1. Kapitel Der Emissär

Als Kundalimon den messerscharfen Grat des von Felsbrocken übersäten Berges erreicht hatte und sich zum Abstieg in das grüne warme Tal anschickte, das sein Ziel war, spürte er den veränderten Wind. Durch Wochen hin hatte ihm der Wind auf seiner Reise vom Innern des Kontinents zur Küste im südlichen Westen scharf und trocken in den Rücken gebissen. Nun aber wehte der Wind aus dem Süden her: ein weicher, ein wohliger Wind, beinahe wie eine Liebkosung, und er trug ihm unzählige Düfte zu aus der Stadt der Fleischlinge dort unten.

Was diese verschiedenen Duftsignale bedeuteten, das konnte er nur ahnen.

Einer der Gerüche, so vermutete er, war ähnlich dem der Lust der Schlangen; ein anderer wie der von brennenden Federn; und es gab eine dritte Duftkomponente, von der er annahm, sie rühre von Meereswesen her, die heftig schlagend in Netzen ans Land geschleppt werden. Aber dann war da noch dieser andere Duft, der beinahe der des vertrauten Nests hätte sein können — das Aroma von schwarzem Wurzelerdreich aus den untersten Schächten tief unter der Erdoberfläche.

Doch er wußte, daß er sich einer Täuschung hingab. Sein jetziger Ort hätte kaum weiter vom Nest und seinen vertrauten Duft- und Tastnoten entfernt sein können.

Mit einem Pfiff und einem Druck der Hacken brachte Kundalimon seinen Zinnobären zum Halten. Er nutzte die Rast und sog heftig und tief die vielgeschichteten Dünste der Stadt in seine Lungen ein, weil er hoffte, das fremde Duftgeflecht werde ihn wieder verfleischlichen, Und er brauchte an diesem Tag die Inkarnation. Er war jetzt ein Hjjk, aus ganzer Seele, wenn auch nicht dem Körper nach. Heute jedoch mußte er seine ganze Hjjkhaftigkeit abstreifen und diesen Fleischkreaturen entgegentreten, als wäre er einer von ihnen. Einstmals, vor langer Zeit, war er dies ja auch wirklich gewesen.

Er würde zu ihnen in ihrer Sprache sprechen müssen, mit den paar kärglichen Brocken, die er noch aus seiner Kindheit behalten hatte. Er würde ihre Nahrung essen müssen, und wenn ihn dabei noch so stark der Ekel würgte. Und es mußte ihm gelingen, zu ihren Seelen vorzudringen und sie zu berühren. Von ihm hing sehr viel ab.

Kundalimon war hergekommen, um dem Volk der Fleischlinge das Geschenk der Königin-Liebe zu überbringen, die höchste Gabe, die er sich vorzustellen vermochte. Er sollte sie, diese Fleischlinge, bestürmen, daß sie IHR die Herzen auftaten, den Fleischlingen laut zurufen, sich IHRER Umarmung hinzugeben. Sie anzuflehen, daß sie von IHRER Liebesflut ihre Seelen durchströmen lassen sollten. Denn dann, und nur dann, würde es fortan weiter den Frieden der Königin in der Welt geben. Wenn Kundalimon in seiner Mission versagte, mußte dies das Ende des Friedens bedeuten, und es würde schließlich wieder zum Krieg kommen zwischen den Fleischlingen und den Hjjk: Zwist, Vergeudung und nutzloses Sterben würden die Folge sein, die Unterbrechung der NestÜberfülle.

Einen solchen Krieg wollte die Königin nicht. Überhaupt waren Kriege grundsätzlich kein zwangsläufiger Integralaspekt des NestPlanes; sie waren nur der allerletzte Ausweg. Aber die Sachzwänge der Nest-Planung waren unzweideutig. Wenn die Fleischlinge sich weigerten, die Liebeskönigin zu umarmen, auf daß SIE Fröhlichkeit in ihre Herzen bringe, dann würde der Krieg wohl unmöglich noch abzuwenden sein.

„Weiter!“ befahl er seinem Reittier, und das wuchtige rote Zinnobär begann den steilen Hang ins üppig begrünte Tal hinab zuschlittern.

In wenigen Stunden würde er jetzt die Stadt Dawinno erreichen, die große Metropole im Süden, das Mutter-Nest der Fleischlinge. Den Ort, an dem der größte Schwarm dieser Rasse (seiner, Kundalimons, eigener früherer Rasse, aber das war vorbei) wohnte.

Er begaffte mit einem Gemisch aus Verblüffung und Verachtung die Szenerie, die sich ihm bot. Die Üppigkeit in allem war beeindruckend, ja erschreckend; dennoch empfand er irgendwo in seinem Innern Verachtung, unklar, aber stark gegenüber diesem Ort der Verweichlichung und des schamlos übertriebenen Überflusses. In welche Richtung er auch blickte, überall sah er ein Übermaß, das ihm den Schädel mit einem Brausen der Verwirrung erfüllte. All das Blattwerk, schimmernd von Tau in der Morgensonne! Diese grüngoldenen Schlingreben, die sich in aberwitziger Üppigkeit mit irrsinniger Kraft an gewaltigen Bäumen emporrankten! Von den Zweigen geduckter langästiger Sträucher hingen schwere rote Früchte, die aussahen, als könnten sie den Durst für einen ganzen Mondwechsel stillen. Dichte Büsche mit bläulich-feucht schimmerndem pelzigen Laub trugen unglaublich große Büschel glänzender lavendelblauer Beeren. Das Gras stand dicht und voller saftiger scharlachschimmernder Halme und schien geradezu auf die entzückte Gier hungernder Wanderer zu warten.

Und diese ausgelassenen Schwärme träge lärmender Vögel; leuchtendweiß im Gefieder mit auffälligen karmesinroten Streifen über den mächtigen Schnäbeln... die kleinen lauten großäugigen Vierfüßer, die durch den niedren Pflanzenwuchs wuselten. die kleinen geflügelten Insekten mit ihrem regenbogenfarbenen Schwingenschwirren...

Zu viel, dachte Kundalimon, zu viel, zu viel. Viel, viel zu viel. Er vermißte die Kargheit der nördlichen Heimat, die trockenen kargen Ebenen, wo ein Streifen dürren Grases Anlaß zu Freudengesängen war und wo man seiner Nahrung sich mit der schicklichen Ehrfurcht näherte, weil man wußte, was für ein Glück einem zuteil wurde, wenn man ein Säcklein harter altersgrauer Saatkörner und einen Schnitz braunen Trockenfleisches bekam.

Ein Land so wie dies hier, das von allerlei Nahrung strotzte, die man sich überall einfach nur zu nehmen brauchte, erweckte irgendwie den Eindruck der Disziplinlosigkeit, ja sogar der Verzärtelung. Ein Ort für gemütlichen Schlendrian und ein scheinbares Paradies. Aber mußte dies nicht am Ende alles — unter dem Deckmantel der Wohlfahrt — sich als Schaden für die arglosen Landesbewohner erweisen? Wo dem Menschen die Nahrungsaufnahme zu leicht gemacht wird, folgt daraus unvermeidlich die Schädigung der Seele. An einem Ort wie diesem hier kann man mit vollem Bauch rascher verhungern als mit einem leeren.

Und doch war genau dieses Tal der Ort, an dem Kundalimon geboren worden war. Nur hatte eben der Ort ihn kaum nachhaltig genug geprägt. In zu jungen Jahren war er von hier fortgenommen worden. Kundalimon stand in seinem siebzehnten Sommer, und seit dreizehn Jahren hatte er unter den Dienern der Königin hoch droben im Norden gelebt. Er war nun Angehöriger des ‚Nests‘. Nichts an ihm verriet noch den ‚Fleischling‘ — außer seiner Fleischhaftigkeit selber. Sein Denken war nestklares Denken, seine Seele die Seele eines Nestlings. Wenn er sprach, waren die Laute, die ihm am geläufigsten über die Zunge kamen, die des scharfzischenden Tonfalls der Hjjk. Aber, so sehr er sich auch dagegen sträuben mochte, Kundalimon wußte, daß tief unter dem allem unentrinnbar die Wahrheit seiner Fleischlichkeit lag. Seine Seele, sein Denken mochten nesthaft sein, aber sein Arm war Fleisch; sein Herz war Fleisch; und auch seine Lenden waren Fleisch. und nun endlich kehrte er hierher zurück, an diesen Ort der Fleisch-Leibhaftigkeit, an dem sein Leben begann.

Die Stadt der Fleischlinge war ein Labyrinth aus weißen Mauern und Türmen, das sich an wohlgerundete Berghügel am Ufer eines unermeßlichen Ozeans schmiegte. Genau so hatte es der Nest-Denker gesagt. Die Stadt schwang sich hinauf und quoll wie ein gigantisch wuchernder Organismus über die hohen grünen Hügelkämme hinaus, die um die geschwungene Bucht lagen.

Es war so merkwürdig, so oberirdisch, so — ausgesetzt zu sein in diesem verwirrenden Gewirr verschiedenartiger und ineinander verstrickter Strukturen. und sie waren alle so starr und hart, so ganz unähnlich dem weichen geschmeidigen Gang in den Korridoren des Nests. und dazwischen diese unvertraut gähnenden offenen Räume.

Wirklich, ein fremdartig abstoßender Ort! Und dennoch: auf seine Art schön. Wie war so etwas möglich, schön und widerwärtig zugleich? Für einen Augenblick geriet sein Mut ins Wanken. Ihm wurde wieder deutlich, daß er weder Fleischling noch Nestling war, und er kam sich auf einmal sehr verloren vor, wie eine Kreatur im unbestimmten dünnen Nebeldunst, keiner der zwei Welten zugehörig.

Es währte nur kurz. Seine Ängste verflogen, und Nestkraft erfüllte ihn aufs neue. Er war ein getreuer Diener der Königin, wie also sollte er versagen können?

Er warf den Kopf zurück und saugte die warme aromageschwängerte Brise in die Lungen, die von Süden wehte. Schwerbeladen mit Stadtdüften und dem Geruch der Fleischlinge, wie dieser Wind war, stachelte er Kundalimons Körper zu einer akuten Hitzereaktion an: die Antwort auf den Ruf des Fleisches. Und das ist recht so, dachte er, denn ich bin Fleisch; und trotzdem bin ich Teil des Nests. Ich bin der Emissär der Königin-der-Königinnen, die Stimme des Nests-der-Nester. Ich bin die Brücke zwischen den Welten.

Er gab ein vergnügtes klickendes Geräusch von sich. Dann ritt er gelassen weiter. Eine Weile später erblickte er in der Ferne winzige Gestalten, Fleischlinge, die ihm entgegensahen, auf ihn zeigten, etwas riefen. Kundalimon nickte grüßend und winkte ihnen zu. Dann gab er seinem Zinnobären die Sporen und ritt dem Ort, genannt Dawinno, entgegen.


Einen Tagesritt nach Südosten, in den Moorseen, die landeinwärts hinter den Küstenbergen der Stadt Dawinno lagen, zogen die Jäger Sipirod, Kaldo Tikret und Vyrom vorsichtig durch die gelbleuchtenden Moosblumenfelder. Die Luft schimmerte von einem dichten goldenen Dunst. Das war der Pollen der männlichen Blütenstände der Moosblume, der in dichten Schwaden auf die Felder weiblicher Pflanzen weiter südlich zutrieb. Vor den Jägern erstreckte sich eine Kette langgezogener schmaler phosphoreszierender Seen, die in wuchernden Geflechten von Blaualgen fast erstickten. Es war noch früh am Tag, doch es war bereits erstickend heiß.

Hresh, der Alte, der Chronist, hatte die drei hierher gesandt. Sie sollten ihm Pärchen von diesen Caviandis fangen, diesen flinken geschmeidigen Fischjägern, die in solchen Wasserregionen hausten.

Die Caviandis waren harmlose friedliche Tiere. Ansonsten jedoch gab es in dieser Region kaum etwas Harmloses, und so bewegten sich die drei Jäger mit höchster Achtsamkeit voran. Der Tod konnte in diesen Sümpfen sehr schnell sein. Hresh hatte ihnen ein fettes Bündel.

Tauschmarken versprechen müssen, ehe sie sich überhaupt an die Aufgabe wagten.

„Ob er die essen will, was meint ihr?“ fragte Kaldo Tikret. Er war von kurzem groben Wuchs, ein Mischling mit schütterem schokoladebraunen Fell, das einen Hauch der Goldfärbung des Beng-Stammes aufwies, und seine Augen waren wie stumpfer Bernstein. „Caviandi soll gut schmecken, hab ich mir sagen lassen.“

„Ach, essen wird er sie bestimmt“, sagte Vyrom. „Ich kann es jetzt schon richtig vor mir sehen. Das ganze Bild. Wie er und seine Gemahlin-Häuptling und diese irre Tochter von ihnen sich in ihren feinsten Feierkleidern an den Tisch setzen, ja. Und gebratene Caviandistücke mit beiden Händen sich hineinstopfen und mit Bächen vom guten Wein nachspülen.“ Er lachte und fuhr mit seinem Sensororgan in einer leidlich obszönen Geste von einer Seite zur andren. Vyrom hatte Zahnlücken, und seine Augen waren verkniffen, doch sein Leib war lang und stark. Er war ein Sohn des kräftigen Kriegers Orbin, der im Vorjahr gestorben war. Deshalb trug Vyrom noch immer das rote Trauerband am Arm. „So leben die nämlich, die gesegneten Reichen. Sie fressen und saufen und saufen und fressen — und blöde Trottel wie uns schicken sie hier raus in den Seensumpf und lassen sich ihre Cavendisse von uns fangen. Wir sollten wirklich eins mehr fangen, für uns selber, und es auf dem Heimweg braten, wo wir doch schon den ganzen weiten Weg gelatscht sind, um welche für Hresh zu fangen.“

„Trottel seid ihr wahrhaftig“, sagte Sipirod und spuckte aus. Sipirod war Vyroms geschmeidiger, flinkäugiger Partner und eine weit geschicktere Jägerin als die beiden anderen. Sie gehörte zum Stamme Mortiril, einer weniger großen Gruppe, die längst von der Stadt geschluckt worden war. „Ihr zwei Helden! Habt ihr denn nicht gehört, daß der Chronist gesagt hat, er will diese Caviandis für seine wissenschaftlichen Forschungen haben? Daß er sie studieren will? Mit ihnen sprechen, damit sie ihm ihre Geschichte berichten können?“

Vyrom schmatzte vulgär. „Was können denn Caviandis schon groß an Geschichte haben? Die sind doch bloße Tiere, weiter nichts.“

„Pscht!“ zischte Sipirod scharf. „Es gibt hier noch andre Tiere, denen es eine Lust wäre, heut euer Fleisch zu essen. Also, lenke deinen Verstand auf deine Aufgabe, Freund. Denn wenn wir klug sind, werden wir hier ungeschoren herauskommen.“

„Ja, klug und glücklich“, sagte Vyrom.

„Möglich. Doch Klugheit zieht das Glück herbei. Los, ziehen wir weiter!“

Sie wies nach vorn in die dampfende Tropenwildnis. Khut-Fliegen, halb so groß wie ein Mannskopf, mit glitzernden Facettenaugen surrten durch die gelbe Luft, fingen mit den klebrigen Tentakeln blitzschnell kleine Vögel ein und saugten ihnen die Lebenssäfte aus dem Leib. Ringelstreptoren hingen am Schwanzende von den Ästen fettborkiger Bäume und lauerten im schwärzlichen Brackwasser der Sumpfseen auf Beutefische. Ein langschnäuziges rundliches Geschöpf mit schlammfarbenem Fell und Augen wie grüne Schalen watete auf hohen kahlen Stelzbeinen im seichteren Uferbereich umher und schaufelte zappelnde graue Schlickkriecher mit trotz der unbeholfen wirkenden Stöße erstaunlichem Erfolg in sich hinein. In weiter Ferne gab ein Geschöpf, das offenbar von beträchtlicher und schrecklicher Größe sein mußte, unentwegt unheilverkündende, dunkle grollende Laute von sich.

„Ja, aber wo sind denn die ganzen Caviandisse?“ fragte Vyrom.

„An raschfließendem Wasser“, sagte Sipirod. „Die diese üblen stinkenden Pfützen hier speisen. Drüben werden wir auf ein paar von ihnen stoßen.“

„Also, mir wäre es recht, wenn wir die Sache da in einer Stunde hinter uns bringen könnten“, sagte Kaldo Tikret. „Und wenn ich dann heil und im Ganzen wieder in der Stadt bin. Was für eine Idiotie, daß wir hier für ein paar stinkende Tauschfetzen unser Leben riskieren.“

„Also, so wenige sind’s ja auch wieder nicht“, sagte Vyrom.

