Hresh kam es vor, als dauerten die Spiele endlos. Um ihn herum tobte begeistert die Menge, aber er wäre liebend gern anderwärts gewesen, irgendwo anders. Doch er wußte, es bestand keine Hoffnung für ihn, aus dem Stadion zu entkommen, ehe das letzte Rennen gelaufen, der letzte Gewichtwurf erledigt waren. Er mußte hier hockenbleiben, angeödet und triefnaß, und beständig an den unwiederbringlichen Verlust denken und sich verzweifelt bemühen, seine Pein nicht sichtbar werden zu lassen. Da saß sie neben ihm, Nialli, und war ganz gepackt von den Ereignissen drunten auf dem Kampffeld; sie jubelte bei jeder Entscheidung, ganz so, als hätte ihr Gespräch am Abend zuvor nicht stattgefunden, als wäre sie unfähig zu begreifen, daß sie ihn tief ins Herz getroffen, ihm einen Schlag versetzt hatte, von dem er sich nie wieder würde erholen können.
„Da, schau doch, Vater!“ Sie wies hinab. „Jetzt kommen sie mit den Cafalas!“
Ja, es folgte das Cafalas-Rennen, eine komische Einlage, bei der die Reiter auf den plumpen kurzbeinigen Tieren sich verzweifelt abmühten, die widerspenstigen trägen Bestien in Bewegung zu setzen. Nialli hatte das immer besonders genossen, es war so blödsinnig, so völlig absurd. Einer der kleinen Scherze, die Hresh sich (selten genug) erlaubte, mehr war es nicht. Er war nur einer spielerischen Laune gefolgt, als er das Cafala-Rennen den offiziellen Wettkampfdisziplinen hinzugefügt hatte. Aber das Volk hatte das ernstgenommen, die Idee zündete, und jetzt war das Ganze einer der Höhepunkte des Tages.
Hresh hatte nie viel für sportliche Wettkämpfe übrig gehabt, nicht einmal als Junge im Kokon. Manchmal hatte er zwar mit den anderen Kindern beim Beinringen oder Höhlensegeln mitgemacht, aber nie mit besonderer Begeisterung. Er war für solche Sachen einfach zu leichtgewichtig und zu klein gewesen, und vor allem zu ‚besonders‘. Ihm hatte es mehr zugesagt, bei dem alten Graupelz Thaggoran, dem Stammeschronisten, zu hocken, oder immer wieder einmal ganz allein das Gewirr der uralten aufgegebenen Gangsysteme unterhalb der zentralen Wohnkammer zu durchwandern.
Dennoch, der Sport hatte seine Bedeutung. Er bot den Massen ein Vergnügen; er zog das Interesse der Oberflächlichen und Leichtfertigen auf sich; und was noch viel wichtiger war, er lenkte die Seelen auf zentrale Höhere Dinge: das Streben nach herausragender Leistung, nach Vollkommenheit. Deshalb hatte Hresh dieses Jahresfest entworfen: die Spiele zu Ehren Dawinnos — der der Gott des Todes und der Zerstörung war, aber auch der Anpassungsfähigkeit, der Verwandlung, des Erfindungsreichtums und witziger Weisheit und tausendfältiger Energieströme. Und nachdem er nun einmal der Erfinder und Planer der Spiele war, saß er hier fest, ob ihm das gefiel oder nicht, und mußte sie sich bis zum Ende anschauen.
Es regnete immer wieder in Schüben. Mal war es ein feines Nieseln, dann wieder peitschten schräge Schauer nieder. Niemand schien es zu stören. Das Stadion war nur an der Peripherie überdacht, die unteren Ränge, sogar die Loge des Häuptlings, und natürlich das Spielfeld lagen unter freiem Himmel. Zwischen den Güssen wehte immer wieder ein warmer trockener Wind, und die Sonne zeigte sich, und dies genügte anscheinend dem Publikum und den Athleten gleichermaßen, um sich wohl zu fühlen. Die Spiele faszinierten sie dermaßen, daß sie dem Regen überhaupt keine Beachtung schenkten. Hresh in seinem triefnassen trostlosen Elend verspürte nicht die geringste Begeisterung und argwöhnte, daß er wohl wieder einmal als einziger keinen Spaß habe.
Und dann waren die Cafalas endlich gestartet und watschelten die verschlammten Bahnen entlang. Gewöhnlich war ein Beng Sieger in dieser Disziplin. Auf ihren Wanderungen durch die Grenzregionen des Hjjk-Gebiets, lange vor der Vereinigung, hatten die Bengs Herden von Wild-Cafalas aufgespürt und sie wegen ihres Fleisches und ihrer dichten Wolle domestiziert. Seitdem galten sie als große Cafala-Kenner.
Aber diesmal war es ein Koshmari-Junge, der an der Spitze lag, oder? Aber ja, ja! Es war Jalmud, einer der jüngeren Söhne von Preyne. Nialli war aufgesprungen, fuchtelte frenetisch mit den Armen und feuerte ihn an. „Los, Jalmud! Los! Du schaffst es!“
Der Junge hockte, tief nach vorn gebeugt, auf seinem Cafala, die Knie eisern in des regennasse bläuliche Fell seines Reittiers gebohrt, und zog mit den Fingern heftig an den ledrigen lappigen schwarzen Ohren. Und sein stumpfblickendes flachnäsiges Cafala reagierte heldenhaft und stampfte mit nickendem Kopf und spreizbeinig stetig vorwärts. Inzwischen hatte es sich eindeutig an die Spitze des Feldes geschoben.
„Jalmud! Jalmud!“ schrie Nialli. „Los! Gib’s den Bengs!“ Sie tanzte jetzt herum, ahmte den unbeholfenen Kanter der Cafalas nach und lachte, wie Hresh sie lange, lange Zeit nicht mehr hatte lachen hören. Sie wirkte mehr wie ein ganz junges Mädchen beim allerersten Cafala — Rennen als wie eine Frau, die er nie wiedersehen würde.
Er fühlte — wie er sie da so beobachtete, während sie dem Rennen zusah — einen scharfen stechenden Gram in sich. Er schaute sie unablässig an, als erwartete er, daß sie hier und gleich jetzt vor seinen Augen verschwinden werde. Aber noch blieb ihnen ja ein wenig Zeit.
Zuerst mußte sie ihm ja noch all das über die Königin und das Nest erzählen, was zu sagen sie ihm versprochen hatte. Und Nialli hielt sich stets an ihre Versprechungen.
Wie bald schon würde sie fortgehen? In ein paar Tagen, einer Woche, einem Monat?
Schon als Kind war sie abenteuerlustig gewesen, stets voll Neugier, stets lernbegierig. Mit schmerzlicher Zärtlichkeit sah Hresh sie jetzt in seiner Erinnerung vor sich, wie sie als kleines Mädchen gewesen war: die hellen wachen Augen immer voll Lachen, war sie an seiner Seite durch die Gänge des Hauses der Wissenschaft gestolpert, von Fragen übersprudelnd: Was ist das? Was ist das?
Jedoch, es stand zweifelsfrei fest, sie würde fortgehen. Sie sah darin das Große Abenteuer ihres Lebens, die Große Suche und Heilsfindung, und nicht, gar nichts sonst war ihr daneben noch wichtig. Weder Vater noch Mutter und auch nicht die Stadt. Es war wie ein Zauberbann, eine Verhexung. Und er würde sie nicht zurückhalten können. Er hatte dieses Leuchten an ihr gesehen. Sie liebte diesen Kundalimon und — Dawinno helfe ihr! — sie liebte die Königin. Die eine Liebe war ganz natürlich und eigentlich durchaus lobenswert. Die andere entzog sich seinem Begriffshorizont und außerdem, wie er sehr wohl wußte, jeglicher Beeinflussung seinerseits. Was immer man mit ihr während ihrer Gefangenschaft im Nest gemacht haben mochte, es hatte sie unwiderruflich verändert. Also würde sie nun wieder zu den Hjjks gehen; und ebenso sicher war wohl, daß sie diesmal nicht zurückkehren würde. Niemals. Es kam ihm so unwirklich vor: In ganz kurzer Zeit sollte er sie für immer verlieren. Aber er war machtlos dagegen. Die einzige Möglichkeit, sie hier bei sich festzuhalten, wäre, daß man sie einsperrte wie eine gewöhnliche Kriminelle.
Und Nialli schreit schrill: „Jalmud!“ Sie wirkt ganz außer Rand und Band.
Das Wettrennen ist vorbei. Jalmud steht grinsend vor dem Dawinno-Altar und nimmt seinen Siegerkranz entgegen. Stallknechte versuchen die umherwandernden Cafalas zu sammeln, die sich überallhin verstreut haben.
In diesem Augenblick taucht eine behelmte Gestalt am Zugang zur Häuptlingsloge auf: ein dicklicher, untersetzter Mann mit der Schärpe der Justizwachen. Er beugt sich zu Taniane herab und sagt sehr gedämpft: „Hohe Frau, ich muß dich sprechen.“
„So sprich denn!“
Der Gardist wirft Hresh einen unsicheren Blick zu. Dann auch einen ebenso unsicheren auf Nialli.
„Es ist ausschließlich für deine Ohren bestimmt, Edle.“
„Schön, dann flüstere!“
Der Gardist schiebt den Helm in den Nacken und beugt sich, unverschämt dicht, zu Taniane nieder. „Nein!“ murmelt Taniane nach den ersten paar Worten heiser. Sie greift kurz mit beiden Händen an den Hals. Dann hämmert sie mit den Fäusten heftig und in wilder Wut auf ihre Schenkel. Hresh starrt sie verblüfft an. Sogar der Wachsoldat scheint verwirrt, was für eine Wirkung seine Nachricht auslöste, und weicht zurück und schlägt die Zeichen sämtlicher Götter nervös immer wieder und wieder.
„Was ist denn?“ fragte Hresh.
Und sie schüttelt nur langsam den Kopf. Auch sie macht jetzt die heiligen Zeichen. „Yissou sei uns gnädig!“ sagt sie mit seltsam tonloser Stimme und wiederholt es mehrere Male.
„Mutter?“ Nialli, fragend.
Hresh ergreift Taniane am Handgelenk. „Bei den Göttern, Taniane, so sag mir schon, was passiert ist!“
„Ach, Nialli, meine Nialli.“ „Mutter, also, bitte.“
Mit einer Stimme, die wie aus einer Gruft zu dringen scheint, sagt Taniane: „Der junge Mann, der von den Hjjks zu uns gekommen ist, der Abgesandte.“
Nialli, ärgerlich: „Was ist denn, Mutter? Ist was mit ihm?“
„Man hat ihn vor kurzem in einer Gasse gefunden. An der Straße vom Mueri-Haus. Tot. Erwürgt.“
„Götter!“ krächzt Hresh.
Und er breitet für Nialli die Arme aus, um sie zu umfangen und sie zu trösten. Doch er kommt damit zu spät. Das Mädchen stößt einen entsetzlichen Schrei aus, macht kehrt, springt wild vor Schmerz über die Logenbrüstung und stürzt sich in die Menschenmenge, die sie mit der Kraft einer Tobsüchtigen aus dem Weg stößt, als wären die Leute Strohhalme. Dann sieht er sie nicht mehr. Und gleich danach kommt ein zweiter Wachsoldat angekeucht, schnaubend und so täppisch wie ein Cafala, und klammert sich mit irrem Blick atemlos mit beiden Händen an die Logenbrüstung, als wollte er die Welt zum Stillstand bringen, und blubbert: „Herrin! Edle! Im Stadion ist ein Mord passiert! Herrin, unser Wachhauptmann. der Chef.“
Es war fast Mitternacht. Der Regen hatte aufgehört, und überall stiegen dichte weiße Nebelschwaden vom Boden auf wie die Scheinleiber der Toten, die sich in die Lüfte erheben. Die wichtigsten Mitglieder des Präsidiums saßen schon den ganzen Abend über in einer Krisensitzung und berieten — es war ihnen allen als vernünftigster politischer Schachzug —, und sie hatten endlos über die zwei Morde geredet und kein Ende gefunden, als könnte das Bereden die Toten zurückbringen. Am Ende hatte Taniane sie allesamt weggeschickt und die Sitzung als ergebnislos vertagt. Nur Husathirn Mueri war geblieben. Sie hatte ihn darum gebeten.
Der Häuptling war einem Zusammenbruch nahe. Der Tag war ihr so lang erschienen, als hätte er tausend Jahre gedauert.
Nicht ein Mord, sondern gleich zwei. Tod durch Gewalteinflüsse war in der Stadt nahezu unbekannt. Und an einem einzigen Tag hatte es nun gleich zwei Fälle gegeben. Und dies noch dazu am Nationalfeiertag!
Sie blickte Husathirn Mueri kalt und scharf an. „Ich habe dir nur aufgetragen, seiner Predigerei ein Ende zu machen, nicht ihn umbringen zu lassen. Was bist du für eine Bestie, einen Menschen einfach so ermorden zu lassen?“
„Edle, es lag ebensowenig in meiner Absicht, daß er getötet werde, wie in deiner“, sagte Husathirn Mueri heiser.
„Trotzdem hast du deinen Wachhauptmann losgeschickt mit eben diesem Auftrag.“
„Nein. Ich schwöre dir, Herrin, nein!“ Er sah ebenso mitgenommen und erschöpft aus, wie sie selber sich fühlte. Sein schwarzes Fell hing schwer von Schweiß an ihm, und die weißen Streifen darin waren stumpfgrau vom öligen Schmutz des ganzen Tages. Die bernsteinfarbenen Augen wiesen den glasigen Schimmer äußerster Erschöpfung auf. Er ließ sich auf die Steinbank vor dem Arbeitstisch fallen und sagte: „Ich habe Curabayn Bangkea nicht mehr gesagt, als was du mir gesagt hast: Daß er ihn zum Schweigen bringen soll, daß er dafür sorgen soll, daß der nicht weiter predigt. Ich habe nicht ein einziges Wort über Töten gesagt. Wenn äso Curabayn Bangkea ihn ermordet hat, dann war das ganz allein seine Idee.“
„ Wenn er ihn getötet hat?“
„Das wird sich schwerlich jemals ermitteln lassen, oder?“
„Aber der Würgeschal, den er benutzte, war doch um sein Handgelenk geschlungen.“
„Nein“, erwiderte Husathirn Mueri müde. „Als man ihn fand, trug er ein Strangulationstuch bei sich, da gebe ich dir recht. Aber viele Männer von der Art dieses Curabayn Bangkea schmücken sich mit Würgebändern, vorwiegend aus ornamentalen, denn aus zweckmäßigen Gründen. Daß er ein solches Band am Arm trug, beweist gar nichts. Noch ist es ein gesicherter Beweis, daß damit dieser Kundalimon getötet wurde. Und selbst falls dies der Fall gewesen sein sollte, Herrin, besteht immer noch die Möglichkeit, daß der, der Kundalimon tötete, auch der Mörder von Curabayn Bangkea ist und ihm das Band nur an den Arm gebunden hat, um den Verdacht auf ihn zu lenken. Oder laß mich dir noch eine weitere mögliche Hypothese vorlegen: Curabayn Bangkea hat den Mörder gefaßt und ihm das Würgetuch abgenommen, als Beweisstück, und wurde danach selbst getötet. Vielleicht von einem Komplizen des Mörders.“
„Du verfügst über ein ganzes Arsenal von Hypothesen.“
„So arbeitet nun einmal mein Verstand“, sagte Husathirn Mueri. „Ich kann nichts dafür.“
„Ja, wirklich“, erwiderte Taniane scharf.
Was sie wirklich am liebsten getan hätte: Ihr Zweitgesichtssensorium einzusetzen und zu sondieren, wie tief Husathirn Mueri tatsächlich in diese scheußliche elende Geschichte verwickelt war. Sie hatte immer noch den Eindruck, da sie ihn ja kannte, daß er ganz absichtlich ihre Anordnungen als Order fehlinterpretierte, Kundalimon beseitigen zu lassen. Immerhin, Kundalimon war für Husathirn Mueri ein Rivale in der Gunst um Niallis Zuneigung gewesen, ja, er hatte ihn besiegt und ihre Gunst tatsächlich gewonnen. Es kam also Husathirn Mueri durchaus recht gelegen, ihre Worte falsch zu verstehen und dann seine Subalternkreatur, diesen Wachhauptmann, loszuschicken, um Kundalimon zu ermorden. Und dann auch gleich den Hauptmann umbringen zu lassen, um ihn zum Schweigen zu bringen.
Es paßte alles zusammen. Außerdem verströmte Husathirn Mueri, wie er da so vor ihr hockte, eine Aura wie eine dumpfe Wolke von übelriechendem Sumpfgas.
Dennoch, sie konnte nicht einfach ihr Zweitgesicht einsetzen und sich auf eine Faktensondierung in seinem Bewußtsein begeben. Es wäre eine höchst skandalöse Verletzung seiner Persönlichkeitsrechte gewesen und überdies unangemessen unfein. Nein, sie würde zuerst formell Anklage erheben, ihn vor ein Gericht stellen lassen müssen, ehe so etwas möglich war. Und sollte er in der Tat und an der Tat unschuldig sein, so hätte sie damit persönlich gar nichts gewonnen, außer daß sie sich einen unversöhnlichen Feind geschaffen hätte, der zufällig auch noch einer der schlausten und mächtigsten Männer der Stadt war. Nein, das Risiko lohnte sich nicht.
Könnte es sein, daß es mir je durch den Kopf ging, ohne daß ich es bewußt erkannt hätte, fragte sie sich jetzt, daß ich Kundalimon einfach beseitigen lassen wollte? Und ist es denkbar, daß ich dies Husathirn Mueri irgendwie zu verstehen gab, ohne ganz zu begreifen, was ich von ihm verlangte?
Nein. Nein. Nein.
Sie hatte nie gewollt, daß dem jungen Mann irgendein Leid geschehen sollte. Sie wollte nur die Kinder der Stadt schützen gegen diesen irrwitzigen, abersinnigen Hjjk-Glauben, den er verbreitete. Doch, da war sie ganz sicher. Nein, es war unmöglich, daß sie den Tod des ersten und einzigen Geliebten ihrer eigenen Tochter angeordnet haben sollte.
Und wo war sie jetzt, Nialli? Seit sie aus dem Stadion gelaufen war, hatte niemand sie mehr gesehen.
„Du verdächtigst mich immer noch der Mitwisserschaft?“ fragte Husathirn Mueri.
Taniane starrte ihn steinkalt an. „Ich verdächtige jeden — außer vielleicht meinen Partner und meine Tochter.“
„Welche beweiskräftigen Sicherheiten könnte ich dir geben, Edle, daß ich mit dem Tod des jungen Mannes nichts zu schaffen hatte?“
Sie zuckte die Achseln. „Genug davon. Aber es war dein Untergebener, dieser Polizist, der es übernahm, Kundalimon töten zu lassen oder ihn selbst zu töten.“
„Höchstwahrscheinlich. Ich stimme zu.“
„Aber wem legen wir dann die Ermordung dieses Curabayn Bangkea zur Last?“
Husathirn Mueri breitete die Hände aus. „Ich habe keine Ahnung. Vielleicht ein paar Rowdies bei den Spielen, die ihn in einer dunklen Ecke überfielen. Vielleicht eine alte Rechnung, die da beglichen wurde. Er war immerhin Hauptmann der Wachen und ziemlich überheblich. Er muß etliche Feinde gehabt haben.“
„Aber am selben Tag, an dem Kundalimon ermordet wird.“
„Ein zufälliges Zusammentreffen, das wohl nur die Götter erhellen könnten. Ich jedenfalls nicht, Edle. Doch die Nachforschungen werden natürlich fortgesetzt, bis wir den Fall gelöst haben, selbst wenn es hundert Jahre dauern sollte. Beide Todesfälle werden aufgeklärt, das verspreche ich dir.“
„In hundert Jahren spielt das alles nicht die geringste Rolle mehr. Aber heute ist es wichtig, daß ein Abgesandter der Königin-der-Königinnen in unserer Stadt ermordet wurde. Bei schwebenden Vertragsverhandlungen.“
„Dies also beunruhigt dich?“
„Ich wünsche nicht in einen Krieg mit den Hjjks verwickelt zu werden, bevor wir dazu vorbereitet sind. Nur Yissou mag wissen, was in den Gehirnen von Hjjks vorgeht, aber wenn ich die Königin wäre, ich würde die Ermordung meines Gesandten wahrhaftig als eine höchst gravierende Provokation betrachten. Effektiv als einen Akt feindseliger Aggression und Anlaß für Krieg. Und wir sind noch längst nicht so weit, daß wir es mit ihnen aufnehmen könnten.“
„Ich stimme zu. Doch es handelt sich ja nicht um einen derartigen Akt der Provokation. Bedenke doch, Edle.“ Er zählte seine Fakten an den Fingern auf. „Erstens: Sein Gesandtschaftsauftrag war erfüllt. Er hatte seine Botschaft überbracht, und zu weiterem war er nicht befugt. Er war nicht als Unterhändler hergeschickt, sondern nur als ein Bote — und nicht einmal ein besonders fähiger. Zweitens: Er war Bürger dieser unsrer Stadt und nach einer langen, langen Abwesenheit, einer Folge seiner Entführung, hierher zurückgekehrt. Er war also in keiner Weise Untertan der Königin. Er hatte sich nur in ihrem Machtbereich befunden, weil ihre Leute ihn uns gestohlen hatten. Welchen Anspruch auf ihn könnte sie geltend machen? Drittens: Es bestehen keine regulären Kontakte zwischen Dawinno und dem NEST, also auch kaum Grund zu Befürchtungen, daß die dort je erfahren, was aus ihm geworden ist, vorausgesetzt, es kümmert sie überhaupt. Wenn wir auf ihr Vertragsangebot antworten, falls wir das überhaupt tun, sind wir in keiner Weise verpflichtet, irgendwelche Auskünfte über Kundalimons eventuellen Aufenthaltsort zu liefern. Und vielleicht antworten wir ihnen ja überhaupt nicht. Viertens.“
„Nein!“ sagte Taniane schneidend. „In Yissous Namen, keine weiteren Hypothesen! Hört dein Hirn denn nie auf zu ticken, Husathirn Mueri?“
„Nur wenn ich schlafe. Vielleicht.“
„Dann begib dich in dein Bett. Und ich verzieh mich endlich in meins. Du hast mich überzeugt. Die Ermordung dieses jungen Mannes wird uns nicht die Hjjks auf den Hals laden. Dennoch ist unserer Gemeinschaft eine tiefe Wunde geschlagen worden, und die läßt sich nur heilen, wenn diese Mörder gefunden werden.“
„Der im Fall des Kundalimon ist meiner Überzeugung nach bereits selbst schon tot.“
„Nun, dann treibt sich aber immer noch mindestens ein Mörder frei unter uns herum. Ich beauftrage dich, ihn ausfindig und dingfest zu machen, Husathirn Mueri.“
„Ich werde keine Mühe scheuen, Herrin. Darauf kannst du dich verlassen.“
Er verneigte sich und ging. Sie blickte ihm nach, bis er an der Biegung des Korridors ihren Augen entschwand.
Endlich war der Tag zu Ende. Also, auf nach Hause jetzt. Hresh wartete dort schon auf sie. Die Nachricht vom Tode Kundalimons hatte ihn schwerer getroffen, als sie erwartet hätte. Selten hatte sie ihn so bekümmert gesehen. Und dann — Nialli! Das Kind mußte gefunden werden! Man mußte sie trösten.
Es war wirklich ein sehr langer Tag gewesen.
Hier ist tiefste Tropenwildnis. Die Luft klebt im Hals mit jedem Atemzug, und der Boden ist weich und federnd unter jedem Schritt wie ein nasser Schwamm. Nialli Apuilana hat keine Ahnung, wie weit von der Stadt weg sie geflohen ist. Sie hat überhaupt keine klaren Vorstellungen. Ihr Kopf ist von Gram und Schmerz ganz verstopft. Es fließen keine Gedanken.
