der Glühkugeln nicht reichte.

„Nimm dieses Amulett von meinem Hals weg“, flüsterte Hresh. „Leg es dir um.“

Nialli Apuilanas Hände ballten sich zu Fäusten. Sie wußte, was in Hreshs Kopf vorging. Er hatte diesen Talisman sein Leben lang am Leib getragen. Nie hatte sie ihn ohne den Beutel gesehen. Und wenn er ihn jetzt ihr übergeben.

Sie warf Thu-Kimnibol einen Blick zu. Er nickte. „Tu es“, sagte er stumm. „Nimm es an.“

Sie löste die Schnur, die das Amulett band, und holte es vorsichtig hervor. Es war klein, nichts weiter als ein Stückchen glatten grünen Glases, so schien es jedenfalls, auf das Zeichen eingeritzt waren, die viel zu winzig waren, als daß sie sie hätte entziffern können. Das Stück sah sehr alt aus und sehr abgenutzt. Sie fühlte eine merkwürdige Kälte davon ausstrahlen, aber als sie es sich dann um den Hals band, verspürte sie ein schwaches Vibrieren und den Anflug von Wärme.

Sie starrte auf das Ding zwischen ihren Brüsten.

„Was kann es bewirken, Vater?“

„Recht wenig, glaube ich. Aber es hat Thaggoran gehört, der mein Vorgänger war als Chronist. Es ist ein Stück aus der Großen Welt, hat er mir gesagt. Und es ist das Abzeichen des Chronisten. Glaube ich jedenfalls. Manchmal holt es Thaggoran zu mir herüber, wenn ich ihn brauche. Nun wirst du es tragen müssen.“

„Aber ich.“ „Du bist von nun an der Chronist“, sagte Hresh.

„Was? Aber, Vater, ich hab doch gar keine Ausbildung! Und der Chronist war noch nie eine Frau.“

Es gelang Hresh, fast so etwas wie ein Lächeln zustande zu bringen. „Das alles ändert sich nun. Alles ist in Verwandlung begriffen. Chupitain Stuld wird mit dir zusammenarbeiten. Und Io Sangrais und Plor Killivash — falls sie diesen Krieg überleben. Die Chroniken müssen in unsrer Familie bleiben.“ Er griff nach ihrer Hand und umklammerte sie fest. Seine Finger fühlten sich winzig an. Er wird wieder zum Kind, dachte Nialli. Dann schlug er die Augen kurz noch einmal auf und sagte: „Ich habe nie erwartet, daß ich eine Tochter haben würde, weißt du. Daß ich überhaupt je ein Kind haben würde.“

„Und ich habe dir soviel Kummer gemacht, Vater!“

„Aber gar nicht, Kind. Nur Freude. Glaub mir das.“ Seine Hand klammerte sich sogar noch heftiger um die ihre. „Ich habe dich immer geliebt, Nialli. Und ich werde dich immer lieben. Du wirst Taniane meinen liebevollen ergebenen Gruß übermitteln, ja? Meiner Gefährtin in all den vielen Jahren. Meinem Partner. Sie wird traurig sein. Sehr. Aber das soll sie nicht, darf sie nicht. Ich werde an der Seite Dawinnos sitzen — und ihn unendlich viel fragen.“ Er schwieg. „Ist mein Bruder da?“

„Ja.“

„Ich dachte es mir. Er soll zu mir kommen.“

Aber Thu-Kimnibol war bereits an Hreshs Lager getreten. Er kniete nieder und streckte die Hand aus, und Hresh berührte sie, ganz sacht, die Fingerspitzen mit seinen Fingerspitzen. „Bruder“, murmelte er. „Ich werde Minbain deine Liebe mitbringen. Aber jetzt mußt du uns alleinlassen. Was jetzt folgen muß, ist nur zwischen Nialli und mir. Sie kann es dir ja hinterher sagen — wenn sie will.“

Thu-Kimnibol nickte. Sanft und liebevoll ließ er seine Hand kurz auf Hreshs Stirn ruhen, als hoffte er, dessen Weisheit und Klugheit würden durch die Berührung auf ihn übergehen. Dann erhob er sich und verließ das Zelt, ohne noch einen Blick zurück zu werfen.

Hresh sagte: „Unter meinem Leibgurt an meiner Lende wirst du einen kleinen Sammetbeutel finden.“

„Vater.“

„Nimm ihn hervor! Öffne ihn!“

Sie ließ den kleinen glattpolierten Stein in ihre Handfläche gleiten und betrachtete ihn erstaunt. Sie hatte ihn nie vorher berührt. Soweit ihr bekannt war, durfte keiner außer Hresh ihn anfassen, und sie hatte ihn auch kaum jemals auch nur sehen dürfen. In gewisser Weise war er dem Amulett ähnlich, das Hresh ihr zuvor gegeben hatte, denn es war ein sehr glattes Stück, und an seiner Kante waren Linienmuster eingegraben, so zart, daß sie das Muster eigentlich gar nicht erkennen konnte. Eine leichte Wärme strahlte von dem Stein aus. Aber das Amulett besaß wenig Masse oder Gewicht. Es wirkte eigentlich eher wie ein nichtsiges, leichtzerbrechliches Ding. Der Barak Dayir war zwar kaum größer, aber Nialli kam es vor, als sei er so schwer wie eine ganze Welt. Es bereitete ihr Unbehagen ihn in der Hand zu halten. Denn die Kraft, die darin gefangen lag, war bestürzend groß.

