7. Kapitel Kriegsrollen

Eine Woche nach Thu-Kimnibols Abreise ließ Salaman den Anführer der Akzeptänzer in den Palast führen. Sein Name lautete Zechtior Lukin. Prinz Athimin, nach seiner Haftentlassung mehr als nur ein wenig zerknirscht, begab sich persönlich mit einem Halbdutzend Gardisten in das heruntergekommene Viertel im Osten der Stadt, um ihn zu verhaften. Er rechnete mit Widerstand. Doch zu seiner Überraschung zeigte Zechtior Lukin ebensowenig Bedenken, mitzukommen und mit dem König zu sprechen, wie er sich gescheut hatte, nackend auf den Straßen zu tanzen, als die Schwarzwinde bliesen. Er betrug sich vielmehr, als habe er damit schon lange gerechnet, daß der König ihn rufen lassen werde — ja, als sei er erstaunt, daß die Vorladung erst jetzt erfolgte.

Aber auch Salaman standen einige Überraschungen bei der Begegnung bevor.

Er hatte sich vorgestellt, daß der Anführer dieser Sekte irgend so ein wildäugiger Fanatiker sein würde, reizbar und aufbrausend, mit Schaum vor dem Mund, der brüllen und geifern und unverständliche Reden brabbeln würde. In einem sollte er immerhin recht behalten: Zechtior Lukin war über allen Zweifel hinaus ein Fanatiker. Alles an ihm — die Kiefer wie Stahlklammern, der steinern-kalte freudlose Blick seiner Augen, die kompakte muskulöse Gestalt unter dem weißlich-grauen Fell — verriet eine außergewöhnliche Engstirnigkeit und Zielstrebigkeit und Hingabe an seinen absurden Glauben. Und höchstwahrscheinlich war er auch leicht reizbar.

Aber ein Brüller? Ein Geiferer? Ein Brabbler unverständlicher Rede? Nein! Der Mann da war cool und zäh und zeigte eine eisige Zurückhaltung, die Salaman sogleich als seiner eigenen verwandt erkannte. Dieser Mann hier vor ihm, er hätte gewißlich ein König werden können, wenn die Dinge in den frühen Jahren der Stadt ein wenig anders verlaufen wären. Statt dessen war er ein Schlachter geworden, ein Fleischhauer, und statt in einem steinernen Palast verbrachte er seine Tage im Schlachthaus und zerhackte Knochen und Lendenstücke und Rückenhälften inmitten von Strömen von Blut. Und abends trafen er und seine Gefolgsleute sich in einer zugigen Turnhalle im Ostviertel und drillten sich gegenseitig die sonderbaren Dogmen ihres Glaubens in die Köpfe.

Breitschultrig stand er in ruhiger Unerschrockenheit vor dem König.

„Wann habt ihr mit der Sache angefangen?“ fragte der König.

„Vor Jahren.“

„Wann? Vor drei Jahren? Fünfen?“

„Nein, fast schon seit Gründung der Stadt.“

„Nein, das ist unmöglich“, sagte Salaman, „daß es euch schon so lang geben sollte, ohne daß ich von eurer Existenz auch nur ein Wort gehört hätte.“

Zechtior Lukin zuckte die Achseln. „Wir waren nur sehr wenige und blieben ziemlich für uns. Wir studierten unsre Texte, hielten unsere Versammlungen und übten uns in unseren Disziplinen, und wir zogen nicht los, um zu missionieren. Es war unsere Privatangelegenheit. Mein Vater Lakkamai war der erste Gläubige, dann.“

„Lakkamai?“ Schon wieder eine Überraschung. In den Zeiten des Kokons und später in Vengiboneeza war dieser Lakkamai ein schweigsamer Kerl gewesen, der sich keinem anschloß, ein Typ von sehr geringem seelischen Tiefgang. In Vengiboneeza war er der Geliebte der Opferfrau Torlyri gewesen, aber als es zur Großen Spaltung kam, hatte Lakkamai Torlyri ohne Bedenken aufgegeben und war mit Harruel fortgezogen, um dann einer der Gründerväter der winzigen Niederlassung zu werden, aus der sich die Stadt Yissous entwickeln sollte. Jetzt war er schon lange tot. Salaman vermochte sich nicht daran zu erinnern, daß er sich jemals eine Gefährtin genommen oder gar einen Sohn gezeugt hätte.

„Du hast ihn gekannt.“ Es war keine Frage.

„Vor vielen Jahren, ja.“

„Lakkamai lehrte uns, daß das, was der Großen Welt geschah, in der Absicht der Götter lag. Er sagte, alles, was geschieht, ist Teil ihres Planens, gleichgültig, ob es uns als gut oder übel erscheint, und als die Völker der Großwelt sich zum Sterben anschickten, so, weil sie den Willen der Götter verstanden und wußten, daß ihre Zeit gekommen war, von der Welt Abschied zu nehmen. Darum rührten sie keinen Finger, um die Todessterne abzuwehren, ließen sie auf die Welt herabsausen, und die Große Kälte kam über sie alle. Das alles, sagte uns Lakkamai, hat er in Gesprächen mit Hresh gelernt, dem Chronisten des Koshmar-Stammes.“

„Stimmt“, sagte Salaman. „Wenn man mit Hresh redet, hat man hinterher den ganzen Kopf voller Hirngespinste und Seltsamkeiten.“

„Es sind Wahrheiten!“ sagte Zechtior Lukin.

Salaman zog es vor, die derbe Widerrede zu ignorieren. Es lohnte nicht, mit dem Kerl zu streiten. „Also, im Anfang gab es bloß ein paar von eurer Sorte. Eine Handvoll Familien, wenn ich dich recht verstehe? Nun aber berichtet mir mein Sohn, daß eure Zahl einhundert und neunzig beträgt.“

„Dreihundert und siebzig und sechs“, berichtigte Zechtior Lukin.

„Aha.“ Wieder ein Strafpunkt gegen Athimin. „Und ihr habt also jetzt beschlossen, euch doch in die Missionierung zu stürzen und neue Anhänger zu werben, stimmt’s? Warum?“

„In meinen Träumen erschien mir die Hjjkkönigin am Himmel über unsrer Stadt schwebend. Ich spürte ihre gewaltige Nähe wie ein großes Gewicht auf uns lasten. Das war im verflossenen Jahr. Und so erkannte ich, daß der Tag der Abrechnung nahe ist. Wie jeder weiß, blieben die Hjjks bei der Vernichtung der Großwelt verschont. Die Fünf Himmlischen hatten etwas anderes mit ihnen im Sinn und führten sie sicher durch die Zeit der Kälte und des Eises, auf daß sie im Neuen Frühling diese ihre Aufgabe erfüllen könnten.“

„Und ihr wißt natürlich, was das für eine Aufgabe ist.“

„Sie sind dazu bestimmt, die VÖLKER und ihre Städte zu vernichten“, sagte Zechtior Lukin ruhig. „Sie sind die Geißel der Götter.“

Also ist er ja doch irre, dachte Salaman. Wie schade.

Doch mit ebenso großer Ruhe fragte er: „Und in welcher Weise würde das den Zielen der Fünffaltigkeit dienen? Sie führte uns sicher durch den Langen Winter, damit wir das Erbe der Welt antreten. sagen jedenfalls alle unsere Chroniken. Wozu haben sich die Götter denn überhaupt die Mühe gemacht, uns zu erhalten, wenn sie nur darauf abzielten, uns jetzt von den Hjjks vernichten zu lassen? Es wäre doch weit einfacher gewesen, uns in der Kälte stehen zu lassen, damit uns der Lange Winter schon vor hundertmal tausend Jahren ausgelöscht hätte.“

„Du erfaßt es nicht. Wir wurden auf die Probe gestellt, und wir haben sie nicht bestanden. Wie du sagst, blieb uns der Kältetod erspart, auf daß wir die Erde erben sollten. Doch wir haben den falschen Weg eingeschlagen. Einen Irrweg. Wir erbauen große Städte; wir leben in immer bequemeren Häusern; wir verweichlichen und werden faul. In Dawinno ist es übler als hier, doch allüberall kehrt sich das VOLK ab vom Willen der Fünf und wird abtrünnig. Was erstrebten wir denn wirklich, als wir diese großen Städte erbauten? Wir wollten doch nur den Luxus und das Behagen der Großen Welt nachahmen, wie es sich zeigt. Doch eine solche Nachahmung ist vom Übel. Wenn die Götter gewünscht hätten, daß die Welt so sein soll wie zu Lebzeiten der Saphiräugigen, sie hätten die Große Welt ganz einfach so gelassen, wie sie war. Aber statt dessen haben sie sie zerstört. Und so werden sie auch uns vernichten. Und ich sage dir, o König, die Hjjks sollen das Werkzeug sein zu unserer Züchtigung. Sie werden über uns hereinbrechen; sie werden unsere Städte in Schutt und Asche legen; sie werden uns hinaustreiben in die Wildnis und Wüste, und dort werden wir endlich die Lebensgebote annehmen, die zu lernen die Götter für uns bestimmt haben. Jene wenigen unter uns, die den Vernichtungsschlag überleben, werden erneut den Versuch machen, eine anständige Welt zu bauen. So ist der Wille Dawinnos, dessen, der verwandelt.“

„Und wenn ihr euch alle zu Tode erfriert, wenn ihr nächtens auf den Straßen und Plätzen tanzt, wird euch das diese eure wunderbare Welt schaffen?“

„Wir frieren nicht. Wir werden nicht sterben.“

„Verstehe. Ihr seid unverletzlich.“

„Wir sind sehr stark. Du hast uns doch gesehen, damals in der Nacht unserer Feiern. Du hast uns aber nicht bei unsre Ausbildung gesehen. Bei unseren spirituellen Exerzitien, dem Körpertraining. Wir sind Kämpfer. Wir haben unendlich hohes Durchhaltevermögen entwickelt. Wir können tagelang ohne Nahrung und ohne Schlaf durchmarschieren. Uns schreckt nicht Kälte noch Entbehrung. Wir haben unsere Identität als einzelne aufgegeben und sind Teil einer neuen Einheit.“

Das alles kam für Salaman völlig überraschend. Natürlich war das Denkkonzept dieses Sohnes von Lakkamai nur wirres verrücktes Zeug; aber trotzdem, der König fühlte eine tiefe natürliche Gefühlsverwandtschaft mit diesem Mann und zugleich auch beträchtliche Zuneigung zu ihm. Seine Kraft und seine Wildheit waren offenkundig. Ganz insgeheim hatte er sich innerhalb des Königreiches sein ganz eigenes kleines Königreich aufgebaut. Er strahlte echte königliche Kraft aus. Fast hätten sie Brüder sein können. Trotzdem, der Mann war natürlich verrückt. Was für ein echter Jammer und wie schade, dachte Salaman.

Er sprach: „Ihr müßt mir erlauben, mal an eurem Training teilzunehmen.“

„Gleich in dieser Nacht, wenn du es wünschst, König Salaman.“

„Abgemacht. Zeigt mir eure allerschwierigsten Übungen. Und dann, mein Freund, wirst du mit deinen Freunden allmählich zu packen beginnen. Ihr werdet nämlich von hier fortgehen.“

Zechtior Lukin nahm das ohne jede Überraschung, ja fast gleichgültig auf, wie er es anscheinend in allem war, was ihm widerfuhr.

„Und wohin willst du, daß wir ziehen?“ fragte er ruhig.

„Nach Norden. Es ist offenkundig, daß euch das Leben in Yissou, inmitten unserer erbärmlichen Verweichlichung, nicht glücklich macht. Und ich sage dir ehrlich, daß auch ich keine große Freude bei dem Gedanken empfinde, daß du mit den Deinen euren Glauben von der unvermeidlichen Vernichtung der Stadt, die ich liebe, weiterhin verbreitet. Es ist also sowohl in eurem wie in meinem Interesse, daß ihr hier wegzieht, meinst du nicht auch? Nach Süden würdet ihr natürlich nicht gehen wollen. Denn dort ist das Leben für euch bestimmt viel zu angenehm. Außerdem, unsere Stadt wird sich in die Regionen südlich von uns ausbreiten, Dawinno wird sich nordwärts ausdehnen, so daß wir also zwangsläufig euch und eure persönliche Lebensform beeinträchtigen müßten. Kälte macht euch nichts aus, sagtest du. Hungern bedeutet euch nichts. Also zieht nach Norden, Zechtior Lukin. Es gibt Land massenweise im Norden, wo ihr eine Siedlung gründen könnt, in der ihr ganz nach euren Vorstellungen und Glaubensprinzipien leben könnt. Es könnte ja leicht die Hauptstadt der großen, reinen und sauberen Welt werden, die wir aus den Großen Städten zu schaffen unterlassen haben.“

„Du meinst, wir sollen ins Hjjk-Land gehen?“

„Ja, das meine ich. Sogar über Vengiboneeza hinaus und weit bis in die trockenen kalten Nordlande hinein. Dort wählt euch eine Gegend, die euch paßt. Es kann sogar geschehn, daß die Hjjks euch unbehelligt lassen. Nach deiner Aussage ist eure Lebensart der ihren ja sehr ähnlich: Krieger, die keine Unbill schreckt, ohne persönlichen Ehrgeiz. Da ihr ihnen so ähnlich seid, heißen sie euch vielleicht sogar willkommen. Oder sie beachten euch gar nicht. Was sollten sie auch einige hundert Neusiedler stören, wo sie doch einen halben Kontinent zur Verfügung haben? Ja, zieht zu den Hjjks! Was hast du dazu zu sagen, Zechtior Lukin?“

Schweigen. Zechtior Lukins Gesicht blieb ausdruckslos: Kein Anzeichen von Verärgerung, kein Trotz, nicht einmal Bestürzung. Es ging etwas in dem Kopf vor, doch der Mann sah so unbeeindruckt aus, als hätte der König ihn irgendwas über die Fleischpreise gefragt.