Anstelle des Denkens gibt es jetzt nur noch ihr Zweites Gesicht, das auf irgendeine Weise automatisch funktioniert und ihr in dumpfen pulsenden Schüben Informationen über ihre Umgebung übermittelt. Sie hat ein Bewußtsein der Stadt, weit in ihrem Rücken, wo sie auf ihren Hügeln hockt wie ein riesenhaftes Ungeheuer mit unzähligen Fangarmen, ein Ungeheuer aus Ziegeln und Steinen, das Wellen kalten bedrohlichen Unheils ausstrahlt. Sie spürt die Sümpfe, durch die sie rennt, und das verborgene, große und kleine Leben, von dem sie erfüllt sind. Sie spürt die Weite des Kontinents, der sich vor ihr erstreckt. Doch nichts ist klar, alles ist ohne Zusammenhang. Einzig real ist nur die Flucht selbst für sie, der wahnsinnhafte brüllende Drang — zu laufen, laufen und laufen.
Eine Nacht und ein Tag und eine weitere Nacht und fast ein voller Tag sind verstrichen, seit sie aus Dawinno floh. Einen Teil des Weges war sie auf einem Xlendi geritten, das sie unbarmherzig in das südliche Seengebiet vorangetrieben hatte; doch irgendwo spät am ersten Tag der Flucht hatte sie an einem Bach haltgemacht, um zu trinken, und das Xlendi war davongewandert. Und seitdem ist sie zu Fuß weitergeirrt. Sie hält kaum an, außer um ein, zwei Stunden lang zu schlafen. Und jedesmal versinkt sie dabei in eine fast todesähnliche Finsternis, und wenn sie daraus wieder auftaucht, erhebt sie sich und rennt weiter, richtungslos und ohne Ziel. Ein Fieber hat sie erfaßt, so daß sie überall zu brennen glaubt, doch es verleiht ihr Kraft. Sie ist wie ein Lavastrom, der sich eine feurige Bahn durch das unvertraute Land frißt. Sie verschlingt Früchte, die sie im Laufen von den Bäumen und Büschen zerrt. Sie bückt sich und pflückt Schwämme mit gelbleuchtenden Hüten vom Boden und stopft sie sich in den Mund, ohne innezuhalten. Überkommt sie der Durst, trinkt sie, wo sie Wasser findet, gleich, ob es frisch ist oder abgestanden. Es ist alles unwichtig. Wichtig ist nur ihre Flucht.
Ihr Leib ist längst schon in jenen merkwürdig kristallinen Bereich geglitten, der jenseits der äußersten Erschöpfung liegt. Sie spürt das Hämmern in cbn müden Beinen nicht mehr, nimmt den keuchenden Protest ihrer Lungen nicht mehr wahr, auch nicht die Schmerzen, die ihr im Rücken nach oben schießen. Sie läuft in graziösen Sätzen, rasch und irgendwie in gedankenloser Gelöstheit.
Sie darf ihrem Verstand nicht erlauben, wieder bewußte Kontrolle zu erlangen.
Denn dann würde sie wieder die todesschwangeren Worte hören müssen: In einer Gasse gefunden. Tot. Erwürgt.
Das Bild seines schlanken Körpers würde vor ihr auftauchen: verkrümmt, zusammengesunken, blicklos zum grauen Himmel emporstarrend. Die Hände ausgestreckt. Die Lippen leicht geöffnet.
In einer Gasse gefunden...
Kundalimon. Ihr Geliebter. Tot. Dahin für alle Zeit.
Sie wollten gemeinsam nach Norden gehen, zur Königin. Gemeinsam, Hand in Hand, wären sie ins Nest-der-Nester hinabgestiegen, in dieses warme, süßduftende geheimnisschwangere Reich unter den fernen weiten Grasebenen. Das Lied der Nest-Bindung hätte ihre Seelen mit sich fortgerissen. Der Sog der Königin-Liebe hätte alles Disharmonische in ihren Herzen aufgelöst. Freundliebe hätten sie in ihre Umarmungen gezogen: die Nest-Denker, Ei-Former, Lebensfunken-Spender, die Soldaten auch, jede Kaste hätte sich um die Neuankömmlinge gedrängt und sie in ihrer wahren Heimat willkommen geheißen.
Tot. Erwürgt. Mein Ein und Alles!
Nialli hatte nie geahnt, daß es eine Liebe wie die zwischen Kundalimon und ihr geben könne. Und sie weiß: Es wird für sie nie wieder eine solche Liebe geben. Sie sehnt sich jetzt nach nichts mehr, als zu ihm zu gelangen, an welchem Ort er jetzt auch sein mag.
Und sie läuft und sieht nichts und denkt nichts.
Wieder die Dämmerung. Die Schatten wachsen tiefer, legen sich wie dunkle Hüllen um sie. Ab und zu fällt ein sanfter warmer Regen. Dichte goldene Nebelschwaden heben sich von der feuchten Erde. Um sie herum kreisen weiche Wolkenspiralen und nehmen die Form von Göttern an, die keine Gestalt besitzen und an deren Existenz sie nicht glaubt. Sie umgeben sie, ragen höher hinauf als die gewaltigen glattstämmigen rebenüberwucherten Bäume, und sie sprechen zu ihr mit Stimmen, die zu ihren Ohren niederfallen in leuchtenderen Harmonien, als sie sie je gehört hat.
„Ich bin Dawinno, Kindchen. Ich nehme alles fort und verwandle es und mache es neu und schenke es der Welt wieder. Ohne mich wäre hier nur unveränderlicher Fels.“
„Ich bin Friit. Ich bringe Heilung und Vergessen. Ohne mich gäbe es nur die Qual.“
„Und ich bin Emakkis, Mädchen. Ich bin der Ernährer. Ohne mich könnte sich das Leben nicht fortsetzen.“
„Ich, mein Kind, ich bin Mueri. Ich bin die Tröstung. Ich bin die Liebe, die geduldig fortbesteht und alles durchdringt. Ohne mich wäre nur Tod und ein Ende aller Dinge.“
„Und ich bin Yissou. Ich bin der Beschützer vor dem Übel. Ohne mich wäre die Welt ein Tal voller Dornen und Reißzähne.“
Tot. Erdrosselt. In einer Gasse. Erwürgt. In der Gosse.
„Es gibt keine Götter“, murmelt Nialli. „Es gibt nur die Königin, die uns mit ihrer Liebe trägt. Sie ist unser Heil und unser Trost, unser Schutz und unsere Ernährerin. Und unser Heil und unsere Verwandlung.“
Goldenes Licht umflutet sie in der wachsenden Dunkelheit. Die Dschungel glastet von Licht. Die Seen und Tümpel und Wasserläufe in ihr schimmern von dem Licht. Aus allem strömt Licht. Die Luft ist dick und brennend-heiß, und in ihr wirbeln spiralig die geheiligten Bilder der Himmlischen Fünffaltigkeit. Nialli preßt die Hände vors Gesicht, um ihre Augen zu schützen, weil das Licht so gewaltig stark ist. Doch dann läßt sie sie sinken und läßt das Licht auf sich zufluten, und es ist sanft und voll Liebe. Sie gewinnt daraus frische Kräfte. Und sie rennt weiter und tiefer in diesen kristallinen Bereich jenseits der Ermüdung hinein.
Wieder vernimmt sie die Stimmen. Dawinno, Friit, Emakkis, Mueri, Yissou. Zerstörer — Heiler — Ernährer — Tröster — Beschützer.
„Die Königin“, murmelt Nialli. „Wo ist die Königin? Warum kommt SIE mir denn jetzt nicht zu Hilfe?“
„Ach, Kindchen. Sie ist WIR — wir sind SIE. Verstehst du denn nicht?“
„Ihr seid die Königin?“
„Die Königin ist Wir.“
Sie bedenkt das.
Ja, denkt sie. Ja, natürlich, so ist es.
Auf einmal kann sie wieder denken. Ihre Augen sind offen. Sie kann wieder die Sterne sehen, und sie kann die vielen Welten sehen und das leuchtende Netzgewebe der Königin-Liebe, das die Welten zusammenhält. Und sie weiß, daß alles eins ist, daß es keine Differenzen gibt, keine Abstufungen, keine Abgrenzungen zwischen einer und den anderen Formen von Realität. Bisher hat sie das nie bemerkt. Jetzt aber sieht sie und hört und akzeptiert es.
„Siehst du uns, Kind? Hörst du uns? Fühlst du unsere Nähe? Erkennst du uns?“ „Ja! O ja!“
Formlose Gestalten. Gesichter ohne Individualstrukturen. Mächtige Klanggebilde hallen durch die sich lagernden Schatten. Aber Licht sprudelt von überallher, aus dem Inneren heraus. Dichte. Fremdheit. Rätselhaftigkeit. Sie ist umgeben von — Gotthaftigkeit ringsum. Schönheit. Frieden. Ihr Gehirn lodert, aber es ist ein kühles weißes Feuer, das alle Schlacken ausbrennt. Aus der Erde dringt ein dröhnender Laut, der sich bis zum Firmament erhebt, doch es ist ein süßes Dröhnen, und es umfängt sie schützend wie eine Hülle. Die Fünf Himmlischen sind überall, und Nialli ruht in ihrer Umarmung.
„Ich begreife“, flüstert sie. „Die Königin — der Erschaffer — Nakhaba — die Fünffaltigkeit — alles ist ein und dasselbe, nur verschiedene Aspekte ein und derselben Wesenheit.“
„Ja. Ja.“
Die Nacht kommt nun rasch. Der schwerhängende Himmel hinter Nialli streift sich mit Blau, mit Scharlachrot, Purpur, mit Grün. Vor ihr das Dunkel. Laternenbäume entzünden sich. Überall tauchen Dschungelbewohner auf. Rings um Nialli flirren schimmernd Flügel und Hälse und Krallen und Schuppen und Gebisse.
Sie sinkt auf die Knie. Sie kann nicht mehr weiter. Als ihr Denkvermögen sich wieder herstellte, kehrte auch die reale Erkenntnis ihrer völligen Erschöpfung zurück. Sie gräbt die Hände in den warmen feuchten Erdboden und krallt sich dort fest.
Aber dann hat es den Anschein, nur kurz, während sie dort so zitternd und keuchend und furchtbar erschöpft kauert, daß sie wieder ganz allein sei — bis auf all diese Kreaturen, die in der schwärzer werdenden Nacht um sie herum kreischen und keckern und brüllen und zischen. Sie verspürt ein kleines furchtsames Frösteln. Wohin sind die Götter verschwunden? Ist sie vielleicht so schnell gelaufen, daß sie hinter ihr zurückgeblieben sind?
Nein. Sie kann sie ja immer noch nahe fühlen. Sie braucht sich ihnen nur zu öffnen, und sie sind da.
Ja, Kind, hier bin ich. Ich bin Mueri. Ich bring dir Trost.“
„Hier. Yissou. Ich beschütze dich.“
„Emakkis. Ich werde dich nähren.“
„Ich bin Friit. Ich heile dich.“
„Ich bin Dawinno. Ich werde dich — verwandeln — verwandeln — verwandeln — Kind.“
Es war die fünfte Woche von Thu-Kimnibols Aufenthalt in der Stadt Yissou. Mit den sachlichen Verhandlungen über ein Militärbündnis zwischen Salaman und dem Stadtstaat Dawinno hatte man noch nicht begonnen; man steckte noch in den Vorgesprächen, die zudem noch recht wenig handfest waren. Salaman schien es überhaupt nicht eilig zu haben. Er wich Thu-Kimnibols Versuchen, endlich zum Kern der Sache zu kommen, beständig aus. Statt dessen erfreute der König ihn mit immer neuen, nie endendwollenden Festen und Feiern, als betrachte er ihn als ein Mitglied der königlichen Familie, und das Mädchen Weiawala teilte Nacht um Nacht sein Lager mit ihm, als wären sie einander bereits anverlobt. Und er hatte sich ja nun wirklich sehr rasch daran gewöhnt, sich ihre eifervoll bereitwillige Leidenschaft gefallen zu lassen. Irgendwie war ihm dadurch wieder der Geschmack am Lebendigsein zurückgekehrt.
Also beunruhigte ihn der schleppende Fortschritt der Verhandlungen nicht. Es bot ihm die Möglichkeit, die schmerzliche Wunde nach Naarintas Tod ausheilen zu lassen, daß er hier so weit fort war von den alten vertrauten Umständen und Verbindungen. Hier hatte er ja im Grunde noch weitaus ältere Verbindungen. Auf eine geradezu merkwürdige Weise genoß Thu-Kimnibol es geradezu, daß er nun nach so langer Zeit wieder in der Stadt zurück war, in der er die entscheidenden, prägenden Jahre seines Lebens verbracht hatte, von seinem dritten bis zum neunzehnten Jahr. Seine Geburtsstadt, Vengiboneeza, kam ihm wie ein Ort aus einem Traum vor, undeutlich, verschwommen, nichts weiter. Und Dawinno, so grandios es sein mochte, war ihm nun auf einmal fern und wesenlos. Sein ganzes dortiges Leben, das Prinzenpalais und seine Gefährtin und die Freunde und die Lustbarkeiten waren immer blasser geworden, bis sie ihm kaum jemals wieder in den Kopf kamen. Hier dagegen, im dunklen Schatten der Titanenmauer Salamans, dieses grotesken Gebildes, und in dem dumpfen, engen und Klaustrophobie ausbrütenden Verhau von Stadt begann er sich allmählich irgendwie heimisch zu fühlen. Das kam für ihn ganz überraschend, und er verstand es auch nicht. Er bemühte sich nicht einmal darum, es zu verstehen. Und was seine Mission betraf, den Zweck seiner Entsendung, je weniger man sich dabei übereilte, desto besser. Ein Bündnis, wie es ihm vorschwebte, das schmiedete man besser nicht überstürzt.
Oft ritt er aus, ins Umland jenseits der Mauer. Gewöhnlich mit Esperasagiot und Dumanka und Simthala Honginda, gelegentlich aber auch mit dem einen und anderen älteren Sohn des Königs. Diese Ausflüge waren auf einen Vorschlag Salamans hin erfolgt. „Deine Xlendis brauchen Auslauft“, sagte er. „Die Straßen in der Stadt sind zu eng und zu kurvenreich. Da können die Tiere doch gar nicht richtig mit ihren Beinen ausgreifen.“
„Besteht die Gefahr, daß wir da draußen auf Hjjks stoßen?“ fragte Thu-Kimnibol. „Ich hab irgendwie so den Eindruck gewonnen, daß die dort überall herumkreuchen.“
„Solltest du sehr weit nach Nordosten vorstoßen, dann ja. Sonst besteht keine Gefahr von Belästigungen.“
„Richtung Vengiboneeza, willst du sagen?“
„Genau. Da hocken diese dreckigen Wanzlinge. Eine ganze Million Ungeziefer vielleicht. Zehn Millionen, was weiß ich schon. Aber es brodelt in Vengiboneeza nur so von denen“, sagte Salaman. „Sie wimmeln dort herum wie Flöhe.“ Er warf Thu-Kimnibol einen schlauen Blick zu. „Aber selbst wenn du bei deinen Ausritten mal ab und zu auf ein, zwei Hjjks stoßen solltest, was macht das schon? Du hast doch mal, wenn ich mich recht erinnere, ganz gut gewußt, wie man sie umbringt.“
„Höchstwahrscheinlich weiß ich das auch heute noch“, sagte Thu-Kimnibol ruhig.
Dennoch, vor der Mauer der Stadt bewahrte er Vorsicht. Gewöhnlich ritt er durch das befriedete Ackerland südlich der Stadt, aber ein paarmal stieß er mit Esperasagiot ein Stück weit in den wenig bedrohlich wirkenden Waldbezirk östlich vor, wagte sich jedoch niemals gen Norden. Nicht, daß es ihn besonders beunruhigt hätte, dort vielleicht auf Hjjks zu stoßen (er verwünschte Salaman für seine hinterhältige Unterstellung von Feigheit); es wäre ein feiner Sport gewesen, mal ein paar Hjjks zu tranchieren. Doch er war mit einem Auftrag hergekommen, und sich in einer Schlägerei mit den Wanzen umbringen zu lassen, das wäre mehr als bloße Dummheit gewesen, es wäre verantwortungslos gehandelt.
Dann schlug Salaman einen gemeinsamen Ausritt vor. Und mit Erstaunen bemerkte Thu-Kimnibol, daß der König sich westwärts wandte, über eine Hochebene, die in rauhes, von schmalen Schluchten durchzogenes Gelände überging, wo ihre Xlendis Mühe hatten, sicheren Tritt zu fassen. Ein schwieriges Gelände voller Brüche. Überall konnten Gefahren lauern. Verspürte Salaman vielleicht das Bedürfnis, den Mut seines Gastes auf die Probe zu stellen? Oder seinen eigenen zu beweisen? Thu-Kimnibol ließ sich seine Gereiztheit nicht anmerken. „Hier ist der Ort“, sagte der König schließlich, „an dem wir die Hjjks vernichtend geschlagen haben, an jenem Tag der Großen Schlacht. Erinnerst du dich? Du warst noch so jung damals.“
„Alt genug, mein Cousin.“
Sie hielten und starrten ins Land. Thu-Kimnibol fühlte, wie alte Erinnerungen, so verdeckt sie sein mochten durch die Schleier der Zeit, in ihm heraufstiegen. Zuerst waren die Hjjk-Formationen durch jene Erfindung Hreshs in Verwirrung geraten, die ihre Zinnobären in einer wilden Stampede in diese von Gesteinsbrocken übersäten Rinnen trieb. Und dann die Schlacht selbst. Wie hatte er an jenem Tag gekämpft! Hatte sie zu Stücken zerhauen, während sie benommen herumtaumelten! Ganze sechs Jahre war er damals alt, oder? Ja, so ungefähr. Aber schon doppelt so groß wie irgendein Gleichaltriger. Und er führte sein eigenes Schwert — und nicht etwa einen Spielzeugsäbel! Die prachtvollste Stunde seines Lebens: er — der kindliche Held, der Schwertknabe, voll Wut und Zorneseifer hackend und alles niedermähend. Es war das eine, das einzige Mal in seinem Leben, daß er die wahre Lust des Schlachtens gekostet hatte. Er sehnte sich danach, diesen berauschenden Wein erneut auf seinen Lippen zu schmecken.
Bei ihrem zweiten gemeinsamen Ausritt wurde der König sogar noch kühner, denn diesmal strebte er dem bewaldeten Hochland im Nordosten der Stadt zu. Also genau jener Region, vor der er Thu-Kimnibol gewarnt hatte. Und er ritt unbeirrt stundenlang weiter, ohne umzukehren. Und während der Tag verstrich und sie immer weiter und weiter ritten, schien es Thu-Kimnibol allmählich denkbar, daß Salaman vorhaben könnte, die ganze Strecke bis nach Vengiboneeza zu reiten. Oder eine ähnliche Wahnsinnsaktion. Das war natürlich unmöglich, eine solche Fahrt würde Wochen dauern, und an ihrem Ende lauerte der sichere Tod. Aber angeblich wimmelte es selbst so nahe der Stadt im Nordosten nur so von Hjjks. Wenn es also auf dieser Strecke so gefährlich war, wieso hatte der König sie diesmal gewählt?
Sie ritten schweigend bis spät in den Nachmittag einen hohen Kamm entlang, der sich dahinzog, soweit das Auge reichte. Die Gegend wurde immer wilder. Einmal verfinsterte ein Zug von Blutvögeln kurz den Himmel dicht über ihnen. Auf einem sonnenheißen Kogel bewegte sich gemächlich ein Trupp der großen bleichen Grünklauen genannten Insekten (feiste vielgliedrige Brocken, halb so lang wie ein Mann) umher. Später kamen sie an einer Stelle vorbei, an der der Grund in Bewegung war, als ob ein großer Bohrer sich unterirdisch vorwärtsarbeite, und als Thu-Kimnibol hinabsah, blickten ihm riesige scharlachrote Telleraugen aus dem weichen Erdhub entgegen, und mächtige gelbe Zähne rieben sich knirschend gegeneinander.
Schließlich hielten sie an einer offenen grasbewachsenen Stelle an einer Kammspitze. Der Himmel färbte sich schon dunkel und sah nun aus wie starker Wein. Thu-Kimnibol starrte in die sich sammelnden Schatten im Osten. Dort draußen lag irgendwo Vengiboneeza, aber natürlich weit, weit jenseits seines Blicks. Er erinnerte sich nur noch an einen Haufen von Trümmern und Schutt, an das Bild eines Turmes, das Kopfsteinpflaster eines weiten Boulevards, den erhabenen Schwung eines weiten Platzes. Diese leuchtende uralte Stadt — voller Gespenster. Und die Millionen Hjjks, wild Schwärmend in ihrem Stock. Wie gräßlich der Ort nach ihnen stinken mußte!
Nach einiger Zeit glaubte Thu-Kimnibol, daß er Gestalten erkennen könne, die sich in sehr weiter Ferne, fremdartig und kantig, in dem Flachcanyon unterhalb des Kammes bewegten.
„Hjjks“, sagte er. „Siehst du sie?“
Auf diese Entfernung wirkten sie sehr klein, kaum größer als gelbe Punkte mit schwarzen Streifen.
Salaman kniff die Lider zusammen und schaute angestrengt. „Wahrhaftig, bei Yissou! Einer, zwei, drei, vier.“
„Und ein fünfter, flach auf dem Boden. Mit dem Bauch nach oben.“
„Deine Augen sind jünger als meine. Aber ja, jetzt kann ich sie auch unterscheiden. Siehst du jetzt, wie nahe an Yissou sie sich heranwagen? Immer näher und näher kommen sie frech heran.“ Er spähte noch angestrengter. „Die beiden Dicken sind Weibchen. Kämpfer-Hjjks, das sind sie. Bei denen sind die Weiber die Stärkeren. Ich nehme an, sie geleiten die übrigen drei irgendwohin. Ein Spähtrupp. Der Hjjk auf dem Boden ist schwerverletzt, wie es aussieht. Oder tot. Wie immer, sie werden in Kürze einen Festschmaus haben.“
„Einen — Festschmaus?“
„Ja. Von dem Toten. Sie lassen nichts verkommen, diese Hjjks. Hast du das nicht gewußt? Nicht mal ihre eigenen Toten.“
Über diese monströse Vorstellung mußte Thu-Kimnibol lachen. Doch dann überlegte er die Idee noch ein wenig, und ihn überlief ein Schauder. War es möglich, daß Salaman im Ernst sprach? Ja, doch, anscheinend meinte er es ganz ernst. Und das Quartett der fernen Hjjks schien inzwischen auch über dem Leib des Liegenden zu kauern und ihn säuberlich zu zerstückeln, die Gliedmaßen abzutrennen, sie zu zerspalten, um an das Fleisch darinnen zu gelangen. Er sah sich dies voll Entsetzen an, konnte jedoch den Blick nicht abwenden. Vor Ekel fröstelte ihn auf der Haut, und seine Eingeweide zuckten. Die geschäftig säbelnden Scheren, die gierigen Schnäbel, dieser beharrliche, gewissenhaft erledigte Freßprozeß — wie abscheulich, wie widerlich waren diese Geschöpfe.
„Also sind sie Kannibalen? Und bringen sich gegenseitig wegen des Fleisches um?“
„Ja, Kannibalen. Sie finden es durchaus in Ordnung, die eigenen Toten aufzufressen. Sie sind höchst sparsame, ökonomiebewußte Wesen. Aber Mörder, nein, das sind sie nicht. Ihresgleichen zu morden, mein Cousin, das scheint bei ihnen keine allgemeine Praktik zu sein. In diesem Fall da drunten vermute ich, der Hjjk ist mit etwas noch Scheußlicherem als einem Hjjk zusammengestoßen. Und Yissou weiß, in diesem weiten Land lauern allüberall Gefahren, hunderterlei verschiedene wilde Bestien.“
„Sparsam? Sagst du?“ Thu-Kimnibol spuckte fast vor Ekel. „Leichenfresserische Dämonen, das ist es, was sie sind. Wir sollten sie allesamt bis zum letzten Säugling ausrotten!“
„Ach, ist das deine Überzeugung, mein Cousin?“
„Sie ist es.“
Salaman lächelte breit. „Nun, so denken wir beide ähnlich. Ich hatte mir erhofft, daß du unsern Ausritt instruktiv finden würdest. Erkennst du jetzt, mit welchem Feind wir hier konfrontiert sind? Und warum ich meinen Wall baue, den ihr alle so komisch findet; ich weiß, ich weiß, und warum dermaßen hoch? Wir sind nur eine kleine Strecke von der Stadt ausgeritten — und da siehst du sie, vor unseren Augen, ihre Greuel begehen, und es bekümmert sie nicht im mindesten, daß wir sie dabei beobachten.“
Thu-Kimnibols Augen glitzerten. In seiner Stirn pochte es. „Wir sollten runtergehen und sie töten, während sie fressen. Wir sind zu zweit — die nur vier. keine schlechte Aussichten.“
„Aber hinter den Bäumen dort könnte noch eine ganze Hundertschaft lauern. Hättest du Lust, die nächste Mahlzeit für sie abzugeben, mein Cousin?“ Salaman zupfte ihn am Arm. „Komm! Die Sonne ist gesunken, und wir sind weit von der Stadt. Wir kehren besser um, glaube ich.“
Doch Thu-Kimnibol war nicht fähig, den Blick von dem Schlachtfest drunten im Canyon zu wenden.