Hresh flüsterte: „Weißt du, was das ist?“

„Der Barak Dayir, Vater.“

„Ja. Das ist der Barak Dayir. Aber was er ist, das kann nicht einmal ich dir sagen. Der alte Prophet der Beng sagte zu mir, es ist ein Verstärker, was bedeuten würde, er macht Dinge größer, als sie sind. Ich habe dir ja einmal erklärt, daß einst die Menschlichen, die über die Erde herrschten, ihn gemacht haben, noch ehe die Große Welt entstand. Und sie gaben ihn uns, um uns zu schützen, wenn sie nicht mehr hier sein würden. Mehr weiß ich darüber nicht. Und nun mußt du ihn hüten. Und die Kunst, ihn zu benutzen, beherrschen lernen.“

„Doch wie soll ich.?“

„Tvinnre mit mir, Nialli.“

Ihre Augen wurden groß. „Tvinnern — mit dir, Vater?“

„Du mußt es tun. Es kann kein Übel dabei entstehen, nur viel Gutes. Und wenn wir verbunden sind, dann nimm den Barak Dayir und lege ihn auf die Spitze deines Sensor-Organs und fasse und halte ihn fest. Dann wirst du eine Musik hören. Und dann helfe ich dir weiter. Willst du das tun, Nialli?“

„Natürlich will ich.“

„Dann komm nah zu mir.“

Sie schloß ihn in die Arme. Himmel, er wiegt ja fast nichts mehr, dachte sie. Von ihm ist nur noch die Hülle übrig — und der Geist, der darin brennt.

„Deinen Sensor, dicht an meinen.“

„Ja. Ja.“

Es war eine Kommunion, wie Nialli sie nie im Leben zu erfahren geglaubt hätte. Doch kaum hatte ihr Sensor den seinen berührt, verschwanden Furcht und Unsicherheit gänzlich, und sie fühlte mit einer fast unvorstellbaren Freude, wie sein reicher Geist sich einem Wildwasser gleich in den ihren ergoß. Die Freude war so überwältigend, daß sie ganz benommen war, und für einen Augenblick wurde sie ganz davon fortgerissen; dann aber erinnerte sie sich an den Wunderstein, legte behutsam die Spitze ihres Sensors um ihn und faßte mit all ihrer Kraft zu. Und die Welt verwandelte sich zu nebligem Dunst. Eine Säule von Klang erhob sich unter Nialli. Ein mächtiger Akkord überwältigender Liebe schleuderte sie hoch und trug ihre Seele dem Himmel zu.

Aber Hresh war an ihrer Seite, lächelte sie zärtlich und voller Heiterkeit an, hielt sie, stützte sie, leitete sie. Gemeinsam schwebten sie durch das Himmelsgewölbe. Von Westen her strömte ein mächtiges goldenes Glühen, ein helles sinnverwirrendes fließendes Strahlen, das sich dann zu betäubendem Karminrot abkühlte, dann zu üppigem Tiefscharlachrot und schließlich zu seidigem Purpur. Die Dunkelheit begann nach Hresh zu greifen. Doch während sie diesem wartenden Reich zustrebten, machte er seiner Tochter ein Letztes zum Geschenk: seine Luzidität, seine umfassende Liebe, seine Weisheit. In ununterbrochenem Strömen sagte er ihr alles, was sie wissen mußte, bis er ihr alles gesagt hatte.


So also fängt es an, denkt Hresh. Die allerletzte Reise. Die Welt ringsum verdunkelt sich.

Nialli, denkt er. Minbain. Taniane.

Kreisend kommt der Strudel zu ihm herauf, um ihn zu verschlingen. Und er starrt in das Loch hinein.

Ist es das, wohin ich gehe? Wie wird es sein? Werde ich etwas fühlen? Werde ich etwas riechen und schmecken können? Wenn ich doch nur etwas klarer sehen könnte.

Ah, jetzt ist es besser. Aber wie seltsam es hier drin ausschaut. Bist du das, Torlyri? Thaggoran? Wie merkwürdig das alles ist!

Mutter. Nialli. Taniane.

O sieh doch, Taniane! Schau!


Als Nialli aus dem Zelt trat, stieß sie auf Thu-Kimnibol und Chham. Die Männer brachen ihr Gespräch ab und blickten ihr merkwürdig entgegen, als wäre sie in ein nicht-irdisches Geschöpf von solch sonderbarer Art verwandelt worden, wie sie es noch nie erblickt hatten.

„Wie steht’s mit deinem Vater?“ fragte Thu-Kimnibol.

„Er ist jetzt bei Dawinno.“ Ihre Augen waren tränenlos, und sie wirkte seltsam ruhig.

„Ach.“ Ein Schauder durchfuhr Thu-Kimnibols massigen Körper, und er schlug die Zeichen der Himmlischen Fünffaltigkeit, langsam und vorsichtshalber gleich zweimal, und das Zeichen Dawinnos ein drittesmal hinterdrein. „Nie hat es einen Mann wie ihn gegeben“, sagte er nach einiger Zeit mit brüchiger Stimme. „Wir sind zwar aus der selben Mutter, aber ich gestehe es euch, ich habe mich nie wirklich und wahrlich als sein Bruder fühlen können, weil er war, der er war. Sein Geist war beinahe wie der eines Gottes. Was wird nun aus uns werden, jetzt wo er nicht mehr bei uns ist?“

Nialli hielt ihm den Beutel mit dem Barak Dayir entgegen.

„Er gab mir den Wunderstein“, sagte sie. „Außerdem habe ich jetzt auch viel von Hresh in mir. Du hast gehört, wie er anordnete, daß ich der nächste Chronist sein solle? Nun, ich will jetzt Hresh für uns werden, wenn ich es kann. Ich werde heute abend die Worte für ihn sprechen, und wir werden, was von ihm übrigblieb, zur Ruhe betten. Doch er selbst ist bereits in Dawinnos Schoß.“

„Er war schon immer bei Dawinno, Edle“, sagte Chham plötzlich. „Oder jedenfalls wurde von ihm berichtet, daß er vom Tag seiner Geburt an Umgang mit den Göttern hatte. Und gewißlich war es so. Und ich zweifle nicht daran, obwohl ich selbst ihm nie begegnet bin. Was für ein Tag der großen Verluste dies ist!“

Thu-Kimnibol sagte: „König Salaman ist heute gleichfalls von uns gegangen. Prinz Chham — oder ist es schon König Chham? — kommt gerade von ihm.“

„Dann werden wir gemeinsam trauern“, sagte Nialli Apuilana. „Und wenn ich die Worte spreche, dann sollen sie für unser beider Väter gesprochen sein.“

„Wenn du so gütig sein willst, Edle. Es wäre mir ein großer Trost.“

„Wir werden sie Seite an Seite betten an diesem verlassenen Elendsort“, sprach Thu-Kimnibol. „Und es wird kein elender, kein verlassener Ort mehr sein, denn Salaman und Hresh wurden hier begraben. Sie waren die zwei klügsten Männer der ganzen Welt.“


Taniane stützte sich mit der linken Hand auf die Koshmar-Maske, und mit der rechten auf die Lirridons und kämpfte gegen die Betäubung an, die den Nachmittag über in ihrer Seele immer stärker fühlbar geworden war, eine merkwürdige unangenehme Kälte unter dem Brustbein; und sie raffte, so gut es ging, ihre Kraft zusammen und zwang sich, dem zu folgen, was Puit Kjai ihr zu erklären versuchte.