„Trotzdem. Die Sache ist es nicht wert.“ Auf dem Anmarsch hatten sie darüber geredet, daß ihnen da in der Wildnis möglicherweise was Scheußliches über den Weg laufen könnte. Und wäre es dann die paar Tauschlinge wert, hier zu sterben? Gewiß nicht. Aber so war die Sache nun einmal: Du ißt gern und möglichst regelmäßig, also ziehst du los und jagst, wo sie es dir befehlen, und da fängst du eben, was sie haben wollen. So ist das nun mal. Die befehlen — wir tun es.

„Also, bringen wir’s hinter uns“, sagte Kaldo Tikret.

„Genau“, sagte Sipirod. „Aber vorher müssen wir erst einmal durch den Sumpf.“

Sie ging voran. Auf Zehenspitzen, als rechnete sie damit, daß der schwammige Grund sie verschlucken könnte, wenn sie mit vollem Gewicht auftrat. Während sie südwärts vordrangen, auf den nächsten See zu, verdichtete sich der Pollendunst in der Luft mehr und mehr. Der Samenstaub setzte sich in ihrem Pelz fest und verklebte ihnen die Nüstern. Die Luft schien zum Greifen dick, und die Hitze war drückend. Sogar in den Eistagen des Langen Winters mußte hier ein milderes Wetter geherrscht haben, und nun, wo der Neue Frühling von Jahr zu Jahr mit größerer Wärme heraufzog, keuchte das Land im Griff einer fast unerträglichen schwülen Hitze.

„Schon irgendwo ’nen Caviandis gesichtet?“ fragte Vyrom.

Sipirod schüttelte den Kopf. „Hier doch nicht. An den Flußläufen, den Bächen.“

Sie zogen weiter. Das ferne polternde Gebrüll wurde lauter.

„Hört sich fast an wie ein Gorynth“, bemerkte Kaldo Tikret nachdenklich. „Wir sollten vielleicht ’ne andre Richtung einschlagen?“

„Es sind aber Caviandis hier“, sagte Sipirod.

Und Kaldo Tikret sagte finster: „Ja, und wir setzen unser Leben aufs Spiel, damit der Chronist nur ja seine Caviandisse zum Studieren kriegt. Bei der Heiligen Fünffaltigkeit, der ist geil auf ihre Kopulationstechnik, meint ihr nicht auch?“

„Der nicht“, sagte Vyrom mit einem Lachen. „Ich wette, den interessiert sowas ebensowenig wie ein feuchter Hjjk-Furz, so wie der ist.“

„Also, aber er muß doch wenigstens einmal“, sagte Kaldo Tikret. „Immerhin gibt’s da ja Nialli Apuilana!“

„Seine wilde Tochter. Stimmt.“

„Andrerseits, wer weiß, ob er überhaupt was mit ihrer Entstehung zu tun hat? Also, wenn ihr mich fragt, dann ist Nialli Apuilana ganz ohne Hreshs Mitwirkung dem Bauch Tanianes entsprossen. Sie hat so gar nichts von ihm. Wie Schwestern sehen die zwei aus, nicht wie Mutter und Tochter.“

„Seid still“, sagte Sipirod und warf den zwei Männern einen drohenden Blick zu. „Das ganze Geschnatter ist hier wirklich nicht grad nützlich für uns.“

Kaldo Tikret sprach dennoch weiter: „Aber man sagt, daß Hresh zu sehr in seinen Studien und Zaubersprüche vertieft ist, als daß er die Zeit für eine Kopulation erübrigen kann. Was für eine Verschwendung! Ich will euch mal was sagen, wenn ich eine von den beiden, die Mutter oder die Tochter, ha, oder beide, nur mal für eine Stunde bei mir im Bett haben dürfte.“

„Schluß!“ sagte Sipirod mit diesmal schärferem Ton. „Wenn ihr schon keinen Respekt vor dem Häuptling oder ihrer Tochter habt, so zeigt doch wenigstens ein bißchen für euren eigenen Hals. Solche Rede ist Hochverrat. Außerdem haben wir zu tun. Da, seht ihr?“

„Ist das ein Caviandi?“ flüsterte Vyrom.

Sie nickte. Hundert Schritt weiter vorn, wo sich ein hurtiges schmales Bächlein in den stagnierenden algenversumpften See ergoß, kauerte eine Kreatur von der Größe eines halbwüchsigen Kindes und fischte mit seinen breiten Händen vom Ufer aus. Sein purpurfarbener Körper war schlank, und vom Hals zog sich eine steife gelbe Haarmähne das Rückgrat hinab. Sipirod bedeutete den Männern mit einer Kopfbewegung, sie sollten still sein, und schlich sich lautlos an. Im letzten Augenblick blickte sich das völlig überraschte Caviandi um. Es stieß einen leisen Seufzer aus und duckte sich wie gelähmt an Ort und Stelle zu Boden.

Dann richtete es sich auf den Hinterläufen auf und hob die Vorderhände zu einer Art Geste der Unterwerfung. Die Arme waren dick und kurz, und die ausgestreckten Finger sahen nicht sehr anders aus als die der Jäger. Die Augen schimmerten violett und blickten unerwartet intelligent.

Keiner bewegte sich.

Nach einer langen Pause machte das Caviandi plötzlich einen Satz und versuchte zu fliehen. Dabei beging es jedoch den Fehler, in den Wald hinter ihm entkommen zu wollen, anstatt zum See hin, und Sipirod war zu schnell. Sie stürzte schlitternd und springend über den schwammigen Boden und hinterließ eine tiefe Spur. Sie packte das Tier an der Gurgel und an der Leibesmitte und schwang es in die Höhe. Das Caviandi quiekte vor Angst und strampelte, bis Vyrom kam und es in einen Sack stopfte. Kaldo Tikret verschnürte diesen.

„Das war Nummer eins“, sagte Sipirod mit Befriedigung. „Ein Weibchen.“

„Du bleibst da und paßt drauf auf“, sagte Vyrom zu Kaldo Tikret. „Und wir suchen noch eins. Dann können wir von hier verschwinden.“

Kaldo Tikret wischte sich ein gelbes Moospollenklümpchen von seinem struppigen Schnauzer. „Dann beeilt euch mal! Es gefällt mir gar nicht, hier allein rumzustehen.“

„Klar“, höhnte Vyrom. „Es könnten sich ja ein paar Hjjks ranschleichen und dich verschleppen.“

„Hjjks? Meinst du, ich fürchte mich vor Hjjks?“ Kaldo Tikret lachte. Mit raschen kantigen Handbewegungen zeichnete er die Umrisse eines Insektenmenschen in die Luft: den hochragenden verlängerten Körper, die scharfen Einschnürungen zwischen Schädel und Thorax und Thorax und Abdomen, den langen schmalen Kopf, den vorgestülpten Rüssel, die mehrfach artikulierten Gliedmaßen. „Ich würde jedem Hjjk glatt die Beine ausreißen, wenn er versucht, mir lästig zu werden“, sagte er und demonstrierte es gleich in einer wilden Pantomime. „Und dann stopfe ich sie ihm in sein Spundloch. Außerdem, was hätten denn Hjjks in so ’ner heißen Gegend zu suchen? Aber gefährlich genug ist es hier trotzdem, also beeilt euch, ja?“

„Wir machen so schnell, wie es geht“, versprach Sipirod.

Doch das Glück hatte sie verlassen. Eine Stunde und noch eine halbe stapfte sie mit Vyrom fruchtlos durch die Sümpfe, bis ihr Fell elendig naß und überall leuchtendgelb gefärbt war. Die Moosblüten pumpten unermüdlich ihren Pollen und verdunkelten den Himmel damit, und alles, was in der Dschungel phosphorisch oder lumineszent war, fing an zu glühen und zu pulsen. Manche der Laternenbäume begannen zu strahlen wie Leuchttürme, das Moos selbst glühte hell, und von der Seenfläche stieg eine düstre bläuliche Strahlung auf. Und sie fanden keine Spur von irgendwelchen weiteren Caviandis.

Also kehrten sie schließlich um. Fast wieder an der Stelle zurück, an der sie Kaldo Tikret verlassen hatten, hörten sie plötzlich einen heiseren, unheimlich erstickt klingenden Hilferuf.

„Schnell!“ rief Vyrom. „Er steckt in der Klemme.“

Sipirod packte ihren Partner am Handgelenk. „Warte!“

„Warten, wieso?“

„Wenn da was nicht stimmt, wäre es sinnlos, daß wir beide uns da reinstürzen. Ich geh mal vor und schau nach, was dort los ist.“

Sie glitt durch den Bruch und trat auf die Lichtung.

Und sah den schwarzen glitzernden Hals eines Gorynthen aus dem See ragen; vielleicht war es das Ungeheuer, das sie vorher heulen gehört hatten. Der Leib des Riesengeschöpfes lag unter Wasser. Nur die gebogene obere Partie war als ein Strang halb abgesoffener Fässer sichtbar; aber der Hals, fünfmal mannslang und geschmückt mit stumpfen schwarzen Stacheln in Dreieranordnung, ragte empor und krümmte sich wieder abwärts, und an seinem Ende zappelte Kaldo Tikret in den gewaltigen Kiefern. Er rief noch immer um Hilfe, aber es klang bereits ziemlich schwach. Im nächsten Augenblick würde er ins Wasser gezerrt werden.

„Vyrom!“ schrie Sipirod.

Er kam wild mit seinem Speer fuchtelnd angetapst. Doch gegen welches Ziel hätte er ihn schleudern sollen? Das Wenige, das vom Leib des Gorynthen sichtbar war, steckte unter dicken überlappenden Panzerschuppen, von denen sein Speer einfach abprallen mußte. Der lange Hals war verwundbarer, aber weniger leicht zu treffen. Und dann verschwand auch dieser und tauchte mit Kaldo Tikret in das trübe dunkle Wasser hinab, aus dem schwärzliche Blasen aufstiegen.

Das Wasser schäumte eine Zeitlang. Sie schauten dem zu, eine Weile lang, und brachten verlegen ihren Pelz wieder in Ordnung.

Plötzlich sagte Sipirod: „Da, schau, da ist ein andrer Caviandi, dort bei dem Sack. Vielleicht versucht er, seinen Partner zu befreien.“

„Ja, aber wollen wir denn nichts für Kaldo Tikret tun?“

Sie schnitt mit einer Bewegung durch die Luft. „Was denn? Sollen wir hinter ihm her ins Wasser springen? Er ist futsch, begreifst du das nicht? Vergiß ihn! Wir müssen Caviandis fangen. Dafür werden wir schließlich bezahlt. Je rascher wir noch eins erwischen, desto rascher können wir von diesem Scheißort weg und zurück nach Dawinno.“ Da begann die schwarze Fläche des Sees gerade sich wieder zu glätten. „Futsch ist er eben, ja. Genau wie du vorhin gesagt hast: Klug sein und Glück haben. darum geht es.“

Vyrom schauderte es. „Und Kaldo Tikret hatte kein Glück.“

„Nein. Und er war auch nicht besonders klug. — Also, ich werd jetzt im Bogen rumschleichen, und du kommst mit dem zweiten Sack hinterher.


Dawinno-Zentrum, Verwaltungssektor, ein Labor in der zweiten Tiefetage des Hauses der Wissenschaft. Helle Beleuchtung, überhäufte Arbeitstische, überall verstreut die Bruchstücke uralter Zivilisationen. Plor Killivash drückt behutsam den Startbuckel auf dem kleinen Schneidewerkzeug in seiner Hand. Ein bleicher Lichtstrahl badet den stinkenden unförmigen Klumpen von Ich-weiß-nicht-was in Helligkeit. Das Ding ist scheffelgroß und stumpf gerundet wie ein Ei, und er hat dieses Ei schon seit einer ganzen Woche in jeder Weise bebrütet. Er zentriert das Ding und setzt einen raschen Oberflächenschnitt an, einen zweiten und einen dritten, vierten und hat eine feine Inzision der Außenseite.

Letzte Woche war es gewesen, da hatte ein Fischer das Ding abgeliefert und behauptet, es sei ein Relikt aus der Großen Welt, eine Schatztruhe der uralten Rasse der Seelords. Nun gehörte alles, was möglicherweise seelordisch sein konnte, zum Aufgabenbereich von Plor Killivash. Die Oberfläche des Objekts war von einer schleimigen Kruste von Spongien, Korallen und weichen rötlichen Algen bedeckt, und aus dem Innern träufelte unablässig säuerlich trübes Meerwasser. Wenn man mit einer Zwinge darauf klopfte, klang es hohl und dumpf. Nein, er setzte nicht die geringste Hoffnung in das Ding.

Wäre Hresh hier gewesen, vielleicht hätte er sich dann weniger mutlos gefühlt. Aber der Chronist war an diesem Tag nicht im Haus der Wissenschaft; er weilte zu Besuch in der Villa seines Halbbruders, Thu-Kimnibol. Denn die Lady Naarinta, Thu-Kimnibols Gefährte, war ernstlich erkrankt; und so fiel es denn Plor Killivash, welcher einer der drei Assistenz-Chronisten war, wie gewöhnlich schwer, seine Arbeit in Hreshs Abwesenheit gebührend ernstzunehmen. Wenn dieser sich nämlich im Komplex aufhielt, gelang es ihm stets irgendwie, jedem in seinem Aufgabenbereich das Gefühl von bedeutsamer Wichtigkeit der jeweiligen Arbeit einzuflößen. Sobald er jedoch den Bau verlassen hatte, versandete die ganze trübselige Scherben- und Fetzchenmanipulation historischer Relikte zur puren Absurdität, zum sinnlosen, zwecklosen Herumstochern im Schutt einer mit vollem Recht in Vergessen versunkenen fernen Vergangenheit. Das Studium der verflossenen Tage erschien einem dann immer stärker wie ein unsinniger Zeitvertreib, wie eine erbärmlich dumpfe Herumsucherei in versiegelten Grabgewölben, die nichts weiter preisgaben als den Gestank des Todes.

Plor Killivash war ein kräftiger untersetzter Mann aus der Koshmar-Linie. Er hatte die Universität besucht und war darauf sehr stolz. Früher hatte er eine Weile die Hoffnung gehegt, eines Tages selbst Chefchronist zu werden. Er war sicher, daß er sich auf dem richtigen Aufsteigertrip bewegte, denn unter den Assistenten war er der einzige Koshmar; Io Sangrais gehörte zu den Beng, und Chupitain Stuld sogar zu dem kleinen Stamm der Stadrain.

Natürlich waren auch seine Kollegen Universitätsleute; doch es gab gute politische Gründe, warum man die Position des Chronisten keinem Beng überantworten wollte, und kein Mensch hätte je daran gedacht, sie könnte jemals einem Kandidaten aus einer derart lächerlichunbedeutenden Stammesgruppe wie jener der Stadrains zufallen. Aber was Plor Killivash hier und jetzt anging, konnten die den Job haben, alle und jeder. Soll doch sonstwer Chef-Chronist werden nach Hresh!

So waren jetzt die Gefühle in Plor Killivash. Soll doch ein andrer die Verantwortung übernehmen für die jahrtausendedicken Anhäufungen von Schutt, durch den es sich zu graben galt.

Einst war auch er (wie Hresh früher) von einer nahezu leidenschaftlichen unkontrollierbaren Sucht beherrscht gewesen, einzudringen in den geheimnisvollen gewaltigen Sockel, auf dem sich die Erd-Geschichte türmte und an dessen Spitze diese neu-geborene Zivilisationsleistung des VOLKES klebte wie ein erbsengroßer Krümel über dem Scheitelpunkt einer Pyramide. Es hatte ihn heftig danach verlangt, sich tief in die Bereiche der eisigen Unfruchtbarkeit jenseits der Zeitspanne des Langen Winters hinabzugraben — bis zu den Wunderüppigkeiten der Großen Welt. Oder viel mehr noch — denn warum sich Grenzen setzen — wozu überhaupt Beschränkung? — warum nicht vordringen, hinabdringen in die allertiefsten Schichten der Menschheitsgeschichte, jene völlig unbekannten Reiche der nahezu ‚unendlich‘ fernen Frühära der Menschen, die auf der Erde herrschten, noch ehe die Große Welt entstanden war. Es mußte doch menschliche Ruinen und Relikte geben, tief dort unten, unter dem Schutt der Zivilisationen, die sie überlagert hatten.

Das alles war ihm als wundervoll-verführerisch erschienen. Milliarden Leben mitzuleben, nachzuleben, die sich im Verlauf von Millionen von Jahren ereignet hatten. Auf der Alten Erde zu stehen und zu fühlen, daß ‚man‘ schon vorhanden war, als sie der Schnittpunkt der Sternenbahnen war. Sich das Gehirn überschwemmen lassen von fremdartigen Bildern, unvertrauten Sprachen, dem Denken fremdartiger Bewußtheiten, die von unaussprechlich hoher Geistesschärfe waren. Aufzusaugen und zu umgreifen, zu verstehen, was immer sich auf diesem großartigen Planeten jemals ereignet hatte, der so unendlich vieles im Lauf seiner Umdrehungen und seiner langen Lebensspanne erfahren hatte. Schicht auf Schicht getürmt bis tief hinunter in die Frühdämmerung der Geschichte.