„Eine Vision überkommt mich, wie ich hier stehe“, sprach er leise. „Ich sehe ein Heer, eine Armee von Tausenden der Unsrigen, über dieses Land reiten. Aus deiner Stadt und von der unsrigen und aus all den kleinen Siedlungen dazwischen. Das Heer zieht rasch voran, schlägt blitzschnell zu und macht jeden Hjjk nieder, auf den wir stoßen. Ohne Rast und Halt ziehen wir bis mitten ins Herz des Großen Nests, bis direkt in das persönliche Versteck der Königin. Ein Blitzkrieg, dem sie nicht standhalten können, gleichgültig, wie zahlreich sie sind. Ihre Stärke liegt in der Königin. Wenn sie getötet ist, sind sie hilflos, und wir können leicht und nach unserem Belieben alle übrigen liquidieren. Was sagst du dazu, Salaman? Ist das nicht ein wundervolles Szenario?“
Der König nickte. Er sah angenehm überrascht aus. „Wir denken wirklich in die gleiche Richtung, Gevatter. Ja, wir denken gleich! Kannst du dir denken, wie lange ich schon darauf warte, daß einer aus Dawinno kommt und mir dies sagt? Ich hatte die Hoffnung schon beinahe aufgegeben.“
„Du hast also nie erwogen, den Krieg allein zu führen?“
Für einen Moment regte sich etwas wie Verärgerung im Blick des Königs. „Wir sind zahlenmäßig nicht stark genug, mein lieber Cousin. Unsere Niederlage wäre gewiß. Aber eure Stadt, seit ihr diese ganzen Bengs aufgenommen habt. Da wären die Truppen, die ich brauchte. Aber welche Chance besteht, daß ich sie bekommen kann? Es lebt sich in deiner Stadt zu angenehm, Thu-Kimnibol. Dawinno ist kein Ort für Kriegshelden. Deine Person selbstverständlich ausgenommen!“
„Vielleicht unterschätzt du uns ein wenig, Cousin.“
Salaman zuckte die Achseln. „Die Bengs, ja, das waren einst Kämpfer, als sie noch wandernd durch die Ebenen streiften. Aber sogar sie sind da drunten in eurer südlichen Wärme fett, faul und träge geworden. Sie erinnern sich nicht mehr, welchen Riesenärger die Hjjks ihnen vor langer Zeit bereitet haben. Dawinno ist zu weit von den Hjjk-Landen entfernt, als daß sich irgendwer da drunten bei euch über sie noch Sorgen machen würde. Wie oft passiert es denn, daß ihr streunende Hjjks so nahe bei eurer Stadt habt, wie die dort unten bei meiner Stadt sind? Alle drei Jahre einmal? Wir leben Tag um Tag mit ihrer Nähe. Bei euch gibt es momentan mal ein bißchen zornig aufbrodelnde Volksseele, wenn ein Kind gestohlen wird, und dann kehrt das Kind zurück, oder man vergißt es, und alles bleibt schön gemütlich wie vorher.“
Thu-Kimnibol sagte steif: „Du gibst mir das Gefühl, mein Cousin, daß meine Mission zwecklos ist. Du sagst mir mitten ins Gesicht, daß ich für eine Nation von Feiglingen spreche.“
Der Stimmungsumschwung war plötzlich. Die beiden Männer betrachten einander nun starr und weit weniger freundschaftlich als noch vor wenigen Augenblicken. Lange hängt die Zurückweisung unerwidert zwischen ihnen. Drunten im Canyon geht das Freßfest weiter: Scharfe Geräusche, Knirschen und Knacken wehen mit der kühlen Abendluft herauf.
Dann sagt Salaman: „Es ist jetzt ein paar Wochen her, daß du mir gesagt hast, du bist gekommen, um mir eine Allianz vorzuschlagen, daß Dawinno seine Streitmacht mit uns vereinen will, um Krieg gegen die Hjjks zu führen. Sie zu vernichten wie Ungeziefer, das würdest du gern mit ihnen tun. Hast du gesagt. Ausgezeichnet. Wunderbar. Und jetzt präsentierst du mir dieses hübsche Bild, daß unsre beiden Streitmächte sich vereinigen und nach Norden marschieren. Prächtig, mein Cousin. Aber vergib mir meine Skepsis. Ich weiß, wie das Volk in Dawinno ist. Ein Bündnis her oder hin, aber was gibt mir die Sicherheit — wirklich eine Sicherheit —, daß eure Leute dann auch tatsächlich hier erscheinen und mitkämpfen? Was ich brauche, ist eine Garantie, daß du mir das dawinnische Heer ranschaffst. Kannst du mir diese Garantie geben, Thu-Kimnibol?“
„Ich glaube, ich kann es.“
„Daß du das glaubst, genügt mir nicht. Schau noch einmal dort hinunter, mein guter Gevatter. Sieh, wie sie ihren Genossen zerfetzen und zerfleischen, zerknacken und zerkauen. Kannst du deinen Leuten vermitteln, was du hier jetzt siehst? Das sind die Hjjks, und nur ein paar Stunden im Sattel von meiner Stadt entfernt. Mit jedem Jahr werden es mehr. Und jedes Jahr rücken sie uns ein bißchen näher.“ Salamans Lachen klingt bitter. „Aber was stört es schon die Leute in Dawinno, wenn die Hjjks auf unsrer Türschwelle ihre Lager aufschlagen, he? Es wird ja das Fleisch unsrer Söhne und Töchter sein, nicht das der ihrigen, in Dawinno, von dem die Hjjks sich in einiger Zukunft nähren werden, oder, mein lieber Cousin? Aber machen eure Leute da drunten im Süden sich eigentlich klar, daß die Hjjks, wenn sie erst einmal uns erledigt haben, weiter nach Süden und auf Dawinno vorstoßen werden? Ihre Gier ist nicht zu bremsen. Und sie werden garantiert weiter nach Süden drängen. Wenn nicht sofort, dann in zwanzig, dreißig oder fünfzig Jahren. Und ist euer Volk wirklich fähig, so weit vorauszuschauen?“
„Einige ja. Und eben deshalb bin ich ja hier.“
„Ja, ja. Dieses famose Bündnis! Aber wenn ich dich frage, ob Dawinno tatsächlich zum Kampf bereit ist, gibst du mir keine Antwort.“
Salamans Augen funkeln jetzt hell in wildem Eifer. Sie bohren sich erbarmungslos in den Blick Thu-Kimnibols. Dessen Kopf beginnt zu schmerzen. Ihm schweben die diplomatischen Lügen auf der Zungenspitze, aber er drängt sie zurück. Dies ist ein Augenblick für die nackteste Wahrheit. Auch die kann sich zuweilen als brauchbares Instrument einsetzen lassen.
Also sagte er plump und direkt: „Du mußt gute Spione in Dawinno sitzen haben. Cousin.“
„Ja, sie machen ihre Arbeit ganz gut. Wie stark ist bei euch das Pazifistenlager, falls du mir das sagen willst?“
„Jedenfalls nicht so stark, daß die irgendwas durchsetzen könnten.“
„Du bist also tatsächlich überzeugt, eure Leute werden gegen die Hjjks in den Krieg ziehen, wenn die Zeit reif ist?“
„Ja.“
„Und wenn du sie überschätzen solltest?“
„Was ist, wenn du sie unterschätzt?“ fragt Thu-Kimnibol zurück und blickt starr und hochmütig von seiner überragenden Höhe im Sattel des Xlendis auf den König nieder. „Sie werden kämpfen. Darauf gebe ich dir mein ganz persönliches Wort, Cousin. Auf die eine oder andere Weise werde ich dir eine Armee herbeischaffen.“ Ein ausgestreckter Finger deutet in die Schlucht hinab. „Ich werde es irgendwie bewerkstelligen, daß meine Leute sehen und begreifen, was ich jetzt hier sehe. Ich will sie wachrütteln, und ich werde, sie zu Kämpfern machen. Darauf hast du mein Wort!“
Über Salamans Gesicht huscht der Ausdruck einer entmutigend ungebrochenen Skepsis. Sofort danach aber mischt sich anderes bei: Eifer, Hoffnungsbereitschaft, bereitwillige Erwartung. Dann verschwindet das Gefühlsgemisch wieder, und das Gesicht des Königs drückt erneut nur steinernen, grob abweisenden Argwohn aus.
„Darüber wird man noch ausführlicher sprechen müssen“, sagte er. „Nicht hier und nicht jetzt. Auf! Oder wir reiten in finsterster Nacht zurück.“
Und die Dunkelheit hatte sie auch wirklich erreicht und umfangen, als sie endlich die Stadt wieder erreichten. Auf der Mauerkrone loderten Fackeln, und als Chham, Salamans Sohn, zu ihrem Empfang aus dem Östlichen Tor geritten kam, war der besorgte Ausdruck auf seinem Gesicht unmißverständlich.
Der König tat das alles mit einem Lachen ab. „Ich hab unseren Gevatter auf einen Ritt ein Stückchen weit in Richtung Vengiboneeza geführt, damit er das Lüftchen schnuppern kann, das aus dieser Richtung weht. Aber wir waren natürlich keinen Moment in Gefahr.“
„Dem Beschützer sei Dank!“ rief Chham.
Dann wandte er sich an Thu-Kimnibol: „Es ist ein Bote gekommen, mein Herr und Prinz, aus deiner Stadt. Er sagt, er ist Tag und Nacht geritten, und es muß wohl so sein, denn das Xlendi, das er ritt, war dermaßen überarbeitet, daß es eher tot als lebendig aussah.“
Thu-Kimnibol runzelte die Stirn. „Wo ist er jetzt?“
Chham wies zum Tor. „Er wartet auf dich in deinen Gemächern, mein Herr Prinz.“
Der Bote war ein Beng, einer der Wachsoldaten der Justizbehörde, und ein jüngerer Bruder des Hauptmanns der Stadtwache, Curabayn Bangkea. Thu-Kimnibol erinnerte sich, daß er den jungen Mann hin und wieder in der Basilika Dienst tun gesehen hatte. Sein Name lautete Eluthayn, und er sah wahrhaftig erschöpft und abgerissen genug aus, ein schmaler Schatten seiner selbst und vor Erschöpfung dem Zusammenbruch nahe. Er konnte gerade noch seine Botschaft stammeln. Und diese war bestürzend genug.
Salaman gesellte sich bald darauf zu Thu-Kimnibol.
„Du siehst bekümmert aus, Cousin. Es muß eine üble Nachricht gewesen sein.“
„Es sieht so aus, als wäre in meiner Stadt eine Mordepidemie ausgebrochen.“
„Mord?“
„Noch dazu bei unserem Heiligsten Fest. Zwei Morde. Der eine Tote ist der Hauptmann unserer Stadtwache, der ältere Bruder meines Boten. Der andere Tote ist dieser junge Mann, den die Hjjks mit ihrem Vertragsangebot zu uns geschickt hatten.“
„Der Botschafter der Hjjks? Wer würde den töten wollen? Und wozu?“
„Wenn man das wüßte!“ Thu-Kimnibol schüttelte den Kopf. „Der Junge war ganz harmlos, also, jedenfalls kam er mir so vor. Der andere Kerl — nun ja, er war ein Idiot, aber wenn es schon genügt, daß jemand ein Idiot ist, um ermordet zu werden, dann müßten unsere Straßen ja von Blut schwimmen. Das Ganze ergibt überhaupt keinen Sinn.“ Er verzog finster die Stirn, trat ans Fenster und starrte eine Weile in den düsteren Hof hinab. Dann wandte er sich wieder Salaman zu. „Es könnte sich erweisen, daß wir unsere Verhandlungen abbrechen müssen.“
„Du bist zurückbeordert worden, ja?“
„Der Kurier hat davon nichts gesagt. Doch wenn zu Hause derartige Dinge passieren.“
„Was für Dinge? Zwei Mordfälle?“ Salaman lachte leise in sich hinein. „Und sowas nennst du eine Mordepidemie?“
„Bei euch hier mag es ja fünf Morde jeden Tag geben, mein Cousin. Aber wir sind an sowas nicht gewöhnt.“
„Wir auch nicht. Aber zwei Fälle scheinen doch wohl kaum.“
„Der Chef der Garde. Der Gesandte. Und ein Eilbote kommt die ganze weite Strecke hierher, um mich zu informieren. Warum? Nimmt Taniana an, die Hjjks werden Vergeltung üben? Vielleicht — vielleicht rechnen sie daheim mit Ärger, etwa gar mit einem Überfall der Hjjks auf Dawinno.“
„Wir hier haben ihren Gesandten getötet, Gevatter, aber wir haben nie was darüber gehört. Ihr Südländer seid eben zu leicht erregbar, da liegt das Problem.“ Salaman streckte Thu-Kimnibol die Hand entgegen. „Wenn du nicht offiziell abberufen bist, dann bleib genau hier, wo du jetzt bist, das wäre mein Rat. Taniane und ihr Präsidium können ohne dich mit dieser Mordsache fertigwerden. Und wir haben hier Arbeit genug, und wir haben kaum damit begonnen. Bleib in Yissou, mein Cousin. Das ist meine Überzeugung.“
Thu-Kimnibol nickte. „Du hast recht. Was in Dawinno passierte, betrifft meine Aufgabe nicht. Ja, wir haben viel zu tun.“
Hresh ist allein in seinen Privaträumen oben im Haus des Wissens; es ist noch früh am Abend, und er versucht, mit den ganzen jüngsten Ereignissen ins reine zu kommen. Seit Niallis Verschwinden sind zwei Tage vergangen. Taniane ist überzeugt, daß sie sich irgendwo in der Nähe aufhält, daß sie sich nur verkrochen hat, bis ihr Schmerz sich leergebrannt hat. Ganze Schwadronen der Wachen durchkämmen die Stadt und die Außenbezirke nach ihr.
Doch niemand hat sie gesehen. Und Hresh ist auch überzeugt, daß man sie nicht finden wird.
Sie ist zur Königin geflohen; dessen ist er sich sicher. Wenn sie dort unbeschadet ankommt, denkt er, wird sie ihr künftiges Leben bei den Hjjks verbringen. Sie wird Bürgerin des Nest-der-Nester werden. Und wenn sie an ihre Heimatstadt überhaupt jemals denkt, dann nur, um sie zu verfluchen, weil hier der Mann, den sie liebte, ermordet wurde. Nun liebt sie nur noch die Hjjks. Und zu den Hjjks gehört sie jetzt, sagt er sich. Aber warum? Warum?
Welche Macht üben diese Hjjks über Nialli aus? Welchen Zauber haben sie benutzt, um sie zu sich zu ziehen?
Er fühlt sich verwirrt und schwach. Die Ereignisse haben ihn beinahe gelähmt. Denken strengt ihn unendlich an. Seine Seele liegt wie in einem Sarg aus Eis. Diese Morde — wann hat es in Dawinno zuletzt einen gewaltsamen Tod gegeben? Und Niallis Verschwinden. Er muß zu denken versuchen — zu denken.
Gestern hatte jemand gesagt, jemand habe an dem verregneten Nachmittag weit draußen vor der Stadt ein Mädchen auf einem Xlendi reiten sehen. Aber nur aus der Ferne, ziemlich weit aus der Ferne. Es gab unzählige Mädchen in der Stadt und sehr viele Xlendis. Aber angenommen, es war Nialli. Wie weit konnte sie kommen, allein, unbewaffnet, ohne den Weg zu kennen? Hatte sie sich da draußen auf den leeren Ebenen verirrt und war dem Tode nahe? Oder hatten Hjjk-Banden sie erwartet und führten sie nun zum Nest-der-Nester?
Du kannst einfach nicht wissen, wie das dort ist, Vater... Sie leben in einer Luft voller Träume und Magie und Wunder...
Sie hatte versprochen, ihm das alles zu erklären, ehe sie ihn verlassen würde. Aber es war ihnen keine Zeit geblieben. Und nun war sie fort. Und er begreift noch immer nichts, gar nichts. Nest-Bindung? NestLiebe? Träume? Magie? Wunder?
Er blickt zu dem wuchtigen schweren Kasten mit den Chroniken hinüber: Sein Leben lang durchstöbert er den Wirrwarr der uralten, zum Teil kryptischen Dokumente da drin. Seine Vorgänger haben die zerfallenden Bücher während der Hunderttausende von Jahren im Kokon immer wieder und wieder kopiert. Und seit Hresh ein Kind war, das dem alten Thaggoran über die Schulter lugte, sieht er in diesen Chroniken einen unerschöpflichen Born der Weisheit.
Er öffnet die Siegel und Verschlüsse und hebt die Bände heraus und legt sie nebeneinander auf die glattpolierten weißen steinernen Arbeitstische an den Wänden.
Hier ist das ‚Buch des Langen Winters‘ mit seinen Erzählungen über die Herabkunft der Todessterne. Und hier das ‚Buch Kokon‘, das berichtet, wie der Lord Fanigole und Balilirion und die Lady Theel das VOLK in den Zeiten der Kälte und Finsternis in Sicherheit brachten. Und da, das ist das ‚Buch des Pfades‘ mit den Weissagungen über den Neuen Frühling und die glorreiche Rolle, die dem VOLK bestimmt war, sobald es sich erneut in die Welt begab. Und da war auch das ‚Buch des Auszugs‘, das Hresh persönlich geschrieben hatte — mit Ausnahme der ersten paar Blätter, die noch sein Vorgänger, Thaggoran, als Chronist verfaßte. Darin wird vom Ende des Winters berichtet, von der Wiederkunft der Wärme und vom schließlichen Vorstoß des Stammes ins freie Land.
Und da ist das ‚Bestiarium‘, das alle Tiere aufführt, die es jemals gab. Das ‚Buch der Stunden und Tage‘ über die Mechanik der Welt und des weiteren Kosmos. Und dies hier — der Einband besteht fast nur noch aus verblichenen Fetzen — ist das ‚Buch der Städte‘, und es stehen die Namen aller Hauptstädte der Großen Welt darin.
Und die drei da: Ach, wie traurig! Das ‚Buch Unheils-Dämmerung‘, das ‚Buch Trügerische Morgenröte‘ und das ‚Buch Eisiges Erwachen‘; drei klägliche Berichte über die Zeiten, da Häuptlinge fälschlich glaubten, daß der Lange Winter zu Ende sei, und das VOLK aus dem Kokon führten, nur um von den erbarmungslosen Eisstürmen rasch wieder zurückgetrieben zu werden.
Bezüglich der Hjjks findet Hresh nur die altvertraute Phraseologie. In den dürren Nordlanden, wo die HJJKs in ihrem großen NEST hausen... oder: Und in selbigem Jahr zogen die HJJKs in sehr großer Zahl über das Land und verschlangen alles, was auf ihrem Wege lag... Oder: Es war die Zeit im Jahr, da die mächtige KÖNIGIN der HJJK-Völker eine Horde ihres Volkes entsandte wider die Stadt Thisthissima und eine weitere gewaltige Horde gen Tham... Leeres Historienstroh das Ganze, keine wirklich handfeste Information darin.
Aber Hresh gräbt weiter. Die Bücher ganz unten am Boden der Lade sind namenlos. Es sind die allerältesten, bloße Fragmente voller Lakunen, und in einer dermaßen antiken Schrift geschrieben, daß Hresh nur umrißhaft die Bedeutung erfaßt. Texte aus der Großen Welt sind sie, Gedichte vielleicht, oder dramatische Werke, heilige Schriften — oder gar alles drei zusammen. Wenn er die Fingerspitzen auf sie legt, beleben sich die brüchigen Pergamentbögen mit Bildern von jener grandiosen Zivilisation, welche durch die Todessterne zugrunde ging, Bilder aus jener Zeit der Hochblüte, als die Sechs Völker durch die leuchtenden Straßen der Großen Städte wanderten. Aber alles bleibt nebelhaft, rätselhaft, trügerisch wie in einem Traum. Er legt die Bücher in die Lade zurück und verschließt sie.
Unbrauchbar, das Ganze. Was er braucht, ist ein ‚Buch Hjjk‘, aber er weiß, daß es so etwas nicht gibt.
„Drei Tage schon“, sagte Taniane mit tonloser Stimme. „Ich will wissen, wo sie ist. Und ich will wissen, von was für einem Wahnsinn sie befallen wurde.“
Zorn und Frustration trieben ihre Seele schrecklich um an diesem hellen windigen Herbsttag. Sie hatte keinen Schlaf gefunden. Ihre Augen waren entzündet und schmerzten. Immer wieder überfiel sie ein Schüttelfrost. Aber sie durfte nicht aufgeben. Ruhelos stapfte sie über den Steinboden der Kammer im Hinterteil der Basilika, das sie zum Kommandozentrum für die Suchaktionen nach Nialli Apuilana und gleichzeitig für die Aufklärung der zwei Morde bestimmt hatte.
An der Wand hinter ihr hingen wirr durcheinander Dutzende von Dokumenten — Aussagen von Bürgern, die behaupteten, Nialli an jenem schicksalhaften Nachmittag gesehen zu haben, wilde Gerüchte um drei Ecken herum über angeblich in Kneipen mitangehörte Mordkomplotte, vage Berichte voller Vermutungen von den Stadtgardisten über ihre bisherigen Ermittlungen.
Nichts davon taugte etwas. Taniane wußte noch immer nicht mehr als an jenem Nachmittag, nämlich gar nichts.
„Du mußt versuchen, ruhig zu bleiben“, sagte Boldirinthe.
„Ruhig! O ja!“ Taniane lachte bitter auf. „Natürlich. Vor allem muß ich mich bemühen, ruhig zu bleiben! Zwei Mordfälle, und meine Tochter verschwunden, unauffindbar, vielleicht irgendwo in einem Kellerversteck, oder wahrscheinlich bereits tot. Und ihr verlangt, daß ich ruhig bin!“
Alle starrten zu ihr her. Der Raum war voll von ‚bedeutenden Persönlichkeiten‘ in diesem Moment. Hresh war da, und wieso sah er auf einmal so verhärmt und alt aus? Und Chomrik Hamadel, der Hüter der Beng-Talismane, und Husathirn Mueri, und der Beng-Justiziar, Puit Kjai, und der kommissarische Hauptmann der Wachen.
„Wieso kommst du auf den Gedanken, sie könnte tot sein?“ fragte Puit Kjai.
„Wenn es sich wirklich um eine umfassende Verschwörung handelt? Ermordet den hjjkischen Gesandten, ermordet den höchsten Polizeibeamten, ermordet die Tochter des Häuptlings, vielleicht den Häuptling selber als nächstes.“
Alle starrten sie ungläubig und stumm an. Sie sah es an ihren Gesichtern, daß sie bereits dachten, sie gehe unter dem Druck in die Brüche. Vielleicht hatten sie damit sogar recht.
Sanft sprach Boldirinthe zu ihr: „Nialli Apuilana ist nicht gemordet worden, Taniane. Sie lebt, und sie wird gefunden werden. Ich habe die Himmlische Fünffaltigkeit befragt, und sie sagen mir, sie ist in Sicherheit, es geht ihr gut, sie ist.“
„Die Heiligen Fünf!“ Tantianes Stimme kreischte fast. „Du hast die Fünf befragt? Ich nehme an, wir sollten auch Nakhaba konsultieren. Sämtliche uns bekannten Götter befragen und möglichst auch noch die, die wir nicht kennen. Und die Hjjkkönigin — vielleicht sollten wir auch sie fragen.“
„Das wäre vielleicht gar keine so schlechte Idee“, sagte Hresh.