„Ein Aufstand, sagst du? Gegen mich?“

„Gegen uns alle, Edle. Ein Aufruhr, der darauf abzielt, alle hinwegzufegen, die in der Stadt Dawinno über Macht und Ansehen verfügen.“

Sie warf ihm einen skeptischen Blick zu. „Verfügt noch irgendwer bei uns in Dawinno über Macht und Ansehen, Puit Kjai?“

„Aber, Edle! Herrin, was sagst du da?“

Taniane wandte den Blick ab. Die gespensterhaft intensiven roten Augen Puit Kjais waren ihr an diesem Tag einfach zuviel. Es kam ihr so vor, als lebte sie nun schon seit Jahren mit diesem Gefühl der seelischen Erschöpfung, aber heute schien sie fast das Stadium der Paralyse erreicht zu haben.

Sie streichelte die Masken. Früher einmal hatten sie die Wand in ihrem Rücken geschmückt; doch vor einer Weile — kurz nachdem Nialli in den Krieg gezogen und Hresh verschwunden waren — hatte Taniane sie abgenommen und vor sich auf den Arbeitstisch gelegt, wo sie sie leicht sehen und sie berühren konnte, wenn ihr danach war. Sie brachten ihr Trost und, so glaubte sie, verliehen ihr Kraft. In den Tagen des Kokons, hatte Boldirinthe ihr einmal erzählt, hatte es einen gewissen schwarzen Stein gegeben, der in der Zentralkammer in die Wand eingelassen war und der dem Andenken sämtlicher früherer Häuptlinge des Stammes geweiht gewesen war. Koshmar pflegte diesen Stein zu berühren und zu ihren Vorgängerinnen zu beten, wenn sie mit Schwierigkeiten zu kämpfen hatte. Dieser schwarze Stein war im Kokon zurückgeblieben, als der Stamm seinen Auszug machte. Jetzt wünschte sich Taniane, sie hätten ihn mitgenommen. Aber wenigstens hatte sie die Masken.

Nach einigem Zögern sagte sie zu Puit Kjai: „Gut. Also rede weiter. Wer sind die Anführer und Hintermänner dieser aufrührerischen Bewegung?“

„Das kann ich nicht sagen.“

„Aber du bist gewiß, sie planen einen Aufstand?“

Puit Kjai zuckte die Achseln. „Die Slogans kommen aus den Bethäusern, den religiösen Versammlungsorten des niederen Volkes. Ich erfahre dies alles von der Tochter des Neffen eines alten Reitknechts im Stall meines Sohnes. Der Kerl gehört zum Bethaus von Tikharein Tourb.“

„Die Tochter des Neffen eines Stallknechts.“

„Eine fragwürdige Beweiskette, gewiß. Aber was man mir berichtet ist, daß sie vorhaben, Thu-Kimnibol nach seiner Rückkehr aus dem Krieg umzubringen, es sei denn, daß die Hjjks ihnen da zuvorkommen, daß man auch dich zu liquidieren beabsichtigt, und mich und nahezu alle übrigen aus dem Präsidium, außer denen, die sie verschonen wollen, damit sie vor der Stadt als Regierung in ihrem Namen auftreten können. Und dann wollen sie Frieden schließen mit den Hjjks und sie um Verzeihung anflehen.“

„Du sagst das, als hättest du selber niemals für den Frieden mit den Hjjks gesprochen, Puit Kjai.“

„Keinen derartigen Frieden. Nicht, wenn es mit gewalttätigen blutigen Säuberungsaktionen unter den Hochgeborenen verbunden ist. Und, Edle, diese Gerüchte über eine Konspiration sind wahrhaftig keine Hirngespinste. Ich argwöhne, daß diese Leute bereits Hresh beseitigt haben.“

„Nein!“ fuhr Taniane ihn heftig an. „Hresh lebt.“

„Wirklich? Wo ist er dann?“

„Weit fort von hier, glaube ich. Aber ich weiß, er lebt. Zwischen ihm und mir, Puit Kjai, besteht eine Bindung, die über jegliche Entfernung hinwegreicht. Ich spüre ihn dicht an meiner Seite, wie weit entfernt er auch sein mag. Nein, Hresh ist nichts zugestoßen. Dessen bin ich sicher.“

„Möge Nakhaba gnädig gewähren, daß es so ist“, sagte Puit Kjai.

Sie starrten sich gegenseitig eine Weile stumm an. Der mächtige alte Anführer der Beng stand so hochaufgereckt da, daß seine Helmzier fast an die Decke stieß. Ein hagerer, dürrer Mann, aber in seiner Fleischlosigkeit irgendwie besonders majestätisch. Verschwommen erinnerte sie sich an Puit Kjais Vater, den Uralten und Weisen der Behelmten, Noum om Beng, zu dem Hresh gegangen war, um Weisheit zu lernen. Puit Kjai wurde dem Alten immer ähnlicher seit einiger Zeit: die gleiche starre und dabei zerbrechliche Gestalt, und seine Überlänge, die über seine Schmalheit hinwegtäuschte. Der Helm, den er diesmal trug, war schwarz, und knorrige goldene Geweihsprossen wuchsen aus ihm empor.

Schließlich sagte Taniane: „Ich werde mich um diese Gerüchte kümmern. Wenn du noch weitere hörst, komm sofort zu mir.“

„Mein Wort darauf, Edle.“

Er entbot ihr den Segen Nakhabas und ging.

Dann saß sie still da, die Hände noch immer auf ihren Masken.

