2. Kapitel Verkleidungen unterschiedlicher Art

Als er später wieder allein ist, schließt Hresh die Augen und läßt seine Seele schweifen, stellt sich vor, sie breite in einer Traumvision weit ihre Flügel aus und schwebe über den Bezirk der Stadt hinaus weit über die windgepeitschten nördlichen Ebenen, bis zu jenem unbekannten fernen Reich, wo die Scharen des Insektenvolks in gewaltigen unterirdischen Höhlentunnels umherwimmeln. Sie sind ihm ein absolutes Rätsel. Im wahrsten Wortsinn abgründig geheimnisvoll. Er sieht die Königin (oder was er dafür hält), diese unermeßliche, zurückgezogene, unauslotbare Monarchin, schlaftrunken ruhend in ihrer schwerbewachten Kammer. sich nur träge mit bewegend, während ihre Leibdiener mit scharfen schwirrenden Hjjk-Gesängen ihren Lobpreis singen. Ihr, der Hjjk der Hjjks, der Großen Königin. Welche Hjjk-Träume der totalen Weltbeherrschung träumt sie gerade jetzt in diesem Augenblick? Wann werden wir je erfahren, fragt sich Hresh, was diese Geschöpfe von uns wollen?

„Deine Abdankung?“ rief Minguil Komeilt erstaunt. „Abdankung, Edle? Wer würde so etwas wagen? Laß mich mit dem Papier zum Hauptmann der Wachen gehen! Wir werden herausfinden, wer dahintersteckt, und dafür sorgen, daß.“

„Gib Ruhe, Weib!“ sagte Taniane. Die nervöse Aufgeregtheit ihrer Privatsekretärin war ärgerlicher, als die Petition selbst es gewesen war. „Glaubst du denn, es ist der erste derartige Schrieb, den ich bekomme? Oder der letzte? Das bedeutet nichts. Nichts!“

„Aber dich mit einem Stein zu bewerfen, der in so einen Schrieb gewickelt ist.“

Taniane lachte. Sie las noch einmal den Fetzen Papier in ihrer Hand. DU HOCKST SCHON VIEL ZU LANG DA, hieß es da in krakeligen Buchstaben. HÖCHSTE ZEIT, DASS DU PLATZ MACHST UND DIE RECHTMÄSSIGEN LEUTE HERRSCHEN LÄSST.

Die Worte und die Handschrift waren bengisch. Der Stein war aus dem Nirgendwo vor ihren Füßen gelandet, als sie von der Kapelle der Fürsprache die Koshmar-Allee entlang zurück zu ihren Gemächern im Haus der Regierung entlangging, wie sie dies fast an jedem Tag nach dem Morgengebet zu tun pflegte. Dies war die dritte derartige anonyme Drohung, die sie erhalten hatte — nein, es ist schon die vierte, korrigierte sie sich — in den letzten sechs Wochen. Und das nach beinahe vierzigjähriger Häuptlingschaft:.

„Du willst also, daß ich gar nichts dagegen unternehme?“ fragte Minguil Komeilt.

„Ich möchte, daß du den Schrieb in der Akte ablegst, die du für derartige Ausbrüche angefertigt hast, und die Sache dann vergißt. Ist das klar? Vergiß es! Es ist absolut bedeutungslos.“

„Aber. Edle.“

„Bedeutungslos“, wiederholte Taniane.

Sie trat in ihre Privatgemächer. Von den dunklen punktierten Wänden starrten die Masken ihrer Amtsvorgänger auf sie herab.

Es waren wilde, lebendige, fremdartige, barbarische Masken. Zeichen der Macht aus einer verflossenen Zeit. Taniane gemahnten sie daran, wie gewaltig die Veränderungen waren, die sich in einer einzigen Lebensspanne seit dem Auszug des VOLKES aus dem Kokon ergeben hatten.

„Es wird Zeit, daß ich Platz mache“, erklärte sie flüsternd den Masken. „Gibt man mir jedenfalls zu verstehen. Steinwürfe in den Straßen. Bengs, denen die Unionsabmachung nichts mehr bedeutet. Nach all dieser Zeit. Unruhige Narren, weiter nichts. Wollen noch immer, daß einer von ihnen regiert. Als hätten sie eine bessere Methode parat. Vielleicht sollte ich ihnen geben, was sie haben wollen, dann wird sich ja zeigen, wie ihnen das dann gefällt.“

Hinter ihrem Arbeitstisch hing die Maske Lirridons, die Koshmar getragen hatte. an jenem längst entschwundenen Tag, an dem der Stamm den Vorstoß in die wiederaufgetaute frostbefreite Welt begann. Es war eine furchteinflößende Maske, grausam, scharfkantig, abstoßend. Sicherlich war sie aus einer alten Stammeserinnerung an das Hjjk-Volk heraus geformt worden, an einen ererbten kollektiven Alptraum, denn die Maske war gelb und schwarz und trug einen schrecklichen vorstoßenden scharfen Schnabel.

Daneben Sismoils Maske, rätselhaft, ausdruckslos, ein flaches unentzifferbares Gesicht mit winzigen Augenschlitzen. Thekmurs ganz schlichte Maske hing daneben. Weiter drüben hing die Maske Niallis, und die war nun wahrlich schrecklich: schwarz und grün mit einem Dutzend langer blutroter starr abstehender Stacheln. Die Nialli-Maske hatte Koshmar getragen, als das Angriffsheer der Behelmten — des Beng-Volkes in Vengiboneeza erschienen war und das VOLK zum Kampf herausgefordert hatte.

Und dort waren Koshmars eigene Masken: die schimmernde graue mit den roten Augenschlitzen, die sie im Leben getragen hatte, und jene edlere, die der Künstler Striinin zu ihrem Gedächtnis nach ihrem Tode gefertigt hatte: die kräftigen Züge in poliertem Schwarzholz geformt. Taniane selbst hatte diese Maske am Tage des Auszugs aus Vengiboneeza getragen, als das VOLK zu seiner zweiten Wanderung aufbrach, die es am Ende an den Ort führte, wo das VOLK sich Dawinno-Stadt erbauen sollte.

Glitzerspuren aus einer verschwundenen Vergangenheit. Erinnerungsfunken, eine blasse Leuchtspur nach rückwärts durch die dämpfenden Wickelschichten der Zeit zu jenen vergessenen Tagen klaustrophobischer Bedrängtheit.

„Soll ich abdanken?“ fragte Taniane Koshmars Maske. „Haben sie recht? Hab ich lange genug geherrscht? Und ist es Zeit, daß ich jetzt Platz mache?“

Koshmar war die letzte der Alten Häuptlinge gewesen — hatte über einen Stamm geherrscht, der so klein war, daß der Führer noch jeden namentlich kannte, und in dem Strittigkeiten vom Häuptling entschieden wurden, als wären sie nichts weiter als ein kleiner Zwist unter Freunden.

Wieviel einfacher es doch damals noch war! Und die Leute so ohne Arg und so naiv!

„Also, vielleicht sollte ich es tun“, sagte Taniane. „Wie? Was meinst du dazu? Verlangen die Götter von mir, daß ich jeden mir noch im Leben bleibenden Augenblick für diese Aufgabe opfere? Oder ist es mein Stolz, der mich zwingt, Jahr um Jahr erneut an meinem Amt zu kleben? Oder weil ich nicht wüßte, was ich dann mit mir anfangen soll?“

Aber die Masken Koshmars gaben ihr keine Antwort.

In Koshmars Tagen war das ‚Volk‘ nur eine kleine Horde gewesen; ein bloßer kleiner Stamm. Jetzt hingegen war das VOLK zivilisiert und lebte urban; jetzt zählte man es nach Tausenden, statt nach Manipeln, und es hatte sich als zwangsläufig und Not abwendend erwiesen, immer neue Konzepte zu erfinden, eine sinnenverwirrende Flut von Dingen zu produzieren, damit diese neue expandierte Ordnung überhaupt funktionierte. Man hatte sich an den Gebrauch dieser neuen Sache namens ‚Tausch-Einheiten‘ gewöhnt, anstatt der einfach gleichmäßigen Verteilung an jeden; man zankte giftig über Profit, Besitztümer, die Größe der Wohnungen, die Zahl der beschäftigten Arbeiter, über Wettbewerbstaktiken auf dem Marktplatz und ähnliches derart absurdes Zeug. Sie hatten sich in ‚Klassen‘ zu spalten begonnen: in herrschende, besitzende, arbeitende und arme Klassen. Aber auch die alten Stammeszugehörigkeiten waren nicht völlig verschwunden. Gewiß, sie verwischten sich mehr und mehr. Doch hatten weder die Koshmaris noch die Beng ganz vergessen, daß sie eben koshmarisch und bengisch waren; und hinzu kamen noch alle die übrigen: die Hornbelions und Debethins und Stadrains und Mortirils und der Rest all der stolzen kleinen Stämme, die nach und nach in den größeren Stämmen aufgingen, die sich jedoch verzweifelt abmühten, noch Fetzchen ihrer alten Identität zu bewahren.

All dies brachte immer neue Probleme mit sich und wurde dem Häuptling als Höchster Instanz zur Entscheidung vorgelegt. Und alles war dermaßen schnell gegangen. In einer einzigen Generation war die Stadt — dank Hreshs unermüdlicher Erfindungskraft und seiner Forscherbeute aus den Archiven der Vorzeit — hochgeschossen und gewachsen wie ein Pilz und versuchte keck und hoffnungsschwanger, die großen Städte der vergangenen Großwelt zu imitieren.

Taniane betrachtete die Masken.

„Du mußtest dich nie mit Bevölkerungsstatistik und Steuerlisten herumplagen, nicht wahr? Oder mit den Protokollen der Präsidialsitzungen. Mit der Zahl der gerade in Umlauf befindlichen Tausch-Einheiten.“ Taniane fuhr mit den Fingern durch den Berg von Papieren auf ihrem Tisch: Gesuche von Kaufleuten für eine Importlizenz für Waren aus Yissou; Expertengutachten über Stadtsanierungsprobleme in suburbanen Vierteln; ein Bericht über den schlechten Zustand der Thaggoran-Brücke im Südende der Stadt. Und so weiter und weiter und weiter. Und ganz obenauf lag Hreshs kurzes Memorandum: Bericht zu dem Vertragsangebot der Hjjks.

„Ach, wärt ihr doch bloß an meinem Platz“, sagte Taniane heftig zu den Masken an der Wand, „und ich hinge statt dessen da droben!“

Sie hatte noch nie eine eigene Maske gehabt. Anfangs genügte es ihr völlig, bei den Anlässen, die Masken erforderten, die von Koshmar zu tragen. Später, nachdem die Beng nach Dawinno gekommen waren und sich mit dem VOLK vermischt hatten, als man den Unionsvertrag schloß, erlaubte der politische Kompromiß zwar einen Häuptling aus Koshmari-Blut, verlangte jedoch eine Beng-Majorität im Präsidium, und als die Stadt in ihre höchst sensationelle Wachstumsphase geriet, war Taniane der Maskenzauber als leidlich überholt erschienen, als ein ziemlich törichtes Relikt aus alter Zeit. Seit Jahren hatte sie keine Maske mehr aufgesetzt.

Dessen ungeachtet behielt sie die Masken aber dennoch um sich, in der Nähe, in ihrem Arbeitszimmer. Teils, weil sie ja recht dekorativ waren, teils aber zur mahnenden Erinnerung an jene dunklere, primitivere Zeit, in der Eis das Land bedeckte und ihr VOLK nichts weiter war als ein kleiner Haufen unbedarfter nackter oder pelziger Kreaturen, die sich angstvoll in einer versiegelten Erdkammer in der Flanke eines Berges aneinandergepreßt hatten. Die grobschlächtige Form und die leuchtendgrellen Farben dieser Masken stellten jetzt für sie das einzige Verbindungsglied zur anderen Epoche dar.

Taniane setzte sich hinter den geschwungenen Onyxblock, der auf einem Fuß aus rosa Granit ruhte und an dem sie arbeitete, und griff sich eine Handvoll der Papiere, die Minguil Komeilt dort für sie deponiert hatte. Trübsinnig blätterte sie den Aktenstoß wieder und wieder durch. Vor ihrem Blicke schwammen Wörter vorbei: Volkszählung...

Steuern... Thaggoran-Brücke... Hjjk-Vertrag... Hjjk... Hjjk... Hjjk... Vertrag...

Sie schaute zu der Lirridon-Maske hinauf, zu dem Hjjk-Gesicht mit dem riesigen scheußlichen Greifschnabel.

„Würdest du einen Vertrag mit ihnen machen?“ fragte sie. „Überhaupt mit denen verhandeln?“

Diese Hjjks! Wie sehr sie dieses Volk verabscheute — und fürchtete! Von Kindesbeinen an wurde einem beigebracht, sie zu verachten. Sie waren häßlich, sie waren riesige, gräßliche Wanzengeziefer, wie aus einem Alptraum, erbarmungslos böse und eiskalt, fähig jede nur denkbare Greueltat zu begehen.

Ständig gab es Gerüchte über sie, über umher streifende Hjjk-Banden, die im freien Land überall im Osten und Norden lauerten. In Wahrheit steckte hinter fast all diesen Horrorgeschichten keinerlei Realität. Trotzdem — die Hjjks hatten ihr einziges Kind entführt, direkt vor den Mauern der Stadt hatten sie sie geraubt; und daß Nialli nach ein paar Monaten zurückgekehrt war, hatte Tanianes Abscheu vor ihnen nicht mildern können, denn das Mädchen war nachher auf geheimnisvolle Weise anders geworden. Nein, die Hjjks blieben die große Bedrohung. Sie waren der Feind, gegen den das VOLK eines Tages zum Kampf um die Vorherrschaft in der Welt würde antreten müssen.

Und dieses Vertragsangebot — diese angebliche Botschaft von ihrer gräßlichen Königin.

Taniane stieß Hreshs Bericht beiseite.

Ich bin jetzt schon so lange Häuptling, dachte sie. Schon seit meinen Mädchentagen. Mein ganzes Leben lang, wie es aussieht. fast vierzig Jahre lang.

Sie war zum Häuptling gewählt worden, als der Stamm noch winzigklein und sie selbst gerade erst Frau geworden war. Koshmar lag im Sterben, und Taniane war unter den jungen Frauen die stärkste und mit dem größten Weitblick begabte. Alle hatten ihr per Akklamation das Vertrauen ausgesprochen. Und sie hatte nicht gezögert. Sie wußte, sie war für das Häuptlingsgeschäft geschaffen, ebenso wie das Amt für sie. Allerdings hatte ihre Weitsicht nicht genügt, diese Entwicklung vorherzusehen: derartige Berichte und Untersuchungen und Importgenehmigungen. Und Gesandte von den Hjjks. Niemand hätte so etwas vorhersehen können. Wahrscheinlich nicht einmal Hresh.

Sie nahm einen weiteren Vorgang — die Sache mit den Rissen im Trassengrund der Thaggoran-Brücke. Dies schien ihr im Augenblick von vorrangiger Dringlichkeit zu sein. Du willst dich damit bloß vor dem wirklichen Problem drücken, schalt sie sich selbst. Und dann tauchten wieder diese anderen Wortgebilde vor ihren Augen auf.

DU HOCKST SCHON VIEL ZU LANG DA

HÖCHSTE ZEIT, DASS DU PLATZ MACHST

UND DIE RECHTMÄSSIGEN LEUTE

HERRSCHEN LÄSST

(„Abdanken, Edle? Du sollst abdanken?“ — „Ach, das ist doch bedeutungslos.“)

HÖCHSTE ZEIT.

(Bericht... Vertragsangebot... Hjjks

„. abdanken, Edle?“

„Würdest du mit denen einen Vertrag unterzeichnen?“

„Mutter? Mutter, geht es dir nicht gut?“

„Abdanken?“

Mutter, hörst du mich denn nicht?“)

HÖCHSTE ZEIT. DASS DU PLATZ MACHST.

„Mutter? Mutter!“ — Taniane hob den Blick. In der Tür zu ihrer Suite stand eine Gestalt. Und diese Tür stand jedem Bürger in Dawinno immer offen (allerdings wagten sich nur sehr wenige zu solcher Kühnheit vor). Mühsam konzentrierte Taniane den Blick. Sie begriff, daß sie sich in einer Art Dämmerzustand befunden hatte. War das Minguil Komeilt, die Sekretärin? Nein, bestimmt nicht. Minguil Komeilt war ein weiches, mollig rundes, verhuschtes Weibchen, und die Gestalt da war hochgewachsen, kräftig, athletisch und vibrierte von Ungeduld.

,„Nialli?“ sagte Taniane nach einer Weile.

„Du hast mich rufen lassen.“

„Ja. Ja, natürlich. Ja. Dann komm doch herein. Kind!“

Aber das Kind hing unschlüssig in der Tür herum. Nialli hatte eine grüne Mantilla beiläufig über die eine Schulter geworfen und trug um die Taille die orangerote Schärpe der Edelgeborenen. „Du siehst heut so merkwürdig aus“, sagte sie mit einem unverschämt festen Blick. „Ich hab dich noch nie so gesehen, Mutter. Was ist denn mit dir? Du bist doch nicht etwa krank?“

„Nein. Es ist gar nichts. Überhaupt nichts.“

„Ich hab gehört, sie haben dich heut früh mit Steinen beworfen.“

„Ach, du weißt es schon?“

„Alle wissen es. Hunderte von Leuten haben es selbst gesehen, und alle reden jetzt davon. Es macht mich so zornig, Mutter! Daß jemand es wagen darf. es wagt...“

„In einer derart großen Stadt muß es zwangsläufig auch eine beträchtliche Menge Narren geben“, sagte Taniane.

„Aber mit Steinen zu werfen, Mutter. dich gar verletzen zu wollen.“

„Da bist du falsch unterrichtet. Der Stein fiel weit vor mir zu Boden. Niemand hat versucht, mich zu treffen. Er sollte nur eine Nachricht zu mir bringen. Irgendein bengischer Agitator ist der Überzeugung, ich sollte abdanken. Ich hätte viel zu lang an meinem Amt geklebt, war die Botschaft. Zeit, daß ich Platz mache. Für einen Beng-Häuptling, nehme ich an.“

„Kann wirklich jemand soviel Frechheit besitzen, so etwas vorzubringen?“

„Nialli, die Leute maßen sich an, in allem und jedem mitzureden. Der Vorfall von heute früh ist bedeutungslos. Irgendein Verrückter, weiter nichts. Ein Agitator. Ich kann durchaus noch zwischen einem vereinzelten Drohbrief eines Spinners und dem Ausbruch einer Revolution unterscheiden.“ Sie schüttelte den Kopf. „Aber genug davon. Es gibt andres, worüber wir diskutieren müssen.“

„Du nimmst das so leicht, Mutter.“

„Na, sollte ich mich davon ernstlich beunruhigen lassen? Dann wäre ich eine Närrin.“

„Nein“, sagte Nialli in hitzigem Ton, „ich bin ganz und gar nicht deiner Meinung. Wer kann sagen, was für Kreise das noch ziehen wird, wenn man dem nicht sofort Einhalt gebietet? Du solltest den Kerl aufspüren lassen, der diesen Stein geworfen hat, und ihn an der Stadtmauer aufhängen lassen.“

Verkrampft starrten sie einander an. In Tanianes Augen begann es zu pochen, und sie spürte einen Knoten im Magen. Säfte gurgelten dort wütend und erstarrten. Mit jeder anderen Person, dachte sie, wäre dies hier eine bloße Diskussion; mit Nialli ist es eine Schlacht. Sie bekämpften sich ständig. Warum ist das nur so? Hresh hatte einmal gesagt, sie seien einander so ähnlich, und daß Gleiches Gleiches abstoße. Dann hatte er etwas mit kleinen Metallstäben gemacht, Experimente damit, wie der eine den anderen am einen Ende anzog, während bei umgekehrter Anordnung nichts geschah. Du und Nialli, hatte Hresh gesagt, seid einander zu ähnlich. Darum wirst du sie nie wirklich beeinflussen können. Dein Magnetismus kann bei ihr nicht wirksam werden.