Taniane schaute ihn verblüfft an. „Jetzt ist wirklich nicht der Zeitpunkt für plumpe Witze.“
„Du warst plump und zynisch. Ich rede im Ernst.“
„Was sagst du da, Hresh?“
Zögernd sagte er: „Dabei geht es um Dinge, die am besten nur wir beide unter vier Augen besprechen sollten, glaube ich. Es betrifft die Hjjks. Und Nialli.“
Tanianes Hand fuchtelte ungeduldig im Kreis herum. „Wenn es die Sicherheit der Stadt berührt, müßte es sofort hier und jetzt offengelegt werden. Außer natürlich, du hältst Puit Kjai oder Husathirn Mueri oder Boldirinthe für nicht vertrauenswürdig, es zu hören.“
Er warf ihr einen seltsamen Blick zu. „Es handelt sich nur um unsere Tochter. Wohin sie, wie ich vermute, gegangen ist. Und warum.“
„Dann ist es einen Sicherheitssache. Also, heraus damit, Hresh!“
„Wenn du darauf bestehst.“ Hresh seufzte, schwieg aber dennoch weiter, bis sie ihn mit einer gebieterischen Geste antrieb. „Die beiden hatten geplant, gemeinsam zum Nest zu fliehen“, sagte er schließlich, und die Worte kamen ihm nur zögernd von den Lippen. „Nialli und Kundalimon. Zum Nest-der-Nester, dem großen, weit im Norden, wo die Königin lebt. Ihr wißt, sie liebten einander, und sie waren auch Tvinnr-Partner. Sie wollten an dem Leben in dieser Stadt hier nicht teilhaben, alle beide nicht. Es zog sie wie mit einem Magneten zum Nest. Sie sind zu mir gekommen und haben mir was vorerzählt von Nest-Bindung und Königin-Liebe, von Traum und Zauberei, und wie süß die Nest-Luft dir die Seele erfüllt und dich für alle Zeit verwandelt.“
Die Worte trafen sie wie Dolche. Taniane preßte die Hand aufs Herz. Hresh hatte recht: Nie hätte so etwas vor all den anderen hier öffentlich gesagt werden dürfen. Es betraf nur ihre Familie, war skandalös und demütigend. Doch jetzt war es zu spät.
„Das haben sie dir gesagt?“ fragte sie schleppend. „Ja.“
„Wann?“
„Am Tag vor den Spielen. Sie kamen zu mir, um mich um meinen Segen zu bitten.“
Ungläubig fragte Taniane: „Du hast gewußt, daß sie fortlaufen wollten, und hast das für dich behalten?“
Seine Miene verdüsterte sich. Mit dünner Stimme sagte er: „Wie ich dir gerade gesagt habe, es wäre weiser gewesen, wenn wir das unter uns besprochen hätten. Aber du hast ja darauf beharrt, vergiß das nicht! Was Nialli mir anvertraute, habe ich geheimgehalten, Taniane, weil ich wußte, daß du sie daran zu hindern versuchen würdest!“
„Aber du hattest nichts dagegen, daß sie.?“
„Was hätte ich tun sollen? Sie alle beide einsperren lassen? Auch damit wäre gar nichts erreicht gewesen. Du kennst sie doch, unsere Tochter. Nichts hält sie auf. Sie ist wie eine Naturgewalt. Von ihren Plänen hat sie mir aus Liebe erzählt, damit ich es verstehen würde, wenn sie dann fort sein würde. Und sie wußte, daß ich nichts unternehmen würde, sie zu hindern.“
Taniane schüttelte ungläubig den Kopf. Über Hreshs Torheit. Über Niallis zielstrebige Eigenwilligkeit. Und über ihre eigene Idiotie, mit der sie Nialli diesem Kundalimon regelrecht in die Arme getrieben hatte. Nein, Idiotie war es nicht. Es geschah zum Wohl der Stadt. Es hatte da Dinge gegeben, die sie in Erfahrung bringen mußte, und nur Nialli hätte sie ihr beschaffen können. Sie würde es immer wieder tun!
„Du glaubst also, sie ist dorthin? Zum Nest?“
„Ja. Und zwar zum Nest-der-Nester.“
„Obwohl Kundalimon tot ist?“
„Weil Kundalimon tot ist“, sagte Hresh. „Für sie ist das Nest ein Ort voll Liebe und Weisheit. Und als sie von seinem Tod hörte, lief sie fort, um bei den Hjjks Zuflucht zu suchen.“
Im Raum herrschte eine erschreckende Stille.
Taniane zitterte vor rasendem Zorn und ungläubiger Wut. „Aber — das dauert doch Monate, sogar Jahre, um dorthin zu gelangen! Wer weiß schon genau, wie weit es bis zum Groß-Nest ist? Wie konnte Nialli auch nur auf die Idee kommen, es allein zu versuchen?“ Für einen Moment spürte sie, daß sie am Abgrund taumelte. Es war zuviel. Hreshs Hinterhältigkeit. Niallis Wahnsinn. Und jetzt, hier ein Zimmer voller Gesichter mit weiten Augen und klaffenden Mäulern, und alle zu verdattert, um etwas zu sagen. Voll Mitleid mit ihr. Oder vielleicht verachteten die sie ja? Gibt vor, sie regiert die Stadt — und kann nicht einmal die eigene Tochter unter Kontrolle halten. Nein. Nein, sie würde sich davon nicht unterkriegen lassen. Scharf sagte sie: „Du redest törichtes Zeug, Hresh. Wahrscheinlich, daß das Kind vor Liebe den Verstand verloren hat, vielleicht leidet sie sogar an irgendeinem ansteckenden Hjjk-Wahnsinn, den der Junge ihr eingeflößt hat. Aber sie würde niemals dermaßen verrückt sein, daß sie sich allein auf eine derartige Reise wagte. Nicht meine Nialli. Nein, Hresh, ich glaube noch immer, sie hält sich irgendwo hier in der Stadt auf. Versteckt sich, wie ein verwundetes Tier. Bis sie ihren Kummer überwunden hat.“
„Geb’s Dawinno, daß du recht hast“, sagte Hresh.
„Du glaubst das nicht?“
„Ich habe sie und Kundalimon gesehen, am Tag, ehe sie verschwand. Ich hab mit ihr gesprochen. Ich weiß, wie ihre Gefühle für Kundalimon waren. Und auch die zu den Hjjks.“
Zornig entgegnete Taniane: „Dann suche du nach ihr auf deine Weise, und ich setze meine Methoden ein. Du bist doch der, der die übernatürlichen Kräfte hat. Wenn du meinst, sie ist zu den Hjjks unterwegs, dann sende ihr doch deinen wunderbaren Verstand hinterdrein, spüre sie auf, und wenn du kannst, überrede sie heimzukommen. Ich werde aber trotzdem meine Stadtwachen weiter nach ihr suchen lassen.“ Sie blickte zu Husathirn Mueri, der die Morduntersuchungen leitete, und zu Chevkija Aim, dem neuernannten kommissarischen Wachhauptmann. „Ich wünsche alle vier Stunden einen Bericht, auch nachts. Ist das klar? Das Mädchen ist hier irgendwo in der Nähe. Es kann gar nicht anders sein. Findet sie! Die Geschichte dauert schon viel zu lange!“
Glatt und geschmeidig wie stets lächelte Husathirn Mueri, als hätte sie nichts weiter verlangt als eine zusätzliche Kopie irgendeines Routineberichtes. Mit seiner volltönendsten Stimme erklärte er: „Edle, ich bin sicher, bis zum Einbruch der Nacht haben wir sie wieder zurück. Oder spätestens morgen. Ich bin da ganz zuversichtlich. Bei allen Göttern, ich bin sicher!“
Und er ließ den Kopf langsam in einem Halbkreis von einem zum ändern schweifen, als wollte er sie herausfordern, ihm zu widersprechen. Dann erbat er mit schwungvoller Gestik die Erlaubnis, sich zurückziehen zu dürfen, um sich seinen Pflichten zu widmen.
Taniane nickte Gewährung. Auch für sie war es an der Zeit, sich aus diesem Raum zurückzuziehen. Sie hatte ein Zucken in den Schultern. Sie begriff plötzlich, daß sie an der Grenze ihres Durchhaltevermögens angelangt war und gleich zu einem schluchzenden Häuflein Elend zusammenbrechen würde. Das war neu für sie, diese Art Schwäche. Sie kämpfte mit sich, um nicht die Beherrschung zu verlieren. Es durfte nicht geschehen, daß sie vor all diesen Leuten hier zusammenbrach, die sie so lange Zeit mit allen widersprüchlichen Ambitionen in Schach gehalten hatte: durch schiere Stärke, durch List und — wo es nötig war — durch pure Willenskraft. Und die hatte sie in diesem Augenblick dringend nötig. Aber sie fühlte sich dermaßen schwach — dermaßen entleert von all der Kraft und Stärke, die ihr doch bisher stets zur Verfügung gestanden hatte.
Dann trat jemand neben sie. Sie hörte mühsames, pfeifendes Atmen. Spürte weiche Arme, warmes mütterliches tröstliches Fleisch.
Boldirinthe. Die riesenhafte Masse der Opferfrau umfing sie und bot ihr Halt.
„Komm mit mir“, sagte Boldirinthe freundlich. „Du mußt jetzt ausruhen. Komm! Wir werden zusammen beten. Die Götter wachen über Nialli. Komm, Taniane. Komm jetzt mit mir.“
Also, ich könnte ja zu Dawinno beten, sagt Hresh zu sich. Aber er bezweifelt, daß das etwas Positives bringen würde. Schließlich hat ja Dawinno ihm seine Nialli Apuilana genommen. Nicht der Dawinno-der-Zerstörer, sondern Dawinno-der-Verwandler, der Gott in Seiner höheren Manifestation. Und Dawinno hat es sich anscheinend in den Kopf gesetzt, daß Nialli bei den Hjjks leben soll. Und darum hat er es überhaupt erst zugelassen, daß sie damals entführt wurde, damit man sie dort mit Liebe zu den Hjjks indoktrinieren konnte. Und jetzt hat der Gott sie wieder zu ihnen zurückgeschickt. Schön, also wenn es Dawinnos Wunsch und Wille ist — so sei ER gepriesen! Wer dürfte sich anmaßen, Ihn und Seine Wege zu erkennen? —, dann nützen aber auch die allerheftigsten massierten Gebete nichts, um sie zurückzubringen! Nein, das Kind wurde ihm fortgenommen, entrissen durch das direkte Eingreifen des Verwandlers, der für Nialli eigene Zwecke verfolgt, die das Begriffsvermögen bloßer Sterblicher übersteigen. Nach einiger Zeit tastet Hreshs Hand nach dem kleinen Amulett, das über seinem Brustbein baumelt. Er hat es vom Körper des alten Thaggoran genommen, nachdem ihn die Rattenwölfe auf der Frostebene getötet hatten, nur wenige Tage nachdem der Stamm sich aus dem Kokon aufgemacht hatte. Wie lang ist das her! Der Talisman ist ein ovales Bruchstück wohl einstmals glatten grünen Glases, allem Anschein nach uralt, und er weist in der Mitte Schriftzeichen auf, die so schwach und dünn sind, daß niemand sie entziffern kann. Thaggoran hatte gesagt, das Amulett stamme aus der Großen Welt. Und seit Thaggorans Tod hat Hresh es fast immer getragen.
Und er faßt den Talisman jetzt an, streichelt die vom Tragen glattpolierte Oberfläche. Das Ding besaß selbst nicht wirklich irgendeine zauberische Macht, jedenfalls hatte er sie nie spüren können. Aber es hatte Thaggoran gehört; und in der Zeit, da Hresh ihn als Chronist ablöste, berührte er dieses Amulett oft, in der Hoffnung, daß Thaggorans Weisheit auf ihn selber herabkommen möge. Vielleicht ist dies ja so.
„Thaggoran?“ sagt er und schaut in das Dämmerdunkel des Zimmers hoch oben im Hause des Wissens. „Kannst du mich jetzt dort hören, wo immer du sein magst? Ich bin’s, Hresh.“
Stille. Eine so tiefe Stille, daß sie zu dröhnen scheint. Und sie vertieft sich noch weiter, wird stiller als still: nicht nur, daß jeder Laut verstummt ist, nein, es fehlt sogar die Voraussetzung für jedes Geräusch. Und dann weht sacht ein Murmeln wie von einem leisen Wind herein. Und die Luft wird leicht und leuchtet kaum wahrnehmbar. Hresh spürt: Es ist eine höhere Präsenz hereingekommen. Er meint, er sieht den hageren Zausel, den krummrückigen alten Thaggoran vor sich, mit seinen von Alter und Rheuma rotentzündeten Augen, und sein Pelz ist inzwischen reines Weiß.
„Du?“ sagt Hresh. „Du bist hier, mein Alter?“
„Aber ja. Natürlich. Was gibt es denn, Kind?“
„Hilf mir“, bittet Hresh leise. „Nur noch dies eine letzte Mal.“
„Aber, Junge! Und ich hab immer geglaubt, du bestehst so fest darauf, alles immer nur nach deinem Kopf zu machen!“
„Jetzt nicht mehr. Wirklich. Hilf mir, Thaggoran!“
„Wenn du mich brauchst, aber sicher. Aber warte noch einen Augenblick. Schau da hinüber, Junge. Dort — an der Tür.“
Und wieder diese dröhnende, allumfassende Stille und die noch tiefere Lautlosigkeit, und jenseits des Türrahmens erneut im Dunkel eine sich graduell regende Geisthaftigkeit; und auch jetzt wieder das Wehen eines sanften Windes. Eine zweite Gestalt ist hereingekommen, ebenso verhutzelt, ebenso altersschütter, ja vielleicht sogar noch bröseliger. Es ist der zweite große Mentor aus Hreshs Jugend. Der Weise Mann und Schamane des Stammes der Behelmten. Noum om Beng, der Hresh in den Vengiboneezer Tagen befahl, ihn ‚Vater‘ zu nennen. Der Hresh durch die Methode abwegiger Fragestellungen und plötzlicher unerwarteter Ohrfeigen zu tiefer Weisheitserkenntnis gebracht hat.
„Aha, du bist also auch gekommen, Vater?“
Die hagere Gestalt, zerbrechlich wie ein Wasserschreiter — wer anders könnte es sein als Noum om Beng? Er nickt Thaggoran zu, der ihn wie einen alten Weggefährten zurückgrüßt, obwohl sie einander im früheren Leben nie begegnet sind. Sie unterhalten sich flüsternd, wackeln mit den Köpfen und lächeln wissend vor sich hin, als hechelten sie ihren widerspenstigen Schüler Hresh durch und fragten einander: „Ja, was sollen wir nur mit ihm machen? Der Junge hat so vielversprechende Anlagen, aber manchmal ist er dermaßen vernagelt!“
Hresh lächelt. Für die beiden Alten würde er immer der aufmüpfige Schüler sein, obschon er selber bereits so altersangestaubt ist wie sie und aus seinem silbrig werdenden Pelz bald der letzte Hauch Farbe verschwunden sein wird.
„Also — warum hast du uns gerufen?“ fragt Noum om Beng.
„Die Hjjks haben mir erneut meine Tochter entführt“, erklärt Hresh den zwei kaum sichtbaren Spektralgestalten, die nebeneinander im tiefen Schatten am anderen Ende des Raumes stehen. „Beim erstenmal haben sie sie nur einfach gekidnapped und fortgeschleppt. Damals konnte sie fliehen. Jetzt aber befürchte ich etwas viel Schrecklicheres. Jetzt haben sie ihre Seele gefangen.“
Die beiden schweigen, aber Hresh spürt ihre freundlich-wohlwollende Nähe. Sie trägt ihn, verleiht ihm Kraft.
„Ach, Thaggoran, und auch du, Vater, ich habe große Furcht. Und mein Herz ist betrübt und müde wie.“
„Quatsch!“ Noum om Beng ist scharf und knapp wie ehemals.
„Ja, wirklich — Quatsch, mein Junge! Es stehen dir doch etliche Möglichkeiten offen“, tönt heiser wie raschelndes Gras Thaggorans Stimme. „Das weißt du doch! Hresh, die Schimmer-Steine. Jetzt ist endlich mal eine Gelegenheit, die Klunker mal auszuprobieren!“
„Die Edlen Steine? Aber.“
„Ja. Und dann den Barak Dayir“, flüstert dünn die Stimme Noum om Bengs. „Den mußt du auch ausprobieren.“
„Aber erst die Schimmersteine, die zuerst!“
„Ja, also die Glitzerklunker“, sagt Hresh.
Er geht ans andere Ende des Raumes. Mit unsicherer Hand holt er die kleinen Talismane aus ihrem Versteck. Nach all diesen Jahren sind diese Glitzerdinger für ihn noch immer rätselhaft. Thaggoran starb, ehe er noch Hresh in ihrem Gebrauch unterweisen konnte.
Wahrsagegerät sind sie, soviel weiß Hresh: Naturkristalle, die man tief unter dem Kokon in der Erde gefunden hat. Man kann sie irgendwie benutzen, um das Zweitgesicht zu konzentrieren, und dann erhascht man Einsichten auf Dinge, die mit gewöhnlichen Methoden nicht möglich wären.
Behutsam legt er die Steine aus, in dem fünfseitigen Muster, an das er sich noch erinnert von jenem Tag im Kokon her, als er heimlich einmal Thaggoran zugeschaut hatte. Jetzt hat er das Gefühl, daß Thaggoran neben ihm steht und ihn behutsam lenkt.
Die Glimmersteine sind schwarz, glatt und reflektieren wie Spiegel, in deren Tiefen ein kaltes fernes Licht brennt. Dieser Stein, das weiß Hresh noch, wird Vingir genannt; der da ist Nilmir, und die anderen da heißen Dralmir, Hrongnir und Thungvir. Er schaut sie lange unbeirrt an. Dann berührt er sie, einen nach dem anderen. Er spürt, welche Kraft in ihnen verborgen liegt.
Sagt mir — sagt es mir — sagt es...
Wärme strömt ihm zu. Es vibriert kitzelnd. Er setzt sein Zweitgesicht ein und spürt, wie die Steine auf irgendeine Weise interaktiv werden.
„Weiter so“, sagt Thaggoran heiser aus dem Zimmerschatten herüber.
Sagt mir, sagt mir, sagt es mir...
Die Steine werden wärmer. Unter seinen Händen beginnen sie zu schwingen, zu pulsen. Angstvoll und bänglich formuliert er die Frage, vor deren Antwort er im Grunde fast zurückschreckt.
Meine Tochter... Lebt sie noch?
Und er baut in seinem Bewußtsein das Bild von Nialli Apuilana auf.
Zeit, ein Augenblick, vergeht. Dann bricht das Abbild von Nialli mit himmlischer Strahlenklarheit hervor. Sie ist von einer leuchtenden Corona aus weißem Licht umgeben. Ihre Augen strahlen hell und klar. Und sie lächelt. Eine Hand streckt sie ihm liebend entgegen. Hresh fühlt ihre Lebendigkeit, den aus der Tiefe heraufquellenden Strom von Energie.
Also lebt sie?
Das Bild nähert sich ihm, leuchtend. Die Arme sind ihm entgegengestreckt.
Ja. Ja. So muß es sein. Sie lebt.
Ihre Nähe ist fast überwältigend real. Hresh hat das Gefühl, als sei Nialli wahrhaftig hier im gleichen Raum bei ihm und nur auf Armeslänge von ihm entfernt. Ganz gewiß, das ist der Beweis, daß sie lebt, denkt er. Bestimmt. Sicher!
In dankbarem Staunen blickt er fest auf die Schimmersteine.
Aber wo ist sie denn?
Die Steine können es ihm nicht sagen. Ihre Wärme schwindet, das Vibrieren hört auf. Ihr Leuchten im Innern scheint zu flackern. Das Bild Niallis, das er beschworen hat, verdünnt sich. Er blickt zu Thaggoran und zu Noum om Beng, aber die beiden alten Gespenster findet er fast nicht mehr. Sie sehen blaß aus, durchsichtig, substanzlos in der Dunkelheit des Raumes.
Wild greifen seine Hände nach Vingir und Hrongnis. Er berührt Dralmir, den größten der Schimmersteine, und drückt ihn fest. Er reckt die Fingerspitzen nach Thungvir und Nilmir und fleht die Steine an, ihm zu antworten. Aber er erfährt keine Antwort mehr von ihnen. Sie haben ihm gesagt, was sie ihm an diesem Tag zu verraten gewillt waren.
Doch — Nialli lebt. Dessen immerhin ist er gewiß.
„Sie ist zu den Hjjks gegangen, ja?“ fragt Hresh. „Warum? Sagt es mir! Warum?“
„Du hast die Antwort in deiner Hand“, sagt Thaggoran.
„Ich verstehe nicht. Wie.“
„Der Barak Dayir, Sohn“, sagt Noum om Beng. „So nimm doch den Barak Dayir!“
Hresh nickt. Er schaufelt die Schimmersteine in ihr Behältnis; dann holt er aus dem Beutel den anderen, den mächtigeren Talisman, den der Stamm als ‚Wunderstein‘ bezeichnet, ein Ding, älter sogar als die Große Welt, das alle fürchten und dessen Gebrauch nur Hresh versteht.
Auch er hat in den letzten Jahren gelernt, die Macht dieses Steins zu fürchten. Als er ein Knabe war, fand er nichts dabei, mit seiner Hilfe bis an die Grenzen der Wahrnehmung zu fliegen. Aber nicht mehr, vorbei, vorbei. Der Barak Dayir ist jetzt zu stark für ihn geworden. Wann immer er ihn mit seinem Sensor berührt, fühlt er jetzt, wie der Stein ihm seine schwindende Stärke absaugt; und die Visionen, die er dabei erlebt, sind dermaßen bedeutungsgeschwängert, daß er hinterher völlig benommen und verwirrt ist. In jüngerer Zeit hat er den Zauberstein nur noch sehr selten benutzt.
Er legt den Stein vor sich hin und schaut in seine geheimnisvollen Tiefen.
„Nur weiter“, sagt Thaggoran.
„Ja. Ja.“
Hresh stellt sein Sensor-Organ auf und schlingt es — ohne ihn direkt zu berühren — um den Wunderstein; dann umfaßt er in einer blitzschnellen konvulsivischen Bewegung den Talisman mit der innersten Schwanzwindung und drückt die Spitze seines Sensors auf ihn.
Es kommt ihm eine scharfe Empfindung schockartiger Dislokation, als stürze er in einen endlos tiefen Schacht. Zugleich aber ertönt auch diese vertraute Himmelsmusik, diese Sphärenklänge, die er mit dem Gerät assoziieren gelernt hat, und sie senken sich um ihn herab wie umhüllendes Schleiertuch, das ihn fängt, umfängt und auffängt. Und er weiß: Du brauchst dich nicht zu fürchten. Er tritt ein in diese Musik — wie schon so oft früher — und läßt sich von ihr einfangen und löst sich darin auf und wird von ihr hinweggetragen, hinauf in eine Welt voll Helligkeit und Farben und Wandelformen, in der alles Möglichkeit wird und in der der gesamte Kosmos ihm greifbar nahe ist.
Er schwebt nach Norden, weit über die mächtige Krümmung des Planeten hinweg. Er schwebt hoch über dem dunklen Land, das schuppig überkrustet ist von den Myriaden von Ablagerungen, die sich im Laufe der langen Geschichte der Erde aufgeschichtet haben, diesem Schutt und Müll und den Trümmern, die das Erbteil einer Welt sind, die war, ehe die Welt wurde.
Unter ihm liegt die Große Stadt Dawinno. Weiß und lieblich und erhaben, und so angenehm wohlig an die saftigen Hügelhänge der Bucht geschmiegt. Gen Westen sieht Hresh die immense Weite des Ozeanpanzers, schwarz und schwer über der Hälfte des Planeten Erde lasten, und die dort verborgenen Geheimnisse sind zu tief für sein Verständnis. Also steigt er höher und immer höher hinauf, und wieder weiter nach Norden, bis zu der Zone, wo die Stadt sich in verstreuten vereinzelten Wohnblocks auflöst und in Ackerland und Wald übergeht.