Doch damals war Plor Killivash ein Knabe, und es waren die Gedanken eines Knaben gewesen, von praktischen Erwägungen unbehindert. Nun war er zwanzig und wußte genau, wie schwierig es war, die verlorengegangene, verschüttete Vergangenheit wieder zum Leben zu erwecken. Unter dem harten Druck der Realität entglitt ihm mehr und mehr von seiner feurigen Lust an der Entdeckung uralter Geheimnisse, ebenso wie man es auch bei Hresh mit jedem Jahr deutlicher wahrnehmen konnte. Hresh allerdings hatten wundersame Maschinen aus der Großwelt zur Verfügung gestanden, die nun nicht mehr einsetzbar waren, von denen er seine Visionen der Welten vor dieser jetzigen Welt bezogen hatte. Aber einem Chronisten, dem die Vorzüge solcher Wundermaschinen nicht zugänglich waren, mußte seine Arbeit mehr und mehr als bloße trübselig-mühsame Plackerei erscheinen, die viele Enttäuschungen brachte und kärglich geringen Ertrag.

Düstre Gedanken an einem düstren Tag. Und in gedrückter Stimmung schickte sich Plor Killivash an, das Artefakt aus dem Meer aufzuschneiden.

Die schlanke Gestalt der Chupitain Stuld erschien im Türrahmen. Sie lächelte, die dunkelvioletten Augen blitzten fröhlich.

„Bohrst du immer noch? Ich dachte, du bist längst drin in dem Ding.“

„Nur noch ein Stückchen. Bleib doch und warte auf die große Enthüllung.“

Er bemühte sich um einen leichten Ton. Es ging nicht an, sie seine Bedrückung merken zu lassen.

Sie hatte selbst Frustrationen zur Genüge, wie er wußte. Auch sie kam sich inmitten der angehäuften Fragmente zerbröselnder ausgewaschener Vergangenheit, die das Haus des Wissens barg, mehr und mehr verloren vor.

Er streifte sie mit einem Blick und fragte: „Was war mit den Relikten, mit denen du herumgespielt hast? Das Zeug, das diese Bauern in der Senufit-Schlucht gefunden haben.“

Sie lachte ohne Fröhlichkeit. „Der Kasten voller Schrott? Nichts außer Sand und Rost.“

„Ah? Und ich dachte schon, du sagtest, es stammt aus einer Prägroßweltschicht von sieben, acht Millionen Jahren?“

„Dann ist es eben sieben, acht Millionen Jahre alter Sand und Moder. Ich hatte gehofft, du hast hier mehr Glück.“

„Bei meinem Glück?“

„Das kann man nie wissen“, sagte Chupitain Stuld und trat an den Arbeitstisch. „Darf ich helfen?“

„Klar, gern. Bring die Zugkrampen da in Position. Ich hab den Schnitt jetzt fast fertig, und wir können dann die obere Hälfte abheben.“

Chupitain Stuld zog die Krampen herunter und befestigte sie. Plor Killivash nahm die letzte Stärkejustierung an seinem Skalpell vor. Seine Finger fühlten sich wie geschwollen an und waren grob und ungeschickt. Er ertappte sich bei dem Wunsch, daß Chupitain Stuld in ihrem eigenen Arbeitsbereich geblieben wäre. Sie war ein so bezaubernder Anblick — klein und zierlich, und mit dem für ihren Stamm typischen weichen limonengrünen Pelz war sie außerordentlich schön. Und heute trug sie überdies eine gelbe Schärpe und eine königsblaue Mantilla. sehr elegant. Sie waren nun schon seit einigen Monden Kopulationspartner und hatten sogar bereits ein paarmal getvinnert. Aber trotzdem, in diesem Moment wollte er sie einfach nicht hier haben. Er war überzeugt, daß er beim letzten Schnitt alles versauen werde, und der Gedanke, daß sie ihm dabei zuschauen sollte, war ihm zuwider.

Schluß! Kein fürdres Zaudern, befiehlt er sich. Kontrolliert seine Kalibrierung zum letztenmal. Holt heftig Luft. Und zwingt sich schließlich dazu, den Auslöser zu drücken. Der Strahl züngelt und beißt sich in die muschelähnliche Wandung des Artefakts. Ein rascher Nagebiß. Er schaltet den Strahl ab. Eine dunkle Inzisionslinie zeichnet sich ab. Der obere Teil des Objektes hebt sich unmerklich von der unteren Hälfte.

„Soll ich ein bißchen mehr Zug geben?“ fragte Chupitain Stuld.

„Ja. Aber nur ganz wenig.“

„Es gibt nach, Plor Killivash! Gleich hebt es sich!“

„Vorsichtig jetzt. behutsam.“

„Wäre es nicht wunderbar, wenn das Ding voll von Amuletten und Juwelen der Seelords steckte! Vielleicht noch ein Geschichtsbuch aus der Großen Welt, geschrieben auf unvergänglichen Goldmetallplatten.“

Plor Killivash lachte glucksend. „Wieso nicht gleich einen ganzen richtigen Seelord im Tiefschlaf, der bloß drauf wartet, erweckt zu werden, damit er uns alles über sich selber sagen kann, he?“

Die Schalenhälften hoben sich voneinander. Das wuchtige Oberteil stieg um Fingersbreite, dann noch einmal und noch einmal. Als die letzte innerste Schutzhülle brach, ergoß sich eine Fontäne von Meerwasser aus dem Spalt.

Einen Moment lang verspürte Plor Killivash kurz wieder die zuckende Erregung wie in der ersten Zeit, als er hier ein Neuling war, vor fünf, sechs Jahren, als ihm ein jeder neue Tag als wunderbarer Fortschritt auf dem Weg der Erkenntnis der Rätsel der Vergangenheit erschienen war. Aber die Chancen standen wohl eher so, daß das Ding wertlos war. Es war nicht mehr viel aus der Großwelt übrig, siebentausend Hundertjahre nach ihrem Zusammenbruch, das man hätte finden können. Die Gletscher, die über die Oberfläche des Landes auf und ab gehobelt hatten, hatten nur allzu gute Arbeit geleistet.

„Siehst du was?“ fragte Chupitain Stuld und versuchte über die Kante des geöffneten Behältnisses zu spähen.

„Voll von Amuletten und Juwelen, klar doch. Und dazu ein ganzes Sortiment grandioser Maschinen in perfektem Wartungszustand.“

„Ach, hör schon auf!“

Er seufzte. „Also schön. Da, schau selbst. “

Er hob sie hoch und ließ sie auf seinem Arm sitzen, und dann blickten sie beide ins Innere des Objekts.

Dort lagen neun rotbläuliche lederartige, aber durchscheinende Kugelblasen von der Größe eines Männerschädels, die durch stramme gummiartige Hautbänder an der Wandung des Behälters klebten. In ihrem Innern waren undeutlich Formen erkennbar. Irgendwelche verschrumpft und zersetzt wirkende Körperorgane. Ein fauliger Verwesungsgestank stieg auf. Sonst geschah nichts. Und da war nichts sonst außer einer feuchten weißen Sandschicht an der Wand des Behälters und eine flache undurchsichtige Wasserpfütze auf seinem Grund.

„Keine Relikte der Seelords, leider“, sagte Plor Killivash.

„Nein.“

„Der Fischer bildete sich ein, er hat die zertrümmerten Steinsäulen einer Ruinenstadt aus dem Sand am Grund der Bucht ragen sehen, dort wo er das Ding hier eingefangen hat. Der hat an dem Tag bestimmt zuviel Wein zum Mittagbrot getrunken.“

Chupitain Stuld starrte schaudernd in das geöffnete Behältnis. „Was ist das? Irgendwelche Eier?“

Plor Killivash zuckte eine Achsel.

„Das ganze Ding war möglicherweise ein einziges Riesenei, und ich möchte dem Geschöpf ungern begegnen, das es gelegt hat. Die Klumpen da sind die Embryonen von Seeungeheuern, vermute ich. Tot natürlich. Ich mache wohl besser einen Bericht darüber und schau, daß ich sie hier rauskriege. Sie werden ziemlich rasch gräßlich stinken.“

Er hörte ein Geräusch in seinem Rücken. Vom Gang spähte Io Sangrais herein. Seine rubinroten Bengaugen blitzten amüsiert. Io Sangrais war ein pfiffiger verspielter, gewandter und leichtherziger junger Mann. Sogar der Stammeshelm auf seinem Kopf war verspielt: eine eng anliegende Kappe aus dunkelblauem Metall, aus der absurd drei Korkenzieherspiralen aus rotlackierten Schilfstengeln wild emporragten.

„Hoppla! Hast es endlich doch aufgekriegt, wie ich sehe.“

„Ja, und es ist ein wundervolles Schatzkästchen, genau wie ich das erwartet habe“, sagte Plor Killivash mürrisch. „Ein Haufen vergammelter kleiner ungeschlüpfter Seeungeheuer. Ein weiterer großer Triumph für den kühnen Erkunder der Vergangenheit. Bist du gekommen, um dich an meinem Glanz zu weiden?“

„Warum sollte ich das denn wollen?“ Io Sangrais’ Stimme war honigsüß vor gespielter Unschuld. „Nein. Ich bin natürlich nur hier runtergekommen, um dir von dem grandiosen Triumph zu berichten, den ich mir grad geleistet habe.“

„Ach ja? Hast du endlich deine alte Beng-Chronik fertig übersetzt? Und sie strotzt von Zaubersprüchen und Beschwörungsformeln, wie man Wasser in Wein verwandeln kann — oder Wein in Wasser, je nachdem, was man gerade lieber hat. Stimmt’s?“

„Spar dir deinen Spott. Wie sich herausstellte, ist es überhaupt keine Beng-Chronik, sondern stammt von irgendeinem neuntklassigen kleinen Stamm, den die Beng vor langer Zeit geschluckt haben. Und es ist bemerkenswerterweise ein ausführlicher und gründlicher beschreibender Katalog der Sammlung dieses Stammes von geheiligten — Kieseln. Die Steine selbst gingen vor zehntausend Jahren verloren, kapierst du?“

Chupitain Stuld gluckste. „Und so erhebt sich gewaltiges Jauchzen im Land. Die Aufdröselung der Rätsel der Vergangenheit durch die Experten des Hauses des Wissens schreitet unaufhaltsam im gewohnten bestürzenden Trott voran.“


An diesem Nachmittag hatte Husathirn Mueri wieder Throndienst unter der großen Zentralkuppel der Basilika, eine Pflicht, in der er sich in täglicher Rotation mit den Prinzen Thu-Kimnibol und Puit Kjai abwechselte. Müde hörte er die Petitionen zweier grobstimmiger Getreidehändler, die von einem dritten Kornschieber Wiedergutmachung forderten, der sie vielleicht betrogen hatte, vielleicht aber auch nicht, als man ihm Nachricht brachte von der Ankunft des Fremden in der Stadt.

Kein Geringerer als Curabayn Bangkea, der Hauptmann der Stadtwache persönlich, überbrachte ihm die Nachricht: ein Mann von herzhaftem Wuchs und breitspurigem Gehabe, der in der Regel mit einem kolossalen blitzenden Goldhelm bedeckt war, anderthalbmal so groß wie sein Schädel und verziert mit geschmacklosen zahllosen Hörnern und Klingen. Er trug den Helm auch jetzt. Husathirn Mueri empfand dies als zugleich amüsant und ärgerlich.

Natürlich war es durchaus in Ordnung, daß er einen Helm trug. Die meisten Bürger taten das jetzt, ohne Rücksicht darauf, ob sie wirklich Abkömmlinge des einstigen helmtragenden Stammes der Beng waren oder nicht. Curabayn Bangkea war immerhin Vollblut-B eng. Doch Husathirn Mueri, väterlicherseits selber ein Beng, während seine Mutter eine Koshmar war, fand denn doch, der Hauptmann der Wachen übertreibe das Prinzip über Gebühr.

Er selbst legte auf Formalitäten keinen besonderen Wert. Ein Wesenszug, den er möglicherweise von seiner Mutter hatte, die eine freundliche umgängliche Frau war. Und außerdem konnten ihn Männer wie dieser Wachsoldat nicht weiter tief beeindrucken; Leute, die breitbeinig durchs Leben stampften und sich durch Körpermasse und protziges Gehabe Bahn brachen. Er selbst war von leichtem Körperbau, hatte eine schmale Taille und abfallende Schultern. Sein Pelz war schwarz und dicht, mit scharfen weißen Streifen an einigen Stellen und beinahe so seidig wie der einer Frau. Allerdings war seine körperliche Leichtigkeit trügerisch, er war schnell und gewandt, und sein Körper verfügte über eine raffiniert plötzliche Kraft — wie eine Peitsche (seine Seele im übrigen gleichfalls).

„Nakhaba sei dir hold“, erklärte Curabayn Bangkea mit grandiosem Helmkopfneigen, als er sich dem Thron näherte. Und um noch eins draufzusetzen schlug er auch noch die Zeichen Yissous-des-Beschützers und Dawinno-des-Zerstörenden. Die waren zwei Hauptgötter der Koshmar. (So etwas ist stets nützlich, wenn man es mit Gemischtrassischen zu tun hat!)

Husathirn Mueri war insgeheim überzeugt, daß alle Welt mit derartigen Segenssprüchen und Gestenritualen viel zuviel Zeit vergeude, und antwortete mit einer Andeutung des Yissou-Zeichens. Dann sprach er: „Was gibt’s denn, Curabayn Bangkea? Ich muß mich da mit diesen erzürnten Bohnensäcken herumplagen, und ich habe eigentlich nicht vor, mir heut nachmittag noch mehr Ärger zuzumuten.“

„Vergebung, Throngnaden. Man hat einen Fremdling arretiert, direkt vor der Stadtmauer.“

„Einen Fremden? Was für einen Fremden?“

„Das weiß ich ebensowenig wie du“, sagte der Hauptmann und schüttelte so heftig den Kopf, daß ihm fast der klirrende Riesenhelm davongeflogen wäre. „Es ist ein sehr fremder Fremdling, ja, das ist er. Ein Jüngling noch, sechzehn, siebzehn, dünn wie eine Zaunlatte, als wie wenn er sich sein Leben lang bis jetzt durchgehungert hätte. Und dann kommt der aus dem Norden hier angeritten und sitzt auf dem größten Zinnobären, den man je gesehen hat. Ein Haufen Bauern hat ihn aufgespürt, weil er ihnen draußen im Emakkis-Tal die Felder zertrampelt hat.“

„Soeben, sagst du?“

„Vor zwei Tagen, oder so etwa. Also, zwei und einen halben, um genau zu sein.“

„Und er ritt auf einem Zinnobären?“

„Ja, so groß wie anderthalb Häuser“, sagte Curabayn Bangkea und breitete die Arme aus. „Doch warte, es kommt noch besser. Das Zinnobär trägt am Hals eine Hjjk-FIagge, und seine Ohren sind mit Hjjk-Abzeichen bestickt. Und der Kerl hockt da droben und gibt Laute von sich — genau wie ein Hjjk.“ Curabayn Bangkea legte beide Pranken an den Hals und stieß trockne rasselnde Kehllaute aus: „Khkhkh, Sjsjsjsss, Ggggggggjjjjk. Du weißt schon, was die für einen gespenstischen Lärm machen. Seit die Bauern ihn abgeliefert haben, haben wir ihn ununterbrochen verhört, aber mehr ist einfach nicht aus ihm rauszukriegen. Ab und zu stottert er ein Wort, das wir mehr oder weniger verstehen: Frieden, sagt er. Liebe, sagt er. die Königin, sagt er.“

Husathirn Mueri verzog nachdenklich die Stirn. „Was ist mit seiner Schärpe? Irgendein Stamm, der uns bekannt ist?“

„Er trägt keine Schärpe. Und auch keinen Helm. Überhaupt nichts, was darauf schließen lassen würde, daß er aus Yissou City kommt. Natürlich kann er auch aus einer der Städte im Osten gekommen sein, aber ich bezweifle das stark. Ich denke, es ist ziemlich klar, was er ist, Herr.“

„Und das wäre?“

„Ein Flüchtling der Hjjks.“

„Ein Entflohener.“, sagte Husathirn Mueri nachdenklich. „Ein entsprungener Gefangener? Meinst du das?“

„Na, das ist doch einleuchtend, Herr! Alles an ihm riecht nach Hjjk! Nicht bloß das Gekrächze, das er von sich gibt. Er trägt auch ein Armband, das aussieht, wie wenn es aus geglättetem Hjjkpanzer gemacht ist — leuchtendgelb, ja so ist es, und mit ’nem schwarzen Band. und einen Brustpanzer aus dem gleichen Zeug. Weiter hat er nichts an, nur die zwei Stücke aus Hjjk-Panzer. Was sonst, deine Gnaden, könnte er denn andres sein als ein Flüchtling?“

Husathirn Mueri zog die Augen zu Schlitzen zusammen. Die Augen waren bernsteingolden, ein Merkmal seiner Mischrassigkeit, und sehr scharf.