Das mochte wohl so sein. Allerdings vermutete Taniane, daß noch etwas anderes mitspielte — eine Art Verwandlung, die mit Nialli während ihrer Zeit unter den Hjjks stattgefunden hatte und die sie nun so schwierig machte. Die Ähnlichkeit zwischen ihnen beiden allerdings war unbestreitbar. Sie waren beide aus demselben Holz. Und das war unheimlich und zuweilen beunruhigend. Wenn sie Nialli ansah, war das, als blickte sie in einen Spiegel, der zeitverschobene Bilder reflektierte. Fast hätte man sie für Zwillinge halten können, die auf geheimnisvolle Weise drei und eine halbe Dekade voneinander getrennt geboren wurden. Nialli war ihr einziges Kind, das Kind ihrer mittleren Jahre, das sie wie durch ein Wunder empfangen hatte, nachdem Hresh und sie schon längst die Hoffnung aufgegeben hatten, jemals Kinder zu bekommen; und das Mädchen hatte anscheinend so gar nichts von Hresh mitbekommen — außer vielleicht die Hartnäckigkeit und den unabhängigen Verstand. Sonst jedoch war Nialli wirklich wie eine wiedergeborene Taniane. Diese eleganten Beine, kräftigen Schultern und hohen Brüste, dieser seidig-prachtvolle rotbraune Pelz. Ja, dachte Taniane, sie wirkt königlich. Und ihre Haltung ist die eines Häuptlings. Etwas Strahlendes geht von ihr aus. Das war aber nicht immer ein erfreulicher Gedanke. Manchmal fühlte sich Taniane beim Anblick ihrer Tochter nur allzu schmerzlich an den eigenen alternden Leib erinnert. Dann spürte sie oft, wie sie bereits abwärts, in die Erde zu wachsen begann, dem Ruf der Mächte des Verfalls gehorchend, niedergedrückt von der Masse sich zersetzenden Fleisches und mürbe werdender Knochen — viel zu früh! Sie vernahm das Schwirren von Mottenflügeln, sah die grauen Staubstränge auf den Steinböden. Es gab Tage, da roch für sie die Luft nach Tod.

Nach einem langen Schweigen sagte Taniane: „Müssen wir immer streiten, Nialli? Wenn ich glaubte, daß bei der Sache Anlaß zu Besorgnis gegeben ist, würde ich ja Maßnahmen ergreifen. Aber wenn jemand mich wirklich stürzen wollte, würde er das ja nicht gerade mit Steinwürfen auf offener Straße tun. Das verstehst du doch?“

„Ja.“ Es war kaum mehr als ein Flüstern. „Ja, ich verstehe.“

„Schön.“ Taniane schloß einen Augenblick die Lider und mühte sich, die Erschöpfung und Anspannung loszuwerden. „Und jetzt können wir uns vielleicht der Sache widmen, deretwegen ich dich zu dieser Besprechung habe rufen lassen. Und zwar ist das der angebliche Gesandte, der von den Hjjks zu uns gekommen ist, und der angebliche Vertrag, den zu unterzeichnen er uns angeblich auffordern soll.“

„Warum soviel angeblich, Mutter?“

„Weil bisher alles, was wir über diese Sache wirklich wissen, von Hresh und dem Barak Dayir stammt. Der junge Mann selbst hat bisher noch nichts Sinnvolles von sich gegeben, oder?“

„Bisher noch nicht, nein.“

„Meinst du, es wird noch kommen?“

„Je mehr er sich wieder an unsere Sprache erinnert, vielleicht. Er hat dreizehn Jahre im NEST verbracht, Mutter.“

„Und wenn du nun in seiner Sprache mit ihm reden würdest?“

Nialli blickte verlegen drein. „Das kann ich nicht.“

„Du kannst überhaupt kein Hjjk sprechen?“

„Nur eine Handvoll Wörter, Mutter. Es ist Jahre her. und ich war doch nur ein paar Monate bei ihnen.“

„Aber du bringst ihm sein Essen?“

Nialli Apuilana nickte.

„Wie wäre es, wenn du die Gelegenheiten dazu benutztest, dein Hjjk aufzufrischen? Oder ihm einiges von unsrer Sprache beizubringen?“

„Das könnte ich ja versuchen“, antwortete Nialli mürrisch.

Das offenkundige Widerstreben war aufreizend. Taniane spürte den Widerstand geradezu körperlich. Das Kind war von Natur aus widerspenstig, immer in Opposition, dachte sie. Also sagte sie, vielleicht ein wenig zu scharf: „Du bist die einzige in dieser Stadt, die für uns als Dolmetsch in Frage kommt. Deine Mitarbeit ist entscheidend, Nialli. Das Präsidium wird bald zusammentreten und diese ganze Vertrags-Sache behandeln. Ich darf mich leider nicht ausschließlich auf Tranceerkenntnisse und Wundersteine verlassen. Der Barak Dayir, das ist ja schön und gut; aber wir brauchen handfeste wirkliche Sätze von diesem Jungen. Du wirst bitte einen Weg der verbalen Kommunikation mit ihm finden und so in Erfahrung bringen, was es mit der ganzen Sache auf sich hat. Dann will ich einen ausführlichen Bericht haben. Mit allem, was er zu dir sagt.“

Etwas war schiefgelaufen. Nialli biß trotzig die Zähne zusammen und schwieg. In ihren Augen war ein kaltes hartes Leuchten. Sie starrte nur wortlos vor sich hin, und das Schweigen dehnte sich über viel zu viele knisternde Augenblicke hin aus.

„Irgendwas problematisch dabei?“ fragte Taniane.

Nialli blickte mürrisch vor sich hin. „Ich mag mich nicht als Spitzel mißbrauchen lassen, Mutter!“

Spitzel? Das kam unerwartet. Es wäre Taniane nie in den Sinn gekommen, daß jemand die Betätigung als Übersetzer im Dienste des eigenen Volks für hinterhältig und für Spitzelei halten könnte. Wegen der Hjjks? überlegte sie.

Ja, ganz gewiß, es hängt damit zusammen, daß Hjjks hier involviert sind. Sie setzte sich betäubt und bestürzt nieder. Zum erstenmal erkannte sie, daß ihre Tochter sich in einem echten Loyalitätskonflikt befinden könnte.

Seit der Rückkehr aus der Gefangenschaft hatte Nialli zu keinem Menschen ein Wort über ihre Erfahrungen unter den Hjjks verloren: über das, was sie mit ihr gemacht hatten, kein Wort, nichts über das, was sie zu ihr sagten, kein Bröcklein Information darüber, wie das Leben im NEST war. Nialli hatte sämtliche Fragen unbeirrt abgebogen, war ausgewichen oder hatte auf Einzelfragen mit einer merkwürdigen Mischung von Bekümmertheit und stahlharter Wut reagiert, bis man es überhaupt aufgab, sie zu verhören. Bisher hatte Taniane angenommen, daß das Kind ganz einfach nur seine Intimsphäre nicht preisgeben oder sich gegen wiedererweckte schmerzliche Erinnerungen schützen wolle. Wenn Nialli jedoch in der Aufforderung, über ihre Kontakte mit Kundalimon zu berichten, so etwas wie Verrat und Bespitzelung sah, dann mochte es sehr wohl sein, daß es sich um intime Geheimnisse der Hjjks handelte, die zu schützen sie sich so stark bemühte, nicht ihre eigenen. Die Sache bedurfte weiterer Nachforschungen.

Zum jetzigen Zeitpunkt allerdings konnte sich die Stadt den Luxus derartiger zwiespältiger Loyalitäten nicht leisten. In ihren Mauern befand sich ein leibhaftiger Gesandter der Hjjks — auch wenn seine Zunge stumm blieb und er sich unkommunikativ verhielt. An seiner eventuellen Botschaft herumzurätseln oder sich auf Hreshs durch den Wunderstein gesteigerte telepathische Intuition und Betastung des Bewußtseins des Gesandten zu verlassen, das genügte einfach nicht. Der Mann mußte irgendwie dazu gebracht werden, seinen Auftrag in Worte zu fassen. Also mußte Nialli einfach nachgeben. Ihre Mitwirkung war einfach zu wichtig.

Brüsk sagte Taniane also: „Was ist denn das für ein Unsinn? Das hat doch mit Bespitzelung ganz und gar nichts zu tun. Wir sprechen von einem Dienst an deiner Stadt. Ein Fremder taucht auf, mit Nachrichten, daß die Königin mit uns verhandeln möchte. Doch er kann unsere Sprache nicht sprechen, und keiner hier die seine, mit Ausnahme einer jungen Frau, die zufällig die Tochter des Häuptlings ist, die jedoch irgendwie zu glauben scheint, es sei irgendwie ethisch fragwürdig, wenn sie uns hilft zu begreifen, was der Abgesandte einer fremden Rasse uns mitteilen möchte.“

„Du verdrehst alles, wie es dir paßt, Mutter. Mir gefällt ganz einfach die Vorstellung nicht, wenn es mir gelingt, zu einer Art Kommunikation mit Kundalimon zu gelangen, daß ich dann verpflichtet sein soll, alles, was er mir anvertraut, an dich weiterzugeben.“

Taniane verspürte einen Anflug von Verzweiflung. Einst hatte sie geglaubt, Nialli Apuilana würde einmal ihre Nachfolge als Häuptling antreten; aber das konnte offensichtlich nie geschehen. Das Kind war unmöglich. Nialli war verwirrend: unstet, starrköpfig, launenhaft.

Es war ihr jetzt klar geworden, daß der langen Folge von Häuptlingsherrschaft, die sich bis in die fernen Tage der Kokonzeit zurückverfolgen ließ, nun das Ende drohte. Und es sind die Hjjks, die mir das antun, dachte Taniane. Ein weiterer Grund, sie zu verabscheuen. Trotzdem, ich darf nicht zulassen, daß Nialli in dieser Auseinandersetzung siegt.

Sie raffte alle ihre Kraft zusammen und sagte: „Du mußt es tun. Es ist für unsere Sicherheit von allergrößter Wichtigkeit, daß wir herausfinden, worum es bei der Sache geht.“

„Ich muß?“

„Ich will, daß du es tust. Ja, du mußt.“

Schweigen. Der innere Widerstand zeigte sich an den Trotzfalten auf Niallis Stirn. Taniane starrte sie kalt und mitleidlos an und setzte dem scharfen Blick ihrer Tochter einen noch unbeugsameren Ausdruck entgegen, mit dem sie Nialli zu beugen versuchte. Um dies noch zu unterstreichen, gestattete sie ihrem Zweiten Gesicht sich aufzurichten, und Nialli schaute sie verwirrt an. Taniane setzte den Druck fort.

Aber Nialli Apuilana ihrerseits widersetzte sich gleichfalls weiter.

Schließlich gab sie nach, so schien es jedenfalls. Kühl, beinahe verächtlich sagte sie: „Also gut. Wie du willst. Ich werde tun, was ich kann.“

Ihr Gesicht, diese wundersame zeitliche Spiegelung von Tanianes eigenem Gesicht, war dabei ausdruckslos, eine völlig gefühlsleere, unentzifferbare Maske. Taniane fühlte sich versucht, auf der intimsten Stufe des Zweitgesichts sich in ihre Tochter hineinzutasten, die verbotenen Kräfte einzusetzen und diesmal hinter dieser verdrossenen Maske vorzudringen. Verbarg Nialli Zorn oder nur Widerwillen — oder etwas anderes, ein wildes aufflammendes rebellisches Feuer?

„Sind wir dann fertig?“ fragte Nialli Apuilana. „Darf ich mich dann entfernen?“

Taniane schaute sie trübe an. Alles war sehr arg schiefgelaufen. Sie hatte das kleine Gefecht gewonnen. Vielleicht. Aber sie spürte, daß sie einen Krieg verloren hatte. Sie hatte Nialli liebevoll und freundschaftlich zu begegnen gehofft. Statt dessen war sie scharf und knurrig gewesen, hatte plump die Stärke ihrer Stellung eingesetzt und kalt Befehle erteilt, als wäre Nialli weiter nichts als ein geringrangiger Funktionär ihres Stabes. Sie wünschte, sie hätte sich erheben, um den Tisch herumgehen und Nialli in die Arme schließen können. Doch irgendwie war es ihr unmöglich. Sie hatte oft dieses Gefühl, als ragte zwischen ihr und ihrer Tochter eine Mauer auf, höher als die Wälle König Salamans.

„Ja“, sagte sie. „Du kannst gehen.“

Nialli schritt rasch zur Tür. Aber ehe sie in den Gang trat, wandte sie sich um und blickte zurück.

„Mach dir keine Sorgen“, sagte sie, und in ihrer Stimme klang zu Tanianes Erstaunen ein versöhnlicher, fast sanfter Ton mit. „Ich werde es richtig machen. Ich werde herausfinden, was du wissen mußt, und es dir berichten. Und ich werde auch dem Präsidium berichten.“

Dann war sie verschwunden.

Taniane wandte sich um und blickte zu den Masken an der Wand. Sie schienen sie zu verspotten. Die Gesichter waren unversöhnlich.

„Was wißt ihr schon?“ brummte sie. „Keine von euch hatte je einen Partner oder Kinder! Oder? Oder?“

„Edle?“ Eine fragende Stimme von draußen. Minguil Komeilt. „Darf ich eintreten?“

„Was gibt es?“

„Eine Delegation, Edle. Von der Gerber- und Färber-Gilde aus dem Norddistrikt, wegen der Reparaturarbeiten an ihrer Hauptwasserleitung, die, wie sie angeben, durch ungesetzliche Abfallimmissionen von Mitgliedern der Gilde der Weber und Wollkrempier verstopft ist, was dazu führt.“

Taniane stöhnte laut auf.

„Ach, delegiere sie an Boldirinthe“, sagte sie, halb zu sich selber. „Sowas kann die Opferfrau ebensogut erledigen wie der Häuptling.“

„Edle?“

„Boldirinthe kann für sie beten. Sie kann die Götter anflehen, die Leitung wieder freizumachen. Oder ihren Zorn auf die Gilde der Weber und so herabrufen und.“

„Edle?“ sagte die Sekretärin erneut, diesmal bestürzt. „Verstehe ich dich richtig, Edle? Es ist ein Scherz, nicht wahr? Nur ein kleiner Scherz?“

„Ja. Es war nur ein Scherz“, sagt Taniane. „Du darfst mich nicht so ernstnehmen.“ Sie preßte die Finger auf die Augen und holte dreimal hastig tief Luft. „Also, schick sie mir herein, die Delegation der Gilde der Gerber und Färber.“


Ein dunstiger Hitzeschleier bedeckte den Himmel, als Nialli vor dem Regierungshaus auf die Straße trat. Sie winkte einen vorbeikommenden Xlendiwagen heran.

„Zum Nakhaba-Haus“, befahl sie dem Fahrer. „Ich bleibe dort nur so etwa fünf Minuten. Dann sollst du mich weiterfahren.“

Das zweite Ziel sollte das Mueri-Haus sein, in dem man den Emissär untergebracht hatte: ein Hospiz, das zumeist von Stadtfremden frequentiert wurde, und wo man den Gesandten gut und ständig observieren konnte. Es war nun Zeit, daß Nialli ihm sein Mittagsmahl brachte. Täglich zweimal suchte sie Kundalimon auf: mittags und in der Abenddämmerung. Er bewohnte ein kleines einfenstriges Gemach (eher schon eine Zelle) im dritten Geschoß, nach hinten, auf einen umschlossenen Hof hinausgehend.

Die Auseinandersetzung mit ihrer Mutter hatte eine dumpfe Leere in ihr hinterlassen. Jedesmal, wenn sie mit Taniane zu tun hatte, kämpften in ihr Liebe und Furcht gegeneinander. Bei Taniane wußte man nie vorher, wann ihr starker Sinn für die Nöte der Stadt alle sonstigen Überlegungen und Rücksichten, jeden Gedanken an die schmuddeligen kleinen privaten Bedürfnisse und Probleme der einzelnen Bürger verdrängen würde; wobei es dann gleichgültig war, ob es die eigene Tochter traf oder einen völlig Fremden. Für Taniane kam die Stadt stets und immer an erster Stelle. Zweifellos mußte man so werden, wenn man vierzig Jahre lang Häuptling war; die Zeit machte einen hart, engsichtig, stur. Vielleicht hatte der Beng, der diesen Stein geworfen hatte, völlig recht? Vielleicht war es Zeit, daß Taniane den Platz räumte.

Nialli überlegte, ob sie tatsächlich für Taniane spionieren würde, wozu sie sich so plötzlich zur eigenen Verblüffung bereiterklärt hatte.

Wahrscheinlich war es ein Fehler, das Ganze in Zusammenhang mit Bespitzelung zu bringen. Schließlich war sie ja Bürgerin Dawinnos und zudem die Tochter des Häuptlings und des Chronisten. Und sie besaß ja wirklich einige, wenn auch minimale Kenntnisse in der Hjjk-Sprache, und das war mehr, als sonstwer hier von sich behaupten durfte. Warum sollte sie also nicht als Dolmetsch fungieren, freudig und stolz darauf, daß sie ihrer Stadt dienen konnte? Es bedeutete doch schließlich nicht, daß sie Taniane und dem Präsidium jedes einzelne Wort aus den Gesprächen mit Kundalimon wiederholen mußte. Oder daß sie ihr gesamtes Wissen über die Hjjks ihrer Inquisition preiszugeben hatte. Sie konnte sorgsam auswählen, konnte sich in ihrem Bericht recht leicht auf die Kernpunkte des Vertragsangebotes beschränken. Doch der Gedanke war so schrecklich gewesen, daß man sie peinlich über alles ausquetschen könnte, was sie über das NEST und seine Herrscherin wußte. Es hatte Nialli mit Entsetzen erfüllt, daß man den Schutzpanzer ihrer Intimsphäre durchbrechen könnte, hinter dem sie sich nun fast vier Jahre lang versteckt hatte. Sie gedachte diesen Schutz höchstselbst abzulegen, und zwar wenn und wann sie die rechte Zeit für gekommen hielt. Die Vorstellung, die anderen könnten sie vorzeitig dieses Schirms berauben, ehe sie dazu bereit war, erfüllt sie dennoch mit Entsetzen. Vielleicht eine Überreaktion? Vielleicht.