Während er hinaufsteigt, sucht er den heißen leuchtenden Funken, der die Seele von Nialli Apuilana ist. Doch er spürt nirgendwo einen Hauch von ihr auf.
Er ist inzwischen ziemlich weit im Norden und schaut auf winzige Agrargemeinden, Kleindörfer, hinab, die^sich als helle weiße und grüne Flecken von den frisch umbrochenen Äckern abheben. Und er sieht weiter hinüber in das Land, das im Neuen Frühling noch nicht wieder bebaut wurde und wo die wilden Tiere des Langen Winters noch ungehindert und frei durch die Wälder und die verkohlten, verwitternden Reste der Groß welt-Städte schweifen, die wie zerbröselnde Knochenscherben auf den unbehausten, windzerfurchten Hochplateaus agern. Aber, so tot sie sind, es strahlt aus ihnen noch immer das starke vibrierende Echo der Gegenwart der Sechs Stämme, deren Gebiet dies einstmals war.
Aber keine Nialli. Das verwirrt ihn. Sind sie mit einem Zauberwagen gekommen, sie zu holen, und haben sie — in einem Nu, solang, wie ein Lidschlag dauert — über die Tausende von Meilen bis zum NEST entführt?
Er strebt weiter nordwärts.
Jetzt gleitet die Stadt Yissous in sein Blickfeld, hoch oben im Norden, hinter einem gigantischen Bollwerk versteckt wie eine argwöhnische Schildkröte. Und im nächsten Augenblick ist Hresh darüber hinausgesegelt und nähert sich nun Vengiboneeza, dessen türkisgrüne und scharlachrote Türme von wimmelndem Insektenleben nur so glühen. Ja, hier gibt es ein Nest, ein oberirdisches, und es breitet sich wie eine ungehörige graue Wucherung über die Gebäudereste aus der Großen Welt. Aber Nialli ist nicht hier. Hresh ist inzwischen so hoch hinaufgestiegen, daß er den Bogen der Küstenlinie klar ausmacht, die von hier aus scharf nach rechts auskrängt. Die ganze Kontinentalküste krängt merklich von Süd nach Nord immer mehr nach außen, so daß Yissou durchaus weit östlich von Dawinno liegen kann und dennoch dem Meer so nahe, und Vengiboneeza kann noch weiter im Osten sein und trotzdem seinen leichten Zugang zum Großen Wasser haben.
Aber weiter. Über Vengiboneeza hinaus und in Gebiete, die Hresh außer in seiner Phantasie nie zu betreten gewagt hat.
Hier ist das Land der Hjjks. Sie herrschten darüber schon in den Tagen der Großen Welt, und sie haben ihre Herrschaft niemals aufgegeben, nicht einmal in den ärgsten Zeiten des Langen Winters, als alles Land von Flüssen und Bergen aus Eis überdeckt war. Irgendwie haben sie überlebt; irgendwie ernährten und versorgten sie sich, als alle anderen Lebewesen gezwungen waren, sich in den milderen Süden zu flüchten.
Aber jetzt ist das Eis verschwunden, und das karge, unfruchtbare Land liegt traurig bloß. Hresh schaut auf rote Bergkegel und Tafelplateaus hinab, auf wulstige Vorgebirgsterrassen, die über trostlosen graubraunen Wüsten aufsteigen, in denen kein Grashalm wachsen mag; er blickt auf ausgetrocknete Flußläufe, die von langen Salinenzungen durchzogen sind, und er sieht eine zum Frösteln öde, verlassene Landschaft von abstoßender lebensfeindlicher Dürre.
Und dennoch gibt es hier Leben!
Der Barak Dayir liefert ihm dafür unzweideutige Impulse. Hier, dort — und dort: Unverkennbar die Hauchspur von Leben. Es sind nur vereinzelte Funken und weit voneinander entfernt in dieser erbarmenswürdig erbärmlichen Inferno-Welt, über der Hresh schwebt, aber es sind Lebensfunken von derart hoher Intensität, daß nichts sie wohl ersticken könnte.
Aber es sind die Energiefunken hjjkischen Lebens, keine Spur von etwas andrem, außer Hjjks.
Hresh spürt Insektenseelen in Zweier- und Dreierkombination, oder zu zehn und zwanzig oder etlichen hundert. Kleine Trüppchen (und manche davon gar nicht sooo klein), die über die kargen Nordlandebenen streifen und Aufgaben erfüllen, die ihm nicht einmal der Wunderstein entschlüsseln kann. Diese verstreuten Gruppen ziehen mit einer Entschlossenheit dahin, die eiserner ist als Erz und starrer als Stein. Hresh weiß: Nichts wird sie aufhalten, weder Kälte noch heiße Dürre, noch der Zorn der Götter. Sie könnten Planeten sein, die unbeirrbar ihre Bahnen durch den Himmel ziehen. Und die Kraft, die von ihnen ausgeht, ist furchterregend.
Das sind sie, dachte Hresh, die unmenschlichen, herz- und eingeweidelosen Hjjks, vor denen sich unser VOLK schon seit unvordenklichen Zeiten fürchtete, die unverletzbaren, die erbarmungslosen Insektenwesen aus den Mythen und Fabeln und Bibeln.
Und zu diesen Monstren hat sich seine Tochter geflüchtet, um bei ihnen Nest-Bindung und Königin-Liebe zu finden? Wie war das nur möglich? Was für eine Liebe, welches Erbarmen kann sie denn von diesen Leuten erwarten?
Und doch — dennoch.
Er stellt seine Wahrnehmungen schärfer ein, erweitert und vertieft die Reichweite des Barak Dayir, und zu seiner Bestürzung torkelt er durch das Gitternetz seiner eigenen Vorurteile und stürzt wie ein Taumelstern in einen ganz neuen Bewußtseinsbereich, und wie er zuvor Leben in der Unbelebtheit gesehen hat, so scheint es ihm jetzt, daß er Beseeltheit in dem angeblich Seelenlosen erkennt. Er spürt die Ausstrahlung, die Nähe des Nests.
Vieler Nester — eigentlich. Weithin über das Land verstreute, vorwiegend im Untergrund liegende warme gemütliche Röhrensysteme, die von einem Zentralpunkt radial in ein Dutzend verschiedene Richtungen sich erstrecken, so daß Hresh sich überdeutlich erinnert fühlt an den Kokon, in dem sein eigener Stamm die siebenmal hunderttausend Jahre des Langen Winters überdauert hat. Hier wimmelt es von Hjjks in unzählbaren Mengen, und sie bewegen sich mit eben jener Zielstrebigkeit und hirnlosen Stumpfsinnigkeit, welche dem VOLK ein so großes Entsetzen einflößt. Aber die Zielstrebigkeit ist nicht wirklich seelen- oder sinnlos. Es gibt einen Plan, ein zentrales Organisationsprinzip, einen inneren Zusammenhang; jede dieser Myriaden Geschöpfe bewegt sich in Einklang damit und gemäß der Teilfunktion, die er im Plan erfüllt. Es ist, wie Nialli das damals gesagt hat, als sie vor dem Präsidium sprach: Das ist nicht etwa bloßes Ungeziefer. Ihre Kultur, auch wenn sie uns fremd erscheint, ist eine reiche und vielschichtige — und vielleicht sogar große Kultur.
In jedem Nest schlummert eine Königin, ein gewaltiges traumverlorenes massiges Geschöpf, gewindelt, gewickelt, verpackt und bewacht, und um sie kreist das gesamte hochkomplizierte Leben der Siedlung. Hresh spürt die Nähe der Königinnen nun deutlich und fühlt sich stark in Versuchung, mit seinem Bewußtsein in das einer von ihnen vorzudringen, sich in diese schlafende Ungeheuerlichkeit zu versenken, in ihre kraftvolle Seele einzudringen und sie zu begreifen versuchen. Doch er wagt es nicht. Nein, er hat den Mut nicht. Unsicher zögert er, hält sich zurück, zögert, die durch hohe Jahre und entsprechende Müdigkeit bedingten Besorgnisse beklemmen ihn, und er redet sich ein, daß er ja nicht deswegen hierhergekommnen ist, jedenfalls nicht jetzt, jetzt noch nicht.
Sein schweifendes Bewußtsein sucht nach seiner Tochter. Findet sie nicht.
Hier nicht? Auch hier nicht einmal ist sie?
Also, vielleicht weiter droben im Norden. Das da sind schließlich nur subordinate Königinnen in untergeordneten Nestern. Also, suche anderswo. Dann fühlt er schwer wie von einem Magnetstein die Anziehung der gewaltigen Haupt-Statt, die jenseits davon liegt, des Wohnsitzes der Königin-der-Königinnen, für die diese stumm-trägen gewaltigen Kreaturen hier nichts weiter sind als untergeordnete Bedienerinnen.
Nialli? Nialli?
Und er sucht weiter und weiter. Immer noch kein Anzeichen ihrer Nähe. Und jetzt spürt er, wie sein entkörpertes Bewußtsein sich dem Nest-der-Nester nähert, das am Nordhorizont glüht wie eine zweite Sonne. Es strömt eine bestürzende und unwiderstehliche Wärme von ihm aus. die brünstigmachen- und allesumfassende seelenverschlingende lodernde All-Liebe der Königinder-Königinnen. Und sie ruft ihn, sie zieht ihn in sich hinein.
Aber auch da ist keine Nialli. Ich habe mich selber in die Irre geführt. Sie ist also doch nicht ins NEST zurückgekehrt. Ich bin in die falsche Richtung gezogen. Tausend Meilen weit weg von dem Ort, an dem ich hätte suchen sollen.
Hresh stoppt seinen Flug. Die helle Strahlung über dem Horizont rückt nicht mehr näher. Zeit, daß er umkehrt. Heute ist er so weit gegangen, wie er nur konnte. Die Königin-der-Königinnen ruft ihn, doch er wird dieser Aufforderung nicht folgen. Jedenfalls noch nicht jetzt. Die Versuchung ist gewaltig: Zugang zum NEST zu erhalten, seine Seele mit IHRER zu verschmelzen, mehr darüber zu erfahren und zu begreifen, wie die Welt in diesem gewaltigen Hjjk-Stock sich im Innersten zusammensetzt. Der Hresh der alten Zeiten, der wilde unbremsbare Hresh immer voller Fragen steckte, hätte nicht einen Moment gezögert. Doch der alte Hresh, der von heute, weiß, daß er auch anderwärts Pflichten und Verantwortung hat. Also kann die Große Königin ruhig noch ein Weilchen auf ihn warten.
Die Wärmestrahlung aus dem Nest brennt sich in Hreshs Fleisch. Die Hitze der Königin-Liebe tobt durch seinen Geist. Doch mit einem gewaltig anstrengenden Ruck zwingt er sich zur Umkehr, kann sich lösen und beginnt die Heimkehr.
Nun flog er wieder südwärts, über das Ödland weg, über das strahlende Vengiboneeza und über Yissou hinaus, über die ausgedorrten Plateaus mit ihren zerbröckelten Ruinenstädten. Dann tauchte das vertraute heimatliche Grün seiner Provinz auf. Er erkennt die Bucht, die Küstenlinie, die vor ihm auf Berge und die weißen Türme der Stadt, die er selber erbaut hat. Er sieht die Dachbrüstung des hohen, schlanken Hauses des Wissens — und er sieht sich selbst, in diesem Haus blinder Auges an seinem Tisch sitzen und mit dem Sensor den Barak Dayir umklammern. Kurz darauf ist er wieder mit sich selber vereint.
„Thaggoran?“ rief er und schaute sich um. „Noum om Beng? Seid ihr noch da?“
Nein. Sie sind fort. Und er ist allein mit seiner Verwirrtheit, und er ist ganz umnebelt von der Reise, die er gerade gemacht hat. Irgendwie ist die Nacht verstrichen, während er dahinflog. Goldenes Ostlicht strömt durch seine Kammer.
Und Nialli. Er muß sie finden.
Gewiß ist sie irgendwo in der Nähe, wie Taniane dies schon die ganze Zeit behauptet hatte. Und bestimmt lebt sie noch. In dieser Hinsicht würden ihn die Schimmersteine gewiß nicht getäuscht haben. Der Lebensimpuls, den er ausgemacht hat, war unverkennbar der von Nialli. Doch — wo war sie? Wo? — Zermürbt und müde besah er sich den Barak Dayir und überlegte, ob er die Kraft für eine neue Exkursion aufbringen konnte.
Nein, ich ruh mich erst mal ein wenig aus, sagte er sich. Zehn Minuten, ein halbes Stündchen.
Dann nahm er das Geschrei drunten auf der Straße wahr. Ein Tumult? Ein Überfall? Mühsam raffte Hresh sich auf und trat hinaus an die Dachbrüstung. Drunten rannten die Leute wild herum und riefen einander zu. Was schrien die da? Er hörte es nicht genau, nichts eigentlich.
Ein Windstoß wehte ihm ein paar Wortfetzen herauf: Nialli! Apuilana!
„Was ist denn?“ schrie Hresh hinunter. „Was ist passiert?“
Aber seine Stimme trug nicht. Keiner hörte ihn. Angsterfüllt rannte er die endlose Wendeltreppe bis zum untersten Stock hinab und hinaus auf die Straße. Dort klammerte er sich, nach Atem ringend, an die Umzäunung. Die Beine zitterten ihm. Er blickte sich um. Niemand zu sehen. Die da gebrüllt hatten, waren weitergezogen. Doch dann kamen andere, ein Trupp von Knaben auf dem Weg zur Schule, und sie purzelten durcheinander und hüpften herum und bewarfen sich mit ihren Schulheften. Als sie ihn erblickten, blieben sie stehen und nahmen dann eine etwas würdigere Haltung ein, wie es sich gehörte, wenn man dem Chronisten über den Weg läuft. Aber die Augen, die Augen dieser Kinder waren hell und funkelten vor Lebensfreude.
„Was gibt es Neues?“ fragte er streng.
„Ja, Herr, es gibt Neues, ja, Herr. Deine Tochter Herr, die Edle Nialli Apuilana.“
„Was ist mit ihr?“
„Sie wurde gefunden, Herr. Im Seengebiet. Der Jäger Sipirod hat sie gefunden. Gerade bringen sie sie zurück!“
„Und ist sie.“
Er brachte die Frage nicht vollständig heraus. Die Knaben waren schon weitergezogen und schubsten und purzelten weiter.
„. gesund?“
Sie riefen etwas zu ihm zurück. Er konnte die Worte nicht begreifen. Aber ihre Stimmen klangen fröhlich, und man konnte den Sinn kaum mißverstehen. Es war alles in Ordnung. Nialli lebte, und sie kehrte in die Stadt zurück. Hresh schickte ein Dankgebet zu den Göttern hinauf.
„Du mußt mit mir kommen, Mutter Boldirinthe“, sagte der junge Wachsoldat ernst. „Der Häuptling verlangt nach dir. Ihre Tochter braucht dringend eine Heilung.“
„Ja. Ja, natürlich“, sagte die Opferfrau. Die Feierlichkeit des jungen Soldaten zwang ihr ein Lächeln ab. Ein Beng, wie die meisten der Wachmänner, ein massiger Kerl mit schwerfälliger Zunge und furchtbar gravitätisch in seinem Auftreten. Aber eben noch sehr jung. Und das machte vieles verzeihlich. „Glaubst du nicht, ich wüßte schon, daß man mich rufen würde? Nachdem sie vier Tage in diesen giftigen Sümpfen gelegen hat — in welchem Zustand das arme Ding sein muß! Also, Junge, hilf mir mal auf die Beine. Ich werd allmählich so gewaltig wie ein Zinnobär.“
Sie streckte den Arm aus. Doch der Stadtgardist schlüpfte mit unerwartet beflissener Höflichkeit hinter ihren Stuhl, legte ihr seinen Arm um die Brust und hob sie empor. Sie wackelte ein wenig, und er stützte sie. So kräftig er war, fiel ihm das nicht leicht. Boldirinthe mußte über sich selber und ihre träge Masse kichern. Die Fleischesmassen lagerten sich auf ihr geradezu lawinenartig ab, jeden Tag eine neue Schicht. Bald würde sie in sich selber begraben sein und sich praktisch überhaupt nicht mehr bewegen können. Ihre Beine waren wie Säulen, der Bauch ein faltiger fester Lavaberg. Aber sie machte sich deswegen keine größeren Sorgen. Sie war den Göttern dankbar dafür, daß sie sie lang genug hatten leben lassen, um diese Verwandlung durchzumachen, und daß sie ihr stets das Lebensnotwendige gewährten, aus dem heraus sie ihre Leibesfülle aufbauen konnte. Vielen anderen war ein derartiges Glück nicht beschieden gewesen.
„Da drüben“, sagte sie jetzt, „den Ranzen auf dem Tisch — gib ihn mir her!“
„Ich kann das doch für dich tragen, Mutter.“
„Keiner darf ihn tragen, außer mir. Gib ihn schon her. Braver Bub. Hast du einen Wagen parat?“
„Ja, im Hof.“
„Nimm meinen Arm. So ist’s recht. Wie heißt du?“
„Maju Samlor, Mutter.“
Sie nickte. „Bist du schon lang bei der Garde?“
„Erst seit einem Jahr.“
„Schrecklich, die Sache mit der Ermordung eures Hauptmanns. Aber sein Tod wird nicht ungesühnt bleiben, wie?“
„Wir suchen Tag und Nacht nach dem Mörder“, antwortete Maju Samlor. Er grunzte ein wenig unter Boldirinthes schwankenden, rollenden Gewichtsmassen, doch es gelang ihm, sie geradeaus zu steuern. Behutsam arbeiteten sie sich auf den Hof hinaus vor. Es war das zweitemal innerhalb von zwei Tagen, daß sie ihre Klosterzelle verließ, denn erst am Vortag hatte sie an der Versammlung teilgenommen, die Taniane in die Basilika einberufen hatte. In diesen Tagen war das ganz ungewöhnlich für Boldirinthe, daß sie so oft außer Haus ging. Alle Bewegung fiel ihr so schwer. Bei jedem Schritt rieben ihre Schenkel aneinander, und die Brüste zogen sie wie Steingewichte zu Boden. Aber vielleicht tat es ihr ja auch ganz gut, wenn sie sich etwas öfter einmal ein bißchen bewegte.
Der lange Ranzen bereitete ihr nun doch größere Mühe, als sie erwartet hatte. Sie hatte am Morgen alles hineingepackt, was sie für die Behandlung der Nialli Apuilana benötigen würde — die Talsimane von Friit und Mueri selbstverständlich, aber auch die aus schwerem Holz geschnitzten Medizinstäbe und ein Sortiment von Kräutern und Tränklein in steinernen Gefäßen. Vielleicht zuviel Zeug. Aber es gelang ihr zum wartenden Wagen zu watscheln, ohne den Sack fallenzulassen.
Ihre Berg-Zelle lag fast ganz oben an der ‚Mueri-Weg‘ genannten steilen Straße. Knapp hundert Schritt weiter oben lag das ‚Mueri-Haus‘, und die Gasse, in der Kundalimon ermordet worden war, lag auf halbem Wege dazwischen.
Es erzürnte sie, daß ein Leben — noch dazu unschuldiges Leben — so nahe bei ihrem Heiligtum vernichtet worden war. Wie durfte es einer — und sei es ein Verrückter — wagen, den Ort der Heilung und des Heils zu besudeln mit der üblen Aura eines gewaltsamen Todes? An jedem Morgen seit dem M)rd hatte sie eine ihrer Jungpriesterinnen an die Stelle gesandt, um dort das Reinigungsritual durchzuführen. Sie selbst war nicht hingegangen. Aber jetzt, als Maju Samlor die Zügel ergriff und das Xlendi auf die Straße hinausbog, wandte Boldirinthe den Kopf und blickte zu dem Ort des Verbrechens hinauf.
Dort schien sich eine Menschenmenge angesammelt zu haben. Sie sah dreißig, vierzig Leute, vielleicht mehr, die sich um den engen Zugang zu der Gasse drängten. Die Hineingehenden schleppten Netztaschen, prall voller Früchte, andere trugen Blumengarben oder ganze Arme voll grünen Blattwerks — von den Bäumen abgerissene Äste, wie es schien. Die anderen, die aus der Gasse heraustraten, kamen mit leeren Händen.
Stirnrunzelnd wandte sie sich Maju Samlor zu. „Was geht hier vor, weißt du es?“
„Sie bringen Opfergaben, Mutter.“
„Opfergaben?“
„Ja, Naturopfer. Belaubte Zweige, Früchte, Blüten und so. Für den Toten, weißt du, den Jungen von den Hjjks. Das geht jetzt schon seit zwei, drei Tagen so.“
„Sie legen Opfergaben an der Stelle nieder, an der er gestorben ist?“ Wie seltsam. Ihre Priesterinnen hatten ihr davon nichts berichtet. „Bring mich hin, ich will mir das mal anschauen.“
„Aber die Häuptlingstochter.“
„. kann ein paar Minuten länger warten. Bring mich hin!“
Der Wachmann lenkte achselzuckend den Wagen herum und fuhr hinauf bis an die Einmündung des Gäßchens. Aus der Nähe erkannte Boldirinthe, daß nur wenige erwachsene Personen unter der Menge waren. Überwiegend waren hier Kinder, Jungen und Mädchen, manche von ihnen noch sehr klein, versammelt. Von ihrem Haltepunkt aus war es schwer, genauer zu sehen, was sich tat, aber sie wollte auch nicht aussteigen und die Sache direkt untersuchen. Immerhin sah sie soviel, daß in der Gasse jemand eine Art Altarschrein errichtet hatte. An der Spitze der Schlange der Opferträger waren Äste und grüne Zweige höher als mannshoch aufgetürmt, und sie waren mit Stoffstücken, glitzernden Metallstreifen und langen bunten Papierbändern geschmückt.
Lange blieb sie so sitzen und sah zu. Einige Kinder bemerkten sie, winkten und riefen sie beim Namen, und sie lächelte und erwiderte die Grüße. Aber sie stieg nicht aus.
„Möchtest du vielleicht aus der Nähe sehen?“ fragte Maju Samlor. „Ich könnte dir raushelfen...“
„Ein andermal“, sagte Boldirinthe. „Fahr mich jetzt zu Nialli Apuilana!“
Der Gardist wendete und fuhr wieder hügelabwärts.
Also jetzt verehren sie ihn, dachte Boldirinthe kopfschüttelnd. Der da gestorben ist, wird von ihnen zum Gott gemacht. Jedenfalls sieht es danach aus. Wie seltsam. Alles ist überhaupt so höchst seltsam, alles, was irgendwie mit diesem jungen Mann zu tun hat.
Sie empfand es als ärgerlich und beunruhigend, daß sich derartige Dinge ereigneten. Daß es da auf einmal in diesem Gäßchen einen Votivaltar geben sollte und daß die Kinderchen Kundalimon Opfergaben darbringen sollten, als wäre er ein Gott. Das kam ihr unrichtig, ja sündhaft vor.
Aber vielleicht ist es ja gar nicht so ernst, beruhigte sie sich.
Sie dachte an all die antidoxen Ketzereien, die sie im Lauf ihres langen Lebens schon hatte aufkeimen sehen. Hatte auch nur einer dieser Irrglauben wirklichen Schaden angerichtet? Und man lebte in unsicheren Zeiten. Das Nahen des Jungen Frühlings hatte das VOLK aufgerüttelt und gezwungen, die engstirnig beschränkten Glaubenskonzepte aus den Zeiten des Kokons abzustreifen, einfach indem es dazu zwang, hinauszustreben und sich den unbekannten Rätseln einer größeren Welt zu stellen. Also war es doch überhaupt nicht verwunderlich, daß das VOLK nach neuen Heilslehren grapschte, sobald die altvertrauten keine sofortigen Resultate mehr brachten.
Manche von diesen Neuheiten waren recht kurzlebig gewesen. Wie etwa dieser merkwürdige Kult der Menschen-Anbetung, der während der letzten Tage von Vengiboneeza entstand und bei dem sich Grüppchen von Leuten aus dem einfacheren Volk heimlich trafen und um die Statue eines Menschlichen tanzten, die man irgendwo in der alten Stadt gefunden hatte und vor der sie dann Gebete und Opfer vollzogen. Aber zur Zeit der Zweiten Wanderung war dieser Aberglaube bereits wieder ausgestorben.