Hin und wieder geschah es, daß ein umherwandernder Trupp von Hjjks auf ein streunendes Kind stieß, das sich an einem Ort aufhielt, an dem es nicht sein sollte, und sich dann mit dem Streuner aus dem Staub machte. Niemand wußte zu sagen, warum. Aber es war nun einmal die abgründige Besorgnis eines Elters, daß die Hjjks ihr oder ihm ein Kind stehlen könnten. Von den meisten dieser Kinder vernahm man nie wieder etwas. Aber hin und wieder gelang es doch einem, nach Tagen, Wochen oder sogar Monden der Abwesenheit zu entfliehen und zurückzukehren. Dann wirkten diese Heimkehrer zutiefst verwirrt und auf unglaubliche Weise verwandelt, als hätten sie in der Zeit der Gefangenschaft unvorstellbar Entsetzliches durchlitten. Nicht einer der Zurückgekehrten hatte sich jemals bereit gefunden, auch nur mit einem Wort zu schildern, was für Erfahrungen er bei den Insektenleuten durchleben mußte. Und es galt als grob taktlos, sie danach zu fragen.

Allein schon der Gedanke an Hjjks erregte Übelkeit in Husathirn Mueri. Die Vorstellung, unter ihnen leben zu müssen, war für ihn die elendigste Quälerei, die er sich auszudenken vermochte.

Mit eigenen Augen hatte er Hjjk-Leute nur einmal in seinem Leben gesehen, als kleiner Knabe, der unter den Beng in Vengiboneeza heranwuchs, der alten Hauptstadt der Saphiräugigen, in der sich einige Stämme des ‚Volkes‘ am Ende des Langen Winters niedergelassen hatten. Doch diese einmalige Erfahrung hatte ihm genügt. Niemals würde er sie vergessen: die hageren, hochragenden Insektenkreaturen, viel größer als jeder ausgewachsene Mann, diese fürchterlichen abstoßenden Fremden. Sie waren in derart gewaltigen Schwärmen herangezogen und hatten Vengiboneeza dermaßen penetriert, daß der gesamte Stamm der Beng, der sich dort nach Jahren der Wanderschaft in den Großweltbauten niedergelassen hatte, schließlich gezwungen war, die Flucht zu ergreifen. Unter gewaltigen Schwierigkeiten, in einer Periode voll Nässe und Stürme hatten sie die endlosen Küstenebenen und die Täler durchquert. Und sie waren schließlich in Dawinno angelangt, in der großen neuen Stadt im Süden, die der Stamm Koshmar, angeführt von Hresh, nach dessen eigenem Auszug aus Vengiboneeza errichtet hatte. Und hier hatten sie Zuflucht gefunden.

Diese beschwerliche Wanderschaft war noch immer tief in seine Erinnerung gebrannt. Er war damals fünf gewesen, seine Schwester, Catiril, ein Jahr jünger.

„Warum müssen wir denn aus Vengiboneeza fort?“ hatte er wieder und immer wieder gefragt. Und seine liebsanfte Mutter hatte ihm geduldig stets die gleiche Antwort gegeben:

„Weil die Hjjks beschlossen haben, daß sie die Stadt für sich haben wollen“, hatte Torlyri gesagt.

Und er hatte sich zornig seinem Vater zugewandt: „Aber warum gehst du und deine Freunde dann nicht hin und bringt sie um?“

Und Trei Husathirn antwortete immer gleich: „Das würden wir tun, Junge, wenn wir es könnten. Aber es sind in Vengiboneeza zehnmal mehr Hjjks, als du Haare auf dem Kopf hast. Und da, wo sie herkommen, im Norden, sind noch viel, viel mehr.“

In den endlosen Wochen der Wanderschaft nach Süden, nach Dawinno, war Husathirn Mueri Nacht für Nacht aus furchtbaren Alpträumen aufgeschreckt, in denen die Hjjk angriffen. In der Dunkelheit, im Schlaf, sah er sie über sich stehen, ihre Bürstenklauen bewegten sich, die gewaltigen Kiefermäuler mahlten krachend, die Riesenaugen funkelten von Bösartigkeit.

Das war nun fünfundzwanzig Jahre her. Aber manchmal träumte er auch heute noch von ihnen.

Sie waren eine uralte Art — die einzige von den Sechs Völkern, die in den Tagen der Glückseligkeit vor dem Langen Winter auf der Welt lebten, der es gelungen war, das Äon der qualvollen Finsternis und Kälte zu überdauern. Er empfand ihre Altersüberlegenheit als eine Art Affront, er, der selbst einem so sehr viel jüngeren Erbstamm entsprossen war, einer Linie, deren Vorfahren in den Großwelttagen schlichte — Tiere gewesen waren. Es gemahnte ihn daran, wie brüchig-fragwürdig dieser Suprematsanspruch war, den das VOLK aufzustellen versucht hatte; außerdem machte es ihm auch wieder bewußt, daß das VOLK seine derzeitigen Lebensräume quasi nur bewohnen konnte, weil anscheinend die Hjjk kein Interesse an diesen Regionen zu haben schienen — und weil die übrigen Altpopulationen der Großen Welt — die Saphiräugigen, die Seelords, die Vegetalischen, die Mechanistischen und die Menschhaften — schon seit langem den Schauplatz verlassen hatten.

Die Hjjk dagegen, die sich von dem Langen Winter im Gefolge der Todessterne nicht hatten vertreiben lassen, beherrschten noch immer den größten Teil der Welt. Das Nordland gehörte zur Gänze ihnen, möglicherweise auch ein Großteil des Ostens, obwohl dort immerhin wenigstens fünf Städte von Stämmen des VOLKES gegründet worden waren; Orte, die man allerdings in Dawinno nur dem Namen nach und gerüchteweise kannte. Diese Ansiedlungen — Gharb, Ghajnsielem, Cignoi, Bornigrayal und Thisthissima — lagen in derart weiter Ferne, daß die Verbindung zu ihnen fast ein Ding der Unmöglichkeit war. Alles übrige war von den Hjjk beherrscht. Und sie waren auch das Haupthemmnis für eine weitere Ausbreitung des VOLKES in diesen Tagen konstant wachsender Wärme im Neuen Frühling. Für Husathirn Mueri war das schlicht ‚der Feind‘, und das würden die Hjjk für ihn immer bleiben.

Er würde sie, wenn es ihm möglich wäre, allesamt vom Angesicht der Erde hinwegtilgen.

Aber er wußte — wie es auch sein Vater Trei gewußt hatte —, daß dies unmöglich war. Das Äußerste, worauf das Volk gegen die Hjjk hoffen konnte, war, daß es ihrem Andringen standzuhalten vermochte: also die bereits in Besitz genommenen Gebiete zu sichern und unbeeinträchtigt zu bewahren und ein Vordringen der Hjjk, in welcher Weise auch immer, zu verhindern. Möglicherweise würde es ja dem VOLK sogar gelingen, sie schrittweise ein wenig zurückzudrängen und ein Stückchen weit auf einige der von den Hjjk kontrollierten Regionen vorzudringen, die den eigenen völkischen Zwecken dienlich sein mochten. Aber die Vorstellung — wie sie bekanntlich von einigen anderen Prinzen der Stadt gehätschelt wurde —, daß man die Hjjk insgesamt niederwerfen könne, war nach Husathirn Mueris klarer Erkenntnis schlichter Aberwitz.

Dieser Feind war unbesiegbar. Und so würde es immer bleiben.

„Es gibt noch eine andere Möglichkeit“, sagte Curabayn Bangkea.

„Und die wäre?“

„Daß der Junge nicht nur ein Überläufer ist, sondern praktisch so eine Art Gesandter von den Hjjksen.“

„Ein — was?“

„Ist ja nur ’ne Vermutung, deine Throngnaden. Wir haben keinerlei Beweis, bitte das zur Kenntnis zu nehmen. Aber da ist was an dem Kerl — dem Jüngling. die Art, wie er sich beträgt. so ruhig, so höflich, so — also, so ernsthaft. und wie er sich bemüht, uns etwas zu sagen. immer wieder mal ein Wort wie Frieden oder Liebe oder die Königin... also, ganz ehrlich, deine Lordgnaden, mir kommt der einfach nicht so vor, als wie wenn er ein ordinärer Ausreißer wäre. Mir ist da so urplötzlich die Idee gekommen, daß der vielleicht sowas wie ’ne Art Botschafter ist sozusagen, ein Abgesandter, den uns die wunderbare Königin dieses Ungeziefervolks geschickt hat, damit er uns eine besondere Botschaft oder so überbringt. Also, das ist jedenfalls, was ich glaube, deine Throngnaden. Falls du mir die Aufdringlichkeit vergeben willst.“

„Ein Botschafter?“ Husathrin Mueri schüttelte den Kopf. „Bei allen Göttern, was für einen Grund könnten die haben, uns einen Botschafter zu senden?“

Curabayn Bangkea stierte ihn ausdruckslos an, bot aber keine weitere Erklärung.

Wutbebend erhob sich Husathirn Mueri vom Richterthron und schoß in gleitender Bewegung davor auf und ab. Die Hände hatte er auf dem Rücken verschränkt.

Curabayn Bangkea war kein Idiot; so zögerlich er seine Einschätzung der Sache auch vorbrachte, sie verdiente Beachtung. Und wenn die Hjjks tatsächlich einen Emissär geschickt hatten, jemand, der im VOLK geboren war, jedoch so lange Zeit unter den Wanzen gelebt hatte, daß er seine eigene Wiegensprache vergessen hatte und nur noch des groben knirschenden Geschnarres der Hjjk fähig war.

Während er auf und ab stapfte, drängte sich einer der Kaufleute an ihn, zupfte ihn an der Amtsschärpe, um so seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Husathirn Mueris Augen blitzen zornig, und er hob den Arm, wie um den Mann zu schlagen. Der Kaufmann blickte ihn erstaunt an.

Im letzten Augenblick konnte er sich zurückhalten. „Euer Fall wird zur weiteren Untersuchung vertagt“, beschied er den Händler. „Findet euch wieder vor Gericht ein, wenn ich das nächstemal den Stuhl innehabe.“

„Und wann mag dies sein, deine Lordschaft?“

„Woher soll ich das wissen, du Tor? Lies die Anzeigetafeln!“ Husathirn Mueris Finger bebten. Er war dabei, die Haltung zu verlieren, und dies beunruhigte ihn gelinde. „Nächste Woche muß es sein, an Friit oder Dawinno, glaube ich“, sagte er, ein wenig milder. „Jetzt geh! Geh!“

Die Kaufleute stoben davon. Er wandte sich dem Wachhauptmann zu. „Wo befindet sich dieser Hjjk-Gesandte jetzt?“

„Deine Thron-Gnaden, es war doch nur eine bloße Vermutung, daß ich ihn einen Abgesandten nannte. Ich kann nicht mit Gewißheit sagen, daß er wirklich sowas ist.“

„Sei dem, wie es wolle — wo ist er?“

„Gleich hier. Draußen, in der Verwahrzelle.“

„Dann bring ihn herein!“

Er ließ sich wieder auf den Thron nieder. Er war verärgert, verwirrt und ungeduldig, Es verstrichen einige Augenblicke. Er tat sein möglichstes, um sich wieder unter Kontrolle zu bringen; er baute in seinem Innern einen Kern der Ruhe auf, wie ihn seine Mutter Torlyri das gelehrt hatte. Heftigkeit führte stets nur zu Fehleinschätzung und Irrung. Sie selber — möge die Seele dieser warmherzigen, sanftmütigen Frau im Frieden der Götter ruhen! — war weit weniger feinnervig und reizbar gewesen. Doch Husathirn Mueri war eben ein Mischling und behaftet mit der Stärke und der Gefühlsintensität der Mischrassischen, aber auch mit deren Mängeln. In seiner Entstehung hatte sich schattenhaft die spätere Verschmelzung der zwei Stämme vorgezeichnet. Torlyri war die Opferfrau des Koshmar-Stammes gewesen, und der unbezwingbare Beng-Krieger Husathirn hatte die koshmarische Priesterin zu unerwarteter Liebe und ganz unschicklicher Kopulation und Partnerschaft hingerissen, vor langer Zeit, als das Volk der Beng und das der Koshmari noch in unbehaglicher Zwangsnachbarschaft in Vengiboneeza lebten.

Er saß da und wartete; und er war jetzt ruhiger. Schließlich drang der Schatten von Curabayn Bangkeas Gigantenhelm in die Kuppel vor, und dem folgte Curabayn Bangkea selber, und er führte den Fremdling an einem langen geflochtenen Weidenstrick herein. Bei seinem Anblick richtete sich Husathirn Mueri straff auf, und seine Finger umklammerten fest die Armstützen des Thrones, die klauenumklammerte Kugeln waren.

Der Fremdling wirkte wahrhaftig sehr fremd.

Er war jung, am Ende seiner Knabenjahre vielleicht, vielleicht schon im Frühstadium der Mannheit; schmale, gebogene Schultern, Arme, die aussahen wie vertrocknete Halme, kurz: von geradezu schmerzender Magerkeit war der Fremde. Was er an Schmuck trug, der Armreif und die schimmernde Brustplatte, schienen in der Tat polierte Fragmente eines harten Hjjk-Panzers zu sein (ein etwas gruseliger Akzent). Der Pelz war schwarz, jedoch nicht von dem tiefen, üppigen Schwarz wie bei Husathirn Mueri; ihm haftete ein stumpfgrauer Schimmer an, und insgesamt war es, was einen Pelz angeht, eine erbärmlich struppige Angelegenheit: stellenweise schütter, ja beinahe abgewetzt. Husathirn Mueri begriff: Dieser junge Mann wurde seiner Lebtage lang unterernährt; er hat gelitten.

Und diese Augen! Bleich, kalt und starr wie Eis! Sie schienen wie über einen viele Welten weiten Abgrund zum Gerichtsthron heraufzustarren. Die fürchterlichen, erbarmungslosen Augen eines Feindes. Doch je mehr er in diese Augen blickte, desto mehr begann Husathirn Mueri sie als von Trauer erfüllt und mitleidsvoll zu sehen, als die Augen eines Propheten und Heilbringers.

Wie war das möglich? Der Widerspruch brachte ihn durcheinander.

Auf jeden Fall — wer immer und was immer dieser Jüngling sein mochte — gab es wohl keinen Grund, ihn so in Fesseln zu halten. „Befreit ihn!“ befahl er.

„Aber wenn er flieht, deine Thron-Gnaden.!“

„Er ist in bestimmter Absicht hergekommen. Durch eine Flucht würde er sie nicht fördern. Setzt ihn frei!“

Curabayn Bangkea knüpfte den Knoten auf. Der Fremdling wirkte auf einmal größer, aber er bewegte sich weiter nicht.

Husathirn Mueri sprach: „Ich bin hier, um für diesen Tag die Thronpflichten dieses Gerichts wahrzunehmen. Mein Name ist Husathirn Mueri. Wer bist du, und zu welchem Behufe kamst du in unsere Stadt Dawinno?“

Der Knabe gestikulierte mit heftigen, hastigen flatternden Fingerzuckungen und produzierte tief in der Brust heiser-zirpende Hjjk-Laute, als wollte er sie Husathirn Mueri sozusagen vor die Füße spucken.

Husathirn Mueri überlief ein Schauder, und er lehnte sich zurück. Das war ja fast so, als hätte man einen leibhaftigen Hjjk hier im Thronsaal. Er spürte, wie der Abscheu in ihm wuchs.

„Ich spreche kein Hjjk“, sagte er eisig.

„Shhhtkkkk“, antwortete der Junge (oder so ähnlich). „Gggk thhhhsp shtgggk.“ Und dann sagte er, und er mußte sich das Wort aus dem Rachen reißen, als wäre es ein widerspenstiger Knorpel, den er herauswürgen mußte: „Frieden.“

„Frieden.“

Der Knabe nickte. „Frieden. Liebe.“

„Liebe“, sagte Husathirn Mueri bedächtig und schüttelte den Kopf.

„Genauso war’s, wie ich ihn verhört hab“, brummte Curabayn Bangkea.