Zweifellos steckte etwas Wahres hinter der Geschichte, die er ihr da berichtet hatte. In jüngster Zeit grassierte dieser Kundalimon-Glaube immer wilder in der Stadt. Warum sollten die Anführer nicht den Versuch unternehmen, dem Krieg durch einen Staatsstreich ein Ende zu machen? Sie hatten ja keinerlei Opposition hier zu befürchten. Thu-Kimnibol und seine restliche Parteifraktion waren an der Front und kämpften, Hresh war verschwunden, und was an jüngeren Männern noch in der Stadt verblieben war, hatte sich anscheinend samt und sonders dieser Sekte angeschlossen: Sie selbst gab sich nicht einmal mehr den Anschein, als übe sie Autorität aus. Irgendwie, schien ihr, war die Welt an ihr vorbeigerauscht, hatte sie überholt, und die Ereignisse waren über ihr Begriffsvermögen hinausgewachsen, und sie verstand nichts mehr. Es wird wirklich allmählich höchste Zeit, daß ich Platz mache, dachte sie. Genau wie diese Steineschmeißer es ihr verdeutlicht hatten. Noch ehe es zum Krieg kam. Aber wem sollte sie Platz machen? Sollte sie die Stadt diesen Kundalimon-Priestern ausliefern? Ach, wie sehr sie sich wünschte, Thu-Kimnibol käme zurück! Aber der mußte ja weit weg Hjjks umbringen — oder sich vielleicht von ihnen umbringen lassen. Und Nialli war bei ihm!

Taniane ruckte mit dem Kopf her und hin. Sie war es leid, dieses ganze Durcheinander, in dem sie leben mußte. Sie sehnte sich nach Ruhe.

Und diese andere Sache, diese dumpfe Beklemmung, die sie seit heute in der Brust spürte — was war das nur? Als würde sie von innen her ausgehöhlt. Eine Krankheit, ja? Ihr fiel ein, wie damals in Vengiboneeza Koshmar auf einmal so leicht ermüdete, und wie sie Hresh eingestand, daß sie ein Brennen in der Brust verspüre, und fiebrige Schmerzen hatte; und bald darauf war sie tot. Und jetzt kommt also meine Stunde um die Ecke gekrochen, dachte Taniane. Sie überlegte, ob sie Boldirinthe zu einer Heilung aufsuchen solle, und dann fiel ihr ein, daß Boldirinthe ja schon tot war. Einer nach dem ändern starben sie ihr weg. Koshmar. Torlyri. Boldirinthe.

Aber sie spürte ja schließlich nur so eine taube Stelle, kein Brennen, keinen Schmerz. Sie verstand es einfach nicht. Sie konzentrierte sich auf ihr Leibesinneres und suchte nach der Ursache.

Doch in eben diesem Augenblick verschwand das dumpfe Gefühl, dieser immer stärkere Druck, der sie seit Tagesanbruch geplagt hatte. Sie spürte, wie es verschwand, es war das plötzliche verblüffende Fehlen von Unbehagen, als zerreiße eine zu straff geknotete Schnur. Aber dann stellte sich ein noch bedrückenderes Gefühl ein: das eines Mangels, einer trostlosen Leere, schmerzhaft und stechend, ein gräßliches schwarzes Loch. Sie begriff sofort, was es war, und ein Schaudern überkam sie, daß ihr das Fell sträubte. Trostlos begann sie zu weinen. Der Gram brach in immer neuen Wellen über sie herein. Zum erstenmal seit über vierzig Jahren konnte sie Hreshs Gegenwart nicht mehr in ihrem Herzen fühlen. Er war fort. Für immer dahin.


Im Schein des funkelnden pockennarbigen Mondes wirkte das Schlachtfeld eisig-starr und unbewegt wie ein riesenhafter Gletscher, auch dort, wo der Boden von den jüngsten Kämpfen aufgewühlt und kraterübersät war. Thu-Kimnibols Männer krochen vorsichtig über die zerschrundete Erde und holten die Leichen der an diesem Tag Gefallenen zurück. Nialli blickte über sie hinweg zum Horizont, wo sie die Lagerfeuer der Hjjks lodern sehen konnte. Momentan war eine Gefechtspause eingetreten; aber mit dem neuen Morgen würde alles von neuem beginnen.

Thu-Kimnibol lachte rauh. „Ein Krieg der Alpträume und Gespenster! Wir schleudern Flammen und Wirbel gegen sie. Sie beschmeißen uns mit Illusionen. Wir schlagen mit unseren eigenen Gegenillusionen zurück. Feinde, die einander nicht ins Auge blicken können und blind herumtapsen.“

Sie spürte, wie erschöpft er war. Er hatte wildwütend gekämpft an dem Tag und seine Männer auf sämtlichen Sektoren des Schlachtfelds immer neu konzentriert, als eine Phantomwaffe nach der anderen über sie hereinbrach, genau wie Salamar ihn gewarnt hatte. Wiederholt war er seinen Leuten vorangestürmt durch irgendein Streufeuerfeld, irgendeine heranbrausende Horde gemeiner Ungeheuer, durch Fluten und Lawinen, durch einen blutigen Regen und einen Hagelsturm von Eisdolchen. Es war sein Ziel, sich in eine Position zu manövrie ren, aus der heraus er mit seinen Großwelt-Waffensystemen den Hjjks wirklich schwere Verluste zufügen konnte; doch dies hatten sie inzwischen wohl begriffen und umtanzten ihn, versteckten sich hinter Illusionen und setzten seinem Heer mit scharfen schmerzhaften Attacken aus dem Hinterhalt zu. Nialli hatte getan, was ihr möglich war und hatte ihren Wunderstein eingesetzt, um das Blendwerk der hjjkischen Phantasmen zu durchbrechen und sie ihrerseits mit Phantomprojektionen zu verwirren. Aber es war ein harter, schwieriger Kampftag gewesen, und er hatte keine Entscheidung gebracht. Und der morgige Tag versprach nichts Besseres.

„Waren unsere Verluste heute sehr groß?“ fragte Nialli.