„Wie lange gibst du uns Zeit, um uns auf den Auszug vorzubereiten?“ fragte er schließlich.


Nialli Apuilana hat die unerträgliche Einsamkeit satt. Die ganzen letzten Monde war sie sozusagen in einem Winterschlaf gewesen; wie ein Tier, das alljährlich eine Metamorphose durchmacht und sich in seinem Geweb verborgen ruhend auf die Zeit des Ausschlüpfens vorbereitet. Und nun ist diese Zeit da. An einem Spätwintertag, an dem der Regen in Sturzbächen niederprasselt, die in Dawinno sogar für diese Jahreszeit erbarmungsloser Regen erstaunlich sind, verläßt Nialli am frühen Nachmittag ihr Zimmer im Nakhaba-Haus. Hin und wieder ist sie schon gelegentlich spät nachts ausgegangen, doch nun ist es das erstemal seit ihrer Genesung, daß sie sich am Tag hinauswagt. Es ist aber auch niemand unterwegs, der sie sehen könnte, denn der Sturm bläst dermaßen wild, daß die Straßen ganz verlassen sind. Nicht mal die Wachposten sind da. Hinter allen Fenstern brennt Licht, und die ganze Stadt hängt in den Häusern herum. Aber Nialli lacht dem wilden Sturm ins Gesicht. „Es ist wirklich verdammt zuviel“, sagt sie laut mit einem Blick zu Dawinno im Himmel hinauf. Er ist es, der das große Rad der Jahresgezeiten dreht und heute Sonne sendet und morgen Sturm. „Du übertreibst es ein bißchen, findest du nicht?“ Sie hat außer einer Stola nichts am Leib. Und sie hat noch keine fünf Schritte getan, da ist ihr Fell völlig durchnäßt. Es klebt wie ein enger Mantel an ihr, und das Wasser läuft ihr die Schenkel hinab.

Sie geht quer durch die Stadt zum Haus des Wissens und steigt dort die Wendeltreppe zum obersten Stockwerk hinauf. Sie hat keinen Moment daran gezweifelt, daß Hresh dort sein würde. Und da hockt er auch und kritzelt eifrig in einem seiner riesigen alten Bücher.

„Nialli!“ ruft er. „Hast du den Verstand verloren? Bei so einem Wetter auszugehen? Komm her, laß dich abtrocknen.“

Er wickelt sie in ein Tuch und knuddelt sie, als wäre sie ein kleines Kind. Widerstandslos läßt sie sich trockenreiben, obwohl davon ihr Fell ganz unfein durcheinandergerät.

Als er fertig ist, sagte sie: „Vater, wir sollten damit anfangen und uns einiges sagen. Es wäre schon längst an der Zeit dafür gewesen.“

„Einiges? Was denn?“

„Nun, Dinge über das Nest.“, sagt sie zögernd. „Über — die Königin.“

Er schaut sie ungläubig an. „Du willst wirklich mit mir über die Hjjks reden?“

„Über die Hjjks, ja. Über das, was du über sie erfahren hast, und über das, was ich weiß. Das ist möglicherweise nicht ganz dasselbe. Du hast immer gesagt, du willst die Hjjks besser verstehen lernen. Nun, du bist nicht allein. Ich muß sie auch besser verstehen, Vater, ich auch.“


Chevkija Aim zeigte auf ein verwittertes rauchgraues rundes Holztor am Ende einer Sackgasse direkt an der Straße der Fischhändler. Zu beiden Seiten standen heruntergekommene Geschäftshäuser mit verdreckten roten Backsteinfassaden. Husathirn Mueri war noch nie vorher in diesem Tel der Stadt gewesen. Irgendwie ein Industrieviertel und mehr als nur ein bißchen anrüchig. „Dort hinten, ganz am Ende“, sagte der Wachhauptmann. „Im Kellergeschoß. Hinter der Tür gehst du nach links und die Treppen runter.“

„Und ich kann da so einfach reingehen? Ohne Gefahr?“ fragte Husathirn Mueri. „Werden die mich nicht erkennen und in Panik geraten?“

„Nein, Herr, das geht schon in Ordnung. Es ist nicht besonders hell da drunten. Man kann grad so Gestalten ausmachen, aber keine Gesichter erkennen. Keiner wird wissen, wer du bist.“ Der gertengeschmeidige junge Beng grinste und knuffte Husathirn Mueri mit erstaunlicher Vertraulichkeit in den Arm. „Geh nur einfach rein, Herr! Los! Geh schon! Ich sag dir doch, dir passiert schon nichts.“

Der lange schmale Raum, in dem es penetrant nach getrocknetem Fisch roch, war in der Tat sehr dunkel. Einzige Lichtquellen waren zwei schwache Glühbeerbündel an der gegenüberliegenden Wand. Dort standen an einem Tisch mit Früchten darauf und duftenden Zweigen, wahrscheinlich wohl der Altar, ein Junge und ein Mädchen.

Husathirn Mueri kniff die Augen zusammen, sah aber in der Finsternis sonst nichts. Dann gewöhnten sich seine Augen, und er sah auf nackten schwarzen Fässern in Reihen etwa fünfzig Personen eng beisammenhocken. Sie brabbelten und sangen und stampften auch ab und zu mit den Füßen auf, in einer Art Responsorien zu den Worten, die von den Kindern am Altar kamen. Da und dort ragte ein Benghelm über die Menge, doch die meisten waren barhäuptig. Die Stimmen, die Husathirn Mueri hörte, waren grob und tief, die Stimmen von ordinärem Volk, Proletarier, Arbeiter. Husathirn Mueri verspürte erneut eine gewisse Beunruhigung. Er hatte nie viel mit Proleten zu tun gehabt. Und jetzt sie einfach so in ihrem heiligen Versammlungsort zu bespitzeln.

„So setz dich doch!“ flüsterte Chevkija Aim und stieß ihn fast heftig auf eines der Fässer in der hintersten Reihe. „Setz dich hin und hör zu! Der Junge ist Tikharein Tourb. Er ist der Priester. Die Priesterin heißt Chhia Kreun.“

„Priester und Priesterin?“

„So hör doch zu, Herr!“

Er glotzte verblüfft. Er kam sich vor, als stünde er auf der Schwelle zu einer anderen Welt.

Der Priesterknabe gab fremdartige gurgelnde Laute von sich, scheußliche zirpende, klickende Geräusche, die fast wie das Geschnarre der Hjjks klangen. Und die Gläubigen vor Husathirn Mueri respondierten mit ebensolchen bizarren Lauten. Ihn schauderte, und er bedeckte sich das Gesicht mit den Händen.

Dann auf einmal rief der Junge mit heller klarer Stimme laut: „Die Königin ist unsre Trösterin und unsre Lust. So lehrte uns der Prophet Kundalimon, gesegnet sei sein Name.“

„Die Königin ist unsre Trösterin und unsre Lust“, wiederholte die Gemeinde im Singsang.

„Sie ist das Licht und der Weg.“

„Sie ist das Licht und der Weg.“

„. die Essenz und die Substanz.“

„. Essenz. Substanz.“

„Sie ist der Anfang und das Ende.“

„. Anfang. Ende.“

Husathirn Mueri zitterte. Beim Klang der süßen unschuldigen Knabenstimme streifte ihn ein Anflug von Entsetzen. Das Licht und der Weg? Essenz und Substanz? Was war das für ein Wahnsinn? Träumte er?

Er fühlte ein Würgen im Hals und preßte die Hand auf den Mund. Dieser Kellerraum war fensterlos, und die Luft war heiß und stickig. Der dumpfe penetrante Gestank des salzgetrockneten Fischs aus den Fässern, der wilde Geruch verschwitzter Pelze, das starke stechende Aroma der Sippariu- und Dilifar-Zweige auf dem Altartisch. Ihm wurde übel. Ihm schwindelte im Kopf. Er verschränkte die Finger und preßte die Ellbogen fest gegen die Rippen.

Dann kreischten sie alle wieder in lauten Hjjk-Geräuschen los, der Junge, das Mädchen und die ganze Gemeinde.

Im nächsten Moment, malte er sich aus, wird sich die Erde unter mir auftun, und ich schaue hinab in eine weite Grube, die so voller glitzernder Hjjk-Schwärme ist, daß es aussieht, als kochte es da drunten.

„Ruhig, Herr, nur ruhig“, zischelte Chevkija Aim neben ihm.

Dann sah er, wie der Knabe und das Mädchen vorn am Altar sich bewegten, Früchte und Zweige aufhoben und sie der Gemeinde zeigten und sie wieder niederlegten, während das Volk mit den Füßen trampelte und dröhnende klickende Laute ausstieß. Was bedeutete das Ganze? Und woher kam das alles auf einmal?

Der Junge trug auf der Brust ein blitzendes schwarzgelbes Amulett, ziemlich ähnlich dem, das der tote Kundalimon getragen hatte. Vielleicht war es sogar dasselbe. Das Mädchen hatte ein Armband, ebenfalls aus einem Hjjk-Panzer. Selbst in der herrschenden Düsternis leuchteten die Talismane in übernatürlichem Schein. Husathirn Mueri erinnerte sich, wie die Panzer der Hjjks geleuchtet hatten, wenn sie ihre rätselhaften Runden durch die Straßen von Vengiboneeza machten, als er ein Kind war.

„Kundalimon führt und leitet uns von droben. Er sagt uns: Die Königin ist unsre Trösterin und unsre Lust!“ rief der Junge erneut.

Und wieder respondierte die ganze Gemeinde: „Die Königin ist unsre Trösterin und unsre Lust.“

Doch diesmal sprang drei Reihen weiter vorn ein untersetzter Mann auf und röhrte: „Die Königin ist der eine und einzige wahre Gott!“

Und die Gläubigen plapperten auch das nach: „Die Königin ist der eine und einzige wahre.“

„Nein!“ rief der Knabe laut. „Die Königin ist kein Gott!“

„Aber was ist sie dann? Was?“ Auf einmal war der liturgische Rhythmus gestört. Überall sprangen Leute auf, fuchtelten mit den Armen und riefen: „So sag uns doch, was SIE ist!“

Der Priester-Knabe sprang auf den Altartisch. Sofort hatte er wieder die volle Aufmerksamkeit der Gemeinde.

„Die Königin“, sagte er wieder mit dieser unheimlichen hohen Singsangstimme, „ist von göttlicher Essenz, kraft ihrer Abstammung von dem Volk der Großen Welt, das im Angesichte der Götter lebte.

Aber sie selbst ist nicht Gott.“ Der Junge schien einen Text herunterzuplappern, den er auswendig gelernt hatte. „Sie ist die Erbauerin der Pforte, durch welche die wahren Götter eines Tages zurückkehren werden. Also sprach Kundalimon.“

„Du meinst — die Menschlichen?“ fragte der grobschlächtige Mann. „Sind denn die Menschlichen die wahren Götter?“

„Die Menschen sind. sie sind.“ Dem Knaben auf dem Altar blieben die Worte weg. Seine Augen wurden glasig. Dafür hatte er keinen vorbereiteten Text parat. Er schaute zu dem Mädchen hinab, und sie reckte ihr Sensor-Organ hoch und schlang es in erstaunlich vertraulicher Weise um den Knöchel des Knaben. Verdutzt holte Husathirn Mueri tief Luft. Die Berührung schien dem Knaben wieder Sicherheit zu geben. Er reckte sich wieder hoch und rief: „Die Offenbarung der Menschlichen wird erst noch kommen! Wir müssen weiter auf die Offenbarung der Menschlichen warten! Und bis dahin ist die Königin unser Leitstern und unsere Führerin.“ Dann kamen wieder diese Hjjkklicklaute. „Sie ist unsre Trösterin und unsre Lust!“

„Sie ist unsre Trösterin und unsre Lust!“

Und alle machten jetzt diese respondierenden Klickgeräusche. Es war abscheulich. Der Knabe hatte sie wieder alle unter Kontrolle. Und auch das war scheußlich.

„Kundalimon!“ brüllte die Menge. „Oh, du hochheiliger Märtyrer Kundalimon, führ uns zur Wahrheit!“

Dann hob der Priesterknabe die Arme über den Kopf. Selbst von ganz hinten konnte Husathirn Mueri erkennen, daß seine Augen von der Glut der Überzeugung loderten.

„Sie ist das Licht und der Weg.“

„Sie ist das Licht und der Weg.“

„Sie ist die Essenz und die Substanz.“

„Sie ist die Essenz...“

„Da, schau!“ wisperte Husathirn Mueri. „Jetzt hat die Kleine ihren Sensor auf seinem.“

„Sie werden gleich tvinnern, Herr. Alle werden es gleich machen.“

„Aber ganz bestimmt nicht! Alle hier an einem Ort gemeinsam?“

„Ja, so machen die’s nun mal“, antwortete Chevkija Aim ungerührt. „Die tvinnern alle zusammen und dabei geht dann die Königin in ihre Seelen ein, so hab ich das jedenfalls gehört. Es ist ein religiöses Ritual bei ihnen.“

Betäubt und ungläubig sagte Husathirn Mueri: „Aber das ist ja die abscheulichste Blasphemie, die es je gab.“

„Ich hab draußen meine Leute warten. Wir können diese ganzen Hjjkophilen binnen fünf Minuten festnehmen und abtransportieren, wenn du befiehlst, und den Schuppen zertrümmern.“ „Nein!“

„Aber du hast doch gesehen, was die.“

„Ich hab nein gesagt. Es darf keine neuen Verfolgungen geben. Das ist der ausdrückliche Befehl des Häuptlings, und der ist dir durchaus bekannt.“

„Verstehe, Herr, aber.“

„Niemand wird festgenommen! Wir lassen dieses Bethaus absolut unbehelligt. Jedenfalls vorläufig. Und überwachen es genau. Wie sonst sollten wir herausfinden, welche Bedrohung da auf uns zukommt, wenn wir dem Feind nicht genau auf die Finger schauen? Kannst du mir folgen?“

Der Hauptmann der Wache nickte. Seine Lippen waren fest zusammengepreßt.