„So sei doch still!“ Und zu dem jungen Fremden sagte Husathirn Mueri überdeutlich und überlaut (wie wenn damit etwas gewonnen wäre): „So befrage ich dich denn erneut: Wie lautet dein Name?“

„Frieden. Liebe. Ddddkddftshhh.“

„Dein Name!“ wiederholte er noch einmal. Dann pochte er gegen die eigene Brust, wo die weißen Krauszeichnungen, die er von seiner Mutter ererbt hatte, diagonal über den schwarzen Pelz liefen. „Ich bin Husathirn Mueri. Mein Name ist Husathirn Mueri. Mein Name. Sein Name.“ — er deutete auf ihn — „ist Curabayn Bangkea. Wie ist dein Name.“

„Shthhhjjk. Vtstsssth, Njnnnk!“ Der Junge schien sich unendliche Mühe zu geben, etwas genau zu artikulieren; die Muskulatur seiner eingefallenen Wangen arbeitete heftig; die Augen rollten; er verkrampfte die Fäuste und grub die Ellbogen in seine dürren Flanken. Und auf einmal brach ein vollkommen verständlicher Satz aus ihm heraus: „Ich komme in Frieden und in Liebe von der Königin.“

„Also doch! Ein Gesandter, siehste!“ blökte Curabayn Bangkea und grinste überheblich.

Husathirn Mueri nickte. Curabayn Bangkea wollte noch weiterschwatzen, doch Husathirn Mueri gebot ihm ungeduldig mit einem Wink Stillschweigen.

Ganz gewiß, das muß ein Kind sein, das die Hjjks aus der Wiege gestohlen haben, dachte er. Und dann mußte der arme Kleine seitdem in ihrem undurchdringlichen nördlichen Reich bei ihnen leben. Und nun haben sie ihn zurückgesandt in seine Geburts- und Heimatstadt, und er bringt uns — Yissou-mag-wissen! — was für eine Forderung von dieser Insektenkönigin.

Die Ziele der Hjjks aber waren unerforschlich, das wußte jeder. Die Botschaft jedoch, die dieser Jüngling so qualvoll zu übermitteln sich mühte, mochte vielleicht den Beginn einer neuen Phase in den instabilen Beziehungen zwischen dem VOLK und den Insektenleuten ankündigen. Husathirn Mueri, der nur einer von mehreren Stadtprinzen war und jenen Punkt im Mannesleben erreicht hatte, an dem man sich entscheiden muß, ob man nach Höherem strebt, betrachtete es als ein glückliches Omen, daß der Fremdling an einem Tag erschienen war, an dem er selber die Amtsgeschäfte führte. Gewiß würde sich daraus etlicher Vorteil für ihn ziehen lassen. Zunächst jedoch galt es, herauszufinden, was der Gesandte zu sagen versuchte.

Ihm fiel wie selbstverständlich auch sogleich der geeignete Dolmetsch ein: der berühmteste von allen je in die Stadt zurückgekehrten Gefangenen, das einzige Mädchen von edlem Blut, das je entführt worden war: Nialli Apuilana, Tochter der Taniane und des Hresh.

Wenn überhaupt jemand, dann würde sie einige Kenntnisse der Hjjk-Sprache haben. Drei Monate der Gefangenschaft bei ihnen — und erst vor wenigen Jahren. Direkt vor der Stadt hatten sie sie entführt, und es erhob sich ein großes Geschrei, und warum auch nicht — das einzige Kind des Häuptlings und des Chronisten — gestohlen von den Wanzen! Laute Weheklag erscholl, viel Unruhe entstand. Ausgedehnte Suchaktionen in der weiteren Umgebung. Aber alles blieb erfolglos. Doch Monate später war das Mädchen plötzlich zurückgekehrt, als wäre es vom Himmel gefallen. Sah verwirrt aus, wies jedoch sonst keinerlei äußerliche Anzeichen auf, daß ihr ein Schaden zugefügt worden wäre. Aber wie alle Heimkehrer aus der Hjjk-Gefangenschaft weigerte sie sich, über ihre Erlebnisse zu sprechen; und wie bei den anderen war auch ihre Persönlichkeit irgendwie verändert, und sie war viel verschlossener und stärkeren Stimmungsschwankungen unterworfen als je zuvor. Und launenhaft genug war sie auch damals schon gewesen.

Konnte er Nialli Apuilana ohne Risiko in diese Sache hineinziehen? Sie war eigenwillig, unberechenbar, eine gefährliche Verbündete. Von ihrer starken Mutter und dem geheimnisvollen Visionär von Vater trug sie ein Erbe aus vielerlei unwägbaren Unbeständigkeiten in sich. Und niemand vermochte es, sie zu lenken. Sie war nun einige Monde über ihr sechzehntes Jahr, und stürmte frei wie ein Wildbach durch die Stadt: Soweit Husathirn Mueri wußte, hatte sie nie eine Kopulation mit irgendwem zugelassen, noch angeblich jemals getvinnert, außer natürlich an ihrem Tvinnr-Tag mit der Opferfrau Boldirinthe, doch war das ja nur eine bloße Ritualhandlung, als sie dreizehn wurde, um ihren Übergang ins Weibesalter zu fixieren. Das mußten alle tun. Und genau einen Tag später hatten die Hjjks sie entführt. Es gab Leute, die behaupteten, sie sei überhaupt nicht geraubt worden, sondern ganz einfach ausgerissen, weil sie ihre erste Tvinnr-Erfahrung so verwirrt hätte. Husathirn Mueri hingegen argwöhnte andres: Sie war bei ihrer Rückkehr zu sonderbar gewesen; nein, sie hatte wohl wirklich unter den Hjjks gelebt.

Ein weiterer Faktor wog schwer in seinen Erwägungen: Er begehrte Nialli Apuilana mit einer dunklen Glut, die in seinem Innersten brannte wie die Feuer im Herzen der Welt. Er sah in ihr den Schlüssel, der ihm die Tore zur Macht in der Stadt aufschließen mußte, wenn sie, ja wenn sie nur seine Partnerin werden würde. Er hatte nicht gewagt, ihr gegenüber ein Wort darüber zu sagen, und auch sonst zu keinem. Aber vielleicht, wenn er sie heute in das Geschehen einbezog, vielleicht half ihm dies dann, das Band zu schmieden, auf das seine kühnsten Hoffnungen zielten.

Er wandte sich an Curabayn Bangkea und sprach: „Befiehl einem von diesen Nichtstuern von Gerichtedienern, die draußen auf den Fluren herumlungern, mir Nialli Apuilana herbeizuführen!“


Es lebte aber Nialli Apuilana im Nakhaba-Haus, in einer der kleinen Kammern im obersten Stock des Nordflügels dieses gewaltigen weitläufigen Bauwerks aus Türmen, Spitzen und verschachtelten Gängefluchten. Daß sich hier die Dormitorien für die Priester und Priesterinnen befanden, bedeutete ihr nichts. Daß es sich um die Diener und Dienerinnen eines Beng-Gottes handelte, wo sie selber doch aus dem Blute des Koshmar-Stammes war, bedeutete ihr sogar noch weniger. Derlei altmodische Stammesunterschiede verloren immer rascher mehr und mehr an Gewicht.

Als sie sich entschloß, das Haus Nakhabas zu ihrer Wohnstatt zu wählen, hatte Prinz Thu-Kimnibol wissen wollen, ob sie dies bloß getan habe, um alle Welt zu schockieren. Dabei hatte er in seiner gewohnten Art freundlich gelächelt, um seiner Frage den Stachel zu nehmen. Verletzt hatte es sie dennoch.

„Wieso? Bist du schockiert?“ hatte sie zurückgefragt.

Thu-Kimnibol war der Halbbruder ihres Vaters, und er war von ihrem Vater so verschieden, wie die Sonne vom Mond verschieden ist. Aber der massige, riesenhafte Kriegspanzer Thu-Kimnibol und der zerbrechlich wirkende zurückgezogene Gelehrte Hresh waren beide Söhne ein und derselben Mutter, Minbain mit Namen. Hresh war ihr in den Tagen des Kokons geboren worden, als ein gewisser Samnibolon, inzwischen lange tot und vergessen, ihr Kopulationspartner war. Thu-Kimnibol war ihr Sohn aus einer anderen Partnerschaft in späterer Zeit, nämlich mit dem grimmigen, gewalttätigen und streitsüchtigen Kriegsmann Harruel. Von diesem Vater hatte er die körperliche Größe und Kraft geerbt, und teilweise auch seinen heftigen Ehrgeiz; nicht aber — wie man Nialli Apuilana versichert hatte — seine dumpf-brütende verwirrte Seele.

„Nichts, was du tust, schockiert uns“, sagte Thu-Kimnibol. „Nicht, seit du von den Hjjks zurückgekommen bist. Aber wieso willst du bei den Bengpriestern leben?“

Ihre Augen funkelten, amüsiert und ärgerlich zugleich. „Gevatter, ich lebe allein!“

„Im obersten Stock eines riesigen Gebäudes, das von Beng-Dienern wimmelt, die Nakhaba verehren.“

„Irgendwo muß ich ja wohnen. Und ich bin eine erwachsne Frau. In Nakhabas Haus bin ich ungestört. Die Akoluthen beten und singen zwar den ganzen Tag und die halbe Nacht lang, aber sie lassen mich in Frieden.“

„Stört dir das denn nicht den Schlaf?“

„Oh, ich schlafe sehr gut“, antwortete sie. „Das Singen lullt mich in den Schlaf. Und wenn sie zu Nakhaba beten, was geht’s mich an? Oder daß sie Beng sind? Sind wir nicht alle heutzutage mehr oder weniger Bengs? Schau doch dich selber an, Oheim, du selbst trägst doch einen Helm! Und unsere Sprache — was ist die denn, wenn nicht bengisch?“

„Es ist die Sprache des VOLKES.“

„Ja, und es ist die gleiche Sprache, die wir während des Langen Winters im Kokon gesprochen haben?“

Thu-Kimnibol zupfte verlegen an den dichten roten Pelzbüscheln; die fast wie ein Bart an seinen massiven Kinnbacken wuchsen. „Ich hab nie im Kokon gelebt“, sagte er. „Ich wurde erst nach dem Auszug geboren.“

„Oh, du weißt schon, was ich meine. Was wir jetzt sprechen, ist mindestens soviel bengisch wie koshmarisch, vielleicht sogar noch ein bißchen mehr. Wir beten zu Yissou, und wir beten zu Nakhaba, und eigentlich besteht zwischen dem Koshmar-Gott und dem Beng-Gott für uns überhaupt kein Unterschied mehr. Ein Gott ist wie der andere. Und nur eine Handvoll von den Alten erinnert sich überhaupt noch daran, daß wir ursprünglich einmal zwei verschiedene Stämme waren. Und es kümmert uns auch nicht mehr. Laß noch aber dreißig Jahre verstreichen, und nur noch der Chronist wird überhaupt was davon wissen. Mir gefällt der Platz, an dem ich lebe, Oheim. Ich denke gar nicht daran, jemandem ein Ärgernis zu bieten, und du weißt das. Ich will nur ganz einfach für mich sein dürfen.“

Dieses Gespräch hatte vor über einem Jahr stattgefunden, nein, es waren schon beinahe zwei Jahre. Und danach hatte keiner aus ihrer Familie sie weiter wegen der Wahl ihres Domizils belästigt. Schließlich war sie ja volljährig über sechzehn, alt genug für Tvinner- und Kopulationspartnerschaften, auch wenn sie es vorzog, das nicht zu tun, schon gar nicht, sich einen Kopulator zu nehmen. Nein, sie konnte tun und lassen, was ihr beliebte. Alle hatten das hinzunehmen.

Tatsächlich aber war Thu-Kimnibol der Wahrheit ziemlich nahe gekommen. Ihr Einzug ins Haus Nakhabas war wirklich eine Art Protest gewesen; wogegen allerdings, dessen war sie sich selbst nicht sicher. Seit ihrer Rückkehr von den Hjjk war sie von einer groben, tiefinnerlichen Unrast erfüllt gewesen, von wachsender Ungeduld gegenüber allen herkömmlichen Sitten und Gebräuchen der Stadt. Ihr kam es so vor, als sei das VOLK vom rechten Pfad abgeirrt. An Maschinen hängte man jetzt seine Liebe, an Bequemlichkeit und Luxus, und ganz besonders vergötterte man dieses neue Konzept, das sie Wechselkurse und Aktienanteile nannten und das es den Reichen erlaubte, die Armen zu kaufen. Da ist etwas faul, hatte sie immer häufiger gedacht, und da sie über keine Macht verfügte, den Lauf der Stadt zu ändern, ertappte sie sich immer häufiger bei stummen, heimlichen Akten der Rebellion dagegen. Die anderen hielten sie für eigensinnig und aufmüpfig. Aber was die von ihr halten mochten, spielte weiter keine Rolle für sie. Der Aufenthalt unter den Hjjk hatte ihre Seele in einer Weise verändert, wie sie kein anderer begreifen konnte, ja, sie selbst begann erst jetzt und allmählich, damit ins reine zu kommen.


Es pochte wer an der Tür: Nialli Apuilana öffnete einem feisten, nach Atem ringenden Gerichtsbeamten, für den offensichtlich die Kletterpartie ins oberste Stockwerk des Nakhaba-Hauses an einem so warmen Nachmittag eine allzu große Herausforderung bedeutet hatte. Der Mann troff von Schweiß. Sein Fell klebte in steifen Büscheln, und seine Nüstern bebten, während er versuchte zu Atem zu kommen. Die Atmosphären und Rangabzeichen hingen schief und triefnaß an ihm herum.

„Nialli Apuilana?“

„Du weißt doch, daß ich das bin. Was willst du von mir?“

Ein schniefendes Keuchen. „Vorladung in die Basilika.“ Wieder Keuchen und das Bemühen, sich den klitschnassen Pelz glattzustreichen. Noch ein Keuchen und Schnaufen. „Auf Anordnung von Husathirn Mueri, derzeit amtierender Gerichtsoberling.“

„In die Basilika? Wieso? Wirft man mir ein Vergehen vor? Glaubt Seine Lordschaft Husathirn Mueri das etwa? Werde ich vor Gericht gestellt?“

Der Gerichtsdiener gab keine Antwort. Er glotzte mit klaffendem Maul an ihrer Schulter vorbei in ihr Zimmer. Kahl wie eine Gefängniszelle: fast keine Möbel, nur eine niedrige Pritsche, ein kleiner Stapel Bücher auf dem Boden und als einziger Schmuck ein aus Gras geflochtenes sternförmiges Amulett, das Nialli Apuilana aus der Hjjk-Gefangenschaft mitgebracht hatte und das nun an der kalkweißen Wand, der Tür direkt gegenüber, prangte wie ein Siegeszeichen, das dort von den Wanzenleuten höchstselbst angebracht worden war.

„Ich hab dich gefragt, ob ich eines Vergehens beschuldigt werde.“

„Nein, meine Dame. Nein.“

„Also, warum werde ich dann vor Gericht zitiert?“

„Weil. weil.“

„Wohin glotzt du denn die ganze Zeit so? Hast du noch nie einen Hjjk-Stern gesehen?“

Der Gerichtsdiener wandte schuldbewußt den Blick ab und begann sich unsicher mit hastigen Bürststrichen das Fell zu glätten. „Seine Lordschaft Gerichtsoberling ersucht dich um deine Mitarbeit, mehr nicht“, platzte er schließlich heraus. „Als Gerichtsdolmetscherin. Man hat einen Fremden gefangen und in die Basilika gebracht. einen jungen Mann, und der kann anscheinend keine andre Sprache als die der Hjjkse.“

In Nialli Apuilanas Seele erhob sich ein plötzliches betäubendes Sausen. Ihr Herz begann zu rasen, schmerzhaft, so daß sie fast Angst bekam.

Solch ein Trottel! Braucht der so lange, um sie zu informieren!

Sie packte den Gerichtsdiener an einer Schärpe. „Warum hast du das denn nicht gleich gesagt?“

„Das war ja nicht möglich, meine Dame. Du.“

„Es muß ein heimgekehrter Gefangener sein. Du hättest es mir sofort sagen müssen!“

Aus den untersten Tiefen der Erinnerung schossen Bilder herauf. Überwältigende Visionen von jenem Tag, an dem alles zerspellte und ihr Leben verändert worden war.