„Nicht ganz so schlimm, wie es zunächst aussah. Ein Dutzend Gefallene, um die fünfzig Blessierte. Unter den Toten sind Leute aus Chhams Truppe, also, was davon noch übrig war. Yissou-Stadt wird über Jahre hinweg in jeder Hinsicht kaputt sein. Eine ganze Generation ist zugrunde gegangen.“

„Und Dawinno-Stadt?“

„Wir hatten keine vergleichbar hohen Verluste. Yissou hat praktisch an einem einzigen Tag eine ganze Armee eingebüßt.“

„Während wir unsere Krieger so in kleinerer Stückzahl nach und nach verlieren. Aber zum Schluß kommt es dann doch aufs gleiche heraus, nicht wahr?“

Er bedachte sie mit einem unausdeutbaren Blick. „Sollen wir also aufgeben?“

„Was meinst du denn?“

„Ich sage, wenn wir weiterkämpfen, werden sie uns nach und nach aufreiben und vernichten, egal wie großen Schaden wir ihnen zufügen; aber wenn wir nicht kämpfen, dann verlieren wir unsere Seele. Ich sage, die Zeit spielt gegen uns, und ich stecke in einem Wust von verwirrenden Rätseln, wie ich sie nie vorher in meinem Leben gekannt habe.“ Er wandte den Blick ab und starrte auf seine geöffneten Hände, als hoffte er, darin Orakelsprüche zu lesen. Aber als er dann weitersprach, wurde deutlich, daß er sie dort nicht gefunden hatte. „Mir will scheinen, Nialli, als müßte ich diesen Feldzug mit einem großen Zwiespalt in meinem Herzen führen, in zwei gegensätzliche Richtungen gleichzeitig gezerrt. Ich stürme vorwärts, voll eifriger Wut, und will die Hjjks vor mir ausmerzen und niederbrennen, wie ich Vengiboneeza verbrannt habe, und will weiterziehen und das Nest mitsamt allem, was darinnen ist, austilgen. Aber zur gleichen Zeit scheut ein Teil in mir davor zurück, drängt mich zum Rückzug, betet sehnlich, daß der Krieg enden möge, ehe ich der Königin Schaden zufüge. Kannst du begreifen, was es für mich bedeutet, so hin- und hergerissen zu sein?“ „Das habe auch ich einmal gefühlt. Der verführerische Zauber des Nestes ist sehr stark.“

„Hat mich Hresh deshalb da mit hingenommen, was glaubst du? Um mich der Königin in die Hände zu liefern?“

Nialli schüttelte den Kopf. „Nein, er wollte nur, daß du jeden Aspekt des Konflikts sehen solltest. Du solltest erkennen, daß die Hjjks gefährlich sind, aber nicht böse, daß sie Größe besitzen, aber von einer Art, die so ganz verschieden ist von allem, was wir darunter verstehen könnten. Aber — wenn du in Berührung mit dem Nest kommst, dann macht es sich zu einem Teil von dir und dich zu einem Teil des Nestes. Ich weiß das. So war es auch für mich, und ich glaube, viel tiefgreifender und grundsätzlicher, als es bei dir der Fall ist. Vergiß nicht, ich gehörte einst zum Nest.“

„Ich weiß.“

„Und ich habe mich davon befreit. Aber eben nicht völlig. Ich kann nie vollkommen davon loskommen. Die Königin wird stets in mir bleiben.“

Thu-Kimnibols Augen loderten. „Und in mir, ist sie da ebenfalls?“ rief er mit angstvoller Stimme.

„Ich glaube, ja.“

„Aber wie kann ich dann diesen Krieg führen, wenn meine Todfeindin Teil von mir ist und ich ein Teil von ihr?“

Nialli zögerte nur kurz. „Überhaupt nicht.“

„Aber ich verabscheue die Hjjks. Ich will sie vernichten.“

„Sicher, das tust du. Aber du wirst es dir niemals erlauben, es auch wirklich zu tun.“

„Aber, Nialli — dann bin ich verloren! Wir alle sind verloren!“

Sie blickte in das Schattendunkel. „Das ist die große Prüfung, die uns die Götter bestimmt haben, verstehst du nicht? Es gibt keine bequeme Patentlösung. Mein Vater glaubte, wir könnten mit den Hjjks zusammen eine Art Einigung erzielen, daß wir in Harmonie mit und neben ihnen leben könnten, so wie die Saphiräugigen und die anderen in der Großen Welt mit ihnen zusammenlebten. Doch so klug er war, er hat sich geirrt. Gerade als ich mich aus den Zauberverstrickungen der Königin zu befreien begann, fiel er ihr immer mehr anheim und wurde schließlich ganz davon durchdrungen. Aber wir haben hier nicht die Große Welt. Eine Assimilation zwischen zwei derart gegensätzlichen Rassen ist unmöglich. Für die Hjjks ist es ein naturgegebenes Verlangen, durch Absorption die Herrschaft zu erlangen. Und wir können bestenfalls nur hoffen, daß es uns gelingt, sie in Schach zu halten, wie dies vielleicht in der Großen Welt-Zeit die anderen Rassen mit ihnen taten.“

„Aber warum sollten wir sie nicht ganz und gar ausrotten?“

„Weil es höchstwahrscheinlich außerhalb unserer Möglichkeiten liegt, so etwas zu versuchen. Und weil es — falls es uns irgendwie gelingen sollte — einen entsetzlichen Verlust für unsere eigene Seele bedeuten würde.“

Er schüttelte den Kopf. „Also können wir bestenfalls auf eine Segregation hoffen? Eine Trennungslinie quer über die Welt? Dort die Hjjk, hier wir?“

„Ja.“

„Also genau wie die Königin es ursprünglich vorgeschlagen hatte. Warum haben wir den Vorschlag abgelehnt? Wir hätten doch ihren Vertrag einfach annehmen können, und das hätte uns dann diesen ganzen Aberwitz von Vergeudung von Leben und Material erspart.“