Husathirn Mueri hob den Kopf. Vor ihm erhoben sich die dunklen Schatten der Gläubigen von ihren Fässern, bewegten sich im Raum und bildeten Gruppen. Man hörte nicht mehr das hjjkische Geklicke, sondern statt dessen ein tiefes intensives Summen. Niemand kümmerte sich um die beiden flüsternden Männer im Hintergrund des Raums. Dann wurde es in dem engen Schlauch von Keller übermäßig heiß. Der Raum konnte sich jeden Moment entzünden und in Flammen aufgehen.

Leise sagte Chevkija Aim: „Wir verschwinden jetzt besser.“

Er bekam keine Antwort.

Husathirn Mueri hatte das Gefühl, als hätten seine Beine Wurzeln geschlagen. Am anderen Ende des Kellers tvinnerten der Junge und das Mädchen schamlos vor dem Altar, und nach und nach bildete die Gemeinde Zweierpaarungen und begann in die Kommunion zu treten. Noch nie hatte Husathirn Mueri von so etwas gehört. Nie hätte er sich so etwas einfallen lassen, nicht einmal im Traum. Er schaute entsetzt und fasziniert zu.

Chevkija Aim flüsterte: „Wenn wir hierbleiben, Herr, werden die wollen, daß wir auch.“

„Ja. Ja, wir müssen wohl gehen.“

„Alles mit dir in Ordnung, Herr?“

„Wir — müssen — müssen wohl — gehen.“

„Na, gib uns mal das Händchen, Herr. So. So ist’s recht. Und jetzt — hoch und auf!“

„Ja“, sagte Husathirn Mueri. Seine Füße fühlten sich unter dem Körper wie abgestorben an. Er stützte sich schwer auf seinen Begleiter und stolperte taumelnd auf die Tür zu.

Sie ist das Licht und der Weg. Sie ist die Essenz und die Substanz. Sie ist der Anfang und das Ende.

Die frische kalte Luft draußen traf ihn wie ein Faustschlag.

Hresh sagte: „Was ich früher mal über die Hjjks gedacht hab, war das, was alle immer geglaubt haben. Daß sie bösartige Fremdlinge sind. Unsere geschworenen Erzfeinde, fremd eben und eine Bedrohung. Aber in der letzten Zeit fange ich an, darüber etwas anders zu denken.“

„Genau wie ich“, sagte Nialli Apuilana.

„Und wieso?“

Sie zuckte die Achseln. „Es wird leichter für mich sein, wenn du zuerst sprichst, Vater.“

„Aber du sagst doch, du bist gekommen, um mir etwas zu sagen.“

„Das werde ich auch. Aber es wird ein Tauschgeschäft sein müssen: Was du weißt gegen das, was ich weiß. Aber ich möchte, daß du anfängst. Bitte! Bitte!“

Hresh schaute sie groß an. Sie war so verwirrend wie immer.

Nach einer Weile begann er: „Also gut. Vermutlich hat es bei mir begonnen, als du vor dem Präsidium gesprochen hast. Als du sagtest, man darf die Hjjks nicht als Ungeheuer ansehen, weil sie in Wahrheit intelligente Wesen mit einer tiefen und reichen Kultur sind. Du nanntest sie sogar menschlich. Mit jener besonderen Wortbedeutung, wie ich sie zuweilen angewandt habe. Das war der erste Hinweis, den du mir gegeben hast, auf das, was dir im Nest widerfahren ist. Und mir wurde bewußt, daß deine Behauptung zweifellos irgendwann einmal wahr gewesen sein muß, denn die Hjjks waren Teil der Großen Welt, und in der Vision der Großen Welt, die mir einst zuteil wurde, sah ich sie, und sie lebten in Frieden und Harmonie mitten unter den Saphiräugigen und den Menschlichen und den übrigen Rassen. Wie also hätten sie dämonische Ungeheuer und dennoch Teil der Großwelt sein können?“

„Genau das“, sagte Nialli.

Hresh blickte zu ihr hinauf. Sie wirkte heute noch seltsamer als gewöhnlich. Sie war wie eine aufgerollte Peitschenschnur.

Er sprach weitet: „Aber natürlich, was sie in der Große Welt waren, und das, was sie in hundertmal Tausenden Jahren seitdem geworden sind, ist nicht zwangsläufig das gleiche. Vielleicht haben sie sich ja verändert. Aber wer weiß das schon? Es gibt bei uns Leute, die von Grund auf überzeugt sind, daß die Hjjks böse sind. Thu-Kimnibol zum Beispiel. Aber inzwischen gibt es unter uns auch solche, die den ganz entgegengesetzten Standpunkt vertreten. Diese neuen Gläubigen, ich höre, daß sie in ihren Versammlungshäusern von den Hjjks als den Werkzeugen zu unserm Heil predigen, sie für nichts weniger als gütige heiligmäßige Wesen halten. Und Kundalimon gilt als eine Art Prophet.“ Hresh blickte sie forschend an. „Du weißt von diesen Bethäusern? Besuchst du sie?“

„Nein“, sagte Nialli. „Nie. Doch wenn sie predigen, daß die Hjjks gütig sind, irren sie sich. Die Hjjks kennen keine Güte. Nicht, wie wir das Wort verstehen. Doch sie sind auch nicht böse. Sie sind ganz einfach — sie selbst.“

„Ja, aber was sind sie denn dann? Ungeheuer — oder Heilige?“

„Beides. Und keins von beidem.“

Hresh dachte eine Weile darüber nach.

„Und ich hab gedacht, du verehrst sie“, sagte er dann. „Ich hab geglaubt, du wünschst dir nichts sehnlicher, als zu ihnen zu gehen und dort dein restliches Leben mit ihnen zu verbringen. Sie leben in einem Fluidum von Traum und Magie und Wunder, so ähnlich hast du gesagt. Man atmet die Luft im Nest, hast du zu mir gesagt, und deine Seele wird ganz erfüllt.“

„Das war einmal.“

„Und jetzt?“

Sie schüttelte schwach den Kopf. „Ich weiß nicht, was ich will. Oder was ich glaube. Nicht mehr. Ach, Vater, Vater, ich kann dir gar nicht beschreiben, wie verwirrt ich bin! Geh zurück ins Nest, sagt eine Stimme in mir, und lebe fortan in ewiger Königin-Liebe! Bleibe in Dawinno, sagt eine andere Stimme. Die Hjjks sind nicht, wofür du sie gehalten hast, sagt diese Stimme. Die eine ist die Stimme der Königin, und die andere — die andere. “ Sie blickte ihn an mit Augen, die vor Qual leuchteten. „Die andere Stimme kommt von den Himmlischen Fünf. Und ihr möchte ich gehorchen.“

Hresh schaute sie mit zusammengekniffenen Augen an. Er konnte es einfach nicht glauben. Damit hätte er zu allerletzt gerechnet, daß Nialli ihm so etwas sagen würde.

„Die Fünf? Du erkennst die Fünffaltigkeit an? Ja, seit wann denn, Nialli? Das ist ja ganz was Neues!“

„Nicht als höchste Autorität akzeptiere ich sie, nein, das nicht.“

„Was dann?“

„Ihren Wahrheitsgehalt. Die Weisheit in ihnen. Das überkam mich, als ich im Sumpf lag. Sie gingen in mich ein, Vater. Ich fühlte es. Ich dachte, ich würde sterben, und da kamen sie zu mir. Du weißt ja, ich habe früher an nichts geglaubt. Nun aber glaube ich.“

„Verstehe“, sagte er vage. Aber er begriff ganz und gar nicht. Je mehr sie ihm sagte, desto weniger schien er zu verstehen. Gerade als er begonnen hatte, die Anziehungskraft des Nests zu spüren — und das war teilweise durch Niallis Einfluß geschehen —, wandte sie sich anscheinend davon ab. „Also ist es nicht wahrscheinlich, daß du zum Nest zurückgehst, jetzt, wo du wieder stark bist?“

„Keine Gefahr, Vater. Nicht mehr die geringste Gefahr.“

„Bitte, Kind, sag mir die reine Wahrheit.“

„Es ist die Wahrheit. Du weißt, ich wäre mit Kundalimon gegangen. Aber nun ist alles anders. Ich zweifle an allem, woran ich einst glaubte, und ich glaube an Dinge, die ich früher in Zweifel gezogen habe. Die Welt ist für mich zum Rätsel geworden. Nein, ich muß bleiben und mir hier Klarheit verschaffen, ehe ich irgendwelche Entscheidungen treffe.“

„Ich frag mich, ob ich dir das glauben kann.“

„Ich schwör es dir! Bei jedem Gott, den es gibt! Bei der Königin, Vater!“

Sie streckte ihm die Hand hin, und er nahm sie und hielt sie behutsam fest wie etwas Kostbares.

Dann sagte er: „Wie rätselhaft bist du doch, Nialli! Fast ein so großes Rätsel wie die Hjjks.“ Er lächelte sie zärtlich an. „Aber vermutlich werde ich dich nie begreifen. Dennoch, ich glaube, ich fang wenigstens an, die Hjjks ein bißchen zu verstehen.“

„Wirklich, Vater?“

„Da, schau dir das mal an“, sagte er. „Ein erst kürzlich aufgefundener Text. Sehr alt.“

Vorsichtig hob er aus der größeren seiner beiden Schriftkästen eine Pergamentrolle und knüpfte die Schnur auf. Dann legte er die Schrift vor Nialli auf den Tisch.

Sie beugte sich vor und besah es sich. „Wo hat man es gefunden?“

„In meiner Chronikensammlung. Da hat es wahrhaftig die ganze Zeit gelegen. Aber es ist in bengisch geschrieben, einer dermaßen uralten fast unverständlichen Form. Deshalb habe ich mich wenig darum gekümmert. Aber Puit Kjai, als ich ihm sagte, daß ich mich mit hjjkischer Geschichte zu beschäftigen begonnen hätte, schlug mir dann vor, das da unbedingt mal anzusehen. Du weißt ja, er war der Kustos der Beng-Archive, bevor sie an mich überstellt wurden. Nun, er half mir bei der Dechiffrierung.“

Sie legte die Hände über das Manuskript. „Darf ich?“

„Du wirst nicht viel davon haben. Aber ja, mach nur!“

Er sah ihr zu, während sie sich über den Text beugte. Die Lineatur war für sie natürlich völlig unverständlich. Diese uralten Beng-Hieroglyphen waren völlig anders als die jetzt gebräuchlichen Charaktere und gingen einem modernen Begriffsvermögen ganz und gar nicht leicht ein. Aber Nialli schien fest entschlossen, das Problem zu meistern. Ach, sie ist mir doch in vielem verdammt ähnlich, dachte Hresh. Und in so vielen anderen Dingen so ganz und gar fremd.

Sie brummte tonlos vor sich hin, drückte die Finger fester auf, mühte sich, aus dem Blatt einen Sinn zu erschlüsseln. Als ihm schien, sie hätte sich lange genug vergeblich damit abgeplagt, griff er nach dem Skript, um es für sie zu entziffern, doch sie schob ihn weg und arbeitete allein weiter.

Er betrachtete sie, und sein Herz quoll ihm über vor warmer Zärtlichkeit. Er hatte sie schon so oft als verloren aufgegeben, aber da saß sie nun still und friedlich bei ihm in seinem Arbeitsstudio. wie früher oft, als sie noch klein gewesen war.

Wie entschlossen und intensiv sie sich auf das antike Manuskript stürzte, das entzückte ihn. Er sah eine wiedergeborene Taniane in ihr, und das führte ihn zurück in die Tage seiner Jugend, als er mit Taniane Vengiboneeza durchstöbert hatte, auf der Suche nach den Geheimnissen der Großen Welt.

Aber Nialli war natürlich etwas mehr als nur der Abklatsch ihrer Mutter. Er entdeckte auch den Hresh in ihr. Sie war impulsiv und unstet gewesen, ein nervöses, ein eigenwilliges Kind, genau wie er. Vor der Gefangenschaft bei den Hjjks war sie neugierig und überschwenglich gewesen, aber auch (wie Hresh es war) einsam, psychotisch, von unersättlicher Neugier, unangepaßt. Wie sehr er sie liebte! Wie tief er mit ihr fühlte!

Sie blickte von der Schriftrolle auf. „Es ist wie eine Sprache, wie man sie im Traum hört. Nichts bleibt lang genug fest, daß ich den Sinn erkennen könnte.“

„So ging es mir zuerst auch. Aber jetzt nicht mehr.“

Sie schob ihm das Skript hin, er legte die Finger darauf, und die seltsamen archaischen Wortgebilde stiegen in sein Bewußtsein herauf.