Sie hielt sich im Nakhaba-Haus nur kurz auf, um Kundalimons Mittagsmahl zu holen. Heute hatte sie ein gekochtes Vimbor-Lendenstück für ihn. Meistens brachte sie ihm Gerichte aus der Hjjkküche: Saatkörner und Nüsse, Dörrfleisch, nicht mit reichen, üppigen Saucen. Doch sie setzte ihn auch ab und zu behutsam der Verführung der herzhafteren völkischen Kochkunst aus, immer nur jeweils ein, zwei kleine Häppchen. Auch Essen konnte als sprachhelfende Kommunikation dienen, und die gemeinsam eingenommenen Mahlzeiten förderten ihren gegenseitigen Lernprozeß.

Einmal — es war das dritte-, viertemal, daß sie ihm sein Essen brachte — hatte er lange Zeit nachdenklich einen Mundvoll Nüsse und Früchte gekaut, ohne zu schlucken, und dann schließlich einen Teil davon in seine Hand gespuckt. Den Brei hatte er ihr dann entgegengehalten. Niallis erste Reaktion war Verblüffung und Ekel. Doch er hielt ihr weiterhin drängelnd die Handvoll feuchten Brei hin und nickte und deutete dabei unablässig.

„Was ist das?“ hatte sie benommen gefragt. „Ist was nicht in Ordnung damit?“

„Kein. Essen. Du. Nialli Apuilana?“

Sie begriff noch immer nicht und starrte ihn an.

„Nehmen. nehmen.“

Und dann fiel es ihr plötzlich wieder ein. Im NEST teilten die Hjjks halbverdaute Nahrung die ganze Zeit miteinander. Zum Zeichen der Solidarität, der Nest-Bindung und vielleicht noch einiges mehr, das in einem Zusammenhang stand mit dem Nahrungsmetabolismus im Körper der Hjjks, was sie jedoch nicht verstand. Aber sie erinnerte sich jetzt daran, wie ihre Nestgefährten einander vorgekauten Nahrungsbrei aufgedrängt hatten. Dieses Teilen der Nahrung war etwas ganz allgemein Selbstverständliches unter ihnen.

Zögernd hatte sie angenommen, was Kundalimon ihr darbot. Er lächelte und nickte heftig. Sie zwang sich, etwas davon zu essen, obschon alles in ihr sich instinktiv dagegen wehrte. „Ja“, sagte er. „O ja!“…

Sie kämpfte ihre Übelkeit nieder und schluckte. Er schien sich zu freuen.

Pantomimisch hatte er sie dann aufgefordert, etwas von der mitgebrachten VOLKS-Speise zu nehmen, es ihm nachzutun und ihrerseits ihn zu füttern. Sie nahm eine gebratene Gilandrin-Keule und biß hinein, und nachdem sie eine Weile daran herumgekaut hatte, holte sie den ganzen Fleischpfropfen aus dem Mund, verbarg möglichst ihre Befangenheit und reichte ihn Kundalimon.

Er probierte zurückhaltend. Das Fleisch selbst schien ihm irgendwie nicht geheuer; doch ganz sichtlich freute es ihn, daß sie es zuerst im Mund gehabt hatte. Sie spürte die Wärme und Dankbarkeit, die von ihm zu ihr herüberflutete. Es war beinahe, als befände sie sich wieder im Nestverband.

„Mehr“, forderte er.

Und so gelang es ihr — weil sie bereit war, seine Hjjk-Bräuche anzunehmen — schrittweise, sein Nahrungsspektrum zu erweitern. Und sobald ihm bewußt geworden war, daß die Gerichte, die Nialli ihm brachte, nicht schädlich für ihn waren, aß er sie mit Genuß. Auf seinen Knochen wuchs ein wenig Fleisch nach, sein dunkler Pelz war dichter und hatte sogar einigen Glanz bekommen. Und die seltsamen-grünen Augen wirkten nicht länger so hart und eisig.

Also — eine Art Kommunikation.

Er blieb zwar scheu und zurückhaltend, doch schien er sich über ihre Besuche zu freuen. Hatte er sich vielleicht inzwischen ausgerechnet, daß auch sie einst im NEST gelebt hatte? Manchmal hatte Nialli den Eindruck; aber sie konnte noch nicht sicher sein. Der verbale Kontakt zwischen ihnen war noch immer sehr ungenau. Kundalimon hatte ein Dutzend Stadtwörter aufgeschnappt, und Nialli war dabei, ihre Hjjkkenntnisse aufzufrischen. Doch noch waren Vokabelkenntnisse und Begriffszusammenhänge zwei verschiedene Dinge.

Lerne seine Sprache oder lehre ihn, die unsere zu sprechen! So lautete Tanianes Befehle, und das ließ keine Ausflüchte zu. Und beeil dich damit. Und dann sagst du uns, was du herausbekommst.

Den ersten Teil der Order gedachte Nialli jedenfalls exakt zu befolgen. Und sobald Kundalimon und sie sich geläufig verständigen konnten, sie sich besser kannten, er vielleicht mehr Vertrauen zu ihr hatte, würde er mit ihr vielleicht über NEST-Angelegenheiten sprechen: über KÖNIGINliebe, DENKERgedanken, den EIplan und alle jene anderen derartigen Dinge, die im Kern ihrer Seele warteten. Taniane brauchte von alledem nichts zu erfahren. Das übrige, dieses Vertragsangebot, die diplomatischen Verhandlungen, o ja, was ich darüber in Erfahrung bringe, werde ich ihr gern mitteilen, dachte Nialli. Aber kein Wort über das Tiefere, über das wirklich Wichtige.

Sie stieg in den wartenden Xlendiwagen.

„Und nun zum Mueri-Haus!“ befahl sie dem Fahrer.


In der prachtvollen Villa des Prinzen Thu-Kimnibol im Südwestquadranten der Stadt hatten sich wieder die Heilkundigen am Lager der Edlen Naarinta versammelt. Es war die fünfte Nacht der laufenden Bemühungen. Die Lady war seit vielen Monden schon krank und versank mehr und mehr in immer tiefere Schwächezustände. Nun jedoch näherte sie sich der kritischen Phase.

In dieser Nacht hielt Thu-Kimnibol in dem schmalen Vorraum zum Krankenzimmer Wache. Die Heiler hatten ihm untersagt, näher an die Kranke heranzukommen.

In dieser Nacht war nur Frauen der Zutritt zu Naarintas Gemach gestattet. Die Düfte von Medizinen und aromatischen Kräutern hingen in der Luft. Aber auch der Geruch des nahenden Todes machte sich dort breit.

Sein Sensororgan bebte im Bewußtsein des gewaltigen Verlustes, der auf Thu-Kimnibol zuraste.

Im Krankenzimmer saß die Opferfrau Boldirinthe neben Naarinta. Wann immer man zauberische Sprüche und Tränke brauchte, wenn die Himmlische Fünffaltigkeit angerufen werden mußte, hievte die feiste alte Boldirinthe ihren massigen Leib in ein Vehikel und begab sich dienstbeflissen an Ort und Stelle. Die alte Fashinatanda, die Patin des Häuptlings — so blind gebrechlich sie war —, verpaßte gleichfalls kaum je eine Gelegenheit, sich am Sterbebett von Schwerkranken eifernd einzufinden. Dann war da auch noch so ein bengischer Kräuterdoktor, ein verhutzeltes Weiblein mit einem rostfleckigen mit dunklen Federn verzierten Helm. Und zwei, drei andere Weiber, die er nicht zu erkennen vermochte. Sie brabbelten und summten mit stumpfen Stimmen leise durcheinander.

Thu-Kimnibol wandte sich ab. Er brachte es einfach nicht mehr über sich, zuzuhören. Es klang mehr wie eine Totenklage.

Im Gang draußen waren Bündel von Purpurblumen mit dunkelroten Stielen aufgestellt wie Tempelgaben. Ihr penetranter Duft ließ ihn schniefen, niesen und husten. Er eilte hastig vorbei und zu dem weiträumigen hochgewölbten Raum, der ihm als Audienzzimmer diente. Dort in trübem Licht erwartete ein Grüppchen von Männern: Maliton Diveri, Staip, Si-Belimnion, Kartafirain und Chomrik Hamadel. Seine Spieß- und Spielfährten und langjährigen Freunde. Sie drängten sich um ihn, rissen Witze und ließen einen gewaltigen Weinballon kreisen. Es war nicht der Moment, eine Trauermiene aufzusetzen.

„Auf glücklichere Tage!“ sagte Si-Belimnion und ließ den Wein in seinem Becher kreisen. „Die der Vergangenheit und die, die noch kommen werden.“

„Glücklichere Tage“, respondierte Chomrik Hamadel. Er stammte aus bengischem Fürstenblut und war ein kleinwüchsiger Mann mit stumpfem Gesicht und stechenden Scharlachaugen. Er trank heftig, wobei er den Kopf so stark in den Nacken warf, daß ihm beinahe der Helm davongeflogen wäre.

Maliton Diveri und Kartafirain schlossen sich dem Toast grinsend und mit lautem Becherklirren an. Zwei grobschlächtige Kerle, der eine kurz, der andere lang. Nur Staip blieb still. Er war älter als die anderen, was teilweise seine Zurückhaltung erklärte; doch er war auch Boldirinthes Partner, und zweifellos hatte diese ihm gesagt, wie gering die Hoffnung war, daß Naarinta am Leben bleiben würde. Und Staip hatte Verstellung noch nie gelegen: soldatische Schlichtheit, das war sein Stil.

Thu-Kimnibol nahm sich einen Becher, hielt ihn Maliton Diveri zum Füllen hin und sprach: „Glücklichere Tage, ja. Glück und Wohlstand uns allen — und auf die rasche Genesung meiner Gemahlin!“

„Glück und Wohlstand! Rasche Genesung!“

Fünfzehn Jahre war es her, seit er sein Leben mit Naarinta teilte. Er war ihr begegnet, als er gerade erst aus dem Norden in die Stadt gekommen war, die sein Halbbruder Hresh errichtet hatte, um sich hier niederzulassen, und er und Naarinta waren seitdem unzertrennlich gewesen. Sie stammte von den Debethin, war eine Häuptlingstochter — zweifellos nicht gerade eine rühmliche Linie, wenn man bedachte, daß nur noch ganze vierzehn Debenthins noch am Leben waren, als nach unseliger Wanderung von Osten her der ‚Stamm‘ um Einbürgerung in Dawinno bat; dennoch — ein Häuptling war nun einmal ein Häuptling. Naarinta war hochgewachsen und graziös und strahlte eine stille Kraft aus. Sie waren ein großartiges Paar, fast hätte man sie majestätisch nennen können: Thu-Kimnibol, groß wie ein Turm, und seine stattliche Dame. Die Götter hatten ihnen Kindersegen versagt, was für ihn der tiefste Schmerz war; doch hatte er sich durchaus mit Naarinta allein zufrieden gegeben. Sie teilte seine Mühewaltungen, war die Gefährtin seiner Tage. Und dann war sie von dieser verzehrenden Krankheit befallen worden, von diesem unbegreiflich schrecklichen Ratschluß der HIMMLISCHEN, gegen den es anscheinend keinen Einspruch gab.

Chomrik Hamadel fragte: „Gibt’s was Neues, Thu-Kimnibol?“

„Sie ist sehr schwach. Aber ich bin ja kein Arzt.“

„Ich meinte eigentlich, über diesen Gesandten von den Hjjks“, sagte Chomrik Hamadel hastig. „Ich hab gehört, sie haben ihn im Mueri-Haus eingelocht, und Tanianes Tochter rennt jeden Tag zu ihm hin. Aber was ist eigentlich los? Worum geht es überhaupt bei diesem Besuch von einem vom Wanzenvolk?“

„Sie wollen über einen Friedensvertrag verhandeln, soweit ich informiert bin“, sagte Kartafirain lachend. Er war ein großer silberpelziger Mann aus der Koshmar-Linie und ragte Thu-Kimnibol fast bis in Schulterhöhe, und er war von Natur aus jovial, aber streitsüchtig. Sein Erzeuger war der Kriegsmann Thhrouk gewesen. „Frieden? Ja, wer sind die denn, daß die von Frieden reden dürften? Die wissen ja nicht einmal, was das Wort bedeutet!“

„Vielleicht hat Hresh das ja mißverstanden“, sagte Si-Belimnion und kratzte sich an den Fettwülsten unter seinem dichten graublauen Fell. Ein reicher Mann, dieser Si-Belimnion, und sehr wohlgenährt. „Vielleicht bringt der junge Mann uns ja nicht eine Friedensbotschaft, sondern die Kriegserklärung. Hresh wird allmählich ganz schön alt, wenn ihr meine Meinung hören wollt.“

„Ja, das geht uns allen so“, erwiderte Chomrik Hamadel. „Aber willst du damit sagen, Hresh kann nicht mehr zwischen Frieden und Krieg unterscheiden? Er hat den Wunderstein genommen und damit das Hirn des jungen Mannes erforscht, hat mir Curabayn Bangkea gesagt. Man muß dem Heiligen Stein, und was er sagt, trauen.“

„Ein Friedensvertrag“, sagte Maliton Diveri und schüttelte bedenklich den Kopf. „Und das mit den Hjjks! Was werden wir tun? Unsre Stirn in den Staub pressen und den Göttern für solche Gnadenfülle danken, nehme ich an!“

„Selbstverständlich“, erwiderte Thu-Kimnibol scharf. „Und dann schwänzeln wir los und kleben unsre Sigille unter diesen Vertrag. Ich werde zuerst unterschreiben, wenn sie mich lassen. Wir müssen doch unsere tiefe Dankbarkeit zum Ausdruck bringen. Für die Freundlichkeit der Wanzlinge! Daß sie sich dazu herablassen, uns im Besitz unsrer eigenen Stadt zu lassen, soweit ich informiert bin, und sogar vielleicht noch etlicher Morgen Agrarnutzland vor der Stadt.“

„Sind das die Vertragsbedingungen?“ fragte Si-Belimnion. „Ich habe da was für uns viel Günstigeres gehört. Daß die Hjjks sich von Vengiboneeza fernhalten werden, vorausgesetzt, wir streben keine Expansion an über.“

„Wie es auch aussehen wird“, sagte Kartafirain plump, „wir werden dabei die Verlierer sein. Darauf könnt ihr eure Ohren wetten — und eure Sensororgane dazu. Wenn das Präsidium tagt, müssen wir in der Debatte diese Geschichte abschmettern.“

„Und wann passiert das?“ fragte Chomrik Hamadel.

„In einer Woche, zehn Tagen, vielleicht schon eher. Während Tanianes Tochter diesen Kundalimon versorgt, soll sie ihn in seiner Sprache über die Einzelheiten des Vertrags aushorchen. Die kann ja bekanntlich dieses Kauderwelsch verstehen. Die hat sie gelernt, als sie selber unter den Wanzen gelebt hat. Dann sagt sie Taniane, was sie herausgekriegt hat, und dann kommt das alles vors Präsidium und wird in einer Generaldebatte.“

In diesem Moment verließ Staip, der die ganze Zeit keinen Laut von sich gegeben hatte, plötzlich den Raum. Und zwar mit hochgerecktem Sensor. Es hatte den Anschein, als sei der altehrenwerte Krieger einem Ruf gefolgt, den keiner außer ihm hören konnte. Es breitete sich eine peinliche Stille aus.

Nach einer Weile brachte Kartafirain mühsam das Gespräch wieder in Gang. „Ich kann überhaupt keinen Nutzen darin erkennen, wenn man Nialli Apuilana in die Geschichte involviert.“ Er schaute Thu-Kimnibol an. „Was kann sie denn schon im Idealfall bewirken?“

„Warum sagst du sowas?“

„Weil sie so. anders ist. Lieber Freund, du weißt doch viel besser als einer von uns, was für ein Typ sie ist. Glaubst du, es ist wahrscheinlich, daß sie was Brauchbares herausfindet? Und wenn, daß sie es uns sagt? Hat sich dieses Mädchen jemals zur Kooperation mit irgendwem bereitgefunden? Hat sie auch nur eine Silbe darüber preisgegeben, was zwischen ihr und diesen Hjjks vorgefallen ist, als sie dort Gefangene war?“

Thu-Kimnibol sagte: „So sei doch ein bißchen großmütiger. Sie ist intelligent und nimmt das Leben ernst. Und sie ist kein kleines Mädchen. Durchaus zur Wandlung und Veränderung fähig. Vielleicht bewirkt ja diese Ankunft des Gesandten, daß sich in ihr so etwas wie Verantwortungsgefühl gegenüber der Stadt entwickelt, oder doch wenigstens gegenüber ihrer eigenen Familie. Und wenn überhaupt jemand aus diesem Fremden aus dem Norden für uns nützliche Informationen herausholen kann, dann sie. Außerdem.“

Er brach mitten im Satz ab. Staip war zurückgekehrt. Er stakte straff herein, und der Ausdruck auf seinem Gesicht war ernst. Leise sagte er zu Thu-Kimnibol: „Boldirinthe würde dich gern sprechen.“

Die Opferpriesterin war aus dem Krankenzimmer gekommen und wartete im Vorzimmer. Boldirinthes gewaltige Fleischmassen quollen über die Ränder eines geflochtenen Rohrsessels, dem es sichtlich schwerfiel, die Last zu tragen. Sie machte eine Andeutung, als wolle sie sich erheben, aber es blieb bei der Geste, und sie sank sofort wieder tief in den Sitz, sobald Thu-Kimnibol ihr mit einer Bewegung bedeutet hatte, sie möge Platz behalten. Sie wirkte bedrückt, und dies war atypisch für sie, denn normalerweise sprudelte sie über von Lebensfreude und Fröhlichkeit — sogar in Zeiten äußerster Düsternis.

„Also — es geht zu Ende?“ fragte Thu-Kimnibol ohne Umschweife.

„Ja. Sehr bald. Die Götter rufen sie zu sich.“

„Und du kannst nichts tun?“

„Alles, was möglich war, wurde getan. Das weißt du doch. Aber gegen den Willen der Fünffaltigkeit sind wir machtlos.“

„Ja. Das sind wir wohl.“ Er nahm die Hand der Opferpriesterin zwischen seine beiden Hände. Nun, da die Entscheidung klar war, fühlte er sich ruhig und gelassen. Er verspürte einen unklaren Drang, Boldirinthe dafür zu trösten, daß sie in ihrem Bemühen, ein Leben zu retten, gescheitert war, und dies, während sie ihrerseits ihm Trost zuzusprechen versuchte. Einen Augenblick lang schwiegen sie beide. Dann fragte er: „Wie lang noch?“

„Du solltest — jetzt Abschied nehmen“, sagte Boldirinthe. „Später ist es vielleicht zu spät.“

Er nickte. Dann ging er in das Gemach, in dem Naarinta lag. Sie wirkte gefaßt, und seltsamerweise sah sie unglaublich schön aus, als habe das lange Leiden jede kleinste fleischliche Unklarheit aus ihr herausgebrannt. Ihre Augen waren geschlossen, und ihr Atem ging sehr schwach, doch sie war noch immer bei Bewußtsein. Die alte Blinde, diese Fashinatanda, hockte an ihrem Bett und salbaderte vor sich hin. Als er in den Raum trat, unterbrach sie ihre Litanei, stand auf und verließ lautlos das Sterbezimmer.