„Das stimmt nicht“, sagte Nialli. „Du vergißt einen wesentlichen Punkt dabei. Die Königin hat nicht nur einen Vertrag über die Aufteilung territorialer Interessengebiete angeboten, sondern eine der Klauseln war auch, daß sie uns Nest-Denker senden wollte, Missionare, die mitten unter uns leben und ihre Wahrheiten und ihren Plan verkünden sollten. Mit der Zeit hätten die uns dazu bekehrt, die Königin-Liebe als Glauben anzunehmen; und damit wären wir für alle Zeiten in ihre Macht gegeben. Sie würde uns alle kontrollieren, genau wie sie Kundalimon kontrollierte, wie sie mich kontrollierte. Sie würde die Wachstumsrate unsrer Bevölkerung regulieren, damit wir niemals zu viele sein würden und eventuell ihre Pläne stören könnten. Sie würde uns vorgeschrieben haben, an welchen Orten wir überhaupt neue Städte gründen dürfen, um den Großteil der Welt für ihr Volk zu reservieren. Das nämlich wäre bei diesem Vertrag herausgekommen. Was wir unbedingt brauchen, ist die feste Grenzziehung, aber ganz gewiß nicht eine parasitäre Penetration von Nest-Denkern, Missionaren und Instruktoren in unser Leben. Davon hat es bereits viel zu viel gegeben.“

„Dann muß also der Krieg fortgeführt werden, bis sie geschlagen ist. Und danach werden wir in unserer Stadt alle Spuren der Königin-Verehrung ausmerzen müssen.“ Er kehrte Nialli den Rücken zu und begann im Zelt umherzustapfen. „Ihr Götter! Findet der Wahnsinn denn nie ein Ende?“

Nialli lächelte. „Nun, wir könnten ihm zumindest für heute nacht ein Ende machen.“

„Was meinst du damit?“

Sie kam in der Dunkelheit näher zu ihm. „Heute nacht dürfen wir uns einen kleinen Urlaub vom Krieg gönnen, nur für uns zwei.“ Ihr Sensor richtete sich auf und fuhr prüfend tastend über den seinen. Ihn überlief ein Schauder, und fast war es so, als wollte er ihr ausweichen, von ihr zurückweichen, als könne er sich von den Zweifeln und Wirrgedanken nicht lösen, die ihn umfingen; doch sie blieb dicht bei ihm und lockerte und lockte ihn sanft mehr und mehr aus seiner Verstörtheit und Beklemmung heraus. Ein paar Herzschläge später fühlte sie, wie die Spannung aus ihm wich. Er drängte sich enger an sie, wuchs vor ihr auf wie ein Berg und umfing sie mit seinen Armen. Sie nahm seine Hände und legte sie sich auf die Brust. So standen sie einige Zeit und ließen die Vereinigung langsam heranwachsen; dann sanken sie langsam nieder, verschwistert in einem Tvinner von Körper und Seele, und lagen dann da, in den Armen des anderen verschlungen, bis die Nacht sich ihrem Ende zuneigte.


Nun ist die Stunde vor der Morgendämmerung. Thu-Kimnibol ist noch tief in seinen Träumen gefangen. Die Tonnenbrust hebt und senkt sich ruhig und gleichmäßig, der Schwertarm liegt lasch und wie zufällig über seinem Gesicht. Nialli streift ihn mit einem flüchtigen Kuß und gleitet von ihm fort und vom Lager. Sie geht zur anderen Seite ihres gemeinsamen Zeltes.

Dort kniet sie nieder und flüstert den Namen Yissous-des-Beschützers und schlägt sein Zeichen, und dann spricht sie den Namen Dawinnos-des-Zerstörers, der da auch Dawinno-der-Verwandler ist, und sie macht auch sein Zeichen. Sie fühlt, wie die Götternähe in sie übergeht, und sie dankt ihnen dafür.

Dann berührt sie das Amulett, das im dichten Fell zwischen ihren Brüsten ruht, und ruft nach ihrem Vater, und nach einer Weile erblickt sie ihn, er leuchtet im Dunkel vor ihr auf und trägt das vertraute Lächeln in seinem lieben vertrauten Spitzkinngesicht. Es ist noch einer bei ihm, ein viel älterer Mann, sein Pelz ist ganz weiß und seine Brust eingesunken. Nialli kennt ihn nicht, aber seine Nähe wirkt freundlich. Und noch tiefer im Dunkel steht noch ein ehrwürdiger Fremder, ein alter Beng, so verhutzelt und dünn und hochgewachsen, daß er aussieht wie ein langer Halm, den jeder Lufthauch davonwehen könnte.

Und nun holt sie den Barak Dayir aus dem Beutel, führt ihn zum Zeichen der Verehrung kurz an die Stirn und ergreift ihn dann fest mit ihrem Sensor.

Die Musik hebt in ihr an. Und trägt sie in die Höhen der Welt hinauf.

Das Steigen ist mühelos, und sie ist zuversichtlich und ohne Furcht vor allem: denn ist nicht Yissou mit ihr, und Dawinno, und überdies auch ihr Vater? Und erst als sie ganz hoch schwebt und die Welt nichts weiter ist als ein kleiner Fleck unter ihr, fühlt sie ein erstes leises Zittern der Besorgnis. Es wäre so leicht, von hier aus immer höher und weiter zu steigen, hinauf in diese Sphäre des Unbekannten, welche die Welt umgibt, hinaus und weiter hinaus mitten zwischen die Kometen und die Monde und in die Sterne. um nie mehr zurückzukehren. Sie braucht nichts weiter zu tun, als die Vertäuung zu zerreißen, die sie an die Erde bindet. Aber das wird sie nicht tun.

Sie ist auf der Suche nach der Königin, der Allergrößten Königin-der-Königinnen selbst, in ihrer Höhle im Nest-der-Nester im kalten kahlen Nordland.

Sie konzentriert ihr Bewußtsein und stößt es vor sich her. Zunächst ein Moment der Ungewißheit, eine seltsam doppelte Zielpeilung. Die Königin scheint an zwei Orten gleichzeitig zu sein, einem fernen und einem sehr nahen. Nialli wird daraus nicht klug. Dann aber versteht sie. Erinnerung steigt in ihr auf an jene entsetzliche Zeit nach Kundalimons Tod und ihrem Fluchtversuch in die Wildnis, als sie sich in ihrem Zimmer verkroch und mit allem kämpfte, was Besitz von ihrem Geist ergriffen hatte. Damals war die Königin in ihr gewesen; und die Königin ist bis zum heutigen Tag in ihr geblieben. Ihre düstere Gegenwart war nie von ihrem Ort in Niallis tiefster Seele gewichen.