„Es ist ein Dokument aus den ganz frühen Jahren des Langen Winters“, sagte er. „Alle Stämme des VOLKES waren gerade erst in die Kokons gezogen. Und es gab da einige Beng-Krieger, die einfach nicht glauben wollten, daß sie ihr ganzes Leben lang versteckt in Höhlen sollten zubringen müssen. Und einer von denen veranstaltete einen ‚Aufbruch‘, um herauszufinden, ob man die äußere Welt zurückerobern könnte. Du mußt dir verdeutlichen, daß dies Tausende Jahre vor unseren eigenen drei verfrühten Versuchen eines Auszugs aus dem Kokon stattfand. Die nennen wir heute das ‚Kalte Erwachen‘, ‚Trugglühen‘ und ‚Unselige Morgenröten‘. Der Großteil des Texts fehlt, doch was wir haben, lautet so:


„…und sodann stand ich in dem Eisland, und eine Todesbeklemmnis überkam mein Herz, denn ich erkannte, ich würde nicht leben. Sodann wandte ich mich und suchte den Ort unseres Volkes, doch konnte ich den Eingang zur Höhle nicht mehr finden. Und sodann kamen welche vom Hjjk-Volk über mich und packten mich an selbiger Stelle, und legten Hand an mich, und schleppten mich hinweg. Ich aber war frei von Furcht, da ich ja schon dem Tod anheimgefallen war, und welcher Tapfere kann mehr als einmal sterben? Es waren ihrer zwanzig und gar grauenvoll ihr Anblick, und sie nahmen mich gewaltsam mit ihren Klauenhänden und brachten mich an jenen warmen dunklen Ort, woselbst sie hausen, und war es dortselbst wie in einem Kokon, nur gewaltig viel größer, und er erstreckte sich unter der Erde, weiter, als ich zu sehen vermochte, und gab es dortselbst zahlreiche große Straßen und Seitengänge, die in jegliche Richtung abzweigten.

Es befand sich aber an diesem Ort auch der Sitz der Groß-Hjjken, welche ein Ungeheuer ist und von ungeheurem, höchst erschrecklichem Übermaß, bei dessen Anblick mir das Blut rückwärts durch die Adern floß. Sie aber berührte meine innerste Seele und mein Herz mit ihrem Zweiten Gesicht und sprach zu mir also: Siehe, ich schenke dir Frieden und Liebe. Ich aber fürchtete mich nicht. Denn es war diese Berührung, als ihre Seele meine Seele ergriff, als nähme mich eine Große Mutter in IHRE Arme und an IHR Herz, und es verwunderte mich gewaltig, daß ein so riesenhaft furchtbares Tier mir solche Tröstung bieten konnte. Und abermals sprach sie und sagte: Zu früh bist du zu MIR gekommen, denn MEINE Zeit ist noch nicht da. Wenn aber die Welt erwachen wird und ein Ort der Wärme sein, dann will ICH euch alle in MEINE Arme schließen. Und dies waren alle Worte, die sie zu mir sprach, und fortan hörte ich sie nicht mehr. Ich weilte aber unter diesen Hjjks zwanzig Tag und zwanzig Nächte lang, welche ich höchst sorgsam zählte, und es kamen zu mir und bestürmten mich mit den Stimmen ihres inneren Wachseins Hjjks von geringerem Rang mit zahlreichen Fragen über mein VOLK, und wie wir leben und was unser Glaube ist, und sie sagten zu mir auch etliches, wie ihr Glaube sei, aber dies alles ist nun nur mehr wie ein Nebel in meinem Kopf und war es wohl auch zu der Zeit, da sie mir davon sprachen. Ich aß aber auch von ihrer Speise, welche ein abscheulicher Brei ist, welchen sie vorkauen und dann aus sich herausspucken, auf daß ihre Gefährten ihn nach ihnen noch einmal verzehren, was mich anfangs mit einigem Ekel abstieß, aber später überwältigte mich der Hunger, und so aß ich dennoch von dieser Speise und fand sie weniger widerwärtig, als mancher vielleicht denken mag. Als sie aber abließen, mich zu befragen, sprachen sie zu mir: Wir wollen dich nun zu deinem Volk heimführen, und sie führt mich hinaus in bittere Kälte und tödlichen Schnee und brachten mich hinweg bis.“


Hresh ließ die Schriftrolle sinken.

„Und damit endet es?“ fragte Nialli.

„Das Manuskript bricht hier ab. Aber was wir haben, ist doch deutlich genug.“

„Und was schließt du daraus, Vater?“

„Ich vermute, es erklärt, warum die Hjjks Gefangene machen. Sie tun das anscheinend seit Tausenden von Jahren. Allem Anschein nach, damit sie uns studieren können. Aber sie behandeln ihre Gefangenen sorgsam und lassen sie nach einiger Zeit wieder frei, immerhin manche, wie etwa diesen armen Trottel von Bengkrieger, den sie retteten, als er in den Eisfeldern herumirrte.“

„Also deshalb glaubst du inzwischen nicht mehr, daß die Hjjks Ungeheuer sind.“

„Ich habe niemals geglaubt, daß sie Ungeheuer sind“, sagte Hresh. „Feinde, ja. Erbarmungslose, gefährliche Feinde. Vergiß nicht, ich war dabei, als sie Yissou angegriffen haben. Doch vielleicht sind sie nicht einmal Feinde. Nach all der langen Zeit wissen wir bis heute noch nicht einmal genau, was sie sind. Wir haben uns nie die Mühe gemacht, auch nur Ansätze zu ihrem Verständnis zu machen. Wir hassen sie — schlicht und einfach, weil wir nichts über sie wissen.“

„Und sie werden uns wahrscheinlich immer unbekannt bleiben.“

„Ach? Und ich habe gedacht, du verstehst sie.“

„Ich verstehe sehr wenige Dinge, Vater. Ich hab mir vielleicht eingebildet, daß ich es tue. Ich hab mich geirrt. Wer versteht schon, warum die Himmlischen Fünf uns Wirbelstürme schicken, Hitzewellen oder Kälteperioden, oder Hungersnöte? Sie müssen ja doch wohl ihre Gründe dafür haben. Aber wie könnten wir uns anmaßen, zu bestimmen, was sie sind? Und das gilt auch für die Königin. Sie ist wie eine Kraft aus dem Universum. Es ist unmöglich, SIE zu erfassen und zu begreifen. Ich weiß ein klein bißchen, wie das Nest ist, wie seine Form ist, wie die Atmosphäre ist, wie man dort lebt. Aber das ist bloßes Wissen. Und Wissen heißt nicht Verstehen. Ich habe allmählich erkannt, daß keiner aus dem VOLK auch nur ansatzweise wird verstehen lernen können, was die KÖNIGIN bedeutet. Außer vielleicht jemand — der selbst im Nest war.“

„Aber du warst doch dort. Im Nest.“

„Ja, aber nur in einer kleinen Filiale. Was ich dort an Wahrheiten erfuhr, waren Kleinwahrheiten. Aber die Königin-der-Königinnen, die hoch droben im Norden residiert, sie ist die Quelle der wahrhaftigen Offenbarungen. Ich hatte gedacht, sie würden mich ihr zuführen, wenn ich älter geworden wäre; aber statt dessen haben sie mich laufen lassen und hierher nach Dawinno zurückgebracht.“

Hresh blinzelte verwirrt. „Sie haben dich — laufenlassen? Uns hast du aber gesagt, du bist geflohen.“

„Nein, Vater, ich bin nicht geflohen.“

„Nicht? Nicht geflohen?“

„Aber natürlich nicht! Sie haben mich freigelassen — genau wie den Beng da in deiner Chronik. Warum auch hätte ich einen Ort verlassen sollen, an dem ich vollkommen glücklich war — zum erstenmal in meinem Leben?“

Die Worte trafen ihn schmerzhaft wie Hiebe. Doch Nialli sprach fröhlich weiter.

„Ich mußte gehen. Freiwillig und aus eigenen Stücken wäre ich niemals dort weggegangen. Egal, ob das Nest nun ein guter oder ein böser Ort ist, eines ist wahr: Solange du drin bist, fühlst du dich höchst sicher und geborgen. Du weißt einfach, du lebst an einem Ort, an dem Zweifel, Ungewißheit und Qual unbekannt sind. Ich habe mich dem vollkommen preisgegeben, mich überantwortet. Mit Freuden. Und wer würde das nicht tun? Aber eines Morgens holten sie mich und erklärten mir, ich sei nun so lange bei ihnen geblieben, wie es nötig sei, und dann brachten sie mich hinaus und verfrachteten mich auf einem Zinnobären bis hierher an die Stadtgrenze und ließen mich dann laufen.“

„Aber du hast uns doch erzählt, du bist ihnen entronnen“, stammelte Hresh wie betäubt.

„Nein. Du und meine Mutter, ihr habt entschieden, daß ich ihnen entronnen bin. Wahrscheinlich, weil es euer Vorstellungsvermögen überstiegen hätte zu akzeptieren, daß jemand es vorziehen könnte, im Nest zu bleiben, anstatt hierher zurückzukehren, nach Dawinno in die Heimat. Nun, ich habe euch nicht widersprochen. Ich habe überhaupt nichts gesagt. Ihr habt unterstellt, daß ich den Klauen der widerlichen Wanzenmonster entfliehen konnte, wie das der Wunsch einer jeden vernünftigen Person zu sein hat, und ich habe euch in dem Glauben gelassen, weil ich wußte, ihr brauchtet dringend diese Überzeugung, und außerdem fürchtete ich, wenn ich euch irgendwas sagen würde, was der Wahrheit auch nur nahekam, ihr würdet mich für unzurechnungsfähig erklären. Wie hätte ich euch also die Wahrheit sagen können? Wenn jeder Bürger in dieser Stadt glaubt, daß die Hjjks scheußliche raubgierige Dämonen sind, und wenn ihr das seit ewigen Zeiten glaubt, und ich stelle mich dann hin und sage, nein, das ist nicht so, ich habe bei ihnen nur Liebe und Wahrheit gefunden, wer wird mir dann glauben? Wird man mir nicht vielmehr bestenfalls ein bißchen mitleidige Verachtung zuteil werden lassen?“

„Ja. Ja, ich verstehe.“ Die Bestürzung und das elende Versagergefühl wichen allmählich von Hresh. Nialli wartete stumm. Schließlich sagte er, sehr leise: „Ich verstehe, daß du uns belügen mußtest, Nialli. Jetzt verstehe ich das. Ich verstehe jetzt eine Menge Dinge besser.“ Er verstaute den alten Beng-Papyros, verschloß den Schriftkasten und ließ die Hände auf dem Deckel ruhen. „Wenn ich damals schon gewußt hätte, was ich jetzt weiß, es wäre anders gekommen.“

„Was willst du damit sagen?“

„Die Hjjks. Das Nest.“

„Ich versteh nicht, worauf du hinauswillst.“

„Ich habe inzwischen eine Vorstellung davon, wie das NEST ist. Die gewaltige lebendige Maschine, die es darstellt. Die perfektionie rte Planung, nach der sich alles, um die sich alles dreht — um die lenkende Intelligenz — die Königin. die ihrerseits die Verkörperung der Steuerungskraft im Universum.“

Nun war es an Nialli, verblüfft zu sein. „Aber — du redest ja fast wie einer, der im Nest war!“

„War ich“, sagte Hresh. „Und das war auch etwas, das ich dir noch sagen mußte.“

Niallis Augen blitzen vor ungläubiger Überraschung. „Was? Du warst im Nest? Du? “ Sie wich zurück, erhob sich und stemmte sich mit beiden Händen gegen die Tischkante. Vor Verblüffung stand ihr der Mund offen. „Was erzählst du mir da, Vater? Soll das vielleicht ein Witz sein? Die Sache ist aber ganz und gar nicht spaßig.“

Er nahm ihre Hand wieder und sagte: „Ich hab wirklich die kleineren Nester gesehen, wie das, in das du entführt worden bist. Und einmal näherte ich mich dem Hauptnest mit der Großkönigin darin. Doch ich kehrte um, ehe ich es erreicht hatte.“

„Wann? Wie?“

Er lächelte mild. „Nicht wirklich körperlich, Nialli. Ich war nicht real dort. Es geschah mit Hilfe des Barak Dayir.“

„Aber dann warst du doch dort!“ rief sie und packte ihn erregt am Arm. „Der Barak Dayir gibt dir Wahrvisionen, Vater. Das hast du mir selber gesagt. Du hast in das Nest geschaut! Darum mußt du auch die Nest-Wahrheit kennen. Verstehst du nicht?“

„Verstehe ich? Ich fürchte, ich bin sehr weit von jeglichem Verständnis entfernt.“

„Aber nein!“

Er schüttelte den Kopf. „Vielleicht verstehe ich ein wenig. Aber nur sehr wenig, fürchte ich. Ich begreife vielleicht ein paar Ansätze. Ich hatte nur eine flüchtige Vision, Nialli. Und sie dauerte nur einen Augenblick.“

„Auch ein Augenblick wäre schon genug. Ich versichere dir, Vater, es gibt keine Möglichkeit, mit dem Nest in Berührung zu kommen, ohne die Nest-Wahrheit zu erleben. Und damit weiß man von der NestBindung, dem Ei-Plan, von allem.“

Er forschte in seinem Gedächtnis. „Ich weiß aber nicht, was diese Worte begrifflich bedeuten, nicht so recht jedenfalls.“

„Wir haben vor ganz kurzem davon gesprochen. Als du das Nest eine gewaltige lebende Maschine genannt hast und von der Vollkommenheit seiner Struktur sprachst.“

„Sprich mir davon, sag mir mehr!“

Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich. Sie schien tief in sich selber zu entweichen. „Nest-Bindung“, sprach sie dann mit seltsam hochgeschraubter Stimme, als sagte sie eine auswendig gelernte Lektion auf, „ist das klare Bewußtsein der Beziehung eines jeglichen Dinges im Universum mit allen anderen. Wir sind alle Teile des Nestes, sogar jene unter uns, die nie eine solche Erfahrung gemacht haben, auch die, für die Hjjks furchteinflößende Ungeheuer sind. Denn alles ist in einem einzigen großen Muster miteinander verwoben, welches da ist die unendliche, unbremsbare Energie des Lebens. Die Hjjks sind nur das Medium, der Träger, in denen sich diese Kraft in unserer Zeit manifestiert; und die Königin ist der Leitstrahl in unserer Welt. Das ist Nest-Wahrheit. Und der Ei-Plan ist die Energie, die die Königin zum Ausdruck bringt durch die Hervorbringung eines unablässigen Stromes von Erneuerung. Königin-Licht ist das Glühen ihrer Wärme; Königin-Liebe das Symbol ihrer großen liebevollen Fürsorge für uns alle.“

Von dem plötzlichen Ausbruch von ungewohnter Beredtheit reagierte Hresh verdutzt und wie vom Blitz gestreift. Die Worte waren fast hemmungslos aus ihr hervorgesprudelt, fast als spräche jemand (oder etwas?) anderes durch sie. Ihr Gesicht glühte, die Augen leuchteten vom Feuer absoluter, unerschütterbarer Überzeugung. Sie wirkte wie von einem plötzlichen Anfall visionärer Glaubensglut emporgsrissen: Sie flammte geradezu, sie loderte.