Dann sprach er kurz mit Naarinta; aber was sie sprach, war wolkigunklar, und er wußte nicht, ob sie etwas von dem begriff, was er zu ihr sagte. Und dann schwiegen sie beide. Es sah so aus, als hätte sie schon mehr als den halben Weg in die nächste Welt hinter sich gebracht. Und dann sah Thu-Kimnibol, wie die überirdische Schönheit von ihr zu schwinden begann, je näher der letzte Augenblick kam. Leise sprach er weiter zu ihr, sagte ihr, was sie ihm bedeutete. Er hielt ihre Hand fest und fest, so lange, bis es zu Ende war. Dann küßte er sie auf die Wange. Das Fell dort schien bereits so seltsam anders, war nicht mehr so weich wie früher. Ein Schluchzer (aber nur einer) stieg ihm in die Kehle und brach sich Bahn über die Lippen. Er war erstaunt, daß seine Reaktionen nicht heftiger waren. Doch der Schmerz war wirklich und trotzdem sehr tief.

Er ging dann. Zurück in das Audienzzimmer, wo seine Freunde stumm in einem kleinen engen Kreis zusammenstanden. Er überragte sie, breit wie eine hohe Mauer. Er fühlte sich auf einmal abgesetzt, isoliert von ihnen, abgeschnitten durch den schmerzlichen Verlust und den Mantel der Einsamkeit, der ihn umhüllte. Dieser abrupte Einbruch in ein Leben, das bisher von Glückseligkeit und Erfolg gekennzeichnet gewesen war und offenkundig ausgezeichnet durch die Gunst der Götter. Er fühlte sich wie ausgehöhlt, aber er begriff, daß diese seltsame Gelassenheit, die nun über ihn gekommen war, nur auf seine Erschöpfung zurückzuführen sei. Dann überwältigte ihn das starke Gefühl, daß sein bisheriges Leben jetzt, heute, mit dem Tod von Naarinta beendet war, daß nun auch er eine Verwandlung durchlaufen müsse — zu einer Wiedergeburt. Doch. wiedergeboren werden zu was? In was?

Er verdrängte diese Ideen vorläufig. Später war genug Raum, dieses frische Leben in das leere Gefäß seiner Seele strömen zu lassen.

„Sie ist von mir gegangen“, sagte er schlicht. „Kartafirain, schenk mir noch Wein nach! Und dann. Laßt uns ein Weilchen hier sitzen und über Politik plaudern, oder über die Jagd. oder über die freundlichen Absichten der Hjjks. Doch zuerst den Wein, Kartafirain. Wenn du so freundlich sein magst.“


Hresh sprach zuerst bei der Feier, er sprach die Worte, die er oft genug bereits gesprochen hatte: die Tröstungen Dawinnos. Daß Tod und Leben zwei Hälften einer Ganzheit seien, denn alles, was lebt, entsteht aus allem, was einst lebendig war, doch nun nicht mehr ist, und muß seinerseits sein Leben dahingehen, auf daß neues Leben entstehe. Danach sprach Boldirinthe das Totengebet. Auch Taniane sagte ein paar ruhige Sätze. Dann legte Thu-Kimnibol, der den Leib Naarintas wie eine Puppe in den Armen hielt, das in Tücher gehüllte Bündel auf den Scheiterhaufen. Die Flammen verschlangen sie, und in der lodernden Helle entschwand sie den Blicken.

Danach kehrte die Trauergesellschaft vom Ort der Toten in die Stadt zurück. Taniane und Hresh fuhren zusammen in der Staatskarosse des Häuptlings. „Ich habe eine siebentägige Volkstrauer angeordnet“, erklärte sie ihm. „Damit gewinnen wir etwas Zeit, über die Hjjk-Pläne nachzudenken, bevor wir damit vor das Präsidium gehen müssen.“

„Die Hjjks, ach ja“, sagte Hresh leise. „Das Präsidium.“

Er war im Geiste noch bei Thu-Kimnibol und Naarinta. Was Taniane gerade gesagt hatte, erschien ihm zunächst wie ein sinnleeres Geräusch, blecherne, bedeutungslose Worthülsen, die wie aus weiter Ferne zu ihm drangen. Präsidium? Hjjks? Ach ja? Die Hjjk-Pläne. Was war das? Die Hjjks. Hjjks. Hjjks. Er fühlte wieder das fremdartige Wispern in seinem Bewußtsein, wie so oft, wenn Gedanken an die Hjjks auftauchten. Das Rascheln von Borstenkrallen. Die klickenden gewaltigen Schnäbel.

Sie brach heftig in seine Gedanken ein. „Wo wanderst du jetzt wieder herum, Hresh?“

„Wie?“

„Du wirkst auf einmal, als wärst du auf der anderen Seite des Mondes.“

„Äh. Was sagtest du gerade, meine Liebe?“ Er blickte sie verständnislos an.

„Ich sprach von den Hjjks. Von ihrem Vertragsangebot. Ich muß wissen, wie du darüber denkst, Hresh. Können wir uns wirklich darauf einlassen? Daß uns die Hjjks in unsrer eigenen kleinen Provinz isolieren? Wir von der restlichen Welt ganz abgeschnitten sind?“

„Das ist unvorstellbar, gewiß“, antwortete Hresh „Eben. Doch du scheinst das Ganze recht gelassen zu nehmen. Als wäre es für dich überhaupt nicht wichtig.“

„Müssen wir denn gerade jetzt darüber sprechen, Taniane? Heute ist ein Tag der Trübsal. Ich habe gerade gesehen, wie mein Bruder seine geliebte Gefährtin auf den Scheiterhaufen gelegt hat.“

Sie schien steif zu werden. „Bei der Himmlischen Fünffaltigkeit, Hresh, wir sehen sie doch alle, einen nach dem anderen ins Feuer gehen! Und eines Tages sind dann wir an der Reihe, und es wird kaum so fein und nett werden, wie du das in deinem kleinen Sermon immer predigst! Aber die Toten sind nun einmal tot, und wir sind noch da, und wir müssen mit Bergen von Problemen fertigwerden. Hresh, an diesem Vertragsangebot — es ist wohl eher die Forderung eines Friedensabkommens — ist lichts harmlos oder freundschaftsbereit. Es muß sich um ein Manöver in einem größeren Spiel handeln, das wir bisher noch nicht begreifen können. Wenn wir unterschreiben.“

„Taniane. bitte!“

Sie ignorierte ihn. „. so wäre das wirklich unvorstellbar leichtfertig. Genau, wie du sagst. Die wollen uns drei Viertel der Welt abnehmen, unter dem Vorwand, mit uns einen Friedensvertrag zu schließen, und du willst dazu nicht einmal deine Stimme erheben?“

Nach einer Weile sagte er: „Du weißt genau, daß ich einer Unterwerfung unter die Hjjks niemals zustimmen werde. Doch ehe ich öffentlich Stellung beziehen kann, brauche ich mehr Informationen. Die Hjjks sind mir völlig rätselhaft. Wie übrigens allen anderen auch. Und unsere Ignoranz beeinflußt uns in der Art und Weise, wie wir ihnen begegnen. Was sind sie wirklich? Übergroße Ameisen? Ein gigantischer Haufen seelenloser Wanzen oder Käfer? Wenn sie nur das wären, wie hätten sie dann Teile der Großen Welt bilden können? Möglich, daß sich hinter ihnen weit mehr verbirgt, als wir ahnen. Und ich will das eben wissen!“

„Du willst immer bloß wissen! Aber wie willst du zu diesem Wissen kommen? Du hast dein ganzes Leben damit zugebracht, alles zu studieren, was es in dieser Welt jemals gegeben hat — und in den Welten davor. Und nach alledem hast du nichts Besseres zu sagen, als daß dir die Hjjks ein völliges Rätsel sind!“

„Vielleicht wird Nialli.“

„Ja, Nialli. Ich habe ihr befohlen, mit dem Gesandten zu sprechen und mir alles zu hinterbringen, was sie herausfinden kann. Aber wird sie das auch tun? Was glaubst du? Wer könnte das sagen? Sie verbirgt sich hinter einer Maske, dieses dein Kind. Sie ist noch viel rätselhafter als die Hjjks selber!“

„Nialli ist ein schwieriger Mensch, zugegeben. Aber ich bin überzeugt, daß sie uns in dieser Sache enorm helfen wird.“

„Möglich“, sagte Taniane, aber es klang nicht sehr überzeugt.


Im Stadtzentrum: die vertrauten Bereiche des Hauses des Wissens. Ein guter Zufluchtsort an einem schwierigen Tag. Hresh stieß in einem der Erdgeschoßlabors auf seine Assistenten, Chupitain Stuld und Plor Killivash, die über einigen Fragmenten brüteten. Sein Erscheinen überraschte sie. „Wirst du denn heute hier arbeiten?“ fragte Plor. „Wir haben geglaubt.“

„Nein. Ich arbeite heute nicht“, sagte Hresh. „Ich will bloß hier sein. Oben. Und ich möchte nicht gestört werden.“

Das Haus des Wissens war ein schlanker weißer Turm wie ein Speer; kaum einen Steinwurf im Durchmesser, aber viele Stockwerke hoch. Überhaupt das höchste Bauwerk in der Stadt. In den engen Rundgalerien hatte Hresh die Früchte lebenslanger Forschungsarbeit niedergelegt, und sie stiegen nach oben zu immer schmaler werdend wie eine große, sich an die Innenwandung des Turmes schmiegende Schlange empor. Auf der Spitze umgab eine Schutzwehr einen obersten Umgang, der so wie ein hocherhabener Balkon war. Von dort aus vermochte Hresh fast in jeden Winkel der großen Stadt zu blicken, die er geträumt und geplant und schließlich verwirklicht hatte.

Es wehte ein warmer Wind träge herein. Hresh hielt in seiner Rechten eine kleine silbrige Kugel, die er vor langer Zeit in den Ruinen von Vengiboneeza gefunden hatte. Mit ihrer Hilfe hatte er einstmals Visionen der vergangenen Hochzeiten der Großen Welt heraufbeschwören können. In der linken Hand ruhte ein ähnlicher, aber goldenbronzefarbener Ball. Es war das Zentralkontrollinstrument für die Großwelt-Baumaschinen, die er benutzt hatte, um Dawinno an einem Ort zu bauen, an dem es vordem nichts weiter gab als Sümpfe und Marschen und tropischen Wald.

Sowohl die silbrige wie die goldbronzene Kugel waren seit langem leergebrannt. Sie waren für Hresh — und jeden sonst — wertlos geworden. Durch ihre durchlässige Hülle konnte Hresh den blinkenden Quecksilberkern und die schwärzlichen Korrosionsflecken erkennen.

Er hielt die zwei toten Instrumente in Händen, und Großweltgedanken tauchten in seinem Gehirn auf. Ein heftiger Neid auf die Angehörigen jener verschwundenen Ära überkam ihn. Wie gefestigt ihre Welt gewesen sein mußte, wie geruhsam und heiter! Die unterschiedlichen Teile jener grandiosen Zivilisation hatten ineinandergegriffen wie das Räderwerk eines von den Göttern entworfenen Instrumentes. Saphiräugige und Menschliche, Hjjks und Seelords, Vegetabilische und Mechanische — sie alle hatten harmonisch und vereint zusammengelebt, und es war Zwietracht unter ihnen unbekannt. Ganz gewiß, dies mußte das all erseligste Zeitalter gewesen sein, das der Welt jemals beschert gewesen war.

Dennoch war da ein Paradoxon; denn die Große Welt war zum Untergang bestimmt, und ihre Völker hatten im Bewußtsein des drohenden Untergangs Millionen Jahre lang weitergelebt. Aber — wie konnten sie dabei glücklich sein?

Na ja, dachte Hresh, eine Million Jahre, das ist ja ganz schön lange. Die Leute in der Großen Welt müssen ja eigentlich eine Menge Spaß gehabt haben — unterwegs zu dem unausweichlichen Untergang. Dagegen besitzt unsre Welt die fragwürdige Gefährdetheit des Neugeborenen. Nichts ist noch gesichert, nichts hat feste Fundamente, und wir haben keine Garantie, daß unsere noch unflügge Zivilisation eine Million Stunden, oder auch nur eine Million Minuten dauern wird.

Düstere Vorstellungen. Er müht sich, sie beiseite zu schieben.

Von der Brüstung aus schaute er über Dawinno hinaus. Die Nacht begann sich herabzusenken. Die verschwindenden purpurnen und grünen Wirbelschleier des Sonnenuntergangs im westlichen Firmament begannen zu verblassen. In der Stadt flammten da und dort die Lichter auf. Es war eine sehr großartige Stadt, gewiß, soweit man dies von Städten des Neuen Frühlings sagen konnte. Und dennoch, an diesem Abend wirkte alles an ihr irgendwie traumhaft und ungreifbar. Die Bauten, die er so lange für majestätisch gehalten hatte, kamen ihm auf einmal vor, als wären sie weiter nichts als leere Fassaden, über Holzstreben gespannte Kulissen aus Papiermache. Alles nur eine Schein-Stadt, dachte er schließlich niedergeschlagen. Sie hatten in allem nur improvisiert, alles so aussehen lassen, wie sie geglaubt hatten, daß es aussehen müsse. Aber war das auf die richtige Weise geschehen? Hatten sie überhaupt irgend etwas richtig gemacht?

Schluß damit, befiehlt er sich.

Er schloß die Augen, und fast sofort tauchte Vengiboneeza wieder vor ihm auf, das Vengiboneeza aus der Zeit, in der es die lebenspulsierende Metropole der Großen Welt gewesen war. Die gewaltigen schimmernden Türme, die geschäftigen Hafenkais und Werften, die wimmelnden Märkte, und Angehörige von sechs drastisch verschiedenen Rassen, die friedsam nebeneinander lebten; die blitzenden Sternenschiffe, die von fernen Planetensystemen zurückkehrten und Ladungen mit fremdartigen Geschöpfen und unbekannten Gütern brachten. Wie grandios war das alles, wie üppig, wie reich und vielfältig, wie gewaltig die hereinkommenden Ideenströme. der Zufluß an dichterischem, an philosophischem Potential, an Träumen und Planen, an unermeßlicher Vitalität.

Die vielfältige Schönheit überwältigte ihn momentan, wie dies stets der Fall gewesen war. Aber es dauerte nicht, und er fand sich wieder in seiner Trübsal gefangen.

Wie klein wir doch sind, denkt Hresh mit Bitterkeit. Was für einen kläglichen Abklatsch verschwundener Größe haben wir da geschaffen! Und sind noch dermaßen stolz darauf! Dabei haben wir in Wahrheit so wenig getan — wir haben nur nachgeahmt — als die Affen, die wir ja sind. Und nachgeahmt habe wir den Schein, nicht die Substanz. Und auch das könnten wir im kurzen Zittern eines Lidschlags verlieren.

Eine dunkle Nacht heute. Abgründig dunkel. Mond und Gestirne leuchten, wie sie es immer tun. Aber in deinem Innern tiefste Finsternis, nicht wahr, Hresh? Du hast einen Mantel über deine Seele gebreitet. Stolperst in erstarrter Schwärze tapsig umher, wie?

Der Gedanke durchfuhr ihn, er solle die nutzlosen Kugeln über die Brüstung werfen. Doch nein. Nein! So ausgebrannt sie sein mochten, sie konnten noch immer verlorene Welten in seinen Gedanken wachrufen. Sie waren Talismane, genau. Und sie würden ihn aus dieser Trostlosigkeit hinausführen. Er streichelt die seidigglatten Hüllen, und die unendliche Vergangenheit tut sich vor ihm auf. Und schließlich befreit er sich ein wenig aus seinem erdrückenden, erstickenden lautlos schreienden Elendsgefühl, in das er eingetaucht war. Dann kehrt auch bald die rechte Perspektive zurück. Heute, gestern, vorgestern, was bedeutet das schon angesichts des unermeßlichen Bogens der Zeit? Er trägt das Bewußtsein von Millionen Jahren geschichtlicher Vergangenheit in sich: nicht nur der Schichten der Großen Welt, sondern einer noch älteren Welt, von verschwundenen Reichen, vergessenen Königen, ausgestorbenen Geschöpfen; einer Welt, in der es noch kein VOLK gab, nicht einmal die Hjjks oder die Saphiräugigen, sondern nur die Menschen. Und vielleicht könnte es ja davor noch wieder eine andere Welt gegeben haben, auch wenn einem davon das Hirn schwindlig wird. Welten um Welten, und eine jede erwächst und blüht und verfällt und geht zugrunde: So ist eben der Wille der Götter, daß nichts vollkommen sein und nichts für immer und ewig dauern soll. Und was, wenn nicht dies, hätten ihn all seine historischen Forschungen lehren sollen? Eigentlich lag in dieser Erkenntnis auch eine starke Tröstung.

Sein ganzes Leben hindurch hatte er die Welt in sich hineingefressen, ihre bestürzenden Wunder hungrig aufgesogen. Als er noch klein war, hatten sie ihm den Spitznamen ‚Hresh-der-ewige-Fragegeist‘ gegeben. In hahnenstolzer Überheblichkeit hatte er sich später umbenannt — zu ‚Hresh-der-die-Antwort-weiß‘. Auch dies traf zu. Aber der Kindheitsname war dennoch der Wahrheit näher gewesen. In jeder Antwort verborgen liegt bereits die nächste Frage und bohrt und drängt.

Seine Gedanken schweifen zurück zu seinem achten Lebensjahr, zu einem Tag in der Zeit vor der ‚Zeit des Auszugs‘, als er sich durch die Luke des Kokons geschlichen hatte, um zu sehen, was da draußen war.

Wohin war dieser Knabe jetzt entschwunden? Nun, er war noch immer da. Ein wenig abgeschabt und zerschlissen zwar, aber immer noch Hresh, der unentwegt fragt. Torlyri, die liebreizende sanfte Opferfrau, hatte ihn damals erwischt. Ach, sie war schon seit langem tot. Fast fünfzig Jahre war das nun her. Wäre sie nicht gewesen, auch Hresh wäre seit langem schon tot und ebenfalls längst vergessen. — wenn sie nach ihrem Frühgebet die Luke wieder hinter sich geschlossen hätte, wäre er bis zum Einbruch der Nacht von den Rattenwölfen gefressen, oder von den Hjjks verschleppt worden, oder er wäre einfach in der eisigen Kälte, die damals herrschte, elendig erfroren.

Doch Torlyri hatte ihn am Bein erwischt und ihn zurückgerissen, als er über den Sims in die freie Welt zu klettern versuchte. Und als Häuptling Koshmar ihn für sein Sakrileg zum Tode verurteilt hatte, war Torlyri es gewesen, die sich erfolgreich für ihn eingesetzt hatte.

Wie lang war das her, wie weit, weit lag das zurück. Heute erscheint es ihm wie ein ganz anderes Leben. Oder wie eine ganz andere Welt.

Doch trotz allem gab es Kontinuität. Dieses unstillbare Verlangen, zu sehen, zu tun, zu lernen, war nie von Hresh gewichen. Du willst immer bloß wissen, hatte Taniane gesagt.

Er zuckte die Achseln. Und er ging hinein und legte die beiden Kugeln auf seinen Arbeitstisch. Das Dunkel drohte ihn erneut zu verschlingen.