Aber die Königin in ihrem Innern ist nur das Schattenbild der echten Königin. Und mit dieser — nicht mit deren Schatten in der eignen Seele hat Nialli es heute zu tun.

„Erkennst du mich?“ ruft sie. „Ich bin Nialli Apuilana, Tochter des Hresh.“

Und aus der Tiefe des Nests-der-Nester gibt das gewaltige bewegungslose bleiche Ding, das sich dort verbirgt, ihr Antwort.

„Ich kenne dich. Was willst du von mir?“

„Ich will mit dir verhandeln.“

Spöttisches Gelächter prasselt ihr ins Gesicht wie ein feuriger Hagel. „Verhandeln — das können nur Gleichrangige, du Kleine.“ Und dann sendet die Königin einen Kraftsturm aus, der die Luft erschauern läßt und in sich zusammenkrümmen, so daß Nialli durch die Struktur der Atmosphäre hindurch die Wurzeln der Welt sehen kann.

Aber sie wird sich nicht beirren lassen.

„Du besitzt einen Wunderstein“, sagt Nialli. „Und ich habe einen Wunderstein. Also sind wir Gleichrangige.“

„Sind wir das?“

„Kannst du mir Schaden tun?“

„Kannst du mir Schaden tun?“ fragt die Königin zurück.

Aus dem Nest schießen blaue Flammenblitze herauf. Sie tanzen und huschen blindwütig her und hin und suchen nach einer verwundbaren Stelle. Nialli wischt sie beiseite, als wären es Mücken.

Die Königin läßt einen Sturm von Geröllbrocken los. Die Königin schickt einen Feuerwall. Die Königin schickt einen stechenden sengenden Nebel.

„Du vergeudest nur Zeit. Glaubst du, ich wäre ein Kind, das man mit sowas erschrecken kann? Was der Wunderstein aussendet, kann der Wunderstein abwehren. Wir könnten uns den ganzen Tag lang weiter so bedrohen, aber nichts wäre damit erreicht.“

„Und was hoffst du zu erreichen?“

„Laß mich dir eine Vision senden“, sagt Nialli.

Und von der Königen erfolgt nach einer Pause widerwillig das Einverständnis.

Von Nialli Apuilana an die Königin geht ein Bild des Umlandes des Nests-der-Nester, wie es ihrer Kenntnis nach sein muß, obwohl sie es nie mit. eigenen Augen gesehen hat: hartes karges Flachland, endlose graue Ödnis unter einem erbarmungslosen Himmel. Sie holt das Bild aus Kundalimons Seele, die immer noch in ihr ist.

Er hatte im Nest-der-Nester gelebt. Sie zeigt der Königin den ausgedörrten schrundigen Boden, das unbarmherzige gezähnte Gras, die kleinen tückischen Kreaturen, die unbeirrbar im Überlebenskampf über dieses einsame schreckliche Land kriechen.

Dann zeigt sie der Königin die dunklen Mündungen des Nestes hier und dort über die Ebene verstreut, und die kaum sichtbare Erhebung des Nestes selbst, eine flache buckelige Beule im flachen Land, und Myriaden von Gängen, die in alle Richtungen streben.

„Erkennst du diesen Ort?“ fragte sie.

„Weiter!“

Nun zeigt Nialli der Königin die Armeen des VOLKES im Anmarsch von Ost und West und Süden; nicht nur die Streitmacht, die Thu-Kimnibol aus Dawinno herangeführt hat, sondern die Krieger aus allen Sieben Städten des Kontinents: Aus Yissou und Thisthissima und Gharb, aus Ghajnsielem, aus Cignoi, aus Bornigrayal, von jedem Stamm in allen Ländern, und allesamt sind sie vereint in einem gewaltigen sintflutartigen Erguß gemeinsamer Stärke. Und dort — die Stammesvielzahl überragend wie der höchste Baum im Wald — ist Thu-Kimnibol von Dawinno, und in der Hand trägt er eine der Waffen aus der Großen Welt. Der Häuptling von Gharb hat eine ähnliche Waffe, auch der von Cignoi, auch alle die übrigen; und sie zielen damit auf das Nest-der-Nester.

Aus dem Nest strömen die Hjjks, die besten Krieger der Soldaten der Königin; aber wie sie gegen die Eindringlinge losstürmen, erheben Thu-Kimnibol und die übrigen Häuptlinge ihre Waffen hoch empor, und grelles Licht blitzt, und ein Donnerschlag wie der Donner beim Ende der Welt erschallt, und Feuer fegt über die Ebenen, und die Soldaten der Königin brechen wie versengte Zweige in einem Wildfeuer zusammen. Und die Heerscharen der Sieben Städte rücken auf das Nest vor.

Jetzt haben sie es umzingelt. Sie spähen in jede der zahlreichen Öffnungen. Sie erheben ihre Waffen erneut hoch empor und berühren die Knöpfe, durch die sie aktiviert werden.

Und aus diesen schimmernden uralten Apparaten springt eine Kraft, so unüberwindlich stark, daß sie die Erde zerfetzt, das Dach vom Nest reißt und es entblößt, so daß alle die Korridore und Passagen und Tunnels, die über so viele Hunderte von tausend Jahren hin so mühsam und sorgfältig angelegt wurden, offen daliegen. In dem schrecklich grellen Licht sind die Ei-Produzenten und die Lebens-Entfacher nackt und entblößt, und die Nest-Denker und die unzähligen Scharen von Arbeitern, und sie sterben in den ersten Feuerstößen. Dann steigt die Todeskraft tiefer hinab zu empfindlicheren Plätzen, an denen die Nährammen die Neugeborenen vor ihren Mund halten, um sie zu stillen; und auch sie sterben, die Ammen und die junge Brut, im nächsten Feuerschlag.

Und immer tiefer hinab, bis zu der allertiefsten von allen Höhlen.