Andererseits hatte man die Verehrung des fremdstämmigen Gottes Nakhaba nach der Vereinigung mit den Bengs in das kultische Leben des Stammes einbezogen — und dies immerhin schien von Dauer zu sein. Und immer wieder waren andere neue Glaubensvorstellungen aufgetaucht und modisch geworden, solche, in deren Mittelpunkt die Gestirne standen, die Sonne, der große Ozean oder gar noch unwahrscheinlichere Sachen. Boldirinthe hatte sogar gerüchteweise flüstern hören, daß Nialli Apuilana eine Hjjk-Gläubige sein sollte und angeblich in ihrem Privatgemach im Hause Nakhaba irgendeinen heiligen Talisman der Hjjks aufbewahrte.
Na, und wenn schon, dachte Boldirinthe. Sie war zwar Priesterin, aber immerhin doch fromm und gläubig genug, um zu begreifen, daß Göttlichkeit in allen Dingen steckt. Die Himmlische Fünffaltigkeit war nicht unbedingt und zwangsläufig die einzige Form, in der sich ‚das Heilige‘ ausprägen mußte. Sie war nichts weiter als der Götter-Clan, dem zu dienen sie nun eben geschworen hatte. Und sie waren auch nicht etwa die ‚wahren‘ Götter und die anderen die falschen, sondern für sie waren sie eben die brauchbarsten und wirksamsten und mit einem Höchstmaß an Heiligkeit ausgestatteten Götter. Wenn darum also diese Kinder an einer Gedenkstätte für Kundalimon Gaben darbringen wollten, warum nicht? Gottesehrfurcht ist löblich, gleich in welcher Form.
„Beeil dich!“ sagte sie zu ihrem Fahrer. „Kannst du das verdammte Xlendi da nicht zu etwas mehr Tempo bringen? Nialli Apuilana ist sehr geschwächt, weißt du. Sie braucht mich dringend.“
„Aber grade vorhin hast du doch gesagt.“
„Wenn du die Peitsche nicht benutzen willst, dann her damit. Glaubst du, ich traue mich nicht, sie zu benutzen? Schneller, Junge! Schneller!“
Nialli Apuilana lag auf einer Matratze in einem der oberen Gemächer der Häuptlingsresidenz. Sie lag mit geschlossenen Augen, und ihr Atem ging flach und langsam. Ihr Fell war stumpf und feucht-verklebt. Ab und zu murmelte sie unverständlich in sich hinein. Sie schien in einer Region jenseits des Bewußtseins umherzuirren, tiefer fort als im Schlaf, aber noch diesseits der Schwelle zum Tode. Boldirinthe erinnerte der Anblick an ein Erlebnis aus ihrer fernen frühen Jugend: Dieses merkwürdige Geschöpf — Hresh sagte, das sei ein Menschlicher gewesen —, den der Stamm den ‚Träume-Träumer‘ genannt hatte, das jahrelang in tiefem endlosen Schlaf lag, nur um genau an dem Tag zu erwachen und zu sterben, als dem VOLK die Omina der Götter zuteil wurden, daß die Zeit des Auszugs gekommen war. Auch der Träumer hatte so schlafend gelegen, als befinde er sich mehr in einer jenseitigen als in dieser Welt.
Um die Lagerstatt Niallis geschart stand eine Gruppe bedrückter ernster Leute. Taniane war da, selbstverständlich, und sie sah so übermäßig angespannt und kraftlos aus, als müsse sie gleich zerbrechen. Auch Hresh, er schien in wenigen Tagen um Jahre gealtert zu sein. Und Husathirn Mueri und Tramassilu, der Juwelier, und Fashinatanda, die blinde, greisenhafte wackelige Mutter Tanianes; und der Baumeister Tisthali und der Getreidehändler Sturnak Khatilifon nebst seiner Gefährtin Sipulakinain, die krank war und nur noch ein ausgeglühtes Stück Schlacke ihres früheren Selbst — man konnte beinahe schon die Hand des Todes auf ihrer Schulter liegen sehen. Und noch andre Leute waren da, von denen die Opferfrau einige ganz und gar nicht unterbringen konnte.
Was eine solche Herde von Leuten in einem Krankenzimmer zu suchen haben sollte, überstieg Boldirinthes Begriffsvermögen. Zweifellos wollten sie allesamt helfen. Aber sie drängten sich alle viel zu dicht an das arme Kind heran, überhitzten die Luft und entzogen dem Raum Lebenskraft. Boldirinthe fuchtelte ungeduldig mit den Händen und verscheuchte die ganze Gesellschaft, bis auf Taniane und Sipulakinain, deren Anwesenheit gewissermaßen sinnvoll war. Auch die alte Fashinatanda duldete sie still in einem Winkel, denn sie schien sowieso nicht mehr zu begreifen, was geschah.
„Wo hat man sie gefunden?“ fragte Boldirinthe.
„Im Seengebiet“, antwortete Taniane. „Bäuchlings, mit dem Gesicht im Schlick an einem kleinen Tümpel, sagt Sipirod, und um sie herum ein ganzer Haufen Tiere, die sie beobachteten, ein paar Caviandis und Stinchitole, eine kleine Schar von Scantrinen, ein, zwei Gabools. Sipirod sagt, sie hätte noch nie etwas dermaßen Verblüffendes gesehen wie diese ganzen Tiere, die sich um sie geschart haben. Fast als würden sie sie beschützen wollen. Da muß sie dann so etwa zwei Tage lang gelegen haben. Mit brennendem Fieber, sagt Sipirod. Sie muß Wasser aus den Tümpeln getrunken haben, sagt Sipirod. Und natürlich hatte sie nichts zu essen.“
„Ist sie irgendwann wieder bei Bewußtsein gewesen?“
„Nein, immer im Delirium. Ab und zu stammelt sie was — von der Königin, vom Nest, eben so dieses Zeug. Und ruft Kundalimons Namen. Die beiden waren ein Liebespaar, wußtest du das? Und sie wollten zusammen flüchten, Boldirinthe. Zu den Hjjks in ihr Land!“
„Armes Kind. Kein Wunder, daß sie davongelaufen ist.“ Aber dann grunzte die Opferfrau und schob das Ganze als jetzt völlig unwichtig beiseite. „Bringt mir mal den Tisch da drüben hierher, ja? Da stellt ihr dann meinen Sack drauf. Nein, auf dieser Seite, wo ich rankommen kann! Und dann holt mir was, worauf ich mich setzen kann. Am Bett. Ich kann mich nämlich nur grad so mühsam auf den Beinen halten, wißt ihr.“
Dann nahm sie Niallis Arm hoch und strich mit den Fingern über die ganze Länge hin, um die Lebensströme zu ertasten. Sie waren sehr schwach. Das Mädchen war warm, doch ihr Lebensstrom floß stockend wie erstarrendes Quecksilber. Boldirinthe drehte den Kopf von Taniane fort, weil sie nicht wollte, daß der Häuptling ihr die tiefe Besorgnis am Gesicht abläse. Einige Stunden länger in diesem Sumpf, und wir hätten hier ein totes Mädchen. Und es war immer noch möglich, daß sie nicht zu retten sein würde.
Nein, das werde ich nicht zulassen, dachte Boldirinthe.
Sie zog aus ihrem Sack die zwei großen Heilstäbe und legte sie Nialli an beide Seiten. Die bewegte sich kaum. Dann zog sie ihre Kräuter und Salben hervor und stellte sie säuberlich in einer Reihe auf dem Tisch auf. Den Talisman des Heiler Friit und den von Mueri-Trostspenderin plazierte sie an Niallis Kopf, beziehungsweise an den Füßen.
Zu Sipulakinain sprach sie: „Schaff mir das Kohlebecken da näher. Wir werden das Laub Friits darin brennen, und sieh zu, daß du selber auch von dem Rauch einatmest. Er wird auch dir zuträglich sein.“
„Ich bin bereits Rekonvaleszentin, Boldirinthe“, sagte Sipulakinain.
Die Opferfrau bedachte die Lebenspartnerin des Kornhändlers mit einem skeptischen Blick. „Na, dafür sei Yissou aber Dank“, sagte sie, mit geringer Überzeugung. Gemeinsam mühten sie sich ab, die aromatischen Kräuter zu entzünden. Taniane schaute schweigend und reglos zu. Gegenüber in der Ecke murmelte die uralte Fashinatanda tonlose Gebete blind vor sich hin. Bläulichroter Rauch wölkte auf.
„Mehr!“ sagte Boldirinthe. „Noch fünf Stengelchen.“
Sipulakinains Hände zitterten, doch sie legte die Kräuterzweiglein auf die Glut. Boldirinthe ergriff Nialli an den Knöcheln und hielt sie fest. Sie spürte die Stauung in der Lunge des Mädchens, das erschöpfte Herz. Der Seelenkern war unterkühlt und geschwächt. Doch Nialli war stark. Man würde diese Schwachheiten aus ihr heraustreiben können.
Der Rauch im Raum verdichtete sich.
Und jetzt zeigten sich auch die Götter sichtbar.
Schon lange, lange besaß Boldirinthe die Gabe (und die Technik), die Himmlische Fünffalt deutlich sehen zu können. Sie sprach darüber nie zu anderen, denn sie wußte, daß die Götter, so real existent sie waren, bisher niemals sich anderen handgreiflich gestalthaft manifestiert hatten, sondern ausschließlich als mächtige abstrakte Präsenzen. Aber bei ihr war das anders. Ihr zeigten sie sich in deutlicher Gestalt und mit deutlichem Gesicht, und in beidem urvertraut. Mueri, die Trostspenderin, sah für Boldirinthe ziemlich deutlich so aus wie Torlyri, eine hochgewachsene, kräftige und beeindruckend schöne Frau, deren dunkler Pelz eine weiße Zeichnung aufweist. Dawinno-der-Zerstörer sah aus wie Harruel: ein wildwütiger rotbärtiger Riese. Yissou war weise und abweisend-fern, dünnpelzig und fast so etwas wie ein Menschlicher. Der Ernährer, Emakkis, sah feist aus und fröhlich. Friit-Heiland blickte enorm ernst drein, war zierlich, fast schwach, beinahe ein bißchen so wie Hresh. Aber jetzt standen sie neben ihr und standen ihr zur Seite. Sie zeigte auf das schlafende Mädchen, und die Götter nickten, und Friit erklärte ihr, was getan werden müsse, und Boldirinthe — obwohl sie einen kurzen Stich von Bedenklichkeit verspürte — schickte sich ohne Zögern an, es zu tun.
„Du mußt jetzt das Zimmer verlassen“, sagte sie zu Taniane.
„Ich.“
„In dir ist zu große Kraft. Wir können hier drin jetzt nur die Kranken und die Alten und die Fetten brauchen!“
Tanianes Mund öffnete sich und klappte wieder zu. Sie warf Boldirinthe einen Blick zu, der Erstaunen, vielleicht sogar Verärgerung enthielt, aber sie verließ wortlos den Raum.
Und nun applizierte Boldirinthe die heiligen Salbungen. Ein Tupfer auf die Lippen der Nialli Apuilana, und einer auf ihre Brüste, und ein dritter an den Ort zwischen ihren Schenkeln. Nialli bewegte sich und begann zu murmeln, als die starke Wärme der Kräutersalben die Haut zu durchdringen begann.
„Bring die Alte rüber“, sagte sie zu Sipulakinain. „Ich will, daß sie sich aufs Bett hockt und mit ihren Händen die Beine des Mädchens festhält. Und du, du setzt dich hier rauf und drückst ihren Kopf an deine Brust. Ich werde mit ihr tvinnern.“
Sipulakinain nickte. So schwach sie sich fühlte und so unsicher sie selber auf den Beinen war, sie legte der bebenden uralten Großmutter den Arm um und schleppte sie ans Bett, wo sie sie in die von Boldirinthe vorgeschriebene Position brachte. Dann legte sie sich nieder und barg Niallis Kopf mit den Armen an ihrer Brust.
Unter heftigem Stöhnen wuchtete Boldirinthe ihre Körpermassen so herum, daß ihr Sensor-Organ in Reichweite dessen von Nialli kam. Es kam natürlich nicht in Frage, daß sie sie sich in der sonst gebräuchlichen Position neben das Mädchen legte, aber schließlich mußte man ja auch auf andere Weise tvinnern können. Sie blickte auf und sah, daß Mueri ihr zulächelte, und sie sah, daß Friit zustimmend seine Hand hoch erhoben hatte. Und Yissou höchstpersönlich half ihr dabei, die rechte Position einzunehmen.
Und nun ergab sich ein Moment der Unsicherheit und des Unbehagens.
Boldirinthe war zwar eigentlich schon viel zu alt, als daß sie noch Furcht gekannt hätte, aber über eine gewisse vernünftige Bersorgnis war sie noch nicht erhaben. Sie hatte mit Nialli einmal getvinnert, vor vielen Jahren, am Tvinnr-Tag des Mädchens — ja, wie sich herausstellen sollte, am Vorabend ihrer Entführung durch die Hjjks. Nialli war damals zu Boldirinthe gekommen, um sich traditionsgemäß in die Kunst einweisen zu lassen. Aber Boldirinthe hatte nicht vergessen, von welcher Art diese Tvinnr-Initiation gewesen war.
Sie hatte damals mit nichts weiter gerechnet als dem gewöhnlichen pubertären Chaos einer Erst-Tvinnerung, bei der die weiche, noch ungeformte, sehr verletzliche junge Seele qualvoll kämpft, sich in der Peinlichkeit einer derartigen neuen ungewohnten Intimität zurechtzufinden und sich zu konzentrieren. Aber Nialli Apuilana hatte sich nach der endlich erreichten Vereinigung ihrer beider Seelen als stark und als wild erwiesen, als so hart und kantig wie eine Maschine aus schimmerndem Metall und voll einer nicht zu bremsenden Antriebskraft. Es ist immer bestürzend, einer derartigen zielstrebigen Kraft in einem sehr jungen Wesen zu begegnen. Und diese Tvinnr-Erfahrung hatte Boldirinthe vollkommen erschöpft. So sehr, daß sie die Erfahrung niemals zu wiederholen wünschte.
Doch die Fünf hatten es befohlen. Boldirinthe legte ihren Sensor an den des bewußtlosen Mädchens und leitete die Kommunion ein.
Niallis Seele war verschlossen und entzog sich. Es gab Momente, in denen Boldirinthe das Gefühl bekam, sie würde sie niemals erreichen; es gab Momente, wo Niallis Geist sich völlig vom Körper löste und davonglitt. Doch Boldirinthe und Sipulakinain fungierten als Bollwerke und hinderten die Seele am Davonfliegen, Sie grenzten sie em. Und nach und nach gelang es Boldirinthe, sie zu umhüllen und in ihre umfassende Umarmung zu schließen.
Und dann öffnete sich Niallis schlafendes Selbst ihr bereitwillig.
Ihre Seele war unendlich viel tiefer, fremdartiger und reicher als beim erstenmal vor vier Jahren. Damals war Nialli ein kleines Mädchen, jetzt war sie eine Frau, mit allem, was darin an Bedeutungstiefe enthalten ist. Sie hatte kopuliert; sie hatte getvinnert; sie hatte geliebt.
Und sie hatte die Fünf Himmlischen akzeptiert.
Was für eine Überraschung! Beim erstenmal war in Nialli kein Fetzchen Gläubigkeit zu entdecken gewesen. Unter der modernen Jugend war solche Gottferne nicht außergewöhnlich. Doch Nialli stand damals der Güte der Götter nicht nur gleichgültig gegenüber, nein, sie hatte sich gegen sie abgeschirmt, sie regelrecht zurückgewiesen.
Jetzt aber spürte Boldirinthe zu ihrem großen Erstaunen in der Seele des Mädchens die Wesenheit der Fünf. Es gab keinen Zweifel an ihrer Nähe, ganz neu und frisch war sie. Alle fünf Aurae, deutlich: Friit und Emakkis, Mueri und Dawinno, besonders hervorgehoben: Yissou-der-Beschützer, breiteten ein göttliches Glühen durch die Wege und Windungen in Niallis Seele. Mit so etwas hätte Boldirinthe bei weitem nicht zu rechnen gewagt. Das göttliche Feuer brannte in dem Kind, und es allein — oder doch beinahe allein — erhielt sie noch im Leben. Vielleicht waren die Himmlischen in sie eingegangen, während sie dem Tode nahe in diesem Sumpf lag.
Doch auch das NEST war in ihr, die Königin war da.
Boldirinthe spürte die gewaltige geballte fremdartige Stärke der Insektenherrscherin; sie überlagerte und durchdrang jede Facette in Niallis Geist, ja vermischte sich sogar wechselseitig mit den Aurae der Fünf auf eine ebenso blasphemische wie unwahrscheinliche Art und Weise. Hjjkisches Licht loderte wie ein zorniges Feuer. Hjjk-Dünste umhüllten Niallis Seele. Klammernde Klauen krallten sich überall fest. Ohne Zweifel, davon mußte das Kind während der Gefangenschaft befallen worden sein. Die Opferfrau mußte sich gewaltig anstrengen, um vor solchen Geheimnissen nicht zurückzuweichen — oder gar in ihre Tiefen hinabgezogen zu werden.
Aber sie wußte, was sie zu tun hatte. Sie war gekommen, um zu heilen. Und mit der Hilfe der Götter würde sie das Übel austreiben.
Ohne Zaudern machte sie sich ans Werk. Sie rang mit dem Dunklen im Innern der Häuptlingstochter. Sie hackte auf es ein, sie spießte es auf, sie zerschlitzte es bis in seinen Kern. Es schien schwächer zu werden. Die Krallenklauen wirbelten und zuckten. Boldirinthe zerrte eine Kralle los, eine weitere, noch eine, allerdings packten sie beinahe so schnell wieder zu, wie sie sie wegzerrte. Das Ding setzte sich mit wütender Bosheit zur Wehr, peitschte sie mit Kraftgittern, überschüttete sie mit eisig brennenden Sturzbächen. Aber sie wich nicht vor dem Angriff zurück. Ihr Leben lang hatte sie sich auf diesen Augenblick vorbereitet. Immer wieder und wieder regte sich das träge unbesiegbare Ungeheuer, richtete sich auf und sprang, und jedesmal zwang Boldirinthe es nieder, und wieder erhob es sich und wurde erneut zu Boden geschmettert, und Boldirinthe-das-Opferweib schmiedete neue Waffen und wuchtete sich in den Kampf und focht mit all ihren Kräften.
Langsam, widerstrebend zog sich das Ding in die Tiefen von Niallis Seele zurück und verkroch sich dort in der Höhle, in der es sich aufgehalten hatte. Es war nicht besiegt, doch es war zurückgewichen. Nun bestand die Hoffnung, daß Nialli Apuilana allein die Schlacht zu Ende kämpfen konnte. Boldirinthe hatte getan, _ was ihr möglich war.
Dann sprach die Opferfrau zu Friit: „Übernimm du jetzt das Kommando über sie, ich bitte dich, und verleih ihr Stärke.“
„Ja, das mach ich“, antwortete der Gott.
„Und ihr auch, Dawinno, Emakkis, Mueri, Yissou!“
„Machen wir“, antworteten die Götter einer nach dem anderen.
Boldirinthe baute eine Passage für sie, und die Götter traten in Nialli ein und verschmolzen mit ihren bereits in der Seele vorhandenen Auren. Sie stützten Nialli, wo sie schwankte, sie stärkten sie, wo sie geschwächt war, und füllten ihre leeren Stellen auf.
Dann verschwanden sie wieder, einer nach dem anderen.
Zuletzt ging Mueri, doch sie hielt kurz inne und berührte Boldirinthes Seele und umfing sie auf besonders zärtliche Weise, etwa so wie Torlyri sie vor langer, langer Zeit umarmt haben würde. Dann war auch Mueri verschwunden.
Nialli Apuilana bewegte sich. Ihre Augen öffneten sich. Sie blinzelte mehrmals sehr rasch. Dann runzelte sie die Stirn. Und dann lächelte sie.
„Schlaf, Kindchen“, sagte Boldirinthe. „Wenn du aufwachst, bist du wieder bei Kräften.“
Nialli nickte traumverloren. Boldirinthe wandte sich zu Sipulakinain: „Taniane soll reinkommen. Aber nur sie!“
Der Häuptling schleppte eine Wolke von Besorgnis hinter sich herein; doch sie verschwand, sobald Taniane die Veränderung an Nialli bemerkte. Sofort kehrte ihre Persönlichkeitsstärke zurück, und ihre Augen gewannen wieder den alten Glanz. Aber Boldirinthe war zu erschöpft für Dankestiraden. „Ja. Das Werk ist getan. Und gut getan“, sagte sie. „Aber sorgt jetzt dafür, daß das Kind Ruhe hat. Haltet diese Leute von ihr fern, jedenfalls jetzt. Danach: Warme Kraftbrühe und frisch gepreßten Fruchtsaft. In ein paar Tagen wird sie wieder munter und auf den Beinen sein, so gut wie neu, das versprech ich dir.“
„Boldirinthe.“
„Bemüh dich nicht“, sagte die Opferfrau. Das Mädchen hatte die Augen wieder geschlossen und war in einen tiefen gesunden Heilschlaf gesunken. Aurae umglühten ihren Leib. Doch Boldirinthe konnte hinter dem äußeren Erscheinungsbild noch immer die verwundete NestKreatur sehen, tief drunten, den verborgenen inneren Hjjk, er glühte wütend wie eine rotentzündete Wunde. Und Boldirinthe überlief ein leichtes Schaudern.
Aber sie wußte, sie hatte dem Ding einen schrecklichen Schlag versetzt. Alles andere lag nun bei Nialli selbst. Und bei der Fünffaltigkeit, selbstverständlich.
„Helft mir auf“, bat sie. Ihr Atem pfiff leise. Sie fuhr sich über die Stirn. „Oder holt zwei, drei von den anderen rein, wenn ihr’s nicht alleine schafft.“
Taniane lachte. Dann hob sie Boldirinthe ganz mühelos von ihrem Hocker, als wäre sie so leicht wie ein Kind.
In der grauen Steinhalle, im flackernden Schein der grünen Glühkugeln trat Husathirn Mueri auf sie zu und faßte sie am Arm. Er sah gereizt aus und irgendwie hilflos.
„Wird sie leben, Boldirinthe?“
„Aber sicher wird sie. Ganz ohne den geringsten Zweifel!“
Sie wollte weiterwatscheln. An diesem Tag war sie in tiefste Tiefen hinabgestiegen und von da wieder zurückgekehrt, und das hatte sie ziemlich viel körperliche und seelische Kraft gekostet. Sie hatte im Augenblick nicht die geringste Lust, sich hier aufhalten zu lassen, um mit Husathirn Mueri zu schwatzen.
Aber der hielt sie weiterhin fest. Ließ einfach nicht los. Ein heuchlerisch warmes Grinsen zog über sein Gesicht.
„Du bist allzu bescheiden“, schmeichelte er. „Ich kenne mich selbst ein wenig in den Heilkünsten aus. Dieses Mädchen lag im Sterben, ehe du hergekommen bist, um sie zu behandeln.“
„Nun, jedenfalls stirbt sie jetzt nicht mehr.“
„Ich bin dir zu tiefstem Dank verpflichtet.“
„Ach ja, da bin ich mir ganz sicher.“
Sie schaute ihn lange scharf an, versuchte, hinter den Sinn seiner Worte zu kommen. Bei ihm mußte man stets gewärtig sein, daß sich hinter seinen Äußerungen etwas Doppeldeutiges verbarg. Sogar wenn dieser Mann nieste, hatte das irgendwie etwas Hinterhältiges.