Der Raum hier war sein Privatgemach. Niemand sonst hatte hier Zutritt. Hier bewahrte er den Barak Dayir auf und die anderen Weissagungsinstrumente, die von seinen Vorgängern auf ihn gekommen waren. Auch seine Manuskripte lagerten hier: Essays über die Vergangenheit. Meditationen über den Sinn des Lebens, über die Bestimmung des VOLKES. Er hatte die Historie von der Größe und dem Niedergang der Rasse der Saphiraugen niedergeschrieben, so gut er sie eben verstand. Er hatte über die Menschlichen geschrieben, die ihm sogar noch größere Rätsel aufgaben. Und er hatte auch Spekulationen über das Wesen der Götter angestellt.

Niemals hatte er einem ändern etwas von diesen Niederschriften zu lesen gegeben. Manchmal überkam ihn die Furcht, sie könnten vielleicht nichts weiter sein als ein Haufen hochgestochenen überkandidelten Unsinns. Und oft hatte er auch schon erwogen, das alles zu verbrennen. Warum auch nicht? Warum nicht diese toten Seiten den Flammen übergeben, so wie Thu-Kimnibol vor ein paar Stunden den Körper Naarintas ins Feuer gelegt hatte?

„Du wirst gar nichts verbrennen“, kam eine Stimme aus dem Schattendunkel. „Du hast nicht das Recht, Erkenntnis zu vernichten.“

Oft kamen ihm in den allerdunkelsten Stunden Visionen — manchmal war es Thaggoran, der alte, längst tote Thaggoran, sein direkter Vorgänger als Chronist; manchmal war es der Weise Alte Mann Noum om Beng vom Volk der Helmträger; manchmal sogar einer der Götter. Hresh bezweifelte solche Visionen niemals. Sie mochten sehr wohl Produkte seiner Einbildung sein, aber er wußte genau, sie sagten stets nur die Wahrheit.

Also sagte er jetzt zu Thaggoran: „Aber ist es wirkliche Erkenntnis? Was, wenn ich hier nur einen Berg von Lügen kompiliert habe?“

„Du weißt doch gar nicht, was Lügen heißt, Junge. Irrtümer können dir unterlaufen, möglich. Aber lügen, das wirst du niemals. Also verschone deine Bücher. Und schreibe weitere. Erhalte das Vergangene für die, die nach dir kommen werden.“

„Das Vergangene! Wozu soll das gut sein? Die Vergangenheit ist doch bloß eine Bürde!“

„Was plapperst du da, Knabe?“

„Es ist sinnlos, nach rückwärts zu schauen. Das Vergangene ist fort und dahin. Kann nicht bewahrt werden. Es entgleitet uns mit jeder Stunde unseres Hierseins. Und fort damit, den Himmlischen sei Dank! Die Zukunft, das ist es, woran wir denken müssen.“

„Nein“, sagt Thaggoran. „Die Vergangenheit ist der Spiegel, in dem wir erkennen können, was kommen wird. Das weißt du doch. Hast es stets gewußt! Was plagt dich denn heute mal wieder, mein Kleiner?“

„Ich war heute auf der Stätte der Toten und habe zugesehen, wie die Gefährtin meines Bruders zu Staub und Asche wurde.“

Thaggoran lacht dazu. „Ganze Welten sind zu Staub und Asche geworden. Neue Welten sind aus ihnen erstanden. Wie so muß ich dich eigentlich an derart einfache Dinge erinnern? Genau das hast du doch gerade heute vor ein paar Stunden den anderen auf dem Totenplatz gesagt.“

„Ja“, sagt Hresh und schämt sich auf einmal. „Ja, das habe ich zu ihnen gesagt.“

„Und ist es nicht der Wille der Götter, daß aus Leben Tod wird und aus dem Toten neues Leben?“

„Ja. Aber.“

„Aber. — nichts! Die Götter beschließen, und wir fügen uns ihrem Beschluß.“

„Die Götter verspotten uns“, sagt Hresh.

„Ach, meinst du wirklich?“ sagt Thaggoran ungerührt.

„Die Götter überhäuften die Große Welt mit Glückseligkeit über alles Begreifen — und schleuderten dann die Todessterne auf sie. Würdest du das nicht einen üblen Hohn bezeichnen? Und dann holten die Götter uns aus dem Langen Winter heraus und setzten uns in die Erbschaft der Welt, obwohl wir ein absolutes Nichts sind. Ist nicht auch dies übler Hohn und Spott?“

„Die Götter spotten unser niemals“, sagt Thaggoran. „Sie sind jenseits unseres Begriffsvermögens. Aber ich will dir eines sagen: Was die Götter beschließen, das tun sie aus guten, weisen Gründen. Ihre Wege sind geheimnisvoll und rätselhaft für uns, doch sie sind niemals bloße Bosheit und Launenhaftigkeit.“

„Ach, wenn ich das nur glauben könnte?“

„Aber, Kleiner“, sagt Thaggoran, „was sonst bleibt dir denn, woran du glauben könntest?“

Glauben, ach ja. Die letzte Zuflucht für den Verzweifelnden. Hresh ist bereit, das gelten zu lassen. Und er ist inzwischen auch beinahe besänftigt. Doch selbst, wo es um Glaubenssachen geht, klammert er sich noch immer an die Logik. Was der Alte ihm begreiflich zu machen versucht, befriedigt ihn nicht restlos, und er sagt:

„Dann sag mir doch — wenn wir schon die Beherrscher der Welt sein sollen, wie uns das in unseren alten Schriften gelobt wird —, wieso haben dann die Götter uns mit der beglückenden Gegenwart der Hjjks beschenkt, die unsere Widersacher sind? Angenommen, die Hjjks sägen uns ab, noch ehe wir wirklich haben wachsen können? Wo bleibt dann der weise Plan der Götter, Thaggoran? Das erklär du mir mal!“

Es kam keine Antwort. Thaggoran war verschwunden. Sofern er jemals dagewesen war.

Hresh glitt in seinen altvertrauten abgenutzten Sessel und legte die Hände auf das glatte Holz seines Arbeitstisches. Seine Vision hatte ihn nicht ganz so weit geführt, wie es nötig gewesen wäre, doch ihren Zweck hatte sie dennoch erfüllt. Seine innere Gestimmtheit war irgendwie verändert. Vergangenheit, Zukunft — alles beides in Dunkelheit gehüllt. Alles undurchdringlich, dachte er. Und im Schutz der Gedankenfinsternis findet die Verzweiflung gute Schlupfwinkel, um dort zu lauern. Dann jedoch fragte er sich: Aber ist das Ganze denn wirklich so übel? Was sonst sollte das Künftige sein als ein dunkles Unbekanntes? Und das Vergangene? Wir leuchten mit unsern schwachen Erkenntnisfunzeln hinein und versuchen es mangelhaft zu erhellen, und was wir daraus lernen können, leitet irgendwie weiter in das zweite gewaltige Unbekannte. Also ist unser Wissen für uns Trost und Schutz zugleich.

Aber ich weiß doch so wenig, dachte Hresh. Und ich muß so sehr viel mehr wissen. (Immer willst du nur wissen... wie Taniane gesagt hatte.)

Ja. Ja. Und JA! Ich will wissen!

Auch jetzt noch. Auch wo ich so müde bin. Auch jetzt noch!


„Wir haben deine Herkunft in den Registern im Haus des Wissens ausfindig gemacht“, erklärte Nialli Kundalimon. „Du bist tatsächlich hier geboren. Im Jahr 30. Also bist du jetzt siebzehn. Ich bin 31 geboren. Verstehst du?“

„Ich verstehe“, sagte er und lächelte. Vielleicht tat er das ja wirklich. Ein bißchen.

„Deine Mutter war Marsalforn, dein Vater war Ramla.“

„Marsalforn. Ramla.“

„Du wurdest 35 von den Hjjks entführt. So steht es im Stadtregister. Geraubt von einem Überfallkommando dicht vor den Mauern der Stadt. Genau wie ich. Marsalforn verschwand spurlos, als sie nach dir in den Bergen suchte. Ihre Leiche hat man nie entdeckt. Dein Vater verließ kurz darauf die Stadt, und niemand weiß, wo er sich jetzt aufhält.“

„Marsalforn“, wiederholte Kundalimon. „Ramla.“ Das übrige Informationsmaterial, das sie ihm zu übermitteln versucht hatte, schien für ihn keinen Sinn zu ergeben.

„Begreifst du, was ich mit dir vorhabe?“ fragte sie mit leiser, eindringlicher Stimme und rückte mit ihrem Gesicht dem seinen ganz nahe. „Ich will mit dir über das Leben im NEST sprechen. Ich will, daß du mir das alles wieder richtig leibhaft nahebringst. Wie es roch, die Farben, die Klänge. Was der Nest-Denker sagt. Ob du jemals mit dem Heer marschiert bist, oder ob du in der Ei-Produktion zurückbleiben mußtest. Ob sie dich jemals in die Nähe der Königin gelassen haben. Ich will alles wissen. Alles.“

„Marsalforn“, wiederholte er. „Mutter. Vater. Ramla. Marsalforn ist Ramla. Mutter ist Vater.“

„Du kapierst wirklich nicht viel von dem, was ich sage, was? Was, Kundalimon?“

Er lächelte. Es war das wärmste Lächeln, das ihr bisher von ihm zuteilgeworden war. Wie die Sonne, die durch eine Wolkenformation bricht. Aber er schüttelte den Kopf.

Sie mußte etwas anderes versuchen. So dauerte es zu lange.

Ihr Herz begann zu hämmern.

„Wir sollten am besten tvinnern“, sagte sie in plötzlicher Kühnheit.

Wußte er, was das bedeutete? Nein. Er gab keine Reaktion von sich, sondern behielt nur dieses starre Lächeln bei.

„Tvinnern — ich will mit dir tvinnern, Kundalimon. Was das ist, weißt du auch nicht? Tvinnr. Das tun wir vom VOLK mit unseren Sensoren. Weißt du überhaupt, was das ist, ein Sensororgan? Das Ding da, das bei dir da hinten herunterhängt wie ein Schwanz. Ich nehme an, es ist ein Schwanz. Aber eben viel mehr als ein Schwanz. Es steckt voller Rezeptoren, die durch dein Rückgrat direkt mit deinem Gehirn verbunden sind.“

Er lächelte immer noch. Lächelte und begriff anscheinend gar nichts.

Sie gab nicht auf. „Dieses Gefühlsorgan benutzen wir unter anderem auch dazu, um mit anderen Geschöpfen Kontakt aufzunehmen. Einen tiefen, starken und intimen Kontakt von Bewußtsein zu Bewußtsein. Vor unserem dreizehnten Lebensjahr dürfen wir das nicht einmal versuchsweise probieren, aber dann zeigt uns die Opferfrau, wie es geht, und dann dürfen wir uns selber Tvinnr-Partner suchen.“

Er starrte sie nichtverstehend an. Schüttelte den Kopf.

Sie griff nach seiner Hand. „Alle zwei Personen können Tvinnr-Partner werden — ein Mann und eine Frau, ein Mann und ein Mann, eine Frau und eine Frau, jeder. Es hat nichts mit Partnerbindung und Kopulation zu tun, begreifst du. Es ist eine Vereinigung der Seelen. Man tvinnert mit jedem, dessen Seele man teilen möchte.“

„Tvinnr“, sagte er und lächelte sogar noch mehr.

„Tvinnr, ja. Ich hab es erst einmal gemacht — als ich dreizehn war, verstehst du? — mit Boldirinthe, der Opferfrau. Seitdem — nie wieder. Hier interessiert mich niemand in dieser Beziehung. Aber wenn ich mit dir tvinnern könnte, Kundalimon.“

„Tvinnern?“

„Wir würden zu einem Kontakt gelangen, wie wir ihn in unserem ganzen Leben bisher nicht gekannt haben. Wir könnten NestWahrheiten miteinander teilen, und wir brauchten dazu nicht einmal die Sprache des anderen zu sprechen, denn die Tvinnr-Verständigung ist jenseits bloßer Worte.“ Sie blickte über die Schulter, um zu sehen, ob die Tür verriegelt sei. Sie war. Auf einmal fühlte sich Nialli wie von einem Fieber gepackt. Ihr Pelz war feucht, ihre Brüste hoben und senkten sich hastig. Ihr eigener Körperduft stieg ihr penetrant und süßlichscharf in die Nüstern, der Gestank eines Tieres.

Vielleicht würde er allmählich begreifen.

Vorsichtig richtete sie ihren Sensor auf, stülpte ihn vor und ließ ihn sacht über den seinen gleiten.

Einen kurzen Moment lang war der Kontakt da. Es war wie ein Blitzschlag. Mit erstaunlicher Klarheit fühlte sie seine Seele: ein glattes fahles Pergament, auf dem in einer dunklen, kühnen, unvertrauten Handschrift seltsame Texte geschrieben waren. Sie waren voll von einer großen Zärtlichkeit und Süße und — Fremdheit. Das dunkle klösterliche Mysterium des Nests war in allem spürbar. Aber er war für Nialli offen und zutiefst verletzlich, und es würde nicht schwierig werden, den Tvinnr-Prozeß zu vollenden und ihrer beider Bewußtheiten in höchster Intimität zu verknüpfen. Erleichterung, Freude, ja sogar beinahe etwas wie Liebe strömte durch Niallis Seele.

Dann jedoch, nach diesem ersten überwältigenden Augenblick, entriß er ihr sein Sensororgan, zerbrach den Berührungskontakt abrupt und schneidend schmerzhaft. Er stieß einen scharfen brüchigen Laut aus, halb ein Knurren und halb das insektenhafte Zirpen der Hjjks, und schlug blindlings mit beiden Armen gleichzeitig auf sie ein, genau wie ein Hjjk es getan hätte. Seine Augen funkelten in wilder Panik. Dann sprang er nach rückwärts, kauerte sich in Abwehrhaltung in einen Winkel, fest gegen die Wand gepreßt, und keuchte vor Abscheu und Entsetzen. Sein Gesicht war eine in Furcht und Schock erstarrte Maske: die Nüstern gebläht, die Lippen waren scharf zurückgezogen und gaben beide Reihen der gebleckten Zähne frei.

Mit weiten Augen starrte Nialli Apuilana ihn an. Sie war entsetzt über das, was sie angerichtet hatte.

„Kundalimon?“

„Nein! Weg! Nein.“

„Ich wollte dich doch nicht erschrecken. Nur.“

„Nicht! Nein!“

Er hatte zu zittern begonnen und klickte unverständliche Hjjk-Worte vor sich hin. Nialli streckte ihm die Arme entgegen, doch er schreckte vor ihr zurück und preßte sich nur noch fester an die Wand. Beschämt und beklommen ergriff sie schließlich die Flucht.


„Kommst du irgendwie voran?“ fragte Taniane.

Nialli reagierte mit einem hastigen unbehaglichen Blick. „Ein bißchen. Nicht so rasch, wie ich gern möchte.“

„Kann er unsere Sprache schon sprechen?“

„Er lernt noch.“ „Und die Hjjk-Wörter? Erinnerst du dich jetzt wieder an sie?“

„Wir benutzen keine Hjjk-Wörter“, sagte Nialli mit gedämpfter Stimme heiser. „Er bemüht sich, das NEST hinter sich zu lassen. Er will wieder fleischlich werden.“

„Fleisch?“ sagte Taniane. Die seltsame Wortwahl ihrer Tochter ließ ihr ein Schaudern über den Rücken laufen. „Du meinst, er will wieder Teil des VOLKS sein?“

„Genau das meinte ich, ja.“

Taniane beugte sich vor, um schärfer zu sehen. Wie stets wünschte sie sich, sie könnte hinter diese Maske blicken, hinter der ihre Tochter ihre Seele vor ihr verbarg. Zum millionstenmal fragte sie sich, was mit Nialli geschehen sein mochte während jener Monde, die sie in dem geheimnisvollen Labyrinth des NESTES unter der Erde zugebracht hatte.

„Und der Vertrag?“ sagte sie.

„Nicht ein einziges Wort. Noch nicht. Wir verstehen uns noch nicht gut genug, als daß wir mehr als ganz simple Dinge behandeln könnten.“

„Das Präsidium tritt nächste Woche zusammen.“

„Ich arbeite, so rasch wie ich kann, Mutter. So schnell, wie er mitmacht. Ich habe die Sache zu beschleunigen versucht, aber da gab es — Probleme.“

„Was für welche?“

„Eben Probleme“, wiederholte Nialli und wendete den Blick ab. „Ach, laß mich doch zufrieden, Mutter! Glaubst du wirklich, sowas ist leicht?“


Drei Tage lang brachte sie es nicht über sich, zu ihm zu gehen. An ihrer Stelle schickte man einen Mann der Wache mit dem Essen. Dann ging sie doch wieder selbst und brachte ihm ein Tablett mit eßbaren Samenkörnern und den kleinen rötlichen Insekten, die man ‚Rubine‘ nannte. Sie hatte die Nahrung persönlich am Morgen auf den kargen dürren Nordwesthängen der Berge gesammelt. Wortlos und scheu bot sie ihm die Nahrung dar. Er nahm ihr das Tablett ebenso stumm aus den Händen und fiel darüber her, als hätte er seit Wochen nichts mehr gegessen, und schaufelte die rötlichen kleinen Kadaver beidhändig in sich hinein.

Danach blickte er auf und lächelte. Jedoch bewahrte er während der ganzen Visite dieses Tages Nialli gegenüber eine vorsichtige Distanz.

Sie hatte also keinen unheilbaren Schaden angerichtet. Dennoch würde es einige Zeit dauern, bis der Riß verheilte. Der Tvinnr-Versuch war zu kühn, zu überstürzt erfolgt, das wußte sie. Vielleicht begriff er ja auch kaum, was sein Sensororgan überhaupt war. Vielleicht war diese flüchtige intimste Berührung zwischen ihnen beiden eine zu heftige Empfindung für ihn, der unter Wesen herangewachsen war, deren Emotionen sich auf ganz andere Weise ausdrückten; vielleicht war auch sein bereits instabiles Gefühl, zu welcher Rasse er wirklich gehörte, dabei erschüttert worden.

Er sah in sich selbst wohl einen Hjjk in der Körper-Gestalt eines Fleischlings, dachte Nialli. Und dann mußte eine derartige Intimität mit einer Person der Fleischlingsrasse als widerwärtig und obszön erscheinen. Und doch, etwas in ihm war ihr liebevoll und eifrig entgegengeströmt. Etwas in ihm hatte danach verlangt, daß sich ihrer beider Seelen ineinander stürzten und eins würden. Dessen war sie ganz sicher. Doch vor dem Akt selbst war er bei allem Verlangen zurückgeschreckt, und er hatte sich in schmerzhafter Verwirrung zurückgezogen.

An diesem Tag blieb sie nur kurz bei ihm und mühte sich, die Sprachbarriere zu durchbrechen. Sie ging mit ihm ihren knappen Wortschatz der Hjjk-Sprache durch, nannte ihm die Entsprechungen in der Sprache des VOLKS und nahm Gesten und Zeichnungen dabei zuhilfe. Und Kundalimon schien wirklich Fortschritte zu machen. Sie fühlte, daß ihn die Unfähigkeit, sich ihr verständlich zu machen, zutiefst frustrierte. Es gab da Dinge, die er zu sagen wünschte, Ergänzungen der Botschaft, die Hresh ihm mit Hilfe des Barak Dayir entlockt hatte. Aber er vermochte ihnen nicht Ausdruck zu verleihen.