An den Ort, an dem verborgen die Königin selber lagert, aber jetzt nicht mehr versteckt und geheim, denn ein Zucken der Kraftpeitsche hat die Decke ihrer Kammer weggefegt, und ihre immense bleiche Körpermasse liegt nackt und schutzlos preisgegeben da, während sich die Leibwächter verzweifelt um sie drängen und sinnlos und vergeblich ihre Waffen schwingen. Über der Königin ragt Thu-Kimnibol auf, eine kleine schimmernde Metallkugel in der Hand, aus der plötzlich ein bernsteingelbes Licht strahlt. Und die Königin beginnt zu beben und zu zucken und weicht vor diesem heißen stechenden Druck zurück. Aber wohin könnte sie in dieser engen Kammer fliehen? Ohne Erbarmen streicht das goldene Licht über die ganze Länge ihres Leibes. Auf der versengten, schwarzverkohlten Haut bilden sich riesige Beulen und Blasen. Sie siedet und brät und brutzelt unter dem unerbittlichen goldgelben Lichtstrahl, und schwarzer Rauch steigt von ihr empor. Bis.

Bis.

„Dies könnte niemals geschehen“, ertönt die kalte Stimme der Königin.

„Bist du so sicher? Vengiboneeza liegt in Staub und Asche. Die Leichen deines Insektenvolks liegen bereits in Haufen viele hundert Meilen weit über die Ebenen verstreut. Und wir haben gerade erst angefangen.“

„Ihr seid Kreaturen mit kleinen Seelen. Ihr werdet vor Entsetzen fliehen, lang ehe ihr uns erreicht habt.“

„Bist du dir dessen absolut sicher?“ fragt Nialli. „Hätten Kreaturen mit kleinen Seelen unsere Städte erbauen können? Hätten kleinmütige Feiglinge dich so bekämpfen können, wie wir es bisher taten? Ich sag es dir noch einmal: Wir haben gerade erst angefangen!“

Es folgt Schweigen.

Schließlich spricht die Königin: „Ich kenne dich. Du gehörst zum Nest, Kind. Du warst eine von uns, und dann habe ich dich aus dem Nest entsandt, zurück zu deinen eigenen Leuten. Aber meine Absicht war, daß du mir dort dienen sollst, nicht dich mir widersetzen. Wozu diese Drohungen? Wie kannst du sie auch nur aussprechen? Die Königin-Liebe ist doch immer noch in dir.“

„Ist sie das?“

„Ich weiß, daß es so ist. Du gehörst mir, Kind. Du bist aus dem Nest, und du wirst ihm niemals Schaden zufügen können.“

Nialli gibt keine Antwort. Statt dessen schaut sie tief in sich selbst hinein, an jenen verborgenen Ort, an den die Königin vor langer Zeit ein Stückchen ihres Selbst versenkt hat. Und Nialli packt dieses Partikel und zerrt es heraus, als wäre es nichts als ein flach in der Haut sitzender Splitter, und sie schnippt ihn von sich. Und als er der Erdoberfläche nahekommt, geht er in Flammen auf und verbrennt.

„Glaubst du noch immer, daß ich zum Nest gehöre?“ fragt Nialli Apuilana.

Und wieder folgt ein gewaltiges Schweigen.

Und noch einmal führt Nialli der Königin die Vision des Entscheidungskampfes vor: das Nest aufgerissen, die Einwohner von Flammen verschlungen, die Königinkammer aufgebrochen und geplündert, der brutzelnde, verkohlende Riesenleib, aufgeplatzt und unbrauchbar, eine Leiche in der qualmerfüllten Tiefe.

„Du hast keine Ahnung, was es bedeutet zu sterben“, sagt Nialli. „Du weißt nicht, was Schmerz ist. Nicht, was Verlust heißt. Du weißt nicht, was Niederlage bedeutet. Doch du wirst es lernen müssen. Du wirst unter Qualen in den Flammen zugrundegehen, und deine schlimmste Pein wird es sein, daß du begreifen mußt, keine Möglichkeit zu haben, dich an denen zu rächen, die dir dies zugefügt haben.“

Die Königin antwortet nicht.

„Aber so wird es geschehen“, spricht Nialli weiter. „Wir sind entschlossene und hartnäckige Leute. Aber die Götter haben uns zu dem geformt, was wir sind.“

Stille.

„Also?“ sagt Nialli. „Ist dies deine Antwort? Ist es das, was du von uns willst, daß wir es tun? Denn ich versichere dir, wir werden es tun, wenn du uns nicht gibst, was wir fordern.“

Stille. Schweigen.

Schließlich spricht die Königin: „Was also ist es, das ihr verlangt?“

„Ein Ende des Krieges. Ein Waffenstillstand zwischen unseren Völkern. Eine feste Grenzlinie zwischen deinen Territorien und den unsrigen, die niemals verletzt werden darf.“

„Und dies sind eure einzigen Bedingungen?“

„Die einzigen, ja“, antwortet Nialli Apuilana.

„Und die Alternative?“

„Kampf bis in den Tod. Ohne Gnade.“ „Du irrst, wenn du glaubst, es könnte jemals Frieden herrschen zwischen uns“, sagt die Königin.

„Aber wir können auf einen Krieg zwischen uns verzichten.“

Und wieder, ein letztes Mal, das lange Schweigen. Es scheint ewig dauern zu wollen.

„Ja“, sagt die Königin endlich. „Es kann die Vermeidung von Krieg zwischen uns geben. So sei es denn. Ich gewähre, worum du mich bittest. Wir werden auf Krieg verzichten.“


Also war es vollbracht. Nialli Apuilana sagte der Königin Lebewohl, und in einem Nu zog sie sich aus der Höhenregion zurück und schoß auf die Wölbung des Landes hinab, über dem inzwischen das Morgenrot zu glühen begonnen hatte. Sie löste den Griff um den Barak Dayir und richtete sich auf. Sie befand sich wieder im Zelt bei Thu-Kimnibol.

Er bewegte sich. Dann blickte er zu ihr herüber und lächelte.

„Wie merkwürdig. Ich hab geschlafen wie ein Kind, so ganz der Welt abhanden gekommen. Und mir träumte, daß der Krieg vorbei sei. Daß zwischen uns und der Königin ein Waffenstillstand beschlossen ist.“

„Das war kein Traum“, sagte Nialli Apuilana.

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