Husathirn Mueri erträglich oder nett zu finden, das war etwas, was Boldirinthe niemals möglich gewesen war, und dies beunruhigte sie ein wenig, denn sie fand es abscheulich, irgendwen widerwärtig zu finden; aber er war außerdem auch noch Torlyris Sohn, was die ganze Sache nur noch schlimmer machte. Torlyri hatte sie so sehr geliebt, wie sie die eigene Mutter nicht hätte inniger lieben können. Und da war jetzt dieser Husathirn Mueri, ein alerter Mann, gescheit, attraktiv und gewissermaßen sogar warmherzig, und er sah nun einmal Torlyri ziemlich ähnlich; mit diesen leuchtendweißen Streifen in seinem schwarzen Pelz. Und dennoch brachte Boldirinthe es nicht über sich, den Mann zu mögen. Sie mochte ihn ganz und gar nicht! Es ist seine Schläue, dachte sie, und sein ungehemmter Ehrgeiz. Woher stammten diese Eigenschaften? Gewißlich nicht von Torlyri. Und auch nicht von seinem Vater, diesem nüchternen, unbeugsamen Bengkrieger. Na ja, sagte sie sich, auch die Götter gehen manchmal geheimnisvolle Wege. Und jeder von uns ist eines ihre ganz besondren Rätsel.
Leise sagte Husathirn Mueri: „Du weißt doch, daß ich sie liebe.“
Boldirinthe tat das achselzuckend ab. „Wir alle lieben sie.“
„Ich meinte aber, auf eine besondere Weise.“
„Ja. Sicher ist das so.“
Seine Torheit machte sie traurig. Sie hatte kein Verlangen danach, zuzuschauen, wie einer sich bei sowas weh tat. War denn diesem Husathirn Mueri nicht klar, wie anders sie war, diese Mädchenfrau, die zu lieben er behauptete? Es mußte ihm doch inzwischen wenigstens der Verdacht gekommen sein, daß Nialli sich Kundalimon als Geliebten erwählt hatte. Und dies, nachdem sie die feinsten Jungmänner abgewiesen hatte, welche die Stadt zu bieten hatte. Nun, Kundalimon war tot; vielleicht fand Husathirn Mueri ihn deshalb nicht weiter wichtig. Was aber würde er sagen, wenn er wüßte, daß er es mit einem anderen, einem viel größeren Rivalen zu tun hatte, nämlich niemand Geringerem als der Königin der Hjjks? Mit welchem Abscheu er sich abwenden würde! Allerdings würde er mit Nialli tvinnern müssen, um das ganz genau herauszufinden, und Boldirinthe bezweifelte, daß er in der Hinsicht die geringste Chance hatte.
Sie schob sich langsam weiter auf die Tür ins Freie zu.
„Dürfte ich noch um ein paar Worte unter vier Ohren bitten?“ sagte Husathirn Mueri.
„Wenn du mit mir gehst. Seit ich so riesenhaft geworden bin, ist es mir nicht mehr angenehm, so herumzustehen.“
„Laß mich deinen Sack tragen.“
„Diese Tasche ist die heilige Bürde meines Berufs. Was hast du mir zu sagen, Husathirn Mueri?“
Wahrscheinlich noch mehr Zeug über Nialli, dachte sie. Aber er sprach: „Ist es zu deiner Kenntnis gelangt, Boldirinthe, daß sich um die Person des ermordeten Hjjk-Gesandten sowas wie ein religiöser Kult herauszubilden beginnt?“
„Ja, ich weiß, es gibt da einen Altar, irgendwie zu seinem Gedächtnis.“
„Es ist mehr als eine bloße Gedenkstätte!“ Er fuhr sich nervös über die Lippen. Jch habe Berichte der Wachmiliz vorliegen. Die Kinder beten zu ihm. Und nicht bloß die Kinder. Aber mit denen hat es angefangen. Jetzt haben sie kleine Fetzchen seiner Kleidung in die Finger bekommen, auch Sachen aus seinem Zimmer, Hjjk-Zeug, das nach seinem Tod irgendwie verschwunden ist. Boldirinthe, die machen ihn zu einem Gott!“
„Ach ja?“ antwortete sie gleichgültig. „Nun, derlei ereignet sich eben immer wieder mal von Zeit zu Zeit. Wie es den Leutchen gefällt. Für mich ändert sich dadurch nichts. Für meine Bedürfnisse genügt die Himmlische Fünffaltigkeit durchaus.“
Mit einiger Bissigkeit antwortete er: „Ich hatte ja auch nicht erwartet, daß du zum Kundalimon-Glauben konvertierst. Aber beunruhigt dich denn sowas ganz und gar nicht?“
„Warum sollte es? Beunruhigt es dich?“
„Ja, aber verstehst du denn nicht, Boldirinthe? Die bauen da einen Jungen, der seinem Denken nach ein halber Hjjk war oder sogar mehr als halb, zu einem Machtpotential in unserem Staat auf, zu einer Leitfigur! Sie erbitten sich seine Gunst und Gnade. Sie beten um seine Führung. Und sie bieten ihm als Gegenleistung ihre Hingebung und Liebe. Willst du wirklich zuschauen, wie hier eine neue Religion aufgebaut wird? Wie eine ganz neue Priesterkaste entsteht, neue Tempel und vor allem, wie neue Ideen Auftrieb finden? Aus sowas kann sich doch alles entwickeln. Alles. Als Kundalimon lebte, zog er herum und predigte den Leuten Nest-Zeugs und forderte sie auf, ihm nachzufolgen — in das Nest! Und die Kinder fallen darauf herein und lieben diese Botschaft. Sie haben sie ihm direkt von den Lippen gesaugt, dafür habe ich unumstößliche Beweise. Was wird aber, wenn diese — dieser neue Kult — jemandem in die Hände gerät, der genug Macht und Kontrolle ausüben kann, um auf dem aufzubauen, was Kundalimon da begonnen hat? Werden wir alle schließlich die Hjjks innig lieben und sie anflehen, daß sie uns doch bitte-bitte auch lieben möchten? Soll Nakhaba, soll die Himmlische Fünffaltigkeit einfach von der Tagesordnung weggewischt werden? Du gehst zu leichtfertig an die Sache heran, Boldirinthe. Es wird nämlich nur noch viel schlimmer werden, und zwar sehr schnell, wie ein Feuer, das sich über das trockene Buschland ausbreitet. Ich spüre es kommen. Und du weiß ja, ich bin in derlei Sachen nicht gänzlich ohne kluge Klarsicht.“
Sein Gesicht hatte sich gerötet, und die Muskeln zuckten. Die Bernsteinaugen funkelten in fieberhafter Erregtheit. Sie sahen aus wie glatte Glaskuller. Es arbeitete in ihm, ganz zweifellos. Boldirinthe konnte sich nicht erinnern, ihn je dermaßen aufgeregt erlebt zu haben. Und es paßte überhaupt nicht zu ihm, irgendwelche Emotionen so ungehemmt zu zeigen.
Aber dieser hektische Ausbruch war das Letzte, was ihr gerade jetzt noch gefehlt hätte. Sie war noch immer ganz verwirrt von dem Schock, den ihr der Kontakt mit Niallis Seele bereitet hatte. Nein, was sie jetzt nötig brauchte, das war die Rückkehr in ihre Klosterzelle und Ruhe. Dann ein gemütliches Abendmahl mit dem lieben alten Staip, ein paar Schalen Wein — und dann — ja, dann, ins Bett...
Ach, soll doch kommen, was mag, dachte sie. Neue Kulte, Religionen, Götter — und was ihr sonst noch wollt. Ich hab heute Schwerstarbeit geleistet. Ich bin müde. Und ich sehne mich nach meinem Bett!
Kühl sagte sie also: „Vielleicht machst du ja einen Zinnobärhaufen aus einem Mückenschiß. Die Kleinen haben Kundalimon geliebt, gewiß. Er hat sie unterhalten — und bezaubert. Hat ihnen interessante Sachen erzählt. Und nun trauern sie um ihn. Bringen seinem Geist Opfergaben. Ich hab sie dabei gesehen, als ich heute hier herüberkam. Harmlose Liebesgesten, weiter nichts, eine Gedenkdemonstration. Und in einigen Tagen ist das alles vom Wind verweht. Der Junge wird zu einem Teilchen der Geschichte werden, einer Episode, die Hresh in seiner Chronik erwähnt, und das war es dann auch schon.“
„Und wenn du dich irrst? Wenn es statt dessen zu einer Revolution käme? Was dann, Boldirinthe?“ Er fuchtelte erregt mit den Händen herum.
Aber sie hatte jetzt wirklich genug.
Sie sagte: „Sprich mit Taniane, Husathirn Mueri, wenn dich derartige Probleme plagen. Ich bin eine fette alte Frau, und wohlgemerkt, sehr fett und sehr alt, und wenn sich da irgendwann Veränderungen ergeben sollten, sofern es Veränderungen sein werden, dann höchstwahrscheinlich erst, wenn ich nicht mehr da bin und sie nicht zu sehen brauche. Aber falls ich noch da bin, weißt du, ich hab in meinem Leben bereits mehr und größere Veränderungen erlebt, als du dir vorstellen kannst. Und ich verkrafte durchaus noch ein paar mehr. Und jetzt laß mich endlich gehen. Und Mueri schenke dir Frieden, ja? Oder auch Nakhaba, wenn du das lieber hast. Mir sind alle Götter gleich.“
„Was? Aber du bist doch den Fünfen eidverschworen!“
„Die Fünf sind meine Götter. Aber alle Götter sind göttlich.“ Sie schlug das Mueri-Zeichen gegen ihn, schob sich langsam an ihm vorbei und watschelte die Stufen hinab zu dem wartenden Wagen.
Der Junge trug den Namen Tikharein Tourb. Und er war neun Jahre alt. Er trug das schwarzgelbe Amulett des Nest-Wächters auf der Brust.
Das Mädchen hieß Chhia Kreun. Sie trug ihr Amulett am Handgelenk.
Sie standen vor einer Gruppe aus elf Kindern und drei Erwachsenen. In dem Kellerraum waren aromatisch duftende Zweige hochaufgetürmt, und der starke stechende Geruch des Sippariu-Safts mischte sich mit der Süße der Dilifar-Nadeln, so daß die Luft beinahe berauschend schwer war.
„Faßt euch an den Händen“, sagte Tikharein Tourb. „Alle! Berührt euch! Schließt die Augen!“
Chhia Kreun, die dem ganzen Gezweig am nächsten war, geriet praktisch in eine Trance. Sie begann lallend zu singen und stieß unbekannte klobige und grobe Worte aus. Vielleicht waren es hjjkische Laute oder Wörter. Wer hätte das sagen können? Aber es waren die Laute, die Kundalimon sie gelehrt hatte. Ihre Bedeutung kannte keiner.
Jedoch sie klangen sehr heilig.
„Und alle!“ schrie Tikharein Tourb. „Na, macht schon! Alle sprechen jetzt die Worte! Also sprecht! Sprecht! Es ist die Anrufung der Königin!“
Die Verhandlungen — soweit man davon sprechen konnte — traten auf der Stelle. Seit ihn die Nachricht von den zwei Morden in Dawinno erreicht hatte, war Thu-Kimnibol in ein tiefes schwärzlich brütendes Nachdenken versunken. Salaman beobachtete ihn mit Erstaunen und wachsender Beunruhigung. Den ganzen Tag lang stapfte er wie ein riesenhaftes Tier durch die Gänge des Palastes, und bei den abendlichen Königsgelagen blieb er nahezu stumm.
Ihn beunruhige, sagte er jedenfalls, die Verspätung der Herbstkarawane aus Dawinno. Ihre Ankunft hatte sich schon um neun Tage verzögert. „Wo sind sie denn?“ fragte Thu-Kimnibol immer wieder. „Wo bleiben sie denn?“ Er schien an gar nichts mehr denken zu können als an das verspätete Erscheinen der Kaufleute. Aber dahinter mußte mehr stecken. Ein paar Tage Verspätung, das reichte nicht als Erklärung für soviel ärgerliche Besorgnis.
„Gewiß herrscht drunten im Süden irgendwo übles Wetter“, versuchte Salaman den Gast zu besänftigen. Wenn der in einem solchen Zustand der Unruhe war, wurde er einfach zu unberechenbar, zu aufbrausend. „Schwere Stürme vielleicht, unterwegs, Überschwemmungen auf den Landstraßen, irgend sowas.“
„Stürme? Wir hatten doch einen goldenen Herbsttag nach dem anderen!“
„Aber vielleicht da drunten im Süden.“
„Nein. Die Karawane verspätet sich, weil es in Dawinno einigen Ärger gibt. Wenn Mord und Totschlag erst einmal beginnen, wohin kann das führen? Nein, bei mir zuhaus herrscht irgendwie Unruhe und Aufstand.“
Aha, das bekümmert ihn also, dachte Salaman. Er glaubt immer noch, er hätte sofort heimreisen müssen, sobald er von den Morden erfuhr. Er plagt sich mit Schuldgefühlen herum, weil er hier oben bei uns herumsitzt und nichts tut, während Dawinno vielleicht in Aufruhr ist. Aber falls Taniane gewollt hätte, daß er heimkommt, dann hätte sie ihn bestimmt abberufen. Und da sie das nicht getan hat, darf man ja wohl den vorsichtigen Schluß ziehen, daß es keinerlei Probleme gibt da drunten.
„Ich werde in meinen Gebeten deiner gedenken, mein Cousin“, sagte Salaman salbungsvoll. „Geb’s Yissou, daß alles zum Guten stehe in deiner Stadt!“
Doch die Tage verstrichen, inzwischen waren es fünf oder sechs, oder gar sieben, und es kam keine Karawane. Und inzwischen begann auch Salaman ein wenig beunruhigt zu sein. Die Kaufleute waren mit ihrem Treck eigentlich immer pünktlich. Winters und im Frühling entsandte Yissou Kaufmannskarawanen gen Süden, und im Sommer und Herbst kamen sie aus Dawinno in den Norden heraufgezogen. Sie spielten eine wesentliche Rolle im Wirtschaftsleben beider Städte. Doch inzwischen sah Salaman selbst sich dem nörgelnden Gemaule der unzufriedenen Kaufleute und Fabrikanten seiner Stadt ausgesetzt, deren Warenlager überquollen von Handelsgütern, die keinen Absatz fanden. Wem sollen wir denn verkaufen, fragten sie den König, wenn die Karawane nicht kommt? Und die Tandler und Verkäufer auf dem öffentlichen Markt, die mit den Produkten aus Dawinno handelten, hatten die entgegengesetzten Probleme: Sie brauchten dringend Nachschub an Waren. Aber wo blieb die Karawane? „Sie kommt bald“, erklärte Salaman ihnen allen. „Sie ist unterwegs!“ Aber — Yissou! — wo blieb sie denn? Er wurde allmählich ebenso reizbar wie Thu-Kimnibol!
Stimmte da drunten im Süden wirklich was nicht? Selbstverständlich hatte er ein paar Agenten in Dawinno sitzen. Aber von denen hatte er seit Wochen nichts mehr gehört. Die Entfernung zwischen den Städten war so groß, die Nachrichtentransmission dauerte so lange. Wir brauchen dringend ein funktionstüchtigeres Nachrichtenübermittlungssystem, dachte der König. Irgendwas Schnelleres, ohne daß Eilkuriere Hunderte von Meilen reisen müssen. Vielleicht — etwas, bei dem man das Zweite Gesicht einsetzen könnte... Und er machte sich eine Notiz, daß er sich gelegentlich mit der Sache noch nachdrücklicher befassen wollte.
Aber Thu-Kimnibol stapfte weiter düster und grübelnd durch den Palast. Und Salaman entdeckte zu seiner Verblüffung, daß auch er selbst das inzwischen tat.
Ihr Götter! Wo blieb nur diese Karawane?
Husathirn Mueri sagte: „Ich bin sicher, die Genesung deiner Tochter, Edle, macht gute Fortschritte.“
„Na ja, soweit damit zu rechnen war“, antwortete Taniane in dumpfbedrücktem Ton.
Es verblüffte ihn, wie müde sie aussah. Sie hockte mit hängenden Schultern und schlaff im Schoß liegenden Händen da. Ihr Fell war stumpf und sah struppig aus. Früher war sie ihm eher als eine ältere Schwester von Nialli Apuilana erschienen. Aber heute gewiß nicht mehr.
Möglicherweise war es ja auch ein Fehler gewesen, das Gespräch mit einem Verweis auf Niallis Gesundheitszustand zu beginnen. Er stieg beflissen und rasch auf ein anderes Thema um.
„Wie du es verlangtest, Edle, hab ich hier die neuesten Berichte über die Suche nach dem Mörder von Curabayn Bangkea. Leider haben wir bisher diesbezüglich noch keine Fortschritte gemacht.“
Taniane starrte ihn trübsinnig an. „Es wird da ja wohl kaum jemals Ermittlungsfortschritte geben, Husathirn Mueri. Oder?“
„Ich fürchte, Edle, nein. Wie es aussieht, war es ein dermaßen zufälliges, beiläufiges Verbrechen.“
„Beiläufig? Ein Mord?“
Und plötzlich sprühte aus ihren Augen ein eisiges Feuer.
„Ich wollte damit nur sagen, daß es sich wohl um einen plötzlich ausgebrochenen Streit gehandelt haben muß, etwas ganz ohne Motiv, vielleicht gar ohne Anlaß. Natürlich werden wir die Ermittlungen in jeder nur denkbaren Weise fortsetzen, aber.“
„Laßt diese Nachforschungen. Sie können zu nichts führen!“
Ihre Schroffheit war bestürzend. „Wenn du es so wünschst, Edle.“
„Ich wünsche, daß deine Polizisten und du über diese neue Religion nachdenken, mit der wir es zu tun haben. Diesen neuen Kult. Diese Sekte. Das scheint sich ja wie eine Seuche in der ganzen Stadt zu verbreiten.“
„Chevkija Aim hat bereits ein massives Eindämmungsprogramm in die Wege geleitet, Edle. Schon letzte Woche allein ist es uns gelungen, drei von diesen neuen Kapellen aufzuspüren, und wir haben.“
„Aber nein! Mit Unterdrückung ist da nichts zu gewinnen.“
„Edle?“
„Mir kommen beunruhigende Dinge zu Ohren. Männer wie Kartafrain, Si-Belimnion, Maliton Diveri — Männer von Substanz und Besitz und Status, die herumgekommen sind und sich auskennen, sie erklären mir, daß für einen von diesen Sektierertempeln, den wir schließen, zwei andere neu eröffnet werden. Das ganze Volk da drunten spricht nur noch von Kundalimon. Sie nennen ihn einen Märtyrer. Einen Heiligen und Propheten! Diese Ideologie der Königin-Liebe breitet sich in der Arbeiterklasse noch rasanter aus als irgendeine neue Softdrink-Mode. Es zeigt sich doch sehr schnell, daß wir mit einer restriktiven Politik weit mehr Schaden heraufbeschwören, als uns die Sache nutzt. Ich wünsche, daß du Chevkija Aim anweist, seine Unterdrückungskampagne abzubrechen.“
„Aber, Edle, wir müssen sowas doch unterdrücken! Es handelt sich immerhin um ausgesprochene Ketzerei und Götterlästerung! Wir können doch nicht einfach zulassen, daß so etwas sich ungestraft ausbreitet, oder?“
Tanianes Augen wurden schmal. „Seit wann bist du denn dermaßen fromm und gottesgläubig, Husathirn Mueri?“
„Nun, ich erkenne Gefahren, wenn sie vor mir auftauchen.“
„Das tue ich auch. Aber hast du nicht begriffen, was ich gerade gesagt habe? Es könnte sich letztlich als weitaus gefährlicher erweisen, derlei Bestrebungen unterdrücken zu wollen, als ihnen einfach ihren Lauf zu lassen.“
Ja, wahrscheinlich hast du recht, dachte er.
„Mir gefällt diese. diese neue Religion ebensowenig wie dir“, sprach sie weiter, „doch es wäre möglich, daß die beste Methode, sowas unter Kontrolle zu halten, derzeit darin besteht, die Entwicklung nicht unter Kontrolle halten zu wollen. Wir brauchen vorab erst etwas genauere Informationen, ehe wir entscheiden können, wie gefährlich, wie staatsgefährdend, meine ich, das wirklich ist. Vielleicht handelt es sich ja um weiter nichts als wieder eine dieser Dummheiten, wie sie sich das gemeine Volk ab und zu einfallen läßt, oder aber es ist ein aktiver Umsturzversuch seitens der Hjjks. Aber wie sollen wir denn wissen, was es ist, he? Das können wir doch nur entdecken, indem wir uns das ganz genau anschauen. Also, ich will, daß du alle anderen Aktivitäten fallenläßt und dich darauf konzentrierst, was wirklich vorgeht. Von jetzt an plazierst du deine Späher in diesen neuen Kongregationen. Sie sollen dort infiltrieren, sich einnisten und aufpassen, was dort gepredigt wird.“
Husathirn Mueri nickte ergeben. „Ich werde mich persönlich um die Angelegenheit kümmern.“
„Ach ja, da ist noch was. Lasse die Liste der Reisenden überprüfen, die mit der Karawane nach Yissou ziehen wollen, ja? Und sorge dafür, daß keiner darunter ist, der zu diesen Kultisten gehört. Das fehlte grade noch, daß sich die Geschichte auch noch in Yissou ausbreitet.“
„Eine exzellent weise Überlegung“, sagte Husathirn Mueri.
Endlich war die Karawane aus Dawinno eingetroffen. Mit mehr als einem halben Mond Verspätung: Elf Xlendigespanne vor den rotgolden bewimpelten Warenlastwagen kamen durch den graugelben Staub über die Südliche Straße herangetrottet.
In dieser Nacht gab es ein großes Volksfest: Auf den Hauptplätzen brannten Freudenfeuer, Straßenmusikanten spielten bis in den nächsten Morgen, und es wurde allgemein wild gefeiert und gezecht, und es gab wenig Schlaf, aber reichlich Remmidemmi. Die Ankunft der Karawane in Yissou setzte stets so etwas wie ein Signal, und es brach dann ungezügelt Jubel, Trubel und Fröhlichkeit aus in dieser Stadt, in der ansonsten eher eine Atmosphäre von Zurückhaltung und Verklemmtheit vorherrschte. Es war beinahe, als bewirke die Ankunft des Karawanenzuges aus dem Süden, daß die gewaltige Steinummauerung der Stadt eine Bresche bekam, und als ob auf einmal die schwülwarmen verführerischen Winde des tropischen Südens durch die engen krummen Gassen wehten. Aber die verspätete Ankunft des Handelszuges, die Ungewißheit, ob die Karawane diesmal überhaupt kommen werde, machte dann — als sie endlich kam — daraus ein noch größeres Ereignis als gewöhnlich.
Vor Salaman trat, in dessen geheimem Privatgemach im Palast, der Kaufherr Gardinak Cheysz, der brauchbarste, nützlichste Agent, den der König in Dawinno eingesetzt hatte. Ein rundlicher, dabei, seltsam unfröhlicher Typ, mit einem Fell von merkwürdig gelblichgrauer Färbung, und seine Lippen sackten wegen einer Lähmung der Gesichtsmuskeln auf der einen Seite schief nach unten. Der Mann war zwar in Yissou geboren, aber er hatte fast sein ganzes Leben in Dawinno verbracht. Seit Jahren stand er als Agent in Salamans Diensten.