Kurz erwog sie, ob sie mittels des Zweiten Gesichts zu ihm vorstoßen solle. Dies war de nächstbeste Kontaktmöglichkeit nach dem Tvinnr. Sie könnte ihre seelischen Visionen senden und seine Seele damit zu berühren versuchen.

Doch höchstwahrscheinlich würde Kundalimon den Versuch wahrnehmen und ihn als erneuten Angriff, als erneute Grenzverletzung seiner innersten Seelenbereiche verstehen: als beleidigend, beängstigend, genau wie bei ihrem Tvinnr-Versuch. Nein, das durfte sie nicht wagen. Ihre Beziehung mußte langsamer neu aufgebaut werden.

„Also, was kannst du uns sagen?“ fragte Taniane sie am Abend. Brüsk, ohne Umschweife sofort bei der Sache, Business as usual, ganz Häuptlingstil, kein bißchen Mutter. Das war sie sowieso fast nie, eine Mutter. „Habt ihr endlich über den Vertrag zu sprechen begonnen?“

„Er verfügt noch immer nicht über das ausreichende Vokabular.“ Sie sah den Argwohn in Tanianes Blick aufkeimen, und in ihrer Bedrängnis fragte sie: „Glaubst du nicht, daß ich mich wirklich bemüht habe, Mutter?“

„Doch. Ja, ich glaube schon, Nialli.“

„Aber ich kann keine Wunder bewirken. Ich bin nicht wie mein Vater.“

„Nein“, antwortete Taniane. „Natürlich nicht.“

Am Abend der Präsidialsitzung, zur sechsten Stunde nach Mittag, begannen sich die Führer Dawinnos in ihrem noblen Sitzungssaal mit den dunklen geschwungenen Deckenbalken und den granitenen Wänden zu versammeln.

Taniane nahm ihren Platz an dem hohen spiegelblanken Tisch aus rotem Ksultholz unter der großen Spirale ein, welche Nakhaba, die Beng-Gottheit, und die Fünf Götter des Koshmar-Stammes in Himmlischer Verschlungenheit symbolisierte. Hresh saß zu ihrer Linken. Auf den geschwungenen Bankreihen vor ihnen nahmen die verschiedenen Prinzen der Stadt ihre Plätze ein.

In der ersten Reihe die drei Prinzen der Justiz: der quicke elegante Husathirn Mueri neben dem massiven Thu-Kimnibol, der trübselig noch immer in den rotgeflammten Umhang und die Binde der Trauer gekleidet war, und der Beng Puit Kjai, steif und gestrafft daneben. Dann kam Chomrik Hamadel, Sohn des letzten unabhängigen Beng-Häuptlings vor der Vereinigung. Auf der Bankreihe dahinter saßen der Krieger-Veteran Staip und seine Gefährtin, die Opferfrau Boldirinthe, und Simthala Honginda, ihr ältester Sohn, mit seiner Gefährtin Catiriil, die Husathirn Mueris Schwester war. Um sie her ein halbes Dutzend der wohlhabenden Kaufleute und Manufakturbesitzer, die einen Sitz im Präsidialgremium ergattert hatten, und verschiedene Angehörige der Adelsfamilien, die Häupter einiger der Gründerfamilien der Stadt: Si-Belimnion, Maliton Diveri, Kartafirain, Lespar Thone. Gestalten von geringerer Bedeutung — Vertreter der kleineren Stämme und der Handwerker-Gilden saßen in der hintersten Reihe.

Alles trug Umhänge und Festkleidung. Und alle trugen auch grandiosen Helmschmuck, wie es dem Formzwang des offiziellen Anlasses entsprach: ein Sammelsurium raffiniertester, absurdester Kopfzier überall in dem weiten Saal. Der Helm von Chomrik Hamadel überstrahlte alle anderen ohne Schwierigkeit an Auffälligkeit: ein hochgetürmtes Agglomerat aus Metall und funkelnden Juwelen, das sich über seinem Kopf zu einem unmöglichen Gebirge türmte. Nur Puit Kjai, der einen Helm aus Kupferbronze mit gewaltigen nach vorn und hinten ausladenden Silberzacken balancierte, übertraf ihn noch um etliches.

Es kam nicht gerade überraschend, daß diese Beng-Prinzen sich dermaßen aufgetakelt hier zur Schau stellten. Schließlich waren die Bengs ja die ursprünglichen ‚Behelmten‘. Auch war es kaum verblüffend, daß Husathirn Mueri, der ja ein Halb-Beng war, sich mit einem mächtigen goldenen Kuppelhelm mit scharlachroten Stacheln herausgeschmückt hatte.

Aber sogar die reinblütigen Koshmaris — Thu-Kimnibol, Kartafirain, Staip, Boldirinthe — hatten sich ihren prachtvollsten Kopfschmuck aufgesetzt. Und was noch ungewöhnlicher war, Hresh, der vielleicht alle fünf Jahre einmal einen Kopfhelm aufsetzte, trug jetzt ebenfalls einen, eine kleine, raffiniert aus dunklen rauhen Fasersträngen geflochtene und von einem einzelnen Goldband gefaßte Angelegenheit. Aber ein Helm war es eben doch.

Einzig Taniane war unbehelmt. Dafür aber lag auf dem Präsidialtisch neben ihr eine der bizarren alten Masken der früheren Häuptlinge, die sonst an der Wand ihres Arbeitszimmers hingen.

Als die für die Versammlung anberaumte Stunde schlug und ereignislos weiter verstrich, sagte Husathirn Mueri: „Worauf warten wir denn noch?“

Thu-Kimnibol schien dies zu amüsieren. „Hast du es denn dermaßen eilig, lieber Vetter?“

„Aber wir sitzen hier schon stundenlang herum und warten.“

„Ach, das sieht nur so aus“, sagte Thu-Kimnibol. „Im Kokon haben wir viel länger warten müssen, ehe wir den Auszug wagen durften. Siebenhundertmal tausend Jahre, waren es nicht so viele? Das hier ist doch nur ein Augenzwinkern.“

Husathirn Mueri grinste säuerlich und wandte den Blick ab.

Und dann stürzte überraschend Nialli Apuilana herein, atemlos und mit ganz unordentlicher Mantilla und Schärpe.

Sie sah aus, als wäre sie bestürzt, daß sie auf einmal an diesem Ort war. Sie blinzelte, rang nach Luft und starrte eine ganze Weile die versammelten Notablen in unverhohlener Ehrfurcht an. Dann huschte sie zu einem freien Sitz in der vordersten Bankreihe neben Puit Kjai.

„Sie?“ sagte Husathirn Mueri. „Auf die haben wir die ganze Zeit gewartet? Das verstehe ich nicht.“

„Still, Gevatter!“

„Aber.“

„So sei doch still!“ wiederholte Thu-Kimnibol beißender.

Taniane erhob sich und strich mit den Händen sacht über die Häuptlingsmaske vor ihr. „Nun können wir beginnen. Dies ist die abschließende Sitzung mit Beschlußfassung bezüglich eines Vertragsvorschlages über bilaterale Anerkennung territorialer Ansprüche, den die Hjjks unterbreitet haben. Ich rufe als ersten Redner auf: Hresh-den-Chronisten.“

Der Chronist erhob sich langsam.

Er räusperte sich, blickte sich im Saal um, ließ den Blick auf diesem und jenem Hochwohlgeborenen eindringlich ruhen und sagte schließlich: „Ich möchte mit der Rekapitulation der Bedingungen dieses Vertragsangebots der Hjjk beginnen, wie ich sie vermittels des Barak Dayir aus dem Bewußtsein des hjjkischen Emissärs Kundalimon eruiert habe.“ Er hielt ein breites glattes gelbliches Pergament in die Höhe, auf dem in kräftigen braunen Linien eine Landkarte gezeichnet war. „Hier unten ist die Stadt Dawinno, wo das kontinentale Land sich zum Meer hinausstülpt. Hier ist die Stadt Yissou, nördlich von uns. Und hier, jenseits von Yissou, liegt Vengiboneeza. Alles, was nördlich von Vengiboneeza liegt, ist unbestreitbares Hjjk-Gebiet.“

Hresh hielt inne und blickte erneut durch den Saal, als prüfte er die Anwesenheitsliste.

„Die Königin“, fuhr er sodann fort, „schlägt uns eine Demarkationslinie vor zwischen Vengiboneeza und Yissou, von der Küste des Meeres quer durch die Nordhälfte des Kontinents, vorbei an dem großen Zentralfluß, der einst als der Hallimalla bekannt war, und dann weiter bis zum Gestade des anderen Meeres, das unserer Überzeugung nach am östlichen Rand des Kontinents die Begrenzung bildet. Könnt ihr alle diese Demarkationslinie sehen?“

„Klar, wir sehen, wie die Linie verläuft!“ sagte Thu-Kimnibol.

Die scharlachrot gefleckten Augen des Chronisten begannen ärgerlich zu funkeln. „Natürlich. Ja, also sicher könnt ihr. Verzeih mir, Bruder.“ Und ein flüchtiges Pro-forma-Lächeln. „Aber weiter: Die Grenzlinie ist so angesetzt, daß die derzeitige Territorialaufteilung erhalten bleibt. Was die Hjjks jetzt in Besitz haben, soll für ewige Zeiten unbestritten ihnen gehören. Unser Teil gehört dann ebenfalls unstrittig uns. Die Königin bietet die Garantie an, sämtliche Hjjks unter Ihrem Regime — und, soweit ich es verstanden habe, herrscht die Königin über sämtliche Hjjks der ganzen Welt — per Dekret am Betreten des VOLKSTerritoriums zu hindern, es sei denn, es geschehe durch unsere ausdrückliche Einladung und mit unserer Billigung. Und kein Angehöriger des VOLKES soll ohne Erlaubnis der Königin das Hjjk-Territorium nördlich von Yissou betreten.

Dies ist die erste Vertragsbedingung. Aber es gibt weitere.

Erstens bietet die Königin uns ‚spirituelle Leitung‘ an; also etwa Unterweisung in Glaubenskonzepten, die vage als ‚Nest-Wahrheit‘ und ‚Königin-Liebe‘ bekannt sind. Dabei scheint es sich um speziell hjjkische religionsphilosophische Ideen zu handeln. Wieso die Königin glaubt, daß diese für uns von Interesse sein könnten, vermag ich mir nicht vorzustellen. Jedenfalls wird vorgeschlagen, daß Spezialberater und Instruktoren der Nest-Wahrheit und Königin-Liebe bei uns in der Stadt — also, in sämtlichen Sieben Städten — sich niederlassen und uns die wahren Grundsätze dieser Konzepte lehren sollen.“

„Das kann doch wohl nur ein Witz sein!“ blökte Kartafirain. „Hjjk-Missionare, hier mitten unter uns, die uns ihr verrücktes Blahblah vorsabbern? Hjjk-Agenten, das würde ich sagen. Und mitten in unsrer Stadt! Glaubt denn die Königin, wir sind wirklich so blöd?“

„Das ist nicht alles“, sagte Hresh unbeirrt, hob aber die Hand zum Zeichen, daß er Gehör wünschte. „Es gibt eine weitere Vertragsklausel der Königin, nämlich daß wir uns auf die derzeit von uns besetzten Territorien beschränken werden. Das bedeutet einen dauernden Verzicht auf unser Recht, auf irgendwelche andere Kontinente vorzustoßen, sei es zu reinen Forschungszwecken oder um dort tatsächlich Siedlungen zu errichten.“

„Was?“ Diesmal kam der ungläubige Zwischenruf von Si-Belimnion. „Absurd!“ sagte Maliton Diveri und fuchtelte wütend mit dem Arm. Und Lespar Thone stieß eine Kaskade von perlendem Gelächter aus.

Hresh wirkte leicht bestürzt. Taniane rief den Saal zur Ordnung. Als der Lärm sich gelegt hatte, blickte sie den Chronisten an und sprach: „Hresh, du hast noch immer das Wort. Ist dies der vollständige Bericht über die Vertragsbedingungen?“

„Ja.“

„Also, was hältst du von dem Ganzen?“

„Ich bin in einem Zwiespalt. Einerseits räumt man uns die unbestrittenen Besitzrechte an dem wärmsten und fruchtbarsten Teil des Kontinents ein. Und wir wären für immer frei von den Gefahren und Zerstörungen eines Krieges.“

„Vorausgesetzt, die Hjjks halten sich an ihren Vertrag“, gab Thu-Kimnibol zu bedenken.

„Vorausgesetzt, sie tun dies, ja. Aber ich glaube, das werden sie. Sie gewinnen dabei sehr viel mehr als wir“, sagte Hresh. „Ich meine, indem sie uns von den anderen Kontinenten fernhalten. Natürlich haben wir nicht die geringste Ahnung davon, was es auf diesen Kontinenten gibt. Noch besitzen wir vorläufig die Mittel, um die gewaltigen Ozeane zu überwinden, die uns von ihnen trennen. Doch eines weiß ich: Es könnte dort Ruinenstädte aus der Großen Welt geben, und manche sind vielleicht ebenso voll von Schätzen wie einst Vengiboneeza.“ Wieder ließ er den Blick durch den Saal schweifen. „Damals, als wir noch in Vengiboneeza lebten“, fuhr er fort, „stieß ich auf ein Instrument, das mir die Vision aller vier Weltkontinente ermöglichte und aller Städte, die einst auf ihnen existierten: Städte mit Namen wie Mikkimord oder Tham oder Steenizale. Aller Wahrscheinlichkeit nach warten die Überreste dieser Städte auf uns, ebenso wie damals Vengiboneeza. Vielleicht liegen sie unter hunderttausendjährigem Schutt begraben, oder vielleicht haben Reparaturmaschinen, wie in Vengiboneeza, sie nahezu funktionsfähig erhalten. Ihr alle wißt, von welch hohem Nutzen die in Vengiboneeza gefundenen Instrumente für uns waren.

Nun, diese anderen antiken Städte — und ich hege nicht den geringsten Zweifel daran, daß es sie gibt — enthalten möglicherweise Dinge von noch größerem Wert. Wenn wir diesen Vertrag unterzeichnen, begeben wir uns auf immer des Rechts, nach ihnen zu forschen.“

„Aber was ist, wenn unsere Chancen, zu diesen Orten zu gelangen, ebenso groß sind, als wollten wir zum Mond schwimmen?“ fragte Puit Kjai. „Oder wenn wir sie tatsächlich erreichen, und die Götter allein mögen wissen, wie viele Leben das kosten mag, und es stellt sich heraus, daß es dort gar nichts gibt, was die Mühe lohnt? Ich sage, schenkt den Krempel den Hjjks, mitsamt den Wundern und allem andern. Der Vertrag da erlaubt uns, die Landstriche, die wir bereits in Besitz haben, unstrittig und risikolos zu behalten. Das scheint mir doch wirklich wichtiger.“

„Du hast nicht das Wort“, sagte Taniane scharf. „Noch spricht der Chronist.“ Sie sah Hresh an und fragte: „Ist es also die Überzeugung des Chronisten, daß wir das Vertragsangebot der Hjjks in Bausch und Bogen ablehnen sollten?“

Hresh starrte sie an, als bereite es ihm schwere Pein, eine dermaßen direkte Frage zu beantworten.

Nach einer Pause sagte er: „Den ersten Vertragspunkt, die Festlegung der Grenzen, kann ich akzeptieren. Den zweiten, die Entsendung von Lehrern der NEST-Wahrheit zu uns, verstehe ich ganz und gar nicht. Aber der dritte.“ Er schüttelte den Kopf. „Die Vorstellung, den Hjjks diese Schatzgruben für immer und alle Zeit zu überantworten, das gefällt mir überhaupt nicht.“

Taniane fragte: „Sollen wir also den Vertrag ratifizieren, Hresh, oder nicht?“

Er zuckte die Achseln. „Das muß das Präsidium entscheiden. Ich habe meinen Standpunkt dargelegt.“ Und er setzte sich.

Wieder entstand Unruhe und Gezeter. Alle redeten gleichzeitig durcheinander, und es war ein Gewirr von nickenden Helmen und wedelnden Armen.

„Die Vorsitzende hat das Wort!“ rief Taniane laut und hämmerte erneut auf den Hochtisch.

In den verebbenden Lärm des ungebärdigen Gremiums hinein sprach sie: „Wenn auch der Chronist zu keiner klaren Stellungnahme zu unserem strittigen Tagesordnungspunkt bereit ist, der Häuptling ist es sehr wohl!“

Sie beugte sich nach vorn und funkelte die Frontbänkler scharf an. Beiläufig, beinahe als sei ihr nicht bewußt, was sie tat, nahm sie die Häuptlingsmaske und drückte sie, das Gesicht zum Saal, an die Brust. Es war eine monströse, eine prachtvolle gelbe Maske mit schwarzer Spitze, einem gewaltigen grausamen Schnabel und gezackten Projektionen an den Kanten: beinahe eine Hjjk-Maske. Die Wirkung dabei war so, als nagte sich ein Hjjk aus ihrem Innern heraus und sei urplötzlich mit dem Kopf voraus auf ihrer Brust ans Licht gebrochen.

Schweigend stand sie da. Nur um einen Lidschlag zu lang. Das Gemurmel hob erneut an, und lautere Auseinandersetzungen brachen aus.

„Will die Versammlung mich jetzt reden lassen?“ schrie Taniane. Und dann mit zornbebender Stimme: „Laßt mich reden! Ich will reden!“

„Götter! Werdet ihr sie endlich reden lassen?“ brüllte Thu-Kimnibol mit Donnerstimme und richtete sich halbwegs zu seiner gigantischen Länge auf, und Augenblicke später wurde es still im Saal.

„Ich danke euch“, sagte Taniane mit wütendem Gesichtsausdruck. Ihre Finger glitten geschäftig über den Rand der Maske, die sie an die Brust gepreßt hielt. „Es gibt nur eine einzige Frage“, sprach sie, „mit der wir uns befassen müssen: Was bringt uns dieser Vertrag effektiv an Positivem, wenn wir dafür unseren Anspruch auf drei Viertel der Welt verschenken?“

„Frieden“, sagte Puit Kjai.