Sie sah sich selber, jünger, bereits langbeinig und weibsgeschmeidig, doch mit noch kaum knospenden Brüsten, unschuldig die blauen Chilly — Blüten in den Bergen jenseits der Mauern der Stadt pflücken. Es war am Tag nach ihrem ersten Tvinnr. Und dann: Schwarzgelbe Gestalten mit sechs Gliedmaßen, fremdartig und schrecklich, größer als irgendein Mann in der Stadt, größer sogar als Thu-Kimnibol, brechen ohne Vorwarnung aus einem tiefen Spalt im gelblichen Fels hervor. Entsetzen. Starre Ungläubigkeit. Die ganze sichere Welt, wie sie sie dreizehn Jahre lang gekannt hatte, zerbrach um sie herum in Trümmer. Scharfschnäblige Schädel von Ungeheuern, riesige vielfacettierte Augen, mehrfach artikulierte Arme mit gräßlichen Klauen am Ende. Der zirpende Lärm, das Klicken und Summen. Nein, doch nicht mir, sagt sie sich, das geschieht doch nicht wirklich mir. Wißt ihr nicht, wessen Tochter ich bin? Aber die Worte kommen ihr nicht über die Lippen. Wahrscheinlich wissen die es ja sowieso. Ein Fang wie sie — um so besser! Und dann umringt sie die ganze Horde, begrapscht sie, hält sie fest. Und dann — das Entsetzen ist urplötzlich verschwunden. Eine unheimliche, traumhafte Gelassenheit überkommt irgendwie mächtig ihre Seele. Die Hjjk schleppen sie fort. Ein langer Marsch, endlos und durch unvertrautes Land. Und dann — das hitzigfeuchte Dunkel des NESTS — dies befremdend völlig andere Leben, das wie eine gänzlich andere Welt war, obwohl doch genau hier, auf der Erde — die Kraft und Stärke der Königin, gewalttätig packend, umfassend, verschlingend, verwandelnd.

Und seither immer — die Einsamkeit, das bittere Gefühl, es gebe nirgends auf der Welt jemand ihresgleichen. Und nun war da endlich ein anderer, dem widerfahren war, was sie erlebt hatte. Endlich! Einer, der wußte.

„Wo ist er?“ rief sie hastig. „Ich muß ihn sehen! Schnell!“

„In der Basilika, Edle. Im Thronsaal bei Seiner Lordschaft Husathirn Mueri.“

„Dann rasch! Gehen wir!“

Und sie stürzte aus ihrer Kammer, ohne sich auch nur um ihre Schärpe zu kümmern. Ihre Nacktheit bedeutete ihr im Augenblick gar nichts. Sollen sie ruhig gaffen, dachte sie. Der Gerichtsdiener hastete verzweifelt unter Schnaufen und Keuchen hinter ihr drein, als sie die Treppen im Nakhaba-Haus hinabeilte. Verdutzte Sakraldiener in Priesterhauben stoben vor ihrem Ansturm zur Seite und starrten ihr erzürnt nach, brabbelten. Doch sie kümmerte sich nicht darum.

An diesem Spätfrühlingstag stand die Sonne noch hoch im westlichen Firmament, obschon der Nachmittag bereits dem Abend zuschwand. Die Stadt lag in der Tropenwärme, wie von einem Mantel umhüllt. Der Gerichtsbote hatte draußen einen Wagen warten, ein Gespann von zwei sanften grauen Xlendis. Sie sprang neben ihm auf, und die Tiere setzten sich gemächlich und mit stetigem langsamen Trott in Bewegung und zogen sie durch die gewundenen Straßen in Richtung Basilika.

„Kannst du sie nicht ein wenig rascher laufen lassen?“ fragte sie.

Der Büttel zuckte die Achseln und gab den Tieren die Peitsche. Es bewirkte nichts. Nur das eine Xlendi krängte den langen Hals und blickte mit großen ernsten Goldaugen nach hinten, als wäre es verblüfft, daß da jemand ein rascheres Tempo von hm erwartete, als es sowieso vorlegte. Nialli Apuilana zwang sich, ihre Ungeduld zu zügeln. Der Heimkehrer, der Entronnene oder was sonst er war, der Fremde aus dem NEST, würde nirgendwohin gehen. Er wartete auf sie.

„Wir sind da, edle Dame“, sagte der Büttel.

Der Wagen hielt. Die Basilika lag vor ihnen, der hohe, von fünf Kuppeln gekrönte Palastbau am östlichen Rand des Hauptplatzes der Stadt. Die sinkende Sonne lag auf den grüngoldenen Mosaiken der Fassade und entflammte sie zu hellem Leuchten.

Drinnen glühten in dunklen Metalleuchtern flackernde Glühkugeln. Beamte standen steif im Gang herum und schienen weiter keine Aufgabe zu haben, als sie mit Kopfnicken und Verbeugungen zu grüßen, während sie vorbeigingen.

Der Fremde war die erste Person, die Nialli Apuilana erblickte. Er stand als scharfumrissene Silhouette in der Lichtpyramide, die von einem dreieckigen Fenster hoch droben, fast an der Spitze der Zentralkuppel, herabfiel. Er stand bedrückt da, die Schultern hängend, die Augen gesenkt.

Am Handgelenk trug er ein Nestband. An einer Schnur um seinen Hals hing ein Nestschutz.

Nialli Apuilanas Herz flog ihm entgegen. Wären sie allein gewesen, sie wäre auf ihn zugestürzt und hätte ihn unter Freudentränen umarmt.

Doch sie hielt sich zurück. Sie blickte vielmehr zu dem reichgeschmückten Thron des Richters unter dem bronzenen Bögengeflecht, das die Kuppel bildete, auf dem Husathirn Mueri saß, und erlaubte sich, seinen scharfen, nachdenklich prüfenden Augen zu begegnen.

Er wirkte irgendwie steif und verkrampft. Ein deutliches Duftsignal — ähnlich wie der Geruch von brennendem Holz — ging von ihm aus. Die Sprache seines Körpers war deutlich und keineswegs schwer zu entziffern.

In seinen glitzernden Bernsteinaugen stand hungriges Verlangen — nach ihr.

Ein anderes Wort vermochte sie dafür nicht zu finden. Nicht bloße geschlechtliche Lust, obwohl dies mitschwang; nicht eine Sehnsucht nach ihrer Freundschaft, obwohl er das durchaus so empfinden mochte; auch nicht ein zartes Gefühl, das man leichthin als Liebe hätte gelten lassen können. Nein, es war Hunger. Einfach, aber keineswegs klar. Und eigentlich auch gar nicht so einfach. Ihr schien es, als wollte er sich auf sie stürzen, sie verschlingen, ihr Fleisch zu seinem eigenen machen. Es war jedesmal das gleiche, wenn sie mit ihm zusammentraf (und dies war so selten, wie sie es anständigerweise einrichten konnte). Aber jetzt, als Husathirn Mueri sie über die Weite der Gerichtshalle hin anstarrte, hatte sie fast das Gefühl, als läge sein Gesicht zwischen ihren Schenkeln und bohre sich dort gierig ein. Was für ein sonderbarer Mann! Dabei doch äußerlich durchaus anziehend: schlank, elegant, geschmeidig, sogar schön (sofern es konventionell möglich gewesen wäre, einen Mann als ‚schön‘ zu bezeichnen). Und intelligent und in seinem Betragen sanft und höflich. Aber seltsam eben. Nein, Nialli Apuilana mochte ihn ganz und gar nicht!

Rechts vom Thron stand der gewaltige Muskelheld und Hauptmann der Wachen, Curabayn Bangkea, und sah unter seinem Riesenhelm halb begraben aus. Auch er glotzte sie ziemlich lasziv an, aber sie wußte, das, was sich in seinem Hirn abspielte, war weit weniger kompliziert. Sie war es gewöhnt, von Männern aller Art angestarrt zu werden. Natürlich wußte sie, daß sie attraktiv war. Alle Welt versicherte ihr, sie sei das Abbild ihrer Mutter Taniane, als diese jung war und einen seidigschimmernden rotbraunen Pelz und lange schlanke Beine hatte. und ihre Mutter hatte als die schönste Frau ihrer Zeit gegolten. Sogar heute noch sah sie außergewöhnlich attraktiv aus. Also — bin auch ich schön. also. starren sie mich an. Das geht bei denen ganz automatisch. Doch sie hatte auch irgendwie eine Ahnung, daß die Aura absoluter Unnahbarkeit, mit der sie sich gewöhnlich umgab, sie für manche Leute nur noch attraktiver machte.

Salbungsvoll begann Husathirn Mueri zu sprechen:

„Dawinno lenke dich, Nialli Apuilana! Nakhaba erhalte dich und sei dir hold!“

„Verschone mich mit derlei verlogenem Honigbrei“, gab sie scharf zurück. „Du brauchst meine Hilfe bei einer Übersetzung, sagt dein Büttel. Was soll ich übersetzen?“

Er wies auf den Fremden. „Die Wächter haben ihn vor kurzem hergebracht. Er spricht nur Hjjk und ein paar Brocken unsrer Sprache. Also dachte ich, du erinnerst dich vielleicht noch an genug Wörter aus der Sprache des Wanzen-Volks und könntest mir übersetzen, was er sagen will.“

Sie blickte Husathirn Mueri kalt und abweisend an. „Sprache des Wanzen-Volkes?“

„Äh. Ach so, tut mir leid. Ich meine natürlich die Sprache der Hjjks.“

„Ich empfinde die andere Bezeichnung als beleidigend.“

„Bitte um Euren Pardon, Edle. Ehrlich. Es ist mir einfach so herausgerutscht. Es soll nicht wieder geschehen.“ Er schien sich geradezu zu winden und sah ehrlich bekümmert aus. „Würdest du dann mit ihm sprechen? Jetzt? Und bitte versuche herauszufinden, warum er zu uns gekommen ist.“

„Ich will mich bemühen“, antwortete sie eisig.

Sie trat zu dem Fremden, stellte sich ihm gegenüber auf, so nahe, daß auch sie in dem Lichtkegel stand und die Spitzen ihrer Brüste beinahe den Nest-Schutz berührten, der ihm auf der Brust hing. Und er hob die Augen und blickte sie an.

Er war älter, als sie zunächst geglaubt hatte. Aus der Ferne hatte er kaum reifer als ein Knabe gewirkt; dies war aber wohl auf seinen fragilen Körperbau zurückzuführen, denn er mußte mindestens so alt sein wie sie, vielleicht sogar ein, zwei Jahre älter. Aber er trug eben kein Gran Fett am Leib und war auch erbärmlich wenig muskulös.

Bei einer Diät von Körnern und Trockenfleisch wird man so. Nialli Apuilana wußte das, weil sie es selbst so erlebt hatte.

Der Fremdling hatte höchstwahrscheinlich jahrelang bei den Hjjks gelebt. Lang genug jedenfalls, daß sein Leib von ihrer kargen Kost geformt werden konnte. Er hatte auch die steife spröde Haltung eines Hjjk, als wären der Pelz und das Fleisch an ihm nur eine Hülle, die die hagere Insektengestalt darunter verbarg.

„Also, sprich schon mit ihm.“

„Einen Augenblick. Ich brauche noch einen Augenblick.“

Sie zwang sich zur Konzentration. Der Anblick der Hjjk-Talismane an seinem Handgelenk und auf seiner Brust hatte tiefe Gefühle in ihr aufgewühlt. Und sie war dermaßen aufgeregt, daß es ihr unmöglich war, auch nur eine einzige Silbe der Hjjk-Sprache hervorzubringen, von dem wenigen, das sie vor Jahren gelernt hatte.

Die Hjjks verständigten sich auf vielerlei Weise. Sie hatten eine gesprochene Sprache: die Klick-, Summ-, Zirp- und Zischlaute, aus welchem Grund das VOLK sie mit dem Namen ‚Hjjks‘ bezeichnete.

Aber sie waren auch fähig, miteinander — und mit Angehörigen des VOLKES, wenn sie ihnen begegneten — in einer stummen Sprache des Bewußtseins, ganz so als sprächen sie unsichtbar-unhörbar auf einer zweiten Ebene. Außerdem verfügten sie auch noch über ein hochentwickeltes Kommunikationssystem vermittels chemischer Absonderungen, einen Geruchssignalcode.

Während ihres Aufenthaltes im NEST hatte Nialli Apuilana hauptsächlich per Mentalsprachtransfer mit den Hjjks kommuniziert. Sobald sie diese Methode anwandten, konnten die Hjjks sich ihr völlig klar verständlich machen und umgekehrt begreifen, was sie ihnen sagte. Es war ihr dann gelungen, einige hundert Wörter der gesprochenen Sprache zu lernen, doch inzwischen hatte sie sie großenteils wieder vergessen.

Und die chemosekretorische Kommunikationsform war ihr sowieso ein Buch mit siebzehn Siegeln geblieben.

Um das endlos scheinende lastende Schweigen zu brechen, hob sie die Hand und berührte sacht den NEST-Schutz an der Brust des Fremdlings, neigte sich ihm zu und lächelte ihn dabei freundlich an.

Fast war es, als zucke er zurück. Doch er hielt stand und sagte etwas in der scharfen Hjjk-Sprachfärbung zu ihr. Sein Gesicht war düster-starr. Es schien nicht imstande, den Ausdruck zu wechseln. Es war wie etwas aus Holz Geschnittenes.

Wieder berührte sie den NEST-Schutz auf seiner Brust, dann ihre eigene Brust.

Dann schossen plötzlich ein paar Hjjk-Worte in ihr auf, und sie sprach sie — mit einigen Kehllautschwierigkeiten — halberstickt aus. Es klang wie ein Gurgeln. Es waren aber die Worte für NEST, KÖNIGIN und NESTFÜLLE.

Der Fremde verzog die Lippen in einer Grimasse, die beinahe ein Lächeln hätte sein können. Oder vielleicht war es ein echtes Lächeln, das nicht umhin konnte, wie eine Grimasse auszufallen.

Liebe, sprach er in der Sprache des VOLKES. „Frieden.“

Ein Anfang war gemacht, immerhin.

Aus irgendeinem Hirnwinkel flossen ihr weitere Hjjk-Wörter zu: die Begriffe NEST-Stärke, KÖNIGIN-Weg, DENKER-Denken.

Der Fremde entkrampfte sich.

„Liebe“, sagte er noch einmal. „Königin-Liebe.“

Er hob die geballten Fäuste, als ringe er um weitere Wortbegriffe der Sprache des VOLKES, die seit langem in tieferen Schichten seines Bewußtseins verschüttet gelegen hatten. Das schmale Gesicht drückte schmerzliche Anspannung aus.

Schließlich krächzte er ein weiteres Hjjk-Wort, das sie als ungefähres Äquivalent für ‚Fleischlinge‘ erkannte, der Begriff, den die Hjjks als Bezeichnung für das VOLK verwendeten.

„Was sprecht ihr zwei da miteinander?“ verlangte Husathirn Mueri zu wissen.

„Soweit nichts von Bedeutung. Ich versuche nur, erst einmal Kontakt aufzubauen.“

„Hat er dir gesagt, wie sein Name ist?“

Sie warf ihm einen verächtlichen Blick zu. „In der Hjjk-Sprache gibt es kein Wort für Namen. Sie haben keine Eigennamen als Personen.“

„Könntest du ihn dann fragen, wozu er hergekommen ist?“

„Das versuche ich doch! Siehst du das denn nicht?“

Aber es war hoffnungslos. Zehn Minuten lang ackerte sie unentwegt weiter, um einen Durchbruch zu erlangen. Ohne Erfolg.

Sie hatte sich von dieser Begegnung so viel erhofft. Sie sehnte sich verzweifelt _ danach, mit diesem Fremden ihre Nest-Zeit wiederaufleben zu lassen. Über Königin-Liebe und Nest-Stärke mit ihm zu reden und über alle jene anderen Dinge, die zu erfahren sie während ihrer zu kurzen Gefangenschaft kaum die Chance gehabt hatte: Dinge, die ihre Seele ebenso gewiß geformt hatten, wie die karge Hjjk-Nahrung den hageren Leib dieses Fremden da gestaltet hatte. Doch die Hürden zwischen ihnen waren widerwärtig hoch.

Anscheinend waren sie unüberwindlich. Sie vermochten beide nichts weiter zu tun, als einander unzusammenhängende Worte und Ideenfetzen zuzustottern. Hin und wieder schien es, als kämen sich ihre Bewußtheiten nahe, und dann erhellten sich die Augen des Fremdlings, und auf seinem Gesicht zeigte sich sogar der Anflug eines Lächelns, aber dann stießen sie erneut an ihre Begriffsgrenzen, und die trennende Wand wuchs wieder zwischen ihnen auf.

„Kommst du voran?“ fragte Husathirn Mueri nach etlicher Zeit.

„Nein. Kein bißchen.“

„Du kannst nicht einmal erraten, was er sagen will? Ode wozu er hergekommen ist?“

„Er ist als eine Art Gesandter gekommen. Soviel scheint mir sicher zu sein.“

„Hast du dafür einen handfesten Hinweis, oder ist es bloße Vermutung?“

„Siehst du die Stücke von Hjjk-Schalen an ihm? Das sind Abzeichen für hohe Autorität“, sagte sie. „Das Stück auf seiner Brust heißt NestSchutz und ist aus dem Panzer eines toten Hjjkkriegers gefertigt. Man hätte ihm nie gestattet, es aus dem Nest zu entfernen, es sei denn zum Zeichen, daß er in einer Sondermission unterwegs ist. Es ist gewissermaßen der Häuptlingsmaske bei uns vergleichbar. Der andere Schmuck, der Armreif, war vielleicht das Geschenk seines NestDenkers und sollte seine Gedankenkonzentration steigern. Die arme verirrte Seele, es nützt ihm nicht viel, nicht wahr?“

„Nest-Denker?“

„Sein Mentor. Sein Lehrer. Verlang doch nicht, daß ich das alles jetzt erkläre. Für dich sind sie ja sowieso nur Wanzen.“

„Ich sagte dir schon, daß es mir leid tut.“

„Ja, du hast gesagt, es tut dir leid. Jedenfalls, er ist bestimmt mit einer besonderen Botschaft hergekommen, und das bringt nicht bloß das verschwommene, nebulöse Zeug, das uns Heimkehrer berichten, wenn sie überhaupt was sagen. Aber er kann nicht in unserer Sprache sprechen. Er muß seit seinem dritten oder vierten Lebensjahr im Nest gewesen sein, und er kann sich kaum noch an ein Wort unsrer Sprache erinnern.“

Husathirn Mueri strich sich nachdenklich den Backenpelz.