„In Dawinno geht es drunter und drüber“, begann er seinen Bericht. „Deshalb sind wir so spät dran. Wir konnten deswegen nicht früher aufbrechen.“
„Hm. Berichte!“
„Du weißt doch, daß ein Knabe namens Kundalimon, den die Hjjks vor vielen Jahren aus Dawinno geraubt haben, in diesem Frühling n seine Stadt zurückkam und.“
„Ja, natürlich weiß ich all das. Ich weiß auch, daß man ihn ermordet hat und auch den Chef der Stadtwachen. Das ist doch altes Zeug!“
„Aha, du weißt das also schon alles?“ Gardinak Cheysz schwieg eine Weile, wie um seine Gedanken wieder in die rechte Richtung zu bringen. „Schön, sehr schön, mein Herr!“ Aus einem der Vorhöfe des Palastes drangen wilde dudelnde Geräusche, ein schrilles Gepfeife und lautes Lachen. „Aber, mein Herr und König, weißt du auch, daß am Tag, an dem die beiden Morde geschahen, die Tochter von Häuptling Taniane dem Wahnsinn verfiel und aus der Stadt verschwand?“
Das war neu. „Nialli? Heißt sie nicht so?“
„Ja, Nialli Apuilana. Ein schwieriges, ein aufsässiges Mädchen.“
„Was anderes als Aufsässigkeit und Schwierigkeiten hätte man denn von einem Kind von Taniane und Hresh erwarten sollen?“ Salamans Lächeln war scharf. „Ich kannte Hresh, als er ein Kind war. Wir waren zusammen im Kokon. Himmel, war das ein wilder, verrückter kleiner Bursche. Immer hatte er was Verbotenes im Sinn. Also schön, und diese Nialli Apuilana hat den Verstand verloren und ist verschwunden. Und die Karawane, der verspätete Aufbruch — wohl wegen der Trauerzeit, eh?“
„Oh, aber sie ist nicht tot. Allerdings, man hat mir berichtet, daß es nahe dran war. Man entdeckte sie in Fieberkrämpfen in den Sümpfen östlich der Stadt. Erst ein paar Tage später. Und die Opferpriesterin betete sie wieder gesund. Aber tagelang, sagt man, stand es schwer auf der Kippe. Taniane konnte mit gar nichts andrem befaßt werden. Die ganze Zeit hindurch, in der das Mädchen darniederlag, kein Fetzelchen Regierungsgeschäfte erledigt. Unser Ausreisevisum lag auf Tanianes Schreibtisch, und da blieb es und verstaubte, und sie unterschrieb nicht. Und Hresh — also, der verlor beinahe selber den Verstand. Er sperrte sich in dem Turm ein, wo er diese ganzen alten Chroniken aufbewahrt, und kam überhaupt kaum zum Vorschein, und wenn doch, dann kam kein vernünftiges Wort aus ihm raus.“
Salaman schüttelte den Kopf. „Hresh.“, murmelte er, halb ehrerbietig, halb verächtlich. „Es gibt auf der ganzen Welt keinen Verstand wie seinen. Aber — wahrscheinlich kann ein Mann wohl gleichzeitig brillant sein und dabei doch ein Narr.“
„Oh, es gibt noch mehr“, sagte Gardinak Cheysz.
„Also, raus damit, weiter!“
„Ich erwähnte bereits den — Tod des Hjjk-Gesandten. Kundalimon. Also, in Dawinno hat das Volk damit begonnen, ihn zu einem Gott zu machen. Na, also jedenfalls wenigstens zu ’nem Halbgott.“
„Einem Gott?“ Der König mußte mehrmals ganz heftig blinzeln. „Was soll das heißen — einem Gott?“
„Na, so Andachtsstätten, Devotionsaltäre, sogar schon ganze Gemeinden mit Votivkapellen. Sie halten ihn für einen Propheten, einen Überbringer göttlicher Offenbarungen, einen. — ach, ich weiß wirklich kaum, wie ich es dir sagen soll. Es übersteigt mein Begriffsvermögen. Jedenfalls wuchert um seine Person herum ein ganzer Kult auf, mehr kann ich dir nicht sagen, König. Mir erscheint das Ganze als völlig blödsinnig. Aber es hat zu einem schrecklichen Durcheinander geführt. Als Taniane sich endlich mit was andrem als ihrer Tochter beschäftigen mochte, hat sie ein Edikt erlassen, wonach die neue Religion als staatsfeindlich unterdrückt werden soll.“
„Ich hätte ihr etwas mehr Hirn zugetraut!“
„Genau. Sowas blüht erst recht, wenn es verfolgt wird. Wie sie sehr rasch erkennen mußte. Das ursprüngliche Verbotsedikt, Majestät, ist bereits widerrufen worden. Die Stadtwachen versuchten die Plätze herauszufinden, an denen dieser Kundalimon verehrt wird — übrigens gibt es jetzt einen neuen Chef der Garde, einen jungen Beng namens Chevkija Aim, ein höchst ehrgeiziger Bursche mit konsequenter Sturheit — na, und sie versuchten eben das Ganze an der Wurzel auszureißen. Indem sie die Kapellen schändeten, die Gläubigen inhaftierten. Es brachte gar nichts. Das Volk ließ es sich einfach nicht gefallen. Also mußten die Verfolgungen abgebrochen werden, und die Anhänger des neuen Kults nehmen von Tag zu Tag zu. Und es geht so schnell, daß man es kaum glaubt. Ehe wir von Dawinno nach Yissou aufbrechen durften, mußten wir einen Eid ablegen, daß wir nicht selber auch schon Neugläubige sind.“
„Und worum geht es bei diesem neuen Glauben, kannst du mir das sagen?“
„Ich gestehe es dir ehrlich, mein König, solches Zeug übersteigt mein Verständnis. Das einzige, was ich davon begreife, ist, daß es sich anscheinend darum handelt, wir sollten uns den Hjjks ergeben.“
„Den — Hjjks — ergeben?“ Salamans Stimme kam stockend vor Bestürzung und Empörung.
„Ja, Herr. Uns der Königin-Liebe unterordnen, was immer das sein soll, Erhabener. Du weißt ja wohl, dieser junge Mann, Kundalimon, kam mit dem Angebot eines Friedensvertrag von den Hjjks, wonach der Kontinent geteilt werden sollte zwischen uns und denen, und die Grenzen.“
„Ja, ja. Klar weiß ich davon.“
„Nun, also diese neuen Kultführer fordern die sofortige Unterzeichnung dieses Vertrags. Mehr noch: Es sollen zwischen der Stadt Dawinno und dem Hjjk-Gebiet regelmäßige friedliche Kontakte aufgebaut werden, und bestimmte Hjjks, die sogenannten Nest-Denker, sollen vertragsgemäß ersucht werden, unter uns zu leben. Damit sie uns ihre Heilslehre beibringen können und wir dann auch die Weisheit der Königin erkennen lernen.“
Salaman stierte den Mann an. „Der reinste Wahnsinn!“
„Das ist es wohl, Hoher Herrscher. Und darum kommt die Karawane verspätet hier an, weil drunten in der Stadt alles in der Schwebe ist. Möglich, daß es inzwischen sich ein bißchen beruhigt hat. Als wir abreisten, war die Häuptlingstochter anscheinend genesen — es geht übrigens das Gerücht um, daß sie eine der führenden Personen in diesem neuen Kult ist, aber vielleicht ist das ja auch nur Tratsch. Jedenfalls hat Taniane jetzt wieder Zeit, sich den Regierungsgeschäften zu widmen. Auch Hresh ist wieder auf der Bildfläche erschienen. Also ist es durchaus denkbar, daß sich dort alles wieder normalisiert. Aber, mein König, laß mich dir sagen, wir haben da drunten ein paar schwere Wochen hinter uns gebracht!“
„Ja, das kann ich mir vorstellen. Sonst noch was?“
„Nur, daß wir mit elf Wagen feinster Ware heraufgekommen sind und uns auf den Aufenthalt in deiner Stadt freuen.“
„Schön, ja, schön. Wir sprechen uns morgen vielleicht noch einmal, mein guter Gardinak Cheysz. Ich möchte das alles noch einmal nüchtern und bei Tage hören. Vielleicht erscheint es mir dann glaubwürdiger als jetzt.“ Er verzog das Gesicht zu einer Grimasse und warf die Arme hoch in die Luft. „Frieden schließen mit den Hjjks! Sie bitten, nach Dawinno zu kommen, damit sie dort ihre Ideologie verkünden können! Es ist nicht zu glauben!“ Er griff in seinen Leibgurt, zog einen Beutel Tauschtaler der Prägung von Dawinno-City hervor und warf ihn Gardinak Cheysz zu. Sein Agent fing den Beutel geschickt auf und salutierte devot. Sein Hängemaul verzog sich zu so etwas wie einem Ansatz eines Grinsens, als er schließlich den Raum verließ.
In derselben Nacht, in einem ganz anderen Teil der Stadt. In einer Taverne. Esperasagiot, Dumanka und ein paar andre Typen aus der Karawane, die Thu-Kimnibol nach Xissou gebracht hat, hocken mit ein paar andren aus dem neuen Treck zusammen. Es ist spät. Man hat am Wein nicht gespart. Schließlich ist man unter lauter alten Freunden. Die Männer aus Thu-Kimnibols Karawane hatten schon oft auch in der Handelskarawane zwischen den beiden Städten Dienst getan. Bei den frisch Eingetroffenen befand sich auch Thihaliminion, der Bruder Esperasagiots, der über beinahe soviel Xlendi-Verstand verfügte. Er hatte die soeben angelangte Truppe angeführt.
Es sitzen auch ein paar Einheimische in der Gruppe — ein Sattler namens Gheppilin, ein Schlachter namens Zechtion Lukin und Lisspar Moen, eine Frau, deren Gewerbe die Fertigung feiner Porzellanteller ist. Alle sind Dumankas Freunde. Freunde neueren Datums.
Thihaliminion ergeht sich schon eine ganze Weile über die ungewöhnliche Häufung von plötzlichen umwerfend neuen Begebnissen in der Stadt Dawinnos: die zwei Morde, das Verschwinden nebst der darauffolgenden Geistesverwirrung der Häuptlingstochter und über den neu erblühten Kundalimon-Kult. Er kichert in seinen Weinbecher und sagt: „Es ist das Ende der Welt. Alles wird ganz urplötzlich anders und fremd.“ Er wackelt mit dem behelmten Kopf. „Aber wieso lach ich denn? Es ist doch gar nicht komisch!“
„Ach, das ist es eben doch“, sagt Dumanka. „Wenn alles sonst sich zu Xlendi-Dünnschiß verwandelt, da bleibt einem doch nur noch das Lachen. Wenn die Götter uns mit Katastrophen beglücken, was können wir machen — als lachen? Geheul heilt keine Hiebe. Aber das Lachen, das begräbt unsre Kummer-Nüsse doch wenigstens unter einer Schicht Spaß.“
„Du warst schon immer ein Spötter, Dumanka, und machst dich über alles lustig“, erklärt Thihaliminion dem Karawanenführer. „Dir ist nichts heilig!“
„Ganz im Gegenteil, Bruder“, sagte Esperasagiot. „Ganz im Gegenteil, Dumanka ist einer der ernsthaftesten Männer, die ich kenne. Mußt nur mal hinter das geile unflätige Grinsen steigen, das er sich immer aufsetzt.“
„Dann soll er eben mal ernst sein, wenn es ihm grad recht ist. Was da nämlich in Dawinno passiert, das ist was Ernstes, und ihr werdet es merken, wenn ihr mal wieder dort seid. Es lacht sich leicht, wenn man ein paar hundert Meilen weit weg ist vom Schuß!“
„Bruder, er hat dich doch nicht beleidigen wollen. So ist er nun halt mal. Er hat doch bloß so mit Worten herumgespielt. Begreifst du das nicht?“
„Nein“, sagt Dumanka. „Genau das hab ich nicht gemacht!“
„Nein?“ Esperasagiot runzelt die Stirn.
„Ich war so. wein-ernst, wie ich es überhaupt kann, lieber Freund. Und wenn ihr mir einen Moment lang zuhören wollt, dann versuch ich es, mich euch klarzumachen.“
„Ach, dis ist doch bloß Zeitverschwendung und Geschwätz“, sagt Thihaliminion mit einem Lallen, das eher ein Knurren ist. „Wir könnten lieber was saufen, als so blöd herumzuschwatzen.“
„Nein. Hört mir mal einen Augenblick lang zu! Ich glaub nämlich, daß es sich ganz und gar nicht als nutzlose Zeitverschwendung erweist“, sagt Dumanka, und die anderen achten auf einmal auf ihn, denn sie haben ihn noch nie zuvor in so ernstem Ton sprechen hören. „Ich hab gesagt, wir sollten lachen, wenn die Götter uns mit Mißgeschicken beglücken, und nicht heulen und jammern. Und ich bin überzeugt, daß ich damit recht hab. Oder, wenn wir schon nicht lachen können, dann doch wenigstens achselzuckend darüber weggehen, denn was bringt das schon Positives, wenn wir klagen und knurren und jammern wider den Willen der Götter? Diese Leutchen da.“
„Das reicht, Dumanka!“ Thihaliminion sagt es ein wenig zu scharf und hastig.
„Noch ein, zwei Worte, ich bitte euch. Diese drei da, Zechtior Lukin, Lisspar Moen und Gheppilin, kennt ihr sie? Nein, natürlich kennt ihr sie nicht. Aber ich. Und laßt mich euch was sagen: Es steckt Weisheit in ihnen. Und sie könnten uns allen eine ganze Menge beibringen, was die Unterwerfung unter den Willen der Götter angeht. Hast du schon irgendwann mal darüber nachgedacht, mein guter Thihaliminion, warum es so kam, daß die Saphiräugigen es so gelassen hinnahmen, als die Götter die Todessterne vom Himmel schleuderten und ihnen ihre Welt zerstörten? Schließlich weiß doch ein jeder, daß die Saphiraugen die Todessterne einfach glatt zurückschleudern hätten können, wenn sie dazu Lust gehabt hätten, aber.“
„Nakhaba! Was haben denn die Saphirer verdammt noch mal zu tun mit dem Wahnsinn, der sich in unsrer Stadt ausbreitet? Das erklär mir mal, Dumanka!“
„Reich mir den Wein rüber. Ich will’s dir erklären. Und dann wirst du vielleicht sogar bereit sein, Zechtior Lukin zuzuhören, und vielleicht bist du dann auch bereit, mal das Büchlein zu lesen, das er geschrieben hat, wie, Thihaliminion? Denn darin könntest du Trost finden, wenn dir diese angeblichen Schwierigkeiten in Dawinno wirklich derart auf den Magen gehen, wie du sagst.“ Und Dumanka nickt dem Schlachtermeister zu, einem kleinen untersetzten, fast feisten Mann, der aussieht, als platze er vor Kraft und Stärke. „Was mich Zechtior Lukin in unseren Gesprächen gelehrt hat“, spricht er weiter, „ist genau das, was ich mein ganzes Leben lang praktiziert habe, ohne daß ich dafür einen Namen gehabt hätte, und das ist: die Erkenntnis von der absoluten Größe der Götter und ihrer Rolle, die sie für unser Schicksal haben. Sie beschließen, und wir haben freudig zu gehorchen, weil nämlich die einzige andere Wahl für uns darin besteht, uns kläglich jammernd oder zornig in das uns von ihnen Geschickte zu fügen, und wir damit ganz einfach genau am gleichen Zielpunkt landen, nur nicht ganz so vergnüglich. Also müssen wir halt hinnehmen, was auf uns zukommt, seien es nun die Todessterne oder die Hjjks, oder merkwürdige neue Religionen, oder blutiger Mord auf den Straßen. oder was sonst immer. Lieber Freund, was Zechtior Lukin und seine Freunde von der Gruppe der Akzeptisten glauben — und unsre beiden andren Freunde hier, Lisspar Moen und Gheppilin, sind ebenfalls gläubige Akzeptisten, und ich auch — und ich war es schon immer, auch wenn ich es grad erst so richtig erkannt habe —, das ist ein religiöser Glaube, der euch Frieden in eure Herzen bringt und Ruhe in euer Denken. Und mich hat der Glaube zu einem besseren Menschen gemacht, ganz ohne Zweifel, Thihaliminion, zu einem ab-so-lut besseren Menschen!!! Und wenn ich nach Dawinno zurückkehre, das kann ich euch sagen, dann bringe ich bestimmt Zechtior Lukins Büchlein mit und werde die darin enthaltene Wahrheit allen mitteilen, die sie hören können und wollen.“
„Genau, was uns grad noch gefehlt hat“, sagt Thihaliminion und stiert trübsinnig in seinen Wein. „Noch eine neue Religion!“
Thu-Kimnibol klopfte höflich und trat ein. Salaman, der neben seiner fast geleerten Flasche Wein dahindöste, war sogleich hellwach.
„Du wolltest mich sprechen, lieber Gevatter?“
„Richtig. Inzwischen hast du ja wohl die neuesten Depeschen aus deiner Stadt durcharbeiten können?“ fragte der König. „Das mit dem Wahnsinn dieser Tochter von Taniane? Und sie selber, Taniane, dermaßen durchgedreht deswegen, daß sie außerstande war, ihre Stadt ein paar Tage lang anständig zu regieren?“
Thu-Kimnibols Fell stellte sich auf, und seine Augen begannen zu funkeln. Er sagte mit gepreßtem Ton: „Ja. Ich habe so etwas in der Richtung gehört.“
„Aber hast du auch von dieser neuen Religion der Hjjk-Liebe gehört, die da drunten bei euch auf einmal aus dem Boden geschossen ist? Man hat mich unterrichtet, daß es die Ermordung des Gesandten Kundalimon war, die das alles ausgelöst hat. Meine Informationsquellen berichten, daß das Volk in Dawinno von ihm spricht als von einem heiligen Propheten, der wegen seiner Liebe zum VOLK sterben mußte.“
„Deine Informanten sind recht gut, lieber Vetter.“
„Dafür bezahle ich sie schließlich — und gut. Aber sie bringen mir auch Informationen, daß diese Kundalimon-Sekte. für den Abschluß und die Unterzeichnung dieses Vertrags mit der Königin ist. Stimmt es, daß sie Hjjk-Missionare nach Dawinno einladen, die sie in den Geheimnissen der Hjjk-Religion unterrichten sollen?“
„Lieber Cousin, warum stellst du mir solche Fragen?“
Brüsk und grob sagte Salaman: „Weil du mir versichert hast, daß deine Leute kämpfen würden, wenn die Zeit gekommen ist. Und was tun sie statt dessen? — Das! So eine Idiotie, so etwas hinternrissig Blödes!“
„Aha. Also darum geht es“, sagte Thu-Kimnibol.
„Aber es ist doch der reine Irrsinn, Cousin!“
„Sicher, aber sehr nützlich, glaube ich.“
Der König hob verblüfft den Kopf. „Nützlich?“
Thu-Kimnibol lächelte. „Aber klar, mein Lieber. Die Friedenslobby spielt uns doch direkt in die Hände. Sie treiben die Dinge soweit ins Extrem, daß es ihnen den Hals brechen wird. Möchtest du dir vielleicht einmal ausmalen, wie das wäre, mein Cousin, Dawinno voller Hjjk-Prediger, die an jeder Straßenecke schnatternd und klickend ihre frohe Botschaft verkünden, und die ganze Bevölkerung dort schleicht umher und sabbert nur noch von Königin-Liebe, und die Hjjks trampeln in Horden unsere Strande entlang, ganz frech und kotzfrei und machen dann Urlaub in ihrer eigenen Kolonie im Süden?“
„Das — ist ein Alptraum!“ sagte Salaman.
„Eben! Ein Katastrophentraum. Aber — er ließe sich recht gut einsetzen, vorausgesetzt, es gibt in Dawinno noch ein paar Personen, die noch nicht völlig den Verstand verloren haben. Und ich glaube, es gibt sie.“ Thu-Kimnibol beugte sich ganz nahe ans Ohr des Königs. „Ich muß nur erreichen, daß die dort die Sache so sehen, wie ich sie dir gerade geschildert habe. Man muß ihnen nur klarmachen, daß die Hjjks planen, uns von innen heraus mit Subversion zu erobern. Verstehst du nicht? Ich würde unterstellen, daß diese neue Religion uns allesamt den Krallen und Klauen der Wanzen ausliefert? Diese Liebe ihrer Königin ist verderblicher als ihr Haß, werde ich den Leuten sagen. Wo es um diesen Haß geht, wissen wir wenigstens, wo wir stehen. Und im Grunde sind diese Königin-Liebe und dieser Erzhaß gegen die Königin nur zwei unterschiedliche Verkleidungen ein und derselben Sache. Freunde, werde ich sagen, die Bedrohung für uns ist tödlich. Wenn wir diesen Vertrag akzeptieren, dann heißt das, daß wir unsren Todfeinden mit weit offenen Armen begegnen. Wollt ihr wirklich, daß Hjjks herrschen sollen in Dawinno, in Massen überall herumwimmelnd, wie sie das in Vengiboneeza getan haben? Na, und so weiter und so fort, bis wir diese neue Religion ins Abseits gedrängt haben, oder bis sie eben ganz aus dem politischen Geschäft verschwunden ist.“
„Und dann?“ „Dann — dann fangen wir an Hymnen auf die Würde des Krieges zu singen“, sagte Thu-Kimnibol. „Wie löblich und mannhaft-tugendsam es ist, dem Angriff unseres Feindes zuvorzukommen und — Sicherheit für das VOLK in der Welt herzustellen. Ein Krieg gegen die Hjjks! Er ist unsre einzige Rettung! Und, Cousin, es ist ein Krieg, den wir beide äußerst gründlich und sorgfältig planen müssen, ehe ich von hier abreise. Und dann werde ich denen in Dawinno sagen können, daß König Salaman unser treuer Bundesgenosse ist und darauf brennt, daß wir unsere Macht mit seinen Truppen in diesem Heiligen Krieg vereinigen, und daß unsere zwei Städte Seite an Seite stehen müssen im Kampf gegen die Wanzen. Und dann brauchen wir nur noch dafür zu sorgen, daß der Krieg ausbricht. Dafür tut es fast jeder beliebige kleine Zwischenfall. Was hältst du davon, Gevatter? Ist diese neue Religion mit der Hjjk-Ideologie nicht haargenau der Anlaß, auf den wir gewartet haben?“
Salaman nickte.
Dann begann er zu lachen.
Der Junge Tikharein Tourb berührte den schimmernden NestschutzTalisman an seinem Hals und sagte: „Wenn wir damit doch nur die Königin sehen könnten, Chhia Kreun! Vielleicht könnten wir mit seiner Hilfe IHR Bild sehen, was meinst du? Wenn wir den Talisman zugleich mit unserm Zweitgesicht benutzen, meine ich.“
„Sie ist viel zu weit weg“, antwortete das Mädchen. „So weit reicht das Zweitgesicht nicht.“
„Also dann könnten wir es mit Tvinnern versuchen.“
Chhia Kreun unterdrückte ein leichtes Kichern. „Was verstehst du schon vom Tvinnern, Tikharein Tourb?“
„ ’ne Menge. Ich bin schon neun, weißt du.“
„Mit dreizehn kommt man ins Tvinnr-Alter.“
„Du bist schließlich auch erst elf, aber du tust, wie wenn du schon alles weißt.“
Sie begann sich ausgiebig zu striegeln, das Fell zu zupfen und zu glätten. „Jedenfalls weiß ich mehr als du.“
„Über Tvinnern vielleicht. Aber nicht über Nestwahrheit. Egal, das bringt uns sowieso nicht weiter. Hör mal, was meinst du, wenn ich den Nestschützer mit meinem Sensororgan festhalte und wir beide dann tvinnern, direkt hier vor dem Altar.“
„Das kann doch nicht dein Ernst sein.“
„Doch, ich mein es ernst, ganz ernst!“
„Aber es ist verboten, bis wir alt genug sind! Außerdem wissen wir ja gar nicht, wie man das macht. Wir bilden uns vielleicht ein, wir wissen es, aber bevor uns nicht die Opferfrau gezeigt hat.“
„Willst du nun die Königin sehen oder nicht?“ fragte der Junge verächtlich.
„Natürlich will ich das.“
„Also, was kümmert’s dich dann, ob es verboten ist oder was die Opferfrau uns zeigen soll oder was nicht? Die alte Kräuterhexe bedeutet gar nichts für uns. Das ist alles altmodisches Zeug. Die Nestwahrheit, das ist die wahre Sache. Und das Amulett auf meiner Brust — da liegt die Nestwahrheit versteckt.“ Er streichelte vorsichtig zärtlich über das Stückchen Hjjk-Panzer. „Das hat Kundalimon selber gesagt. Und wenn ich das nun festhalte und wir zwei dann tvinnern — und vielleicht die andern uns beistehen und alle gleichzeitig unsere Hymnen singen —, vielleicht erscheint uns dann die Königin — oder wir erscheinen vor IHR.“
„Ach, das glaubst du wirklich?“
„Ein Versuch kostet ja nichts, oder?“
„Aber — tvinnern.?“
„Na schön“, sagte er. „Dann such ich mir eben wen, der alt genug ist und mir das Tvinnern beibringt. Und dann sehen wir zusammen die Königin. Und du, du kannst tun und lassen, was du willst!“
Er wandte sich ab, als wolle er fortgehen. Chhia Kreun stieß ein leises Keuchen aus und griff nach ihm.
„Nein! Warte, warte doch, Tikharein Tourb.“