„Frieden? Wir haben Frieden. Die Hjjks sind für uns keine Bedrohung. Das einzige Mal, daß sie uns bekriegt haben, haben wir sie niedergemetzelt. Habt ihr das denn vergessen? Das war, als sie Yissou angriffen, die Harruel damals soeben erst gegründet hatte, und wir alle eilten ihm zu Hilfe. Du warst doch dabei, Staip, und du auch, Boldirinthe. Und Thu-Kimnibol — du warst damals nur ein Knabe, aber ich habe gesehen, wie du die Hjjks an jenem Tag zu Dutzenden niedergemacht hast, Seite an Seite mit deinem Vater Harruel. Als der Tag sich neigte, war das Feld übersät von den Gefallenen der Hjjks, und die Stadt war gerettet.“

„Es war aber Hresh, der sie geschlagen hat“, sagte Staip. „Mit seinem Zauberzeug, das er in der Großweltstadt gefunden hat. Das hat sie verschlungen. Ich war dort. Ich hab es gesehen.“

„Ja, das spielte teilweise eine Rolle“, konterte Taniane. „Aber nur zum Teil. Der Feind war nicht fähig, unseren Kriegern zu widerstehen. Wir hatten an jenem Tage nichts zu befürchten von den Hjjks. Wir brauchen sie auch heute nicht zu fürchten. Sie hängen da droben im Norden herum wie zornige summende Bienen, doch wir wissen, sie haben keine wirkliche Macht über uns. Sie sind abscheulich, gewiß. Es sind widerliche, abstoßende Kreaturen. Doch sie ziehen nicht länger in größerer Zahl auf Raubzüge aus. Hin und wieder dringt ein kleiner Spähtrupp ein, und das.“ — sie warf Nialli Apuilana einen bedeutungsvollen Blick zu — „bringt uns dann ab und zu Kummer und Leid. Doch sind derartige Vorfälle, Yissou sei Dank, immer seltener geworden. Wenn wir pro Jahr auf drei Hjjks in unserer Provinz stoßen, dann ist das bereits die Ausnahme. Also brauchen wir uns nicht in Angst und Schrecken vor ihnen zu winden. Gewiß, sie sind unsere Feinde, aber wir können ihnen standhalten, wann immer sie es wagen, uns herauszufordern. Wenn sie über uns herfallen, dann können und werden wir sie zurückschlagen! Warum also sollten wir ihnen gestatten, uns ein Vertragsdiktat aufzuzwingen? Hier und heute bieten sie uns großzügig an, daß wir unser eigenes Land behalten dürften, falls wir nur den Rest der Welt ihnen überlassen. Was ist denn dies für eine Offerte? Wer unter euch kann darin etwas Verdienstvolles sehen? Wer von euch sieht da einen Nutzen für uns?“

„Ich!“ sagte Puit Kjai.

Taniane nickte, Puit Kjai erhob sich und trat ans Rednerpult. Er war ein hagerer, kantiger, nicht mehr ganz junger Mann mit dem üppigen Goldpelz und den leuchtenden Sonnenuntergangsaugen des reinrassigen Beng. Er hatte die Nachfolge seines Vaters, des weisen verschrumpelten Noum om Beng als Hüter der Beng-Historie angetreten. Doch nach der Verschmelzung der Stämme hatte er seine Amtspflichten an Hresh abgetreten und statt dessen eine Stellung im Justizministerium übernommen. Er galt als ein stolzer, unbeugsamer Mann, der mit Leidenschaft einmal gefaßte Meinungen verfocht.

„Ich gehöre nicht zu jenen, die für feige Unterwürfigkeit und ängstliche Nachgiebigkeit plädieren“, begann er und machte eine kleine Wende, damit das Licht von oben besser auf seinen majestätischen Silber-Bronze-Helm falle und sich höchst effektvoll dort widerspiegele. „Ich bin vielmehr der Überzeugung — und die meisten unter euch teilen sie —, daß es unsere von der Vorsehung gewollte Bestimmung ist, daß wir eines Tages über die ganze Welt herrschen sollen. Und wie Hresh möchte auch ich nicht so beiläufig und leichtfertig per Unterschrift auf unser Recht verzichten, die Großweltstädte auf anderen Kontinenten zu erforschen. Doch ich glaube auch an die Vernunft. Und an die Klugheit.“ Er blickte kurz Taniane an. „Der Häuptling sagt, die Hjjks seien für uns keine Gefahr. Du sagst, die Krieger des Stammes Koshmar haben den Feind mit Leichtigkeit in der Schlacht von Yissou geschlagen. Nun, ich war in diesem Kampf nicht dabei. Aber ich habe ihn studiert, und ich kenne den Verlauf gut. Ich weiß, daß an jenem Tag viele Hjjks fielen — aber daß es auch zahlreiche Verluste auf Seiten des VOLKES gab, ja, daß sogar Harruel, König von Yissou, selbst den Heldentod starb. Und ich weiß ebenfalls, daß Staip wahr spricht, wenn er sagt, daß es der Zauber durch diesen Apparat aus der Großen Welt war, den Hresh gegen die Hjjks einsetzte, der an jenem Tag die Schlacht zugunsten des VOLKES entschied. Ohne diese Wunderwaffe hätten sie euch alle vernichtet. Ohne sie gäbe es heute keine Stadt Dawinno.“

„Lauter Lügen“, murmelte Thu-Kimnibol krächzend. „Bei der Heiligen Fünffaltigkeit! Ich war dort! Zauberei hatte mit unserem Sieg nichts zu schaffen. Wir haben heldenhaft gekämpft. Ich hab an dem Tag mehr Hjjks erschlagen, als der da je in seinem ganzen Leben gesehen hat! Und ich war ein bloßes Kind damals. Mein Name lautete da Samnibolon, und das war mein Knabenname. Wer wagt zu bestreiten, daß Samnibolon-Sohn-Harruels in jener Schlacht gekämpft hat?“

Puit Kjai fegte den lauten Ausbruch mit weiter Armgeste beiseite. „Die Zahl der Hjjks sind Millionen, wir dagegen sind selbst jetzt nur Tausende. Und ich habe mehr hjjkische Aggression erlebt als die meisten unter euch. Wie ihr wißt, bin ich Beng. Ich war unter denen, die nach dem Auszug des Koshmar-Stammes weiter in Vengiboneeza lebten. Ich ersuche euch, erinnert euch daran, daß wir die Stadt zehn Jahre lang ganz für uns hatten, dann kamen die Hjjks, zuerst fünfzig, danach hundertfünfzig und dann viele Hunderte, und dann waren es dermaßen viele, daß man sie nicht mehr zählen konnte. Sie wurden uns gegenüber nie tätlich, aber sie vertrieben uns dennoch — kraft ihrer großen Zahl. Und so ist es, wenn die Hjjks friedlich sind. Wenn sie es aber nicht sind. Nun, ihr, die ihr in Yissou gekämpft habt, erlebtet sie ja anders. Ihr habt sie zurückgeschlagen, gewiß. Doch beim nächstenmal, wenn es ihnen einfällt, uns zu bekriegen, haben wir ja vielleicht Hreshs Großweltwaffen nicht zur Verfügung.“

„Was meinst du also?“ fragte Taniane. „Daß wir sie bitten sollen, uns gnädig unser eigenes Land zu überlassen?“

„Ich sage, wir sollten diesen Vertrag ratifizieren — und Zeit gewinnen“, sagte Puit Kjai. „Durch den Vertrag sichern wir uns gegen eine Einmischung der Hjjks in unseren derzeitigen Territorien ab, bis wir stärker sind, stark genug, um uns gegen eine noch so starke Hjjk-Armee zur Wehr zu setzen. Und dann können wir noch immer an eine Gebietsexpansion denken. Dann können wir uns auch mit jenen anderen Kontinenten und den Wundern befassen, die sie möglicherweise bergen, die zu erreichen uns zum jetzigen Zeitpunkt sowieso die Mittel fehlen. Verträge können nämlich auch leicht gebrochen werden, wißt ihr? Wir schenken mit unserer Unterschrift nichts für ewig weg. Aber mit dem Vertrag handeln wir uns Zeit ein. Er hält uns die Hjjks von unserer Grenze fern.“

„Buh!“ brüllte Thu-Kimnibol. „Laß mich antworten, ja? Laß mich dazu ein, zwei Sachen sagen!“

„Hast du geendet, Puit Kjai?“ fragte Taniane. „Gibst du das Podium frei?“

Puit Kjai zuckte die Achseln und bedachte Thu-Kimnibol mit einem verächtlichen Blick. „Ja, ich kann auch gern abbrechen. Ich überlasse also den Platz dem Gott des Krieges.“

„Laßt mich durch!“ fauchte Thu-Kimnibol und drängte ungestüm aus der Sitzreihe, wobei er fast über Husathirn Mueris ausgestreckte Beine gestolpert wäre. Mit hastigem Wutgestampfe schoß er nach vorn, baute sich hinter dem Pult auf und klammerte sich mit beiden Pranken daran. Er war dermaßen riesig, daß das Pult wie ein Kindertischchen wirkte.

Das Trauercape umgab die massiven Schultern wie eine Corona aus Feuer. Heute war sein erstes öffentliches Erscheinen seit Naarintas Bestattung. Er wirkte deutlich verändert, betont reservierter, viel ernster, kaum noch der gemütliche unbekümmert polternde Kriegsmann. Mehreren war dies an diesem Tage bereits aufgefallen, und sie hatten Bemerkungen darüber gemacht. Er trug sichtlich an der Bürde seiner Stellung als einer der Prinzen der Stadt. Seine Augen wirkten dunkler und lagen tiefer in den Höhlen. Er betrachtete sich die Versammlung mit langsam schweifenden, suchenden Blicken.

Als er zu sprechen anhob, geschah dies in einem pompösen, höhnischüberheblichen Ton.

„Puit Kjai sagt, er ist kein Feigling. Puit Kjai sagt, er plädiert nur für Klugheit. Aber wer soll ihm das glauben können? Wir wissen doch alle, was Puit Kjai wirklich damit zum Ausdruck bringt: Daß ihm bei dem bloßen Gedanken an die Hjjks vor Angst die morschen Knochen schlottern. Daß er sich in Alptraumvisionen suhlt, wie sie in gewaltigen Horden vor den Mauern unserer Stadt darauf lauern, hereinzubrechen und ihn — ihn, den einzigartigen, den unersetzlichen Puit Kjai (unwichtig, was mit dem Rest von uns anderen passiert) zu winzigkleinen Fetzchen zerfleischen. Am Morgen wacht er in kalten Schweiß gebadet auf und sieht Hjjk-Soldaten über seinem Bett schweben, die sich gleich daranmachen werden, ihm Fetzen Fleisch aus seinem Leib zu beißen und sie zu fressen. Um mehr geht es ihm, dem Puit Kjai, wahrhaftig nicht. Nämlich darum, einen Vertrag, ein Stück Papier, zu unterzeichnen, durch das die schrecklichen Hjjks in sicherer Entfernung gehalten werden. solange er selbst noch lebt. Ist dem nicht so? Ich frage euch: Ist es nicht wirklich so?“

Seine Stimme schallte widerhallend durch den Saal. Er wölbte sich über das Rednerpult und schoß herausfordernd heldisch-blitzende Blicke durch den Raum.

„Dieser Vertrag“, fuhr er nach einer Pause fort, „ist nichts weiter als eine Falle. Dieser Vertrag ist ein Indiz der höhnischen Verachtung, die uns die Hjjks entgegenbringen. Doch Puit Kjai drängt uns, das zu ratifizieren! Puit Kjai zerschmilzt vor Friedenssehnsucht! Brecht den Vertrag doch einfach zu einem uns genehmeren Zeitpunkt, schlägt uns der ehrenwerte Puit Kjai vor. Aber vorläufig laßt uns demütig vor den Hjjks auf dem Bauch kriechen, denn ihrer sind viele, und wir sind nur ein paar, und der Frieden ist wichtiger als alles übrige. Ist das nicht so, Puit Kjai? Lege ich deine Argumentation nicht fair und klar vor?“

Wieder erhob sich Gemurmel im Saal, diesmal vor Überraschung, denn das war ein neuer Thu-Kimnibol, den man da zu hören bekam. Niemals zuvor hatte er in der Präsidialversammlung derart beredt, mit solch feurigem Furor gesprochen. Gewiß, Thu-Kimnibol war ein gewaltiger Krieger, von beinahe göttergleicher Leibesfülle und Energie, ein gigantischer Feuerbrand, voll Kampfeslust und lautstarkem Kriegsgebrüll. Sein Name schon drückte das deutlich aus. Denn obwohl er — wie er soeben gesagt hatte, als Samnibolon geboren ward, hatte er sich an seinem Benamungstag im Alter von neun Jahr gemäß der Sitte der Koshmari seinen neuen, den Erwachsenennamen gewählt, und zwar Thu-Kimnibol, was da heißt: ‚Schwert der Götter‘. Andere Männer scharten sich um ihn und gierten nach seinem Rat und seiner Protektion. Einige jedoch — wie Husathrin Mueri, der in ihm den großen persönlichen Rivalen im Kampf um die Macht in der Stadt sah — neigten dazu, seine Führungsqualitäten einzig aus seiner immensen körperlichen Stärke abzuleiten und zu glauben, er habe in seiner Seele weder Witz noch Feinheit. Nun sahen diese Leute sich unerwartet gezwungen, ihre Ansichten zu revidieren.

„Und nun laßt mich euch sagen, was ich glaube“, sprach Thu-Kimnibol weiter. „Ich glaube, daß die Welt rechtmäßig uns gehört. die gesamte Welt... Und zwar auf Grund unserer Abstammung von den MENSCHEN, die einst über sie herrschten. Ich glaube, daß es uns vom Schicksal bestimmt ist, voranzuschreiten, weiter und weiter, bis wir bis an die allerfernsten Horizonte vorgestoßen sind. Und es ist ebenso meine Überzeugung, daß die Hjjks, diese gräßlichen widerwärtigen Überbleibsel einer früheren Welt, mit Stumpf und Stiel ausgerottet werden müssen wie Ungeziefer — das sie ja sind.“

„Kühne Worte, Thu-Kimnibol“, sagte Puit Kjai mit vor Verachtung eisiger Stimme. „Wir werden uns also aus ihren toten Leibern Flöße zusammenbasteln und darauf übers Meer zu den anderen Kontinenten paddeln.“

Thu-Kimnibol schoß einen Mordblick auf ihn ab. „Ich rede noch, mit Erlaubnis des Präsidiums, Puit Kjai!“

Puit Kjai warf in einer komischen Geste der Resignation die Arme in die Luft. „Ich ziehe meinen Einwand mit Bedauern zurück.“

„Und hier nun mein Vorschlag“, sprach Thu-Kimnibol weiter. „Wir senden den Hjjks ihren Gesandten zurück, und zwar mit ihrem Vertrag auf seiner Haut aufgenäht. Gleichzeitig sendet Botschaft an unseren Gevatter, Cousin Salaman von Yissou, daß wir tun werden, worum er uns schon so lange ersucht hat, nämlich unsere Streitkräfte mit den seinen vereinigen und einen Vernichtungsschlag führen gegen die umherschweifenden Hjjk-Banditen, die seine Grenzen bedrohen. Danach verlegen wir unsere Streitmacht — mit jedem körperlich tauglichen Mann und Weib, über die wir verfügen — nach Norden — nein, du selbst brauchst nicht mitzukommen, Puit Kjai! —, und im Verbund mit König Salaman werden wir zum großen NEST-ALLERNESTER vorstoßen, ehe die Hjjks auch nur ahnen, was da auf sie zukommt, und wir werden ihre KÖNIGIN-der-KÖNIGINNEN als die widerliche Kakerlake, die sie ist, zerquetschen und ihre Streitmacht in alle Winde zerstreuen. So sollten wir meiner Überzeugung nach reagieren auf dieses Angebot von Liebe und Frieden, das uns die Hjjks hier machen.“

Und damit begab sich Thu-Kimnibol wieder auf seinen Vorderbänklersitz zurück.

In der Deputiertenkammer herrschte eine betäubte Stille.


Dann erhob sich Husathirn Mueri, und er kam sich vor wie in einem Traum, und bahnte sich einen Weg zum Podium. Er wußte noch keineswegs genau, was er sagen würde. Er hatte kein Redekonzept und keine klare Position vorbereitet. Doch er wußte, wenn er sich jetzt nicht zu Wort meldete, sozusagen im Windschatten von Thu-Kimnibols überraschendem Ausbruch, dann würde er den Rest seiner Tage für immer im Schatten des anderen stehen, und es würde Thu-Kimnibol sein, und nicht Husathirn Mueri, der an die Herrschaft über die Stadt gelangte, wenn Tanianes Zeit zu Ende war.

Während er sich vor dem Präsidialtisch aufbaute, flehte er die Götter (an die er nicht glaubte) an, ihm die rechten Worte zu verleihen, und die Götter waren großmütig ihm gegenüber. Er fand die Worte.

Er blickte das immer noch verblüffte Plenum an und begann leise: „Prinz Thu-Kimnibol hat uns soeben mit einer Rede von großem Gewicht und visionärem Weitblick beglückt. Es sei mir erlaubt, hier festzustellen, daß ich seine Überzeugungen über die schicksalhafte Endaufgabe unserer Rasse teile. Und laßt mich euch ebenfalls hier und jetzt sagen, daß ich ebenfalls mit Prinz Thu-Kimnibol einig bin in der Überzeugung, daß wir — sei es früher, sei es später — um die apokalyptische Konfrontation mit den Hjjks nicht herumkommen werden. Es ist das Kriegerblut in mir, das bei Thu-Kimnibols bewegenden Worten zu brodeln beginnt, denn ich bin der Sohn Trei Husathirns, an den einige unter euch sich noch erinnern mögen. Doch meine Mutter Torlyri, an die ihr euch vielleicht ebenfalls noch erinnert, denn sie war allseits und von allen geliebt, hat in mein Herz einen Abscheu gesenkt vor Hader, Zwist und Kampf, wo diese vermeidbar sind. Und in dieser unserer heutigen Lage, finde ich, besteht nicht nur keinerlei Anlaß für Zwist, sondern er wäre auch unseren Zielen zutiefst feindlich und zuwiderlaufend.“

Husathirn Mueri holte tief Luft. Auf einmal schwirrte es in seinem Kopf nur so von Ideen.

„Ich lege euch einen Kompromiß zwischen Puit Kjai und Thu-Kimnibol vor: Akzeptieren wir den Hjjk-Vertrag nach Puit Kjais Vorschlag und erkaufen wir uns dadurch Zeit. Aber gleichzeitig schicken wir Botschaft zu König Salaman von Yissou, jawohl, und schließen ein Bündnis mit ihm, damit wir stärker sind, wenn die Zeit für den Krieg gegen die Hjjks endlich gekommen ist.“

„Und wann wird diese Zeit gekommen sein?“ wollte Thu-Kimnibol wissen.

Husathirn Mueri lächelte. „Die Hjjks kämpfen mit Schwertern und Lanzen und Schnäbeln und Klauen“, sagte er. „Obwohl sie eine uralte Rasse und tatsächlich echte Überlebende aus der Großwelt sind, haben sie es nicht weiter gebracht. Was immer sie an Größe in jenen fernen Zeiten besessen haben mögen, sie haben es verloren, denn die Saphiräugigen und die Menschlichen sind nicht mehr da, um sie zu lehren, was sie tun sollen. Heutzutage verfügen sie über keinerlei Wissenschaft mehr. Sie besitzen keine Maschinen. Sie haben nur allerprimitivste Waffen. Und warum? Weil sie bloße Insekten sind. bloße hirnlose, seelenlose Wanzen!“

Er hörte, wie jemand dicht vor ihm heftig und zornig einatmete. Natürlich, Nialli Apuilana.

„Wir sind anders“, sagte er. „Wir sind Entdecker — oder Wiederentdecker“, fügte er mit einem diplomatischen Blick auf Hresh hinzu. „Tag um Tag entdecken wir Neues, neue Geräte und neue Geheimnisse aus der Altwelt. Ihr — jedenfalls die, die sich noch an die Schlacht um Yissou erinnern — habt bereits gesehen, wie verletzlich die Hjjks gegen derartige wissenschaftliche Waffen waren. Nun, es wird andere, neue solche Waffen geben. Ja, wir wollen Zeit gewinnen — und in dieser Zeit werden wir Methoden entwickeln, um tausend Hjjks mit einem einzigen Schlag zu erledigen. zehntausend. hunderttausend! Und dann endlich werden wir den Krieg in ihr Gebiet hineintragen. Wenn dieser Tag einmal gekommen ist, werden wir den Blitz in unserer Hand halten. Und wie sollten sie uns dann standhalten — mag ihre Zahl auch um noch so viele größer sein als die unsrige? Laßt uns den Vertrag heute unterzeichnen, sage ich. Krieg führen wir dann später!“

Es folgte erneuter Tumult. Alle waren aufgesprungen und brüllten gestikulierend durcheinander.