Dann flackerte die Flamme, erlosch, und sie war wieder nur Nialli Apuilana. Und genauso durcheinander und beunruhigt wie zuvor.

Sie hockte betäubt und schlaff vor Hresh. Was für ein rätselhaftes Geschöpf sie doch ist, dachte er.

Aber was diese anderen Rätsel betraf, die des Nests — sie waren gewaltig und kompliziert, und er wußte, nur auf diese Weise davon zu hören, würde ihm niemals den wahren Zugang zu ihnen vermitteln können. Er wünschte sich nun, er wäre damals länger verweilt, als er die Barak-Dayir-Reise in das Hjjk-Land unternahm. Er begriff, daß er, sehr bald schon, diese Fahrt erneut unternehmen müsse, um eine viel tiefere Erkenntnis des Nests als beim erstenmal zu erlangen. Er mußte erfahren, was Nialli dort begriffen hatte, und zwar aus erster Hand und direkt. Und sollte ihn diese Erfahrung auch das Leben kosten. Er fühlte sich sehr müde. Und Nialli wirkte erschöpft. Hresh begriff, daß sie für diesmal am Ende ihres Gespräches angelangt waren und nicht weiterkommen würden.

Doch Nialli war offenbar noch nicht dazu bereit. „Nun?“ fragte sie. „Was sagst du dazu? Verstehst du jetzt, was Nest-Bindung bedeutet? Ei-Plan? Königin-Liebe?“

„Nialli, du siehst so erschöpft aus.“ Er strich ihr über die Wange. „Du solltest gehen und dich ein bißchen ausruhen.“

„Das werde ich. Aber erst sag mir, daß du verstanden hast, was ich dir gesagt habe, Vater. Und ich hätte es ja eigentlich auch gar nicht sagen müssen, ist es nicht so? Das alles hast du doch bereits gewußt, oder? Du mußt es doch gesehen haben, als du mit deinem Wunderstein ins Nest geschaut hast.“

„Einiges davon, ja. Ein Eindruck von Form, Modellhaftigkeit, universaler Ordnung. Das hab ich gesehen. Aber es ging so rasch. Und dann floh ich davor. Nest-Bindung — Königin-Licht. Nein, das sind bloße Worthülsen für mich, ich verbinde keine reale Substanz mit ihnen.“

„Ich glaube, du begreifst mehr, als du annimmst.“

„Es ist nur der Beginn eines dämmernden Verständnisses.“

„Immerhin — ein Anfang.“

„Ja. Ja, wenigstens weiß ich nun, was die Hjjks nicht sind.“

„Keine Dämonen, willst du sagen? Keine Ungeheuer?“

„Keine Feinde.“

„Keine Feinde, nein“, sagte Nialli. „Widerstreiter — vielleicht. Aber gewiß keine Feinde.“

„Eine sehr subtile kritische Begriffsnuance.“

„Aber eine faktengerechte, Vater.“


Thu-Kimnibol war endlich wieder daheim. Die Fahrt nach Süden war rasch vonstatten gegangen, wenn auch längst nicht schnell genug für ihn, dafür aber ohne Zwischenfälle. Jetzt stapfte er durch die großen verlassenen Räume seiner prächtigen Villa in Dawinno und entdeckte sie sozusagen neu und machte sich nach der langen Abwesenheit wieder mit seinem Heim und seinen Besitztümern vertraut. Es war niemand bei ihm, als er von einem hallenden Raum zum nächsten schritt und hier und dort innehielt, um die Objekte in den Schaukästen zu begutachten.

Überall schwebten Phantome und Gespenster. Denn die Sammelgegenstände hatten ja eigentlich Naarinta gehört; sie hatte zum großen Teil die antiken Schätze, von denen diese Räume überquollen, zusammengetragen und sie geordnet: die Brocken von Skulpturen aus der Großwelt, Architekturfragmente, seltsam verbogenen, verdrehte Metallgegenstände, deren Verwendungszweck man wahrscheinlich niemals würde erschließen können. Während er die Sammlung betrachtete, begann sein Sensor zu kribbeln, und er spürte, wie das ungeheure Alter dieser angeschlagenen, verbeulten Artefakte sich um ihn verdichtete, ihn stark und lebendig zu bedrängen begann, in fremdartigen Energieströmen pulste und vibrierte, so daß seine Villa ihm wie ein Totenhaus vorkam, und dabei war sie doch erst vor einem Dutzend Jahren erbaut worden.

Es war noch früh am Tag, kaum Stunden nach seiner Ankunft. Aber er hatte keine Zeit verloren, seine Kriegsvorbereitungsmaschinerie in Gang zu setzen. Für den Nachmittag hatte er einen Termin bei Taniane; zunächst aber hatte er Läufer ausgeschickt an Si-Belimnion, Kartafirain, Maliton Diveri und Lespar Thone: allesamt Männer mit Macht, Männer seines Vertrauens. Er wartete voll Ungeduld auf ihr Erscheinen. Es war nicht angenehm, hier so allein zu warten. Er hatte nicht damit gerechnet, wie schmerzhaft es sein würde, in ein leeres Haus zurückzukehren.

„Deine Gnaden?“ Es war Gyv Hawoodin, sein Majordomus, ein betagter Mortiril, der seit Jahren in seinen Diensten stand. „Deine Gnaden, Kartafirain und Si-Belimnion wären da.“

„Schick sie rauf! Und dann bring uns Wein!“

Er umarmte die Freunde feierlich. Ein feierlicher Ernst schien überhaupt der passende Gesamttenor für diesen Tag zu sein: Si-Belimnion trug einen dunklen Umhang von trübseliger, geradezu begräbnishafter Düsterkeit, und sogar der sonst übersprudelnd fröhliche Kartafirain wirkte heute bedrückt und übellaunig. Thu-Kimnibol reichte ihnen den Wein, und sie leerten ihre Becher, als wäre es Wasser.

„Du wirst es nicht glauben, was sich hier während dein Abwesenheit getan hat“, begann Kartafirain. „Die gemeine Plebs singt Hymnen auf die Hjjkkönigin. Sie versammeln sich in Kellern, und kleine Kinder predigen ihnen einen verrückten Katechismus.“

„Die Hinterlassenschaft dieses Gesandten Kundalimon“, brummte Si-Belimnion und stierte trübselig in seinen Becher. „Husathirn Mueri hat uns ja gewarnt, daß der Kerl ein Jugendverderber ist, und das war er dann ja auch. Was für ein Jammer, daß er nicht früher umgebracht wurde.“

„Und es war Curabayn Bangkea, der ihn erledigt hat?“ fragte Thu-Kimnibol.

Mit einem Achselzucken antwortete Kartafirain: „Der Wachhauptmann, ja. Jedenfalls sagt man das allgemein. Aber den hat auch jemand umgebracht. Am selben Tag.“

„Ich hab droben im Norden davon gehört. Und wer hat ihn beseitigt, was meint ihr?“

„Höchstwahrscheinlich die Person, wer immer das war, die ihn angestiftet hat, Kundalimon umzulegen“, sagte Si-Belimnion. „Damit der nicht reden kann, zweifellos. Keiner weiß, wer es gewesen sein könnte. Ich hab zwanzig verschiedene Hypothesen gehört, allesamt völlig absurd. Auf jeden Fall sind die Ermittlungen zunächst einmal fast eingeschlafen. Alles dreht sich nur noch um diese neue Religion.“

Thu-Kimnibol starrte ihn verblüfft an. „Ja, aber unternimmt denn Taniane nichts, um das auszumerzen? Ich hab da doch sowas gehört.“

„Es ist leichter, einen Waldbrand im Hochsommer zu löschen“, sagte Kartafirain. „Das hat sich rascher ausgebreitet, als die Wachtruppe ihre Kapellen schließen konnte. Und Taniane hat dann schließlich entschieden, daß es zu riskant sein würde, die neue Religion mit Stumpf und Stiel auszurotten. Es hätte zu einem Volksaufstand kommen können. Das niedere Volk beteuert lautstark, wie segensreich die Lehren der Königin sind. Sie ist ihre Trösterin und ihr Lustobjekt, so singen sie in ihren Gebeten. Das Licht und der Weg. Und sie glauben, alles hier bei uns wird Liebe-Frieden-Honigschlecken sein, sobald nur erst einmal diese bezaubernd-sanftmütigen Hjjks unter uns weilen.“

„Es ist nicht zu fassen!“ murmelte Thu-Kimnibol. „Völlig unbegreiflich!“

„Ha! Es gab Liebe und Friedfertigkeit massenhaft in jenen Tagen, da unsere Vorfahren im Kokon hausten“, rief Maliton Diveri, der gerade in den Saal gekommen war. „Vielleicht ist es ja das, was sie in Wahrheit anstreben. Das Leben als Städter völlig abstreifen, in einen Kokon zurückkehren und ihre Tage mit Schlafen hinter sich zu bringen, oder mit Fußringen, oder wie das sonst heißt, und dem unentwegten Kauen von Samtbeeren! Pfui! Es widert mich wirklich an, wie unsere Stadt verkommen ist, Thu-Kimnibol! Und dir wird es ebenso gehen.“

„Der Krieg wird all diesen Torheiten ein Ende machen“, sagte Thu-Kimnibol scharf.

„Der — Krieg?“

„Ich habe in all den verflossenen Monden unentwegt mit König Salaman konferiert. Es ist mein Eindruck, daß er glaubt, es herrsche Unruhe und Verärgerung unter den Hjjks, daß unsere Nichtakzeptanz ihres Vertragsangebots sie vor den Kopf gestoßen hat und daß sie uns alle demnächst mit Krieg überziehen werden. Der erste Schritt wird ein Angriff auf Yissou sein, noch in diesem Jahr. Aber wenn das Präsidium zustimmt und den Vertrag ratifiziert, werden wir brüderlich verpflichtet sein, ihm in diesem Fall zu Hilfe zu kommen.“

Maliton Diveri sagte glucksend: „Also, der Salaman, der hat ja schon seit dreißig Jahren unentwegt Angstträume von einer Invasion der Hjjks. Hat er nicht deswegen Yissou hinter seiner grotesken Mauer versteckt? Aber die Invasion — die findet nie statt. Was bringt ihn dazu anzunehmen, daß sie ausgerechnet jetzt kommen wird? Und wieso meinst du, daß er recht hat?“

„Ich habe gute Gründe für diese Überzeugung“, antwortete Thu-Kimnibol.

„Und dann, was?“ fragte Si-Belimnion. „Wird diese unsere plötzlich so hjjkliebende Stadt, wie die Dinge nun mal grad laufen, auch nur einen Finger rühren zur Rettung von Yissou, das schließlich ziemlich weit weg ist?“

„Wir werden ein wenig nachhelfen müssen, damit sie einsehen lernen, wie wichtig es für uns ist, daß wir uns in diesem unsrem neuen Pakt bündniskonform verhalten“, sagte Thu-Kimnibol ruhig. „Wenn es nämlich einen Angriff geben sollte — und Salaman besiegt die Hjjks ohne unsere Hilfe, dann wird er Vengiboneeza und die Gebiete nördlich davon für sich beanspruchen. Und dürfen wir ihm erlauben, das alles zu schlucken? Wenn andererseits Yissou den Hjjks in die Hände fällt, dann wird es nicht lange dauern, und wir sehen ganze Wanzenarmeen durch unser eigenes Territorium marschieren. Und das ist ja noch weniger angenehm. Wir werden den Leuten hier in unserer Stadt das klarmachen. Sie werden begreifen müssen, daß eine hjjkische Invasion Yissous ein aggressiver kriegerischer Akt gegen alle aus dem VOLK und in jeglicher Stadt wäre. Es wird ja doch sicher nicht jeder hier bei uns inzwischen ein Anbeter der Königin geworden sein. Wir werden genügend loyale Bürger finden. Die anderen können — wenn sie so wollen — ja daheimbleiben und zu ihrer neuen Göttin beten. Wir aber werden nordwärts marschieren und dieses Nest zerstören.“

„Das Nest zerstören?“ fragte Lespar Thone, Er war unter allen Prinzen der vorsichtigste, denn er war ein Mann von beträchtlichem Besitz, was ihn ehrenwert machte und zu bedächtig-vorsichtigem Verhalten zwang. „Und du meinst, das würde so leicht sein? Die Hjjks haben uns gegenüber eine zehnfache Übermacht, ja vielleicht eine hundertfache. Und sie werden kämpfen wie die Teufel, die sie sind, um zu verhindern, daß wir auch nur in die Nähe ihres Nestes kommen. Wie sollen wir denn mit einer derartigen Übermacht fertigwerden?“

„Ich erlaube mir, dich daran zu erinnern, daß ich ihrer Übermacht bereits einmal gegenüberstand“, schnarrte Thu-Kimnibol. „Wir haben die Hjjks vor langer Zeit schon einmal hinweggefegt, in der Schlacht um Yissou. Wir werden sie auch diesmal wieder vernichtend schlagen.“

„In der Schlacht um Yissou hatte das VOLK aber Unterstützung durch so ein Waffensystem aus der Großen Welt, war es nicht so?“ bemerkte Lespar Thone.

Thu-Kimnibol warf ihm einen giftigen Blick zu. „Du redest wie Puit Kjai. Oder wie Staip. Wir haben diesen Kampf aus eigner Kraft und Mannhaftigkeit gewonnen.“

„Aber Hresh hatte doch irgend so ein altes Ding, das euch dabei ziemlich nützlich war, so hab ich es jedenfalls sagen hören“, bohrte Lespar Thone weiter. „Manchmal ist es halt mit kämpferischem Mut und Mannestugend nicht getan, mein guter Thu-Kimnibol. Und angesichts einer dermaßen gewaltigen Hjjk-Horde, die verzweifelt entschlossen ist, ihre Königin zu verteidigen.“

„Worauf willst du eigentlich hinaus?“

„Auf das gleiche wie Husathirn Mueri, als wir diesen ganzen Komplex im Präsidium behandelten. Ehe wir die Hjjks relativ sicher vor eignem Schaden angreifen können, brauchen wir ein paar neue Waffensysteme.“

„Vielleicht könnte das Zeug, das man vor kurzem draußen im Land entdeckt hat, den Zweck erfüllen“, sagte Kartafirain.

Alle schauten zu ihm hinüber.

„Da mußt du mich erst ein bißchen genauer informieren“, sagte Thu-Kimnibol.

„Also, die Geschichte ist irgendwie aus dem Haus des Wissens durchgesickert. Aber ich glaube, dahinter steckt was Brauchbares. Also anscheinend hat es während dieser — windigen Zeit im Emakkis-Tal einen gewaltigen Erdrutsch gegeben, und irgend so ein Bauerntrottel, der auf der Suche nach seinen verirrten Viechern war, stolperte dabei über den Eingang zu einem Schacht, der in einen Berg führte. Und dort fand er gewisse antike Artefakte. Inzwischen hat man sie ins Haus des Wissens gebracht. Ein Mitglied des Hresh-Teams ist überzeugt, daß es sich um Kriegsgerät aus der Zeit der Großen Welt handelt, oder doch immerhin um Zerstörungsmechanismen. Diese Information habe ich von einem Vertrauensmann, der dort arbeitet, einem Koshmari. Er heißt Plor Killivash. Seine Schwester steht in meinen Diensten.“

Thu-Kimnibol schoß ein triumphierendes Lächeln in Richtung Lespar Thole. „Da hast du es! Wenn sich das als nur halbwegs fundiert erweist, haben wir doch genau, was wir brauchen.“

Si-Belimnion sagte: „Es heißt, daß Hresh der Idee eines Krieges gegen die Hjjks ziemlich abgeneigt ist. Vielleicht verweigert er die Kooperation.“

„Abgeneigt oder nicht, der Krieg kommt. Und er wird uns helfen.“

„Wenn er sich aber weigert?“

„Er ist mein Bruder, Si-Belimnion. Er wird mir nicht staatswichtige Informationen vorenthalten.“

„Trotzdem“, fuhr Si-Belimnion beharrlich fort, „vielleicht solltest du erwägen, einen von Hreshs Mitarbeitern anzusprechen, anstatt ihn selbst. Diesen Plor Killivash beispielsweise. Ich brauche ja wohl nicht gerade dir zu sagen, wie unberechenbar Hresh sein kann.“

„Ein guter Punkt. Wir werden an ihm vorbeimanövrieren. Kartafirain, könntest du noch so eine kleine Unterhaltung mit deinem Freund im Haus des Wissens arrangieren?“

„Will sehen, was sich machen läßt.“

„Ja, und sieh zu, daß es funktioniert. Diese Wunderwaffen sind genau, was wir brauchen. Natürlich, falls es wirklich Waffen sind.“ Thu-Kimnibol goß die Weinschalen erneut voll und trank dann genüßlich. Nach einer Weile sagte er: „Es beunruhigt mich, daß Taniane nicht bereit war, gegen diesen neuen Kult der Hjjk-Verehrung vorzugehen. Und sagt mir bloß nicht, daß sie inzwischen so sehr in die Königin verliebt ist wie ihre Tochter!“

Kartafirain lachte. „Kaum. Sie verabscheut sie so abgründig wie du.“

„Ja, aber warum erlaubt man denn dann, daß diese Bethäuser so florieren?“ „Es stimmt schon, was Kartafirain gesagt hat“, meldete sich Si-Belimnion. „Sie fürchtete einen Volksaufstand, wenn die Geschichte weiter unterdrückt worden wäre.“

„Früher hat es Taniane nie an dem nötigen Mut gefehlt.“

„Du wirst feststellen, daß sie sich sehr verändert hat“, sagte Si-Belimnion. „Sie wirkt alt. Man sieht sie kaum noch im Präsidium, und wenn sie schon mal erscheint, sagt sie kaum etwas.“

„Ist sie krank?“ fragte Thu-Kimnibol und dachte dabei an Naarinta.

„Müde, hauptsächlich. Müde und betrübt. Sie ist schon länger Häuptling, als die meisten von uns an Jahren zählen, guter Freund, und das Amt und seine Bürden haben sie schwer gezeichnet. Und nun muß sie auch noch erleben, daß ihr die Stadt unter den Händen zerfällt.“

„Aber so schlimm kann es doch nicht sein!“

Si-Belimnion lächelte ihn trübe an. „Eine bizarre neue Religion grassiert unter der Bevölkerung, Ihre eigene Tochter hat sich in unverständliche Phantastereien verstiegen. Auf den Straßen wird sie von der Menge bedroht, und man fordert ihre Abdankung — Hitzköpfe aus meinem eigenen Stamm überwiegend, wie ich mit Scham bekenne. Und es regnet und regnet immerfort weiter, wie man das hier noch nie gesehen hat. Taniane glaubt, die Götter haben sich gegen uns gewandt, und sie glaubt, ihr eigenes Ende kann nicht mehr weit sein.“

Thu-Kimnibol blickte Kartafirain an. „Ist das wahr?“

„Sie ist stark verändert. Und ich glaube, nicht zum Besseren.“

„Unglaublich. Nicht zu fassen. Nie gab es eine vitalere Person als diese Frau. Aber ich will mit ihr reden. Ich will ihr aufzeigen, daß der Krieg unsere Rettung bedeuten wird. Sie wird sich wieder jung fühlen, sobald wir losmarschiern, um die Hjjks zu zerschmettern!“

„Es ist möglich, daß sie, was den Krieg betrifft, gegen dich stimmt“, warf Maliton Diveri ein.

„Meinst du?“

„Husathirn Mueri ist in letzter Zeit einer ihrer engsten Vertrauten. Und du weißt ja, Thu-Kimnibol, daß er konstant die Gegenposition zu allem einnimmt, was du vertrittst. Bist du für den Krieg, stimmt er gewiß dagegen. Er plädiert immer noch dafür, daß wir beobachten und abwarten sollen, nichts unternehmen, unsere Kräfte sammeln. Und im Präsidium wird er garantiert gegen deine Allianz mit Salaman auftreten.“

Thu-Kimnibol spuckte. „Husathirn Mueri! Dieses schlüpfrige Gespenst! Wie kann Taniane bloß so einem Kerl ihr Vertrauen schenken?“

„Wer hat g3sagt, daß sie ihm vertraut? Nein, dazu ist sie viel zu klug. Aber sie hört auf ihn. Und ich garantiere dir, er wird ihr gegen jegliche Militäraktion raten, wenn du sie vorschlägst. Möglicherweise kriegt er sie sogar herum.“

„Darum wird man sich kümmern müssen“, grollte Thu-Kimnibol.


Trotz der Vorwarnungen war er bestürzt über die Verwandlung, die seit dem Sommer mit Taniane geschehen war. Sie sah aus, als wäre sie hundert Jahre alt. Es war kaum zu glauben, daß dieses trübäugige, stumpffellige Weib der wilde hitzige Häuptling sein sollte, der so viele Dekaden lang diese Stadt mit starker Hand regiert hatte. Die grotesken Masken der früheren Häuptlinge an der Wand hinter ihr schienen Tanianes müde Schlaffheit höhnisch zu unterstreichen. Thu-Kimnibol schämte sich beinahe, daß er selber so vital und stark war.

„Endlich“, sagte sie. „Ich hab schon geglaubt, du kommst überhaupt nicht mehr zurück.“

„Die Verhandlungen mit Salaman waren kompliziert. Und sie erforderten ziemlich viel taktvolle Planung. Außerdem hat er sich enorm bemüht, mir den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu machen.“

„Ein seltsamer Mann, dieser Salaman. Ich hätte eher erwartet, daß er dich noch immer haßt.“

„Ich zunächst auch. Aber das alles sind inzwischen alte Geschichten. Er war ausgesprochen lieb und freundlich.“

„Salaman? Lieb und freundlich?“ Taniane brachte ein blasses Lächeln zustande. „Nun ja, vielleicht. Sogar die Hjjks, sagt man, können lieb und freundlich sein.“ Sie sank in ihren Sessel zurück. Mit einer Stimme, die aus einer tiefen Gruft zu dringen schien, sprach sie dann: „Hier hat sich inzwischen eine Art Wahnsinn ausgebreitet, mein Thu-Kimnibol. Ich habe fast keine Kontrolle mehr über die Dinge. Ich brauche alle Hilfe, die du mir geben kannst.“

„Ich hab dich noch nie dermaßen verzagt erlebt, Schwester.“

„Du hast von dieser neuen Religion gehört? Diesem Kundalimon-Glauben?“

„Hjjk-Glauben, meinst du wohl.“

„Ja. In Wahrheit läuft es auf das hinaus.“

„Die Herbstkarawane hat uns darüber einiges berichtet.“

„Die Anhänger dieses Glaubens — und es sind ihrer Hunderte, Thu-Kimnibol, vielleicht Tausende! — bedrängen mich, diesen Vertrag mit der Königin zu akzeptieren. Jeden Tag überhäufen sie mich mit Petitionen. Sie marschieren zu Demonstrationen vor dem Präsidium auf. In der Öffentlichkeit, auf den Straßen brüllen sie mich an. Ich sage dir, dieser junge Mann hat in den paar Wochen, die er unter uns weilte, die Köpfe unserer Kinder mit einem Gift verseucht. Bei den Göttern, Thu-Kimnibol, ich sag dir, ich wünschte, man hätte ihn eher umgebracht!“

Beunruhigt sagte er: „Aber du hast doch sicher nichts mit seinem Tod zu tun gehabt, Taniane?“

In ihren Augen blitzte kurz das alte Feuer auf. „Nein! Natürlich nicht! Ganz und gar nicht! Bin ich etwa eine Mörderin? Ich hatte keine Ahnung, daß der Junge einen derartigen Schaden anrichten würde. Außerdem war er der Geliebte von Nialli. Glaubst du etwa, ich hätte ihn deswegen beseitigen lassen wollen? Nein, Bruder, ich hatte damit nichts zu tun. Und ich wünschte, ich wüßte, wer das getan hat.“

„Er war ihr — Geliebter?“ fragte Thu-Kimnibol erschüttert.

„Ja, hast du das denn nicht gewußt? Sie waren Kopulationspartner und überdies auch noch Tvinnr-Partner. Ich dachte, das ist inzwischen allgemein bekannt.“

„Ich war mondelang fort, Schwester.“

„Aber du scheinst sonst über alles gut unterrichtet zu sein, was sich hier abspielte.“

„Ihr Geliebter“, wiederholte Thu-Kimnibol, der diese Vorstellung noch immer nicht verdaut hatte. „Also, daran hätte ich nie gedacht. Aber wie plausibel das plötzlich wird! Kein Wunder, daß sie den Verstand verloren hat, als er getötet wurde.“ Er schüttelte den Kopf. Die Vorstellung, daß seine Brudertochter sich überhaupt einen Geliebten nehmen könnte, nachdem sie sich die ganze Zeit dermaßen erhaben über derlei gegeben hatte, war befremdlich genug. Daß sie sich dann aber ausgerechnet diesen verträumten Hjjk-Zögling auserwählen mußte. Das sieht ihr wirklich ähnlich, dachte er. Und daß der sich dann auch noch umbringen lassen muß. Wie traurig. „Die Götter waren nicht sehr freundlich zu dem Mädchen“, sagte er. „Es scheint irgendwie nicht gerecht, daß jemand so Junges dermaßen viele Erschütterungen erleben muß. Ich nehme an, sie hat sich nun fest dieser neuen Religion verschrieben?“

„Nicht daß ich wüßte. Wenn alles mit rechten Dingen zuginge, dann müßte das wohl so sein. Aber man berichtet mir, daß sie immer nur in ihrem Zimmer im Nakhaba-Haus sitzt und kaum je ausgeht. Auch ich sehe sie nicht sehr oft, verstehst du?“ Taniane lachte bitter. „Begreifst du nun, was hier los ist? Mein eigenes Kind ist mir so fremd geworden, als wäre sie eine Hjjk. Mein Lebenspartner versteckt sich wie üblich im Haus des Wissens und vergräbt sich völlig in Wichtigkeiten, die zehn Millionen Jahre alt sind. Mein Volk blökt mich an, ich solle einen Vertrag unterschreiben, der unser Ende bedeutet. Es wurden Stimmen laut, die sogar meinen Rücktritt fordern, hast du davon gehört, mein Thu-Kimnibol? ‚Du bist schon viel zu lang im Amt‘, sagen sie mir, fast direkt ins Gesicht. ‚Es wird Zeit, daß du Platz machst!‘. Bei den Göttern, Thu-Kimnibol, ich wünschte, ich dürfte mir wünschen, das zu tun!“

„Taniane — meine liebe arme Taniane.“, begann er mit seiner sanftesten Stimme.

Ihre Augen begannen zu lodern. „Wie kannst du es wagen, so mit mir zu sprechen! Ich brauche dein Mitgefühl nicht! Ich brauche überhaupt kein Mitleid! Von niemandem!“ Und weniger scharf setzte sie hinzu: „Ich brauche Unterstützung. Begreifst du nicht, wie isoliert ich hier bin? Wie hilflos? Und erkennst du nicht, was für Belastungen wir ausgesetzt sind? Was hast du mir sonst noch zu bieten, Thu-Kimnibol, außer Mitleid?“

„Ich kann dir einen Krieg bieten“, sagte er.

„Einen — Krieg?“

„Falls das Präsidium die Ratifizierung vornimmt, haben wir bald einen Allianzpakt mit der Yissou-Stadt. Damit wären wir verpflichtet, Salaman zu Hilfe zu kommen, wenn seine Stadt von den Hjjks angegriffen werden sollte; und ich kann dir versichern, es bestehen gar keine Zweifel daran, daß Yissou und die Hjjks in Kürze, und zwar sehr bald, im Kriegszustand sein werden. Und damit dann auch wir. Und danach wird es hier in unserer Stadt Hochverrat sein, etwas Hjjk-Freundliches zu äußern, denn dann sind sie offiziell der Feind. Und damit wäre dann dem ganzen Gequassele ein Ende gemacht, daß wir das Vertragsangebot der Königin annehmen sollen. Und auch dieser verderblichen neuen Religion, die da mitten unter uns frech ihr Haupt erhebt. Und auch allen anderen Sorgen, die du hast, Schwester. Was sagst du dazu? Na? Wie findest du das?“

„Darüber möchte ich gern erst noch etwas mehr wissen“, sagte Taniane. Und Thu-Kimnibol hatte den Eindruck, als wären in einem Augenblick die lastenden Schuppen vieler Jahre von ihr abgefallen.


„Na, da sind wir ja allesamt endlich mal wieder beisammen!“ rief Boldirinthe. „Du warst aber wirklich scheußlich lang weg, Simthala Honginda! Wie ergötzlich, daß ihr endlich alle wieder hier unter uns seid!“

Und es war wirklich ein Freudentag für die alte Opferfrau, daß ihr ältester Sohn aus dem Norden heimgekehrt war. Und sogar der endlos herabprasselnde Regen hatte für eine Weile nachgelassen. Zum erstenmal seit Monden war ihre gesamte Familie um sie versammelt — daheim, in dem warmen gemütlichen Nest auf dem Hügel, das sie mit Staip bewohnte: ihre drei Söhne nebst Partnern, ihre Tochter mit ihren Partnern. und die ganze Trabantenschar ihrer Enkelkinder. Boldirinthe ruhte gemütlich in ihren Fettmassen, wohlig eingehüllt in ihrem gewaltigen Leib wie in einem Hügel von Decken, und sie kamen alle nacheinander zu ihr, um sich umarmen zu lassen. Nach der Embrassade hievte man sie hoch und schleppte sie zu Tisch, wo dann auch bald das Essen und der Wein gebracht wurden. Es gab als Hors-d’reuvre gegrillte Scantrine, die kleinen saftigschenkligen Tierchen aus der Bucht, nicht ganz Fisch und nicht ganz Echslein, irgendwo so mitten drin; und danach gewaltige Schüsseln voll dampfender Kiwinfrüchte; und als Krönung ein Vimborbraten in Teigkruste und dazu Ströme von dem guten dunklen Emakkis-Wein, um das alles hinunterzuspülen. Und nach dem Schmaus sangen sie und erzählten alte Geschichten, und Staip — wie er das bei solchen Anlässen stets tat — erging sich in langwierigen Erinnerungen an die erschreckliche Not, die das VOLK auf seinen Wanderungen nach dem Auszug aus dem Kokon nach Vengiboneeza erdulden mußte, und von Vengiboneeza in die Südlande... und irgendeiner der Enkel sagte ein Gedicht auf, das er verfaßt hatte, und eine Enkelin klimperte ein Musikstück auf dem Serilingion. Und der Wein floß reichlich, und es herrschte allgemein Lachen und Fröhlichkeit. Doch es fiel Boldirinthe auf, daß ihr Junge, zu dessen Ehren das alles veranstaltet wurde, daß Simthala Honginda ziemlich schweigsam dasaß, ab und zu pflichtschuldig lächelte und daß es ihn allerhöchste Anstrengung kostete, den Vorgängen ringsum auch nur flüchtig-freundliche Aufmerksamkeit zu schenken.

Leise sagte sie zu der Gefährtin ihres Sohnes, Catiriil, die neben ihr hockte: „Aber er redet ja so gar nicht. Was meinst du, was ist mit ihm los?“

„Vielleicht fällt es ihm nur schwer, sich daheim wieder einzugewöhnen, nach solch einer langen Reise.“

Boldirinthe runzelte die Stirn. „Schwerfallen? Wieder daheim zu sein, bei seiner Mamma? Kindchen, wie könnte er? Er ist wieder bei seiner Familie, na und bei dir und seinem Sohn und seiner Tochter — er ist daheim, in unserm wunderbaren Dawinno, und nicht mehr in Salamans elendigem dumpf-kalten Yissou. Aber wo ist seine Fröhlichkeit geblieben? Seine Lustigkeit? Das ist überhaupt nicht der Simthala, wie ich ihn kenne!“

„Ich auch nicht.“, flüsterte Catiriil. „Er führt sich auf, wie wenn er noch immer weit weg in einem fernen Land wäre.“

„Und so ist er schon den ganzen Tag?“

„Von Anfang an. Gleich als heute früh die Karawane eintraf. Im Morgengrauen. Ach doch, er hat mich freundlich genug begrüßt und umarmt und hat mir gesagt, wie sehr ich ihm gefehlt habe, und er hat natürlich Geschenke für mich und die Kinder rausgeholt, und er hat von dem unangenehmen Ort erzählt, an dem er war, und darüber geredet, wie schön es hier in Dawinno ist, trotz dieses endlosen Regens. Aber das waren nichts weiter als bloße Worte. Kein Funken Gefühl dahinter.“

Dann, mit einem Lächeln: „Es kann nur so sein, daß Thu-Kimnibol ihn einfach zu lang in dieser kalten Stadt Salamans festgehalten hat und daß die Kälte ihm ins Herz gedrungen ist. Aber gib mir ein, zwei Tage, Mutter Boldirinthe, dann taue ich ihn schon wieder auf. Mehr wird nicht nötig sein.“

„Geh jetzt zu ihm“, befahl Boldirinhte. „Setz dich zu ihm und gieß ihm Wein ein, und sorg dafür, daß sein Becher nie leer ist. Hast mich verstanden, Kindchen, ja? Du weißt schon.“

Catiriil nickte und drängte sich durch den Raum hinüber an die Seite ihres Gefährten. Boldirinthe nickte beifällig. Solch ein liebes, sanftes Kind, diese Catiriil, so gut und in jeder Beziehung so angenehm, und eine hervorragende Partie für ihren etwas grobgeschliffenen Jungen. Und schön war sie noch dazu, so schön wie seinerzeit ihre Mutter Torlyri es gewesen war, mit dem gleichen üppigen schwarzen Pelz und den auffallenden weißen Spiralzeichnungen. Und den gleichen heißen dunklen Augen. Torlyri war allerdings sehr groß gewesen, und Catiriil war klein und zart, aber an manchen Tagen, wenn sie die Partnerin ihres Sohnes aus dem Augenwinkel sah, bekam Boldirinthe das Gefühl, als sähe sie die von den Toten wiedergekehrte Torlyri, und das brachte sie dann oft recht durcheinander. Und Catiriil besaß außerdem auch noch den sanften liebevollen Charakter Torlyris. Wie merkwürdig, überlegte sich Boldirinthe, daß Catiriil so vielfältig liebreizend und angenehm war. und daß es einem dermaßen schwerfiel, ihren Bruder, Husathirn Mueri, zu mögen.

Catiriil gab sich die größte Mühe, Simthala Honginda zu lockern und aufzuheitern. Sie hatte ein Grüppchen um ihn geschart — seinen Bruder Nikilain und Nikilains Gefährtin Pultha, die ein Born unerschöpflichen Lachens und übersprudelnder Fröhlichkeit war, und Timofon, seinen engen Freund und Jagdkameraden, den Partner seiner Schwester Leesnai. Sie scherzten mit Simthala, neckten ihn freundlich, richteten alle Liebe und Aufmerksamkeit auf ihn. Na, also wenn die Truppe meinen Simthala Honginda nicht aus seiner Trübsal loseisen kann, dachte Boldirinthe, dann schafft das niemand. Aber anscheinend funktionierte es.

Auf einmal war Simthalas Stimme deutlich über dem Singen und fröhlichen Geschnatter vernehmbar.

„Soll ich euch mal ’ne Geschichte erzählen?“ fragte er mit einer seltsam hochgespannten Stimme. „Bisher habt ihr lauter schöne Geschichten erzählt. Also gut, jetzt will ich euch eine erzählen. oder gleich ein paar.“ Er goß den Rest aus seinem Becher hinab und sprach weiter, ohne auf Zustimmung oder Ablehnung zu warten. „Es lebte einmal in den Bergen im Osten von Vengiboneeza ein Vogel mit einem Leib, aber zwei Köpfen. Du hast den Vogel nie gesehen, Vater? Hab ich mir fast gedacht. Aber hier habt ihr die Geschichte. Also, es scheint, daß eines Tages einer der Köpfe bemerkte, wie der andere Kopf mit großem Wohlbehagen eine süße Frucht verzehrte, und er wurde von Neid erfaßt und sprach zu sich selber: Nun, so will ich denn Giftbeeren essen. Und das tat er, der Kopf, und dann starb der ganze Vogel.“

Es war auf einmal vollkommen still im Raum. Ein paar halbherzige Ansätze zu einem Lachen, aber sie erstarben fast sofort wieder.

„Meine Geschichte hat euch gefallen, was?“ schrie er. „Noch eine? Moment, Moment, erst brauch ich noch einen Schluck Wein.“

Catiriil sagte: „Vielleicht bist du müde, Liebster. Wir könnten doch.“

„Nein!“ sagte er, füllte seinen Becher und trank ihn sogleich wieder leer. „Noch eine Geschichte. die Geschichte von der Schlange, bei der ihr Kopf und ihr Schwanz in Streit gerieten, wer vorn sein soll. Der Schwanz sagte, du bist immer vorn und gibst die Richtung an. Das ist nicht fair. Jetzt laß mich mal ’ne Weile führen. Und der Kopf antwortete: Wie könnte ich denn meinen Platz mit dir tauschen? Die Götter haben nun mal mich zum Kopf bestimmt. Aber der Streit ging immer weiter und weiter, bis der Schwanz sich zornig um einen Baumstrunk schlang, so daß die Schlange nicht mehr vom Fleck kam. Schließlich gab der Kopf nach und ließ den Schwanz vorausgehen. Daraufhin fiel die Schlange in eine Feuergrube und starb elendiglich. Und die Moral von der Geschieht: Es gibt eine natürliche Ordnung der Dinge, und wenn diese Ordnung gestört ist, treibt alles in den Ruin.“

Das Schweigen war diesmal noch gespannter.

Staip hob den Hintern halb von seinem Sessel, schaute zu seinem Sohn hinüber und sagte: „Ich glaube, Sohn, du solltest jetzt vielleicht deinen Weinbecher umdrehen. Was meinst du dazu?“

„Was ich dazu meine? Ich meine, daß ich noch lang nicht genug getrunken habe, Vater! Aber anscheinend magst du meine Geschichten nicht. Ich hab geglaubt, sie würden dir gefallen, aber es scheint, ich hab mich geirrt. Also gut, keine Geschichten mehr. Nur noch klare grobe Rede. Direkt und ohne Schnörkel. Wollt ihr was über unsere Fahrt nach Norden hören? Wollt ihr wissen, was unsere Gesandtschaft in Salamans Königsstadt erreicht hat?“

Leise sagte Catiriil: „Du bringst deine Mutter durcheinander, merkst du das nicht? Das willst du doch nicht. Sieh nur, wie blaß sie geworden ist. Wie wär’s, Liebster, wenn wir zwei ein bißchen an die frische Luft gehen. Es hat aufgehört zu regnen, und.“

„Nein!“ Simthala schnaubte wild. „Sie sollte das auch hören. Sie ist noch immer die Opferfrau, oder? Eine hohe Funktionsträgerin im Stamm, ja? Also, dann muß sie das auch hören.“ Mit zitternder Hand grapschte er nach einem weiteren Becher Wein. „Was ich euch zu sagen habe, ist, daß wir bald Krieg haben werden“, rief er laut. „Gegen die Hjjks wird es gehen. Salaman und Thu-Kimnibol haben das miteinander ausgemacht. Irgendeine Provokation, ein Vorwand, der die Kriegsmaschinerie in Gang setzt, und wir stecken mitten in der heißesten Schlacht, ob wir wollen oder nicht. Und das weiß ich aus dem, was ich gehört habe und was ich belauscht habe und was ich durch Herumhorchen und Stöbern herausgefunden habe. Es gibt Krieg! Thu-Kimnibol und König Salaman wollen es! Und wir alle werden blindlings hinter ihnen herrennen und über den Klippenrand stürzen!“ Er trank hastig. Dann sprach er weniger heftig weiter. „Sie sind wahnsinnig, die beiden. Und ihr Wahnsinn wird die ganze Welt anstecken. Aber vielleicht ist es ja auch der Wahnsinn der Welt, von dem die zwei angesteckt sind. Vielleicht sind wir schon zu weit in die falsche Richtung gegangen, und das ist die unvermeidliche Folge, und Thu-Kimnibol und Salaman sind die unserer Zeit angemessenen Führer.“

Boldirinthe saß vor Entsetzen starr da. Sie fühlte, wie ihr das Herz in den Tiefen ihres massigen Leibes raste.

Catiriil stand auf und iahm Simthala den Becher weg. Sie wisperte ihm ins Ohr, versuchte verzweifelt, seinen Furor zu dämpfen. Zuerst reagierte er zornig, doch dann schienen einige ihrer Worte ihn zu erreichen, er nickte, zuckte die Achseln und tuschelte freundlicher mit ihr, und kurz darauf schob sie ihm den Arm unter und führte ihn ruhig aus dem Raum.

Leise sagte Boldirinthe zu Staip: „Kann das wahr sein, was er sagt? Was meinst du? Wird es Krieg geben?“

„Ich genieße nicht das Vertrauen Thu-Kimnibols“, antwortete Staip gelassen. „Ich weiß darüber ebensowenig wie du!“

„Es darf keinen Krieg geben!“ sagte sie. „Wer in der Präsidialversammlung wird sich für den Frieden stark machen? Husathirn Mueri bestimmt, das weiß ich. Auch Puit Kjai. Und Hresh, vielleicht. Und wenn sie mich reden lassen, werde ich es ganz gewiß tun. Und du? Wirst du sprechen?“

„Wenn Thu-Kimnibol den Krieg will, dann werden wir Krieg haben“, sagte Staip mit einer Stimme, die wie aus der andern Welt zu kommen schien. „Aber was regst du dich so auf? Wirst du in den Kampf ziehen müssen? Oder ich? Nein, nein, die Sache geht uns nichts an. Die Götter fügen und bestimmen alles. Das ist nicht unsere Sache, Boldirinthe. Wenn es Krieg geben soll, schön, sag ich, dann soll er halt kommen.“


„Krieg?“ sagte Husathirn Mueri erstaunt zu seiner Schwester. „Ein Geheimabkommen mit Salaman? Eine künstlich bewirkte Provokation?“

„Simthala Honginda behauptet es fest und steif“, sagte Catiriil. „Er hat es vor Staip, vor Boldirinthe, vor der ganzen Familie gesagt. Den ganzen Tag lang hat das schon in ihm gekocht, und schließlich kam es dann raus. Aber er hatte schwer gepichelt, verstehst du?“

„Ob er das mir gegenüber wiederholen würde, wenn ich ihn aufsuche?“

„Also, sehr nahe steht ihr euch ja nicht grad, wie dir bekannt ist.“

Husathirn Mueri lachte. „Wie sanftmütig du bist. Was du meinst, aber nicht aussprechen magst, ist, daß er mich gründlich verabscheut. Nicht wahr, Catiriil?“

Sie zuckte fast unmerklich die Achseln. „Mir ist bekannt, daß ihr beide nie Freunde wart. Und was er beim Familiendinner sagte, das öffentlich zu machen, hat er wirklich nicht das Recht. Das grenzt doch schon an Landesverrat, nicht wenn einer Staatsgeheimnisse laut in die Welt trompetet? Er wird vielleicht keine Lust haben, dich in sein Vertrauen zu ziehen.“

„Kein Recht, der Öffentlichkeit zu enthüllen, daß man uns trügerisch in einen Krieg stürzt, der uns ruinieren wird, nur damit Thu-Kimnibol seiner Kampfeslüsternheit frönen kann? Das nennst du Verrat? Nein, Catiriil, Thu-Kimnibol ist derjenige, der Landesverrat begangen hat!“

„Ja. So denke auch ich. Deswegen bin ich ja damit zu dir gekommen.“

„Aber du bezweifelst, daß ich Simthala dazu bewegen könnte, mir selbst genauere Einzelheiten kundzutun.“

„Das bezweifle ich allerdings sehr, Bruder.“

„Gut. Gut. Für den Augenblick ist das schon höchst nützlich, zu wissen, was Thu-Kimnibol und Salaman da gemeinsam ausgeköchelt haben. Es gibt mir einen Ansatzpunkt.“

„Und mögen die Götter auf unsrer Seite sein, was immer kommen mag“, sagte Catiriil.

„Die Götter.“, sagte Husathirn mit einem leisen Kichern zu sich selber, als seine Schwester gegangen war. „Ja, wahrhaftig. Mögen die Götter auf unsrer Seite sein!“

Für mich sind sie weiter nichts als bloße Namen. So hatte Nialli Apuilana damals so verblüffend wild vor dem Präsidium getobt. Unsre eigenen Erfindungen, um uns in bedrängten Zeiten Trost und Halt zu geben... Husathirn hatte den Vorfall nie vergessen, auch nicht, was sie gesagt hatte.

Bloße Namen. Haargenau, was auch er dachte. In Wahrheit mußt er sich selbst für einen weitaus schlimmeren Fall von Ketzerei halten als Nialli, denn er glaubte an gar nichts, außer daß das Leben ein Aberwitz sei, ein grausam geschmackloser Scherz, eine Abfolge willkürlicher Ereignisse, und daß es für unser Dasein keinen Sinn braucht, als daß wir eben hier sind. Immerhin, Nialli hatte diesen Hjjk-Mythos geschluckt, daß der Welt eine Art kosmische Planung zugrundeliege, der alles bestimmt und alles zu einem Teil eines vorherbestimmten und vorherbedachten Muster macht. Aber Husathirn hatte nirgendwo einen Beweis dafür gefunden. Und darum besaß er keinen moralischen Mittelpunkt, und er wußte dies; er vermochte jeden momentan nützlichen Standpunkt zu beziehen, konnte etwa an einem Tag für den Krieg sein, am nächsten Tag sich dagegen aussprechen, je nachdem, wie es die Umstände verlangten. Worauf es ankam, war einzig und allein, Macht und Bequemlichkeit für die eigene Lebensspanne zu erlangen, denn dieses eine kurze Leben war alles, was er hatte, und alles übrige war sowieso nur ein Witz.

Er hatte einmal versucht, über diese Dinge tiefer mit Nialli zu sprechen, weil er sich davon versprochen hatte, ihr damit beweisen zu können, daß er und sie gemeinsame Überzeugungen hätten. Aber sie hatte ihn nur empört und bekümmert angeblickt und mit der eisigsten Stimme, die er je an ihr vernommen hatte, gesagt: „Du begreifst mich überhaupt nicht, Husathirn Mueri. Du hast nichts an mir verstanden.“

Nun gut. Sei’s drum. Vielleicht hatte sie ja recht.

Sehr gut begriff er allerdings, was für Implikationen die erstaunliche Information besaß, die seine Schwester Catiriil ihm heute gebracht hatte. Es verblüffte ihn, daß er so wenig überrascht war. Denn selbstverständlich war Thu-Kimnibol in den Norden gereist, um einen Krieg gegen die Hjjks zusammenzurühren; und natürlich war der kriegslüsterne Salaman nur allzu geneigt, mit ihm zu konspirieren, um den Krieg auf die Beine zu stellen. Und zweifellos würde Taniane ihre schwindenden Energien und ihre ganze noch immer beträchtliche Macht einsetzen, um eine Mehrheit bei der Abstimmung im Präsidium zu mobilisieren.

Möglicherweise jedoch gab es da noch einen Weg, das zu verhindern. Eine dünne Chance, dachte er. Oder aber, wenn der Krieg denn wirklich unvermeidlich sein sollte, dann konnte man doch wenigstens die hinterhältige Rolle aufdecken, die Thu-Kimnibol dabei gespielt hatte, den Krieg anzuzetteln. Die Stadt konnte nur Schaden nehmen, wenn sie sich auf einen Krieg gegen dieses Wanzenvolk der Hjjks einließ. Es würde entsetzliche Verluste geben, und der Umsturz aller Lebensverhältnisse würde womöglich nicht wieder gutzumachen sein. Und als Nachspiel dieses Krieges würden jene, die ihn geschürt hatten, davon zermalmt werden, und jene, die vergeblich seine Vermeidung versuchten, würden zu Glanz und Größe emporsteigen.

Husathirn Mueri lächelte. Mal sehen, was ich da tun kann, dachte er. Und mögen die Götter mir beistehen — falls es sie gibt.


Sie waren wochenlang stetig nordwärts marschiert. In ihrem Rücken glitt die Welt wieder einmal fröhlich in den Frühling hinüber, aber hier, in den verlassenen Landstrichen jenseits von Vengiboneeza schien der Winter sich immer noch eisern festzuklammern. Zechtior Lukin war das gleichgültig. Wintereis und Sommerglut waren ihm einerlei. Er bemerkte die Jahreszeitenwechsel kaum, höchstens daran, daß zu bestimmten Zeiten im Jahr die dunklen Stunden länger andauerten.

Sie waren jetzt ins graue Land vorgestoßen. Der Erdboden war grau, der Himmel war grau, und selbst der Wind, der aus dem Osten heranheulte, war grau von den Staubmassen, die er mit sich trug. Die einzigen Farbakzente schienen von der Vegetation zu kommen, die sich mit dumpfer Wut gegen das umfassende Grau zur Wehr zu setzen schien. Das grobe spärliche gezahnte Gras war aggressiv karminrot; die großen strammen rundköpfigen Schwämme leuchteten in tödlichem Gelb, und wenn man sie niedertrat, stießen sie explosionsartig Wolken leuchtend grüner Sporen aus; die Bäume waren groß und schlank, mit blauschimmernden dornenförmigen Blättern und trieften beständig von einem klebrigen viskosen Saft, der wie Säure brannte.

In der Ferne bildeten niedere kalkige Berge wie Zahnstummel ganze Ketten. Das freie Land dazwischen war flach, dürr und wenig einladend: keine Seen, keine Bäche, nur hie und da sickerte eine brackige Quelle aus salzverkrusteten Spalten im Grund.

„Also, wohin jetzt?“ fragte Lisspar Moen. Sie war während des Tages der Zugfähnrich und übermittelte Zechtior Lukins Befehle den übrigen.

Er nickte zu den Bergen hinüber und gab einen steten NordnordostKurs an. „Hjjk-Gegend?“ sagte sie.

„Unser Land“, korrigierte er sie.

Hinter ihm her zog über die graue Ebene die Schar der verbannten Akzeptänzer aus Yissou, dreihundert und vierzig an der Zahl inzwischen.

Von den ursprünglichen dreihundert und siebzig und sechs Anhängern war ein Dutzend zu alt und zu schwächlich für den Beginn eines neuen Lebens in der Wildnis gewesen, und ein paar andere hatten kurz vor dem tatsächlichen Auszug schlichtweg ihrem Glauben abgeschworen und sich geweigert mitzuziehen. Lukin hatte mit etwas ähnlichem gerechnet und keinen Versuch gemacht, sie zu bedrängen.

Zwangsmaßnahmen hatten in seinem Lebenskonzept keinen Platz. Er erkannte die göttliche Suprematie in allen Stücken an. Wenn die Götter es so bestimmt hatten, daß einige seiner Gefolgsleute es vorzogen, ihm nicht zu folgen, so war er willens, auch das zu akzeptieren. Zechtior Lukin — der von der Welt nichts erwartete, als was ihm die Welt Tag für Tag bot — hatte noch nie einen Augenblick der Enttäuschung erfahren.

Auch auf dem Marsch hatte es etliche Verluste gegeben. Auch dies nahm er gelassen hin. Die Götter setzten ja sowieso stets ihren Willen durch.

Als die Marschkolonne an Venginoneeza vorbeizog, hatte ein Hjjk-Spähtrupp fünf seiner Leute gefangengenommen. Da er wußte, daß die alte Stadt der Saphiräugigen nunmehr im Besitz des Insektenvolkes war, hatte er eine Strecke weit östlich darum herum gewählt. Wie es sich zeigte, nicht weit östlich genug. In der Dämmerung, in einem Gebirgspaß, in dichten Nebelschwaden erfolgte der plötzliche Angriff. Geschrei und Gerangle, gewaltige Verwirrung, und dann die Erkenntnis, daß es auch schon wieder vorbei war, was immer da geschehen war. Auf dem Boden lagen ein paar zurückgelassene Rucksäcke, ein Handwagen lag umgestürzt auf der Seite. Eine Verfolgung wäre hoffnungslos gewesen; das Hjjk-Land ringsum war dunkel und weglos. Zechtior war dankbar, daß die Hjjks nur so wenige fortgeschleppt hatten.

Natürliche Übel kosteten weitere Verluste. Es war ein unkultiviertes Land. Ein Haufen losen Geästs — so stellte sich heraus — verbarg die Öffnung einer Grube, und scharlachrote Klauen und gelbe Schnappmandibeln lauerten auf ihrem Grund. Einige Tage danach brach aus dem Nichts ein gewaltiges hängebäuchiges Untier hervor, das mit dicken steinharten braunen Schuppen bekleidet war, schleuderte den kleinen trübäugigen Schädel wie eine Keule umher und tötete, wen es damit traf. Sodann gab es da auch ein komisches hüpfendes Geschöpf mit lustigen Goldaugen und absurden winzigen Ärmchen; aber aus seinem Schwanz schoß eine Gift verspritzende Nadel Und mittags erschien einmal ein Schwarm geflügelter Insekten, so sinnverwirrend wie buntfarbige Edelsteine, und erfüllte die