Nach einer Weile fragte er: „Hast du irgendeinen Vorschlag?“

„Nur das Offensichtliche. Laß meinen Vater rufen.“

„Ja, kann denn der Chronist Hjjk sprechen?“ fragte Curabayn Bangkea.

„Idiot! Der Chronist hat doch den Wunderstein Barak Dayir!“ sagte Husathirn Mueri. „Natürlich! Er braucht ihn nur ganz leicht zu berühren, und alle Rätsel lösen sich!“

Er klatschte in die Hände. Der feiste Gerichtsbüttel erschien.

„Suche Hresh. Und lade ihn vor.“ Er blickte sich um. „Ich vertage, bis Hresh erscheint.“


Der Chronist befand sich zu eben dieser Stunde in seinem naturhistorischen Garten, der im westlichen Quadranten der Stadt lag, und überwachte die Ankunft seiner Caviandis.

Vor vielen Jahren hatte Hresh in einer Vision das Vengiboneeze der Großen Welt besucht und dort eine Örtlichkeit mit dem Namen der ‚Lebensbaum‘ betreten. Dort hatten die Saphiräugigen allerart wildlebende Geschöpfe gesammelt und sie in Kammern gesteckt, die ein Abbild ihrer natürlichen Lebensumgebung nachahmten. In schrecklicher Scham und Betrübnis hatte Hresh in seinem Traum dort unter den eingesperrten Tieren auch seine eigenen Vorfahren gefunden. Und so hatte er über jeden Zweifel an jenem Tage die Erkenntnis erlangt, daß sein VOLK, das sich einstmals für die Menschen hielt, in keiner Weise etwas so Hocherhabenes war, sondern daß sie in den Tagen der Großen Welt ebenfalls als nichts weiter als Tiere angesehen worden waren, die man einfing und in Käfigen hielt.

Nahezu alle Geschöpfe, die Hresh damals bei seiner Wanderung in die ferne Vergangenheit gesehen hatte, waren während des Langen Winters ausgelöscht worden, und ihre Art war für immer von der Erde verschwunden. Auch der Sammlungsort ‚Lebensbaum‘ war längst zu Staub zerfallen. Aber Hresh hatte sich einen eigenen Baum des Lebens gepflanzt, in der Stadt Dawinno über der stillen Meeresbucht: einen labyrinthischen Garten, in dem Geschöpfe aus allen Regionen des Kontinents versammelt wurden, auf daß er sie studieren könne. Er hatte da Kreaturen, die übers Wasser schreiten konnten, Trommlerbäuchlinge, Tänzerhörner und eine große Schar andrer Wesen, denen das VOLK auf seiner Wanderschaft über das Antlitz der Erde nach dem Aufbruch aus dem urelterlichen Kokon begegnet war. Er hatte Exemplare von blauhaarigen Langbein-Stinchitolen, die über ein Hirnverbindungsystem verfügten, das er in seinen Tiefenbereichen noch kaum zu erforschen begonnen hatte. Und Hresh hatte Scharen von kurz- und dickbeinigen rötlichen Dürftlingen. Er hatte die rosa langmäuligen Strickwürmer, die länger waren, als ein Mann groß war, die im dampfenden Schlick der Seesümpfe beheimatet waren. Er hatte die Kmurs und die Crispalls und die Stanimander in seiner Sammlung. Und Gabools. Und Streptors. Er hatte einen Trupp der affenähnlichen grünen Spottfiguren, die auf Bäumen lebten und die das VOLK gröblich mit ihren Exkrementenwürsten beworfen hatten, als man nach Vengiboneeza einzog.

Und nun hatte er sogar ein Caviandi-Pärchen, das soeben aus dem Sumpfland zu ihm gebracht worden war.

Er würde an dem Wasserlauf, der den Garten durchfloß, ein bequemes Habitat für sie einrichten, in den Bach würden ihre Lieblingsfische ausgesetzt werden, und sie würden ausreichend Platz haben für die Höhlenbauten, in denen sie zu leben liebten. Und sobald sie sich an das Leben in der Gefangenschaft gewöhnt hatten, wollte Hresh versuchen, vermittels des Zweiten Gesichts, falls nötig unter Verwendung des Wundersteines, in ihr Bewußtsein einzudringen. Er wollte ihre Seelen betasten, sofern sie so etwas wie Seele besaßen, und ihre Tiefen auszuloten versuchen.

Die Caviandis hockten bebend nebeneinander in ihrem Transportkäfig und starrten ihn aus riesigen flachen Augen voll Elend und Angst an.

Hresh erwiderte seinerseits diese Blicke mit faszinierter Neugier. Es waren grazile, elegante Tiere, und zweifellos besaßen sie Intelligenz. Und deren genauen Grad beabsichtigte er herauszufinden. Die Lektion, die er in dem alten Lebensbaum-Park der Großwelt gelernt hatte, war schließlich die, daß Intelligenz sich bei vielerlei Geschöpfen zeige.

Es gab Angehörige des Volkes, die — wie Hresh wußte — auf die Caviandis wegen ihres Fleisches Jagd machten. Angeblich sollten sie recht schmackhaft sein. Doch dem würde man ein Ende machen müssen, sollte es sich erweisen, daß der Helligkeit ihrer Augen ein vergleichbar reicher Intellekt entsprach. Eine Art Schutzgesetz vielleicht — sicher unpopulär, aber notwendig.

Er fühlte sich versucht, gleich jetzt rasch eine Sondierung, einen ersten Test ihres Bewußtseins vorzunehmen. Nur um einen allgemeinen Eindruck zu erhalten.

Er lächelte den zitternden Tieren beruhigend zu und richtete sein Sensororgan auf, um nur für einen Moment, für einen kurzen Einblick das Zweite Gesicht einzusetzen.

„Edler? Euer Gnaden Chronist?“

Die Störung war heftig, wie ein Schlag in die Nieren. Hresh wirbelte herum und erblickte einen seiner Helfer und neben ihm einen klobigen Kerl, der die Schärpe eines Büttels vom Gericht trug.

„Was ist denn?“

Der Büttel stolperte vorwärts. „Um Vergebung, gnädiger Chronist, aber ich habe eine Botschaft vom Gericht zu überbringen, von Husathirn Mueri, derzeit amtierender Richter in der Basilika. Ein Fremdling wurde ergriffen, ein junger Mann, der anscheinend aus der Gefangenschaft bei den Hjjks zurückgekehrt ist, und der versteht keine Sprache und gibt nur dieses Gezische der Wanzenleute von sich. Und so ersucht Prinz Husathirn Mueri dich respektvoll. also, ob du ihm vielleicht helfen könntest — vielleicht dich in die Basilika bemühen und bei dem Verhör mitwirken könntest.“


Man hatte sie für die Dauer der Vertagung in eine Verwahrzelle gebracht, wo sie warten sollte, einen schweißdumpfen kleinen Raum, der sich nicht wesentlich von den Zellen unterschied, in denen man die Verbrecher warten ließ, bis der Prinz-Richter sich ihrem Fall zuzuwenden geruhte; den Hjjk-Abgesandten hatten sie in eine ähnliche Zelle auf der anderen Seite der Kuppel gesteckt. Nialli Apuilana hatte gemeint, es wäre doch vielleicht nützlicher, wenn man sie beide im selben Raum auf Hresh warten ließe, auf daß sie ihre Kommunikationsversuche fortsetzen könnten, bis Hresh eintreffen würde, aber nein, nein, sie geht in die Zelle, der in jene andere! Sie begriff mit einiger Verblüffung, daß Husathirn Mueri offensichtlich nicht genug Vertrauen zu ihnen beiden hatte, als daß er sie irgendwo unbeaufsichtigt alleinzulassen wünschte. Darin zeigte sich einmal mehr, wie kleinlich und erbärmlich argwöhnisch er in seinem Herzen war. Wie klein und bürokratisch, wie ein Plebejer!

Sie fragte sich: Ahnt er vielleicht, daß es zwischen uns eine Nestbindung gibt? Befürchtet er, wir könnten eine konspirative staatsfeindliche Aktion ausbrüten, wenn man uns die Möglichkeit gibt, eine Stunde allein in einer gemeinsamen Zelle zu verbringen? Oder fürchtet er ganz primitiv, wir könnten die Zeit zu ein paar verschwitzten Kopulationsübungen verwenden? Eine absurde Vorstellung. Der Fremdling — klapperdürr und Haut und Knochen — sollte die kurze Zeit zwischen den Verhören dazu benutzen, um sich in sexueller Rage auf sie zu stürzen? Sie fand ihn ganz und gar nicht attraktiv. Doch war es für Husathirn Mueri wohl gar nicht so abwegig, so etwas zu argwöhnen. Was glaubt der denn eigentlich, wer ich bin? fragte sie sich.

Wütend stapfte sie in dem schmalen keilförmigen Gemach umher, bis sie dessen Ausmaße fünfzigmal bemessen hatte. Sodann ließ sie sich auf einer schwarzen Steinbank unter einer Nische nieder, in der ein Ikon Dawinnos-des-Verwandlers stand, lehnte sich zurück und faltete die Arme über den Brüsten. Sie war jetzt etwas ruhiger. Sog aus ihrem Selbst Geduld herauf. Es konnte schließlich lang dauern, ehe der Gerichtsdiener ihren Vater aufgespürt hatte.

Als sie allmählich ruhiger wurde, überkam sie mehr und mehr ein traumhaftes Gefühl. Etwas Seltsames hob sich nun in ihr. Visionen schweben durch ihr Gehirn. Das NEST? Ist es das? Ja. Von Atemzug zu Atemzug klarer, als würden dünne Stoffhüllen Schicht um Schicht weggezogen. Alte Erinnerungen erwachen wieder aus langem Schlaf. Was hat sie in Bewegung gesetzt? Der Anblick der Amulette an seiner Brust, an seinem Arm? War es das? Die Nest-Aura, die er mit sich trug und die einzig sie allein zu sehen vermochte?

Sie hört ein Rauschen, ein Dröhnen in sich. Und dann ist sie dort. In jener Anderwelt, in der sie die merkwürdigsten drei Monde ihres Daseins verbracht hat, und sie ist leibhaftig wieder lebendig für sie.

Alle umdrängen sie in dem engen Tunnelgang, heißen sie nach der langen Abwesenheit willkommen, fahren ihr sanft mit den Klauen über das Fell, um sie zu grüßen: ein Halbdutzend Wärter der Königin, ein Paar Ei-Macher und ein Nest-Denker, und eine Handvoll Militär. Der scharftrockene Duft, den sie absondern, klirrt in ihren Nüstern. Die Luft ist warm und lastend. Das Licht — ein schwaches rosiges Glühen, das vertraute angenehme Nest-Licht, dünn, aber ausreichend. Sie umarmt alle, einen nach dem anderen, und schmeckt genießerisch die Berührung ihrer zweigetönten Panzer und der schwarzborstigen Vorderarme. Wie schön, wieder bei euch zu sein, sagt sie zu ihnen. Danach habe ich mich gesehnt, seit ich von hier fortging.

In diesem Moment gibt es am Ende des langen Durchgangs eine Turbulenz: ein Prozessionszug der jungen Männer ist es, und sie schubsen und drängen einander. Sie sind unterwegs in das königliche Gemach, um dort durch die Berührung der Königin zur Zeugungsfähigkeit stimuliert zu werden. Es ist das letzte Stadium in ihrem Reifungsprozeß. Endlich werden sie zur Paarung zugelassen sein, sobald die Königin getan hat, was immer zu tun ist, um die Jugend zur Fruchtbarkeit zu bringen. Nialli Apuilana beneidet diese Jugend darum.

Aber reif ist ja auch sie selbst. Bereit für die Partnerschaft, bereit für die Erweckung des Lebensfunkens in ihr, bereit, die ihr bestimmte Rolle im Ei-Plan zu spielen. Die Königin muß das wissen. Die Königin weiß alles. Bald, denkt Nialli Apuilana, bald schon, an einem der nächsten Tage, bin ich an der Reihe und darf vor die Königin treten, und Ihre Liebe wird sich über mich ausgießen, und meine Lenden werden üppig und fruchtbar lebendig werden durch Ihre Berührung. und schließlich. am Ende. werde auch ich.

. auch ich werde.

„Edle, das Gericht tagt weiter.“ Die Stimme sägte durch sie hindurch wie eine stumpfe rostige Klinge.

Sie öffnete die Augen. Vor ihr stand ein Gerichtsdiener, es war ein anderer als zuvor. Sie funkelte ihn dermaßen wildwütend an, daß es ein Wunder war, wenn ihm nicht der Pelz vom Leib weggesengt wurde. Aber der Kerl stand bloß da und gaffte stupide. „Edle, die wollen, daß du wieder.“

„Ja. Aber ja doch! Meinst du, ich hab dich nicht verstanden?“


Hresh schien noch nicht eingetroffen zu sein. Alles war wie vorher, mehr oder weniger. Der Fremde stand genau im Zentrum des Raums, vollkommen bewegungslos, als wäre er seine eigene Statue. Er schien kaum zu atmen. Das war ein Hjjk-Trick. Diese Leute verschwendeten keine Energie. Ohne Grund bewegten sie sich überhaupt nicht.

Husathirn Mueri hingegen war ständig in Bewegung. Er schlug die Beine übereinander und entflocht sie dann wieder; er rutschte unruhig herum, als würde der Thron unter ihm plötzlich eisigkalt oder glühendheiß; er zuckte mit dem Sensororgan umher, rollte es bald um die Schienbeine, bald krümmte er es hinter sich hoch, so daß die Spitze ihm über die Schulter lugte. Sein intensiver Bernsteinblick irrte in alle Richtungen in dem großen Saal, außer zu Nialli Apuilana; aber dann plötzlich ertappte sie ihn wieder mit einem dieser gierig-saugenden Blicke. Aber sobald sich ihre Augen trafen, schaute er beiseite.

Seltsamerweise empfand sie irgendwie Mitleid mit ihm. Weil er dermaßen gehetzt war, so gereizt. Man sagte, daß seine Mutter, Torlyri, von geradezu heiligmäßiger Liebenswürdigkeit gewesen sei und sein Vater der ehrenhafteste Krieger. Aber Husathirn Mueri wirkte nicht im geringsten wie ein Heiliger, und Nialli Apuilana bezweifelte stark, daß er sich in einem Kampf auf dem Schlachtfeld hervortun würde. Er war wohl kaum ein würdiger Nachfahr seiner Älteren. Vielleicht trifft es ja wirklich zu, dachte sie, was die alten Leute immer so gern plappern, daß wir in unserem modernen Zeitalter der Verstädterung zu einer richtungslosen, angstgetrieben Masse geworden sind, völlig ohne klare Orientierung im Leben. Schwächlinge also, dekadent.

Aber ist das wirklich so, überlegte sie. Sind wir innerhalb einer einzigen Generationenfolge vom Primitivismus zu schwächlicher Dekadenz gelangt? All diese endlosen Zeiten eingesperrt im Kokon, kaum eine Änderung, und dann brechen wir aus und errichten uns eine gewaltige Stadt, und sozusagen über Nacht gehen alle unsere alten Tugenden verloren. unsere Gottähnlichkeit, unsere Würde?

Husathirn Mueri, dachte sie, ist vielleicht dekadent. Ich bin es vielleicht ebenfalls. Aber ist er ein Schwächling? Bin ich es?

„Der Chronist! Hresh-der-die-Antwort-weiß! Erhebe sich ein jeglicher vor dem Chronisten Hresh!“ Die blökende Hammelstimme des Gerichtsdieners, der nach Hresh ausgeschickt worden war.

Sie schaute sich um und sah ihren Vater in den Thronsaal treten.

Wie lange war das jetzt her, seit sie ihn zuletzt gesehen hatte? Sie wußte es nicht genau: Wochen sicher, vielleicht schon Monde. Es war nie so etwas wie eine deutliche Abkühlung zwischen ihnen eingetreten; es war nur einfach so, daß seine Wege und die ihren sich in letzter Zeit nur selten gekreuzt hatten. Er war beständig mit seiner Erforschung der vergangenen Welten befaßt und ging darin auf, und sie lebte ihr isoliertes, in gewisser Weise abwartendes Leben in den höheren Rängen des Nakhaba-Hauses und verspürte wenig Neigung oder sah kaum Gründe, in die innerstädtischen Viertel hinabzusteigen.

Sobald auch sie den Saal betreten hatte, wandte sich Hresh ihr zu, als wäre sie das einzige Wesen im Raum, und streckte ihr die Arme entgegen. Und sie flog ihm bereitwillig blitzschnell entgegen.

„Vater.“

„Nialli — ach, meine kleine Nialli.“

Er war in den wenigen Monaten seit ihrer letzten Begegnung stark gealtert, fast so, als lastete jede Woche wie ein ganzes Jahr auf ihm. Natürlich war er an einem Punkt seines Lebens angelangt, an dem die Zeit im Sausegalopp dahinrauschte. Einiges jenseits des fünfzigsten Jahres: ein alter Mann nach den durchschnittlichen Lebenserwartungen im VOLK. Sein Fell war schon lange ergraut. Nialli Apuilana, sein einziges, sehr spät geborenes Kind, konnte sich nicht erinnern, daß es je eine andre Färbung gehabt hätte. Seine schmalen Schultern waren gebeugt, die Brust eingefallen. Einzig seine riesigen dunklen scharlachgefleckten Augen, die wie Leuchtfeuer unter der breiten Stirn flammten, strahlten noch die Vitalität aus, die er in jenen längstvergangenen Tagen besessen haben mußte, als er — kaum mehr als ein Knabe — das VOLK aus dem ererbten Kokon der Vorfahren über die flachen Ebenen nach Vengiboneeza geführt hatte.

Sie umarmten sich ruhig, fast feierlich. Dann wich sie von ihm zurück, und ihre Blicke trafen sich kurz.

Hresh-der-die-Antwort-weiß hatte der Gerichtsdiener ihn genannt. Nun ja, so lautete sein voller Zeremonialname. Er hatte ihr einmal erzählt, daß er ihn sich an seinem Benamungstag selber gewählt hatte.

Zuvor, in seinen Knabentagen, hieß er Hresh-voller-Fragen. Beide Namen paßten gut zu ihm. Nirgendwo gab es einen Verstand wie den seinen — stets bohrend, immer suchend. Wahrhaftig, er war sicher der weiseste Mann auf der Welt. Dachte Nialli. Sagten alle.

Sie fühlte sich von seinen erstaunlichen Augen eingesogen, aufgezehrt, die Wunder und Rätsel gesehen hatten, welche sie kaum zu erfassen vermocht hätte. Hresh hatte die Große Welt im Leben gesehen. Er hatte ein Gerät in der Hand gehalten, das dies alles wieder herbeibrachte in inneren Gesichten, das ihm das gewaltige Volk der Saphiräugigen zeigte und die Seelords und die Mechanischen und all die anderen toten Rassen — sogar die Menschen, die das VOLK mit dem Namen ‚Traum-Träumer‘ bezeichnete in den Tagen des Kokons — diese rätselhaften verwirrenden Menschlichen, die Herrscher über die Erde gewesen waren, lang ehe irgendeine andere Art entstand, vor so unendlicher Zeit, daß man allein vom bloßen Drandenken ganz benommen wurde.

Hresh wirkte so sanft, so unauffällig — bis du ihm in die Augen schautest. Dann war er plötzlich furchteinflößend. Er hatte so vieles gesehen. So vieles erreicht. Alles, was aus dem VOLK seit dem Ende des Langen Winters geworden war, war durch Hreshs formendes Tun geschehen.

Er lächelte. „Welche Überraschung, dich hier zu treffen, Nialli.“

„Husathirn Mueri hat mich rufen lassen. Er glaubte, ich könnte die Sprache der Hjjks noch verstehen. Aber natürlich habe ich alles längst vergessen, alles, bis auf ein paar Brocken.“

Hresh nickte. „Man kann kaum erwarten, daß du dich erinnerst. Es war vor zwei Jahren, nicht wahr?“

„Drei, Vater. Beinahe vier.“

„Beinahe vier. Aber ja.“ Er gluckste vor sich hin, voll Nachsicht mit der eigenen Zerstreutheit. „Und wer wollte dir böse sein, daß du das aus deinem Gedächtnis verbannt hast. Einen derartigen Alptraum.“

Sie wandte den Blick ab. Er hatte nie verstanden, was sich bei ihrem Aufenthalt bei den Hjjks in Wahrheit ereignet hatte. Niemand hatte das verstanden. Wahrscheinlich würde es auch nie jemand verstehen können. Außer diesem schweigenden Fremdling da, und zu dem fand sie keinen brauchbaren Kommunikationsweg.

Husathirn Mueri kam vom Thronstuhl herab und führte den Fremden vor Hresh. „Er wurde am Mittag im Emakkis-Tal, auf einem Zinnobär reitend, aufgegriffen. Er stößt Hjjk-Laute aus, spricht aber auch einige Worte unsrer Sprache. Nialli Apuilana sagt, das sind Hjjk-Amulette an seinem Hals und Handgelenk.“

„Er sieht halbverhungert aus“, sagte Hresh. „Mehr als halb. Er ist ja nur noch ein wandelndes Skelett.“

„Weißt du nicht mehr, wie ich ausgesehen habe, Vater, als ich von den Hjjks zurückkam?“ fragte Nialli. „Man ißt sehr wenig bei den Hjjks. Dort bevorzugt man Knappheit, in der Nahrung, in allem. So sind sie nun einmal. Ich hatte dort die ganze Zeit Hunger.“

„So hast du auch ausgesehen, als du wieder da warst“, sagte Hresh. „Ich erinnere mich genau. Schön, vielleicht finden wir einen Weg, uns mit diesem jungen Mann zu verständigen. Im übrigen sollte man ihm zu essen geben. Wie wär’s, Husathirn Mueri? Etwas Nahrhaftes, damit er ein bißchen Fleisch auf seine Knochen bekommt. Aber sehen wir erst einmal, was wir tun können.“

„Wirst du den Wunderstein benutzen?“ fragte Husathirn Mueri.

„Den Wunderstein, ah ja. Den Barak Dayir.“ Hresh holte einen abgeschabten Samtbeutel aus einer Tasche seines Umhangs und zupfte an der Verschnürung. In seine Handfläche kullerte ein spitz zulaufendes poliertes Steinstück, wie eine sauber gearbeitete Speerspitze. Die Farbe war fleckiges Purpurbraun, und entlang den Kanten zog sich ein gekerbtes Muster komplizierter dünner Linien. „Keiner komme mir nahe!“ befahl Hresh.

Nialli zitterte. Sie hatte den Wunderstein höchstens fünf-, sechsmal in ihrem Leben zu Gesicht bekommen, und das war zuletzt vor vielen Jahren gewesen. Er war der erlesenste und kostbarste Besitz des VOLKES. Und niemand — nicht einmal Hresh selbst — wußte, was es war. Man sagte, er sei aus Sternenmaterial (was immer das heißen mochte). Und man sagte, der Stein sei älter noch als die Große Welt, ein Menschen-Ding, ein Instrument aus jener unbekannten fernen Welt, die da war, ehe die Saphiräugigen über die Erde herrschten. Vielleicht stimmte das ja. Das einzig Gesicherte war, daß Hresh herausgefunden hatte, wie man damit Wunder wirkte.

Nun schmiegte Hresh den Stein in die Biegung seines Sensororgans und faßte fest zu. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich seltsam und wurde abweisend. Er rief jetzt sein Zweites Gesicht herauf und entfesselte die gewaltigen Kräfte seines Bewußtseins und konzentrierte sie in dieses seltsame Gerät namens Barak Dayir.

Der Fremde stand bewegungslos da, und seine Augen hafteten, ohne zu blinzeln, fest auf Hresh. Es waren ungewöhnliche Augen, von einem reinen leuchtenden Grün, wie das Wasser an den seichten Stellen der Dawinno Bay, aber viel kälter. Der Fremde schien ebenfalls in tiefer Konzentration gefangen, und wieder legte sich dieses merkwürdige halbe Lächeln auf sein Gesicht.

Hresh hatte die Augen geschlossen. Er schien kaum zu atmen. Er war in seinem eigenen Beschwörungszauber versunken, und sein Geist war völlig der Kraft des Barak Dayir überantwortet. Doch nach einer Ewigkeit sah man, daß er zurückkehrte. Es war sehr still im Saal.

„Sein Name lautet Kundalimon“, sagte Hresh.

„Kundalimon“, wiederholte Husathirn Mueri ernst, als besäße der Name für ihn irgendeine tiefe Bedeutung.

„Jedenfalls glaubt er das. Er ist sich da nicht völlig sicher. Er ist auch nicht völlig sicher, ob er weiß, was ein Name überhaupt ist. Unter den Hjjks hat er keinen Namen. Aber Spuren des Namens Kundalimon haften noch in seiner Erinnerung — wie die Reste der Grundmauern einer Ruinenstadt. Er weiß, daß er hier geboren wurde — vor siebzehn Jahren.“

Husathirn Mueri sprach leise zu dem Büttel: „Geh ins Haus des Wissens. Überprüfe, ob sie dort irgendwelche Aufzeichnungen haben über ein verlorenes Kind namens Kundalimon.“

Hresh schüttelte den Kopf. „Nein. Laß das. Darum kümmere ich mich persönlich. Später.“ Er wandte sich wieder dem Fremden zu. „Wir werden dich lehren müssen, deinen Eigennamen zu kennen. In dieser Stadt hat jeder einen Namen, einen, der nur ihm ganz persönlich gehört.“ Und mit klarer hoher Stimme sagte er: „Kundalimon.“ Und zeigte auf den Jungen.

„Kundalimon“, wiederholte der Fremde, nickte und klopft sich auf die Brust. Etwas, das schon beinahe ein richtiges Lächeln war, lag auf seinem Gesicht.

Hresh berührte seine eigene Brust. „Hresh.“

„Hresh“, sprach der Fremde nach. „Hresh.“

Dann blickte er Nialli an.

„Er will auch deinen Namen wissen“, sagte Hresh. „Also, los. Sag ihn ihm.“

Nialli nickte. Aber zu ihrem Entsetzen war ihre Stimme nicht da, als sie sprechen wollte. Aus ihrem Hals kam nur ein Husten und ein gequältes heiseres Krächzen, das fast schon wie ein Hjjk-Laut klang. Bestürzt und beschämt riß sie die Hand vor den Mund.

„Sag ihm deinen Namen“, befahl Hresh erneut.

Stumm tippte sie sich mit den Fingerspitzen an die Kehle und schüttelte den Kopf.

Hresh schien sie zu verstehen. Er nickte Kundalimon zu und deutete auf seine Tochter. „Nialli Apuilana“, sprach er mit der gleichen klaren hohen Stimme wie zuvor.

„Nialli — Apuilana“, wiederholte Kundalimon sorgfältig und starrte sie dabei an. Die geschmeidigen Vokale und fließenden Konsonanten schienen ihm nicht leicht über die Lippen zu kommen. „Nialli. Apuilana.“

Sie wandte den Blick ab, als hatte sie sich an seinen Augen versengt.

Hresh nahm erneut den Barak Dayir, schloß die Augen und zog sich wieder in seine Trance zurück. Kundalimon stand bewegungslos wie eine Statue vor ihm. Es herrschte äußerste Stille im Raum.

Kurz darauf schien Hresh zurückzukehren, und nach einer Weile sagte er: „Wie seltsam sein Bewußtsein ist! Er hat bei den Hjjks gelebt, seit er vier Jahre alt war. Hat im großen Hauptnest gewohnt, dem Nest der Nester, hoch oben im Norden.“

Im Nest der Nester! In der Umgebung der Königin der Königinnen höchstselbst! Nialli verspürte eine Welle von Neid in sich aufsteigen.

Sie fand ihre Stimme wieder und fragte leise: „Und hast du erfahren, warum er hierher gekommen ist, Vater?“

In seltsam gedämpftem Ton antwortete Hresh: „Die Königin will einen Vertrag mit uns schließen.“

„Einen Vertrag?“ sagte Husathirn Mueri.

„Ja, einen Vertrag über einen ewigen Frieden.“

Husathirn Mueri sah wie betäubt aus. „Was sind die Bedingungen? Hast du das erfahren?“

„Sie wollen, daß quer über den Kontinent eine Linie gezogen wird, irgendwo direkt nördlich der Stadt Yissou. Alles, was nördlich von dieser Grenzlinie liegt, soll danach Hjjkerland sein, alles südlich davon bleibt VOLKS-Gebiet. Kein Angehöriger unserer verschiedenen Rassen darf künftig das fremde Territorium betreten.“

„Ein Vertrag“, wiederholte Husathirn Mueri verwundert. „Die Königin will einen Vertrag mit uns schließen? Ich kann es nicht glauben.“

„Ich ebensowenig“, sagte Hresh. „Das klingt doch fast zu schön, um wahr z sein, wie? Klare festgelegte Grenzen. Ein Abkommen über territoriale Unverletzlichkeit. Alles ganz klar, alles ganz direkt. Mit einem Streich das Ende unserer Furcht vor einem Krieg mit denen, die uns unser ganzes Leben lang bedrückte.“

„Falls wir ihnen trauen können.“

„Ja. Falls wir ihnen trauen können.“

„Haben sie auch nach Yissou einen Gesandten geschickt, hast du da etwas erfahren?“ fragte Husathirn Mueri.

„Ja. Wie es scheint, haben sie Emissäre in jede der Sieben Städte entsandt.“

Husathirn Mueri lachte. „König Salamans Gesicht möchte ich gern sehen! Plötzlich aus dem Nichts bricht der Frieden aus! Ein Ewiger Frieden mit dem mächtigen Erzfeind, den Insekten! Was würde denn dann aus seinem ‚Heiligen Vernichtungskrieg‘ auf den er in den letzten zehn, zwanzig Jahren so entsetzlich scharf ist?“

„Glaubst du, es war Salaman mit seinen Kriegsdrohungen gegen die Hjjks je wirklich ernst?“ fragte Mialli.

Husathirn Mueri blickte zu ihr her. „Was?“

„Das Ganze ist doch bloße Politik, oder? Damit er einer Grund hat, seine große Mauer immer höher und höher und noch höher zu bauen. Andauernd sagt er, die Hjjks bereiteten sich darauf vor, seine Stadt zu erobern, dabei haben sie zuletzt einen Angriff gewagt, als die meisten von uns noch gar nicht geboren waren. Damals, als Harruel dort oben König war und Yissou gerade erst gegründet.“

Er wandte sich wieder Hresh zu. „Da hat sie ein stichhaltiges Argument. Trotz all dem Gezeter von Salaman hat es seit Jahren zwischen den Hjjks und dem VOLK keine wirklichen Feindseligkeiten mehr gegeben. Sie haben ihre Territorien, wir die unsern, und außer ein paar Scharmützeln in der Grenzzone passiert doch nie was Ernstes. Wenn bei diesem Vertrag nichts weiter rausschaut als die Ratifizierung des Status quo, was hat er dann überhaupt für eine Bedeutung? Oder handelt es sich um eine Falle?“

„Es gibt noch weitere Vertragspunkte, außer diesem einen“, sagte Hresh gelassen.

„Was soll das heißen?“

„Ich glaube, das heben wir uns besser für die Aussprache im Präsidium auf“, antwortete Hresh. „Im Moment haben wir hier einen erschöpften fremden Gast. Weise dem Jungen eine Unterkunft zu, Husathirn Mueri. Und seht zu, daß ihr etwas zu essen auftreibt, das ihm schmeckt. Versorgt sein Zinnobär ebenfalls gut. Er ist sehr besorgt um sein Reittier.“

Husathirn Mueri winkte einen der Gerichtsdiener heran, der linkisch vorwärtsstolperte.

„Nein!“ sagte Nialli Apuilana. Ihre Stimme war schon wieder nur ein scharfes Krächzen, doch es gelang ihr, sich Gehör zu verschaffen. „Nicht du!“ Sie streckte dem Fremden die Hand entgegen. „Ich werde mich darum kümmern, daß er ihm angenehme Nahrung erhält. Ich weiß, was er ißt. Und ich weiß es wirklich besser als irgendwer sonst hier. Vergeßt nicht, ich war selbst einmal im Nest.“ Sie warf herausfordernde Blicke durch den Saal „Also? Gibt es Einwände?“ Aber niemand sagte etwas.

„Komm!“ sprach sie zu Kundalimon. „Ich werde für dein Wohlbefinden sorgen.“

Ganz wie es richtig ist, dachte sie.

Wie könnte ich auch zulassen, daß es jemand anderer tut? Was wissen die denn schon? Alle zusammen? Aber wir zwei, wir sind beide aus dem Nest. Du und ich. Wir sind beide aus dem Nest.

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