„Abstimmung!“ schrie Husathirn Mueri. „Ich verlange eine Abstimmung!“

„Abstimmung, jawohl!“ Dies kam von Thu-Kimnibol, aber auch von Puit Kjai.

„Vorher gibt es noch eine Wortmeldung“, fuhr Tanianes Stimme messerscharf in den brodelnden Lärm.

Husathirn Mueri starrte sie verblüfft an. Unbemerkt hatte Taniane während der letzten Augenblicke die Lirridon-Maske aufgesetzt, und der Häuptling stand nun neben ihm am Sprecherpult wie eine Gestalt aus einem Alptraum, hochgereckt, starr, düster-ernst, und das furchteinflößende hjjkische Maskengesicht zog die Aufmerksamkeit aller gebieterisch auf sich. Der Anblick war zugleich lächerlich und beängstigend, doch letzteres weitaus stärker. Da war nicht mehr diese müde ältliche Frau, sondern ein Wesen von erhabener, schrecklich gebieterischer Kraft.

Obwohl ihm nichts mehr zu sagen einfiel, klammerte sich Husathirn Mueri an den Platz am Rednerpult, als wären ihm die Füße im Boden festgewachsen. Dann wies ihn Taniane mit einer Geste, der man sich kaum widersetzen konnte, vom Platz. Mit dieser Maske über dem Gesicht war sie der Born der Macht, und es gab keinen Widerspruch gegen sie. Benommen tapste er wieder zu seinem Sitz an der Seite Thu-Kimnibols zurück.

Und Nialli Apuilana trat ans Pult.

Sie stand zunächst völlig bewegungslos da und starrte in die verschwommene Gesichtermasse unter ihr. Anfangs konnte sie keinen unterscheiden, dann hoben sich ein paar einzelne Gestalten heraus. Sie blickte Taniane an, die hinter der Maske bestürzend verborgen war. Und Hresh. Dann sah sie die träge Massigkeit Thu-Kimnibols vorn in der Mitte, neben ihm den abscheulichen kleinen Husathirn Mueri. Ein Sturm widersprüchlicher Gedanken jagte ihr durch den Kopf.

Am Morgen war sie zu Taniane gegangen, um ihr Versagen einzugestehen. Es war ihr nicht gelungen, mehr über dieses Vertragsangebot der Hjjks herauszufinden, als Hresh sowieso bereits mittels des Barak Dayir erfahren hatte. Nicht daß sie irgendwelche Informationen unterschlagen hätte, aber die Kommunikation mit Kundalimon hatte sich eben als viel schwieriger erwiesen, als sie — oder Taniane — dies erwartet hätten. Also hatte sie sich als unbrauchbarer Spitzel erwiesen. Zu der Vertragssache hatte sie nichts Brauchbares beizubringen. Dies war die Wahrheit. Und Taniane schien es auch so zu akzeptieren.

Und damit hätte alles zu Ende sein können, und ihre staatswichtige Aufgabe wäre damit in sich zu einem Häuflein staubigen Nichts zusammengeschrumpft. Doch anstatt sie zu entlassen, hatte Taniane gezögert, als erwarte sie noch etwas anderes. Und natürlich gab es da auch noch etwas. Nialli hörte sich selber verblüfft zu, als aus ihrem Herzen unerwartete Worte sich lösten und ihr über die Zunge sprangen.

Laß mich trotzdem vor dem Präsidium sprechen, Mutter. Über die Hjjks. Über die Königin. über das NEST. Über Dinge, von denen ich noch nie zuvor sprechen konnte. die ich aber nicht länger verheimlichen kann.

Verwirrte Reaktion Tanianes.

Du willst vor der Präsidialversammlung sprechen?

Ja und zwar bei der Vertragsdebatte.

Sie sah, wie erregt Tanianes Gedanken waren. Der Vorschlag war eine aberwitzige Kühnheit. Ein Mädchen wie Nialli — als Redner — in der Präsidialversammlung? Gestatten, daß dieses Kind mit seinen kapriziösen, wirren, impulsiven schwärmerischen Phantasiegespinsten das Höchste Gesetzgebende Gremium der Stadt besudle? Dennoch, die Vorstellung war verführerisch: endlich bricht die störrisch-launenhafte Nialli Apuilana ihr Schweigen. Sagt endlich aus, enthüllt endlich die Geheimnisse des NESTS. Legt alle die scheußlichen Einzelheiten bloß. In Tanianes Augen der Schimmer der Versuchung. Ein wenig — endlich! — zu erfahren, was in ihrer Tochter vorgeht. Sogar wenn dies in der Präsidialversammlung zu einem öffentlichen Spektakel an Enthüllungen würde. Laß mich reden, Mutter! Laß mich! Bitte — laß mich sprechen! Und der Häuptling nickt Zustimmung.

Und so unwirklich es ihr erscheint, hier ist sie. Am Rednerpult, und aller Augen warten auf sie. Endlich die wahre, die wirkliche Geschichte. Nach beinahe vier Jahren die große Offenbarung. Wagte sie es? Wie würde man darauf reagieren? Für Augenblicke versagte ihr die Stimme. Man wartete. Sie spürte die Ungeduld, die Feindseligkeit, die ihr aus dem Saal entgegenschlug. Für die Mehrzahl der Leute da unten war sie nichts weiter als ein Freak, ein Monster. Ob man sie auslachen würde? Sie verhöhnen? Sie war immerhin die Tochter des Häuptlings. Das wenigstens müßte einige Zurückhaltung bewirken, hoffte sie. Aber es war so scheußlich schwer, den Anfang zu finden. Sollte sie kneifen und davonlaufen? Nein. Nein! Auf keinen Fall! Also, rede zu ihnen. Fang an mit der Show, Nialli!

Und das tat sie dann endlich und begann zu sprechen. Leise, so leise, daß es ihr als zweifelhaft erschien, ob man sie auch nur in der vordersten Reihe hören werde.

„Ich danke dem Hohen Haus und euch allen für die Auszeichnung. Ich stehe hier heute vor euch, weil es Dinge gibt, die ihr wissen müßt — und ich allein kann sie euch sagen —, bevor ihr über eine Antwort auf die Botschaft der KÖNIGIN entscheidet.“

Ihr Herz raste. Ihre Zunge war pelzig vor Beklemmung. Sie zwang sich, ruhig zu werden.

„Im Gegensatz zu euch allen“, sprach sie weiter, „habe ich wirklich unter Hjjks gelebt, wie ihr wißt. Denn ihr habt ja kaum vergessen, daß ich ihre Gefangene war. Und ich jedenfalls kann es niemals vergessen. Ich kenne sie also aus nächster persönlicher Erfahrung — dieses Ungeziefer, von dem ihr sprecht, diese widerwärtigen Wanzen und Kakerlaken, die eurer Überzeugung nach mit Stumpf und Stiel ausgerottet werden müßten. Ich aber sage euch, sie sind alles andere als die abscheulichen seelenlosen Ungeheuer, als die ihr sie darstellt.“

„Sie haben uns überfallen und wollten uns töten, als wir Yissou gründeten!“ unterbrach lautstark Thu-Kimnibol. „Wir waren unser nur zu elf und ein paar Kinder. Ein erbärmliches Bretterbudendörfchen, ein paar hundert Meilen von ihrem Gebiet entfernt. Also nicht gerade eine ernsthafte Bedrohung für sie. Aber sie zogen zu Tausenden heran, um uns zu vernichten. Und sie hätten uns ausgelöscht, wenn wir nicht.“

Ruhig sprach Nialli gegen seine tiefdröhnende Stimme an. „Nein! Sie waren nicht gekommen, um euch zu ermorden.“

„Es sah aber ganz so aus für uns — ein Riesenheer kreischender Krieger, die wild mit ihren Speeren herumfuchtelten. Aber natürlich — jeder kann sich mal irren. Also vermute ich, es handelte sich damals nur um einen netten kleinen Höflichkeitsbesuch.“

Der weite Saal dröhnte vor Gelächter.

Nialli klammerte sich an die Pultkanten. Mit fast zersplitternder Stimme sprach sie weiter. „Ja. Genau, Gevatter, es war ein Irrtum. Aber wie hättet ihr wissen sollen, was sie dort wollten? Habt ihr auch nur ein minimales Begriffsvermögen dafür, warum sie Dinge tun, die sie tun? Verfügt ihr auch nur über den winzigsten Einblick in ihre Denkstruktur?“

„Ihre Denk struktur?“ sagte Puit Kjai mit breitem Sarkasmus.

„Ihre Denkstruktur, genau! Ihr Denken und ihre Seele. Ihre Weisheit. Nein, jetzt laßt mich bitte ausreden! Ich will ausreden!“ Plötzlich war alle Furcht von ihr gewichen. Nialli ging zum Angriff über und forderte heraus. Sie schien vor Leidenschaft zu lodern. „Ihr kennt mich alle, denke ich. Ihr haltet mich für ein widerspenstiges wildes Kind, eine Gottlose. Vielleicht habt ihr ja recht. Ganz gewiß war ich stets unkonventionell und fiel aus eurem Rahmen. Ich denke nicht daran, es zu leugnen, daß ich nicht besonders viel Gefühl aufbringe für eure Himmlische Fünffaltigkeit — oder für Nakhaba — oder die Fünf-und-den-Einen — oder für irgendeine sonstige Götterkombination, die ihr euch auszudenken beliebt. Sie bedeuten mir nichts, sie sind nu.“

„Gotteslästerung! Anathema!“

Sie hämmerte mit finsterem Gesicht auf das Rednerpult und verschoß wütende Blicke nach allen Seiten. Dies war ihr Auftritt, ihr großer Augenblick, und sie würde sich das nicht rauben lassen. So muß Taniane sich fühlen, dachte sie, wenn sie so ganz auf Großer Häuptling macht.

Mit großem Aplomb sprach sie weiter: „Verschont mich mit euren entrüsteten Zwischenrufen. Ich spreche jetzt. Die Fünf Namen sind genau das für mich, was sie besagen: Namen. Unsere eigene Erfindung, ein Trost für uns in schweren Zeiten. Vergebt mir, Vater, Mutter, ihr alle. Aber das ist meine Überzeugung. Einst glaubte ich an anderes, genau wie ihr. Doch als ich zu den Hjjks kam — als sie mich mitnahmen —, teilte ich ihr Leben und ihr Denken. Und ich begann die wahre Natur des Göttlichen zu begreifen, wie mir dies hier niemals möglich gewesen wäre.“

„Müssen wir uns den Unsinn wirklich noch länger anhören, Taniane, den deine Tochter da verzapft?“ rief ein Hinterbänkler. „Willst du gestatten, daß sie uns mitten ins Gesicht unsere Götter verhöhnt?“

Doch die Häuptlingsmaske antwortete nicht.

Unerschüttert sprach Nialli weiter: „Diese Königin, die Thu-Kimnibol zu Fetzchen zerhacken will. Ihr habt keine Ahnung von ihrer Größe und Weisheit, nicht einer unter euch! Nicht die geringste Ahnung! Habt ihr je auch nur den Begriff Nestdenker gehört?“ Sie war inzwischen gut in Fahrt, und es machte ihr richtig Spaß. „Was könntet ihr mir über Nest-Philosophie sagen? Über Königinliebe, über Nest-Bindung? Ihr wißt nichts davon! Gar nichts! Ich aber sage euch, dieses euer Ungeziefer, diese Wanzen, diese Kakerlaken, wie ihr sie nennt, stehen weit über eurer Verachtung. Sie sind keineswegs Ungeziefer, keine Monster und auch nicht hassenswert oder abstoßend — ganz im Gegenteil. In Wirklichkeit nämlich sind sie Vertreter einer großartigen menschlichen Zivilisation!“

„Was? — Wie? — Die Hjjks menschlich? Jetzt ist sie vollends irre geworden!“

In das ungläubige Gebrüll, das nun von allen Seiten heranbrandete, fuhr Nialli mit lauter, fast donnernder Stimme: „Ja — menschlich! Sie sind Menschen!“

„Was hat sie gesagt?“ fragte der alte Staip verwirrt. „Die Hjjks sind Insekten, keine Menschen. Die Träume-Träumer das waren die Menschlichen. Die rosighäutigen Haarlosen ohne Sensororgan.“

„Die Träume-Träumer waren eine Gattung der Menschlichen, ja. Aber sie waren nicht die einzige. Hört mich an! So hört doch zu!“ Sie umklammerte das Pult und schleuderte ihnen die Worte mit der Kraft des Zweitgesichts entgegen. In vollem Schwall ergoß sich die aufgestaute Flut auf einmal. „Die Wahrheit ist“, erklärte sie in hohem vibrierenden Ton, „daß alle Sechs Völkerschaften der Großen Welt als Menschen gelten müssen, ungeachtet der Gestalt, die ihr Leib gehabt haben mag. Die Träumer und die Saphiraugen, die Vegetalischen, Mechanischen und die Seelords. und die Hjjks! Ja, auch die Hjjks! Sie alle waren menschlich: Sechs zivilisierte Völkerstämme, die friedfertig nebeneinander leben konnten, lernen konnten, wachsen und bauen. Das nämlich bedeutet es, menschlich zu sein. Mein Vater hat mich dies gelehrt, als ich ein Kind war — er hätte es auch euch lehren sollen. Und ich habe es dann neu gelernt — im NEST.“

„Was ist dann mit uns?“ rief jemand. „Du sagst, die Hjjks sind menschlich. Gestehst du uns dann das Prädikat gleichfalls zu? Ist alles, was lebt und denkt, menschlich?“

„In der Großwelt-Zeit waren wir nicht menschlich, nein. Damals waren wir bloße Tiere. Jetzt aber beginnen wir endlich selbst Menschen zu werden, nämlich seit wir den Kokon verlassen haben. Aber was die Hjjks angeht — sie traten bereits vor einer Million Jahren über die Schwelle zur Menschlichkeit. Oder noch länger zurück. Wie dürften wir daran denken, sie zu bekriegen? Sie sind nicht unsere Feinde! Der einzige Feind, den wir haben, sind wir selbst!“

„Das Mädchen ist wahnsinnig“, hörte sie Thu-Kimnibol murmeln, und sie sah, wie er betrübt den Kopf schüttelte.

„Wenn euch der Vertrag nicht zusagt“, schrie Nialli, „dann lehnt ihn ab! Lehnt ihn ab! Aber lehnt auch den Krieg ab! Die Königin meint es aufrichtig. Sie bietet uns Liebe und Frieden. Unsere größte Hoffnung liegt in ihrer Umarmung. Sie wird warten, bis wir allesamt erwachsen werden — die volle Menschwerdung erreichen, ihres Volkes würdig geworden sind —, und dann wird es uns freistehen, uns mit ihnen in einer neuen Solidargemeinschaft zu verbinden, so wie einst die Sechs Völker der Großen Welt verbunden waren, ehe die Todessterne niederstürzten! Und dann. dann.“

Plötzlich rang sie schluchzend nach Luft. Alle Kraft wich urplötzlich von ihr. Sie hatte sich über das Maß verausgabt. Ihre Augen zuckten wild umher, ihr Körper wurde von Schaudern geschüttelt.

„Holt sie da runter“, sagte jemand — Staip, oder Boldirinthe? — hinter Husathirn Mueri.

Alle schrien und brüllten wild durcheinander. Nialli klammerte sich wie in heftigem Fieberschauder fröstelnd an das Rednerpult. Sie glaubte sich kurz vor einem Krampfanfall. Sie wußte, sie war zu weit gegangen, viel zu weit! Sie hatte Unaussprechliches gssagt, die Wahrheit, die sie all die Jahre hindurch vor ihrem Volk zurückgehalten hatte. Und nun hielten sie alle für verrückt. Vielleicht war sie es.

Der Saal um sie herum schwankte, Thu-Kimnibols roter Trauerumhang waberte und pulste wie eine tobsüchtig gewordene Sonne. Hresh, am Präsidialtisch wirkte, als sei er in einer Betäubung erstarrt. Sie blickte zu Taniane, doch der Häuptling stand unergründlich hinter der Maske verborgen, vollkommen reglos inmitten des Chaos, das durch den Saal tobte.

Nialli Apuilana merkte, daß sie zu taumeln begann.


Was für eine schreckliche Szene, dachte Husathirn Mueri. Schockierend. Beängstigend. Erbarmenswürdig. Er hatte Nialli mit wachsender Verblüffung und Bestürzung zugehört. Allein schon ihr Erscheinen an diesem Ort — so jung, so mysteriös, so herzzerreißend schön — hatte eine ungeheuerliche Wirkung auf ihn gehabt. Nie wäre ihm der Gedanke gekommen, Nialli Apuilana könnte jemals vor dem Präsidium sprechen. Aber ganz gewiß hätte er nicht damit gerechnet, daß sie derartige Dinge sagen würde — und überdies noch mit einer derartigen unerschrockenen Kühnheit. Sie jedoch so wild und stark eine Sache vertreten zu hören, das hatte Nialli für ihn nur um so erstrebenswerter gemacht: Ja, eigentlich war sie damit geradezu unwiderstehlich für ihn geworden.

Dann aber war ihre Rede zu chaotischem Gestammel abgesunken, und Nialli selbst war vor ihrer aller Augen von einem hysterischen Anfall gepackt worden.

Und nun war offensichtlich, daß sie jeden Moment zusammenbrechen konnte.

Husathirn Mueri zögerte keinen Atemzug lang, ja er dachte überhaupt nicht, sondern stürzte nach vorn, schwang sich auf das Podium, ergriff Nialli an beiden Ellbogen und hielt sie sicher und aufrecht.

Das Mädchen warf heftig den Kopf und keuchte: „Laß — mich — los!“

„Bitte, komm von da herunter.“

Sie funkelte ihn wild an — doch war es wirklich Haß oder nur ihre Benommenheit? Sanft zog er sie, und sie gab ihm nach. Behutsam führte er sie vom Podium und zog sie, den Arm schützend um sie gelegt, zur Seite weg. Er setzte sie auf einen Platz. Sie starrte wie aus völlig blinden Augen zu ihm auf.

Dann schmetterte Tanianes Stimme in seinem Rücken wie eine Trompete.

„Hört unseren Beschluß! Es erfolgt heute keine Abstimmung. Der Vertrag wird weder zurückgewiesen noch akzeptiert, und es erfolgt auch keine Antwort an die Königin. Der gesamte Vertragskomplex ist auf unbestimmte Zeit zurückgestellt. Inzwischen beabsichtigen wir, Gesandte nach Yissou zu entsenden, um mit König Salaman die Bedingungen eines bilateralen Verteidigungsbündnisses auszuhandeln.“

„Ein Bündnis gegen die Hjjks also?“ riefjemand.

„Gegen die Hjjks, ja. Gegen unseren Feind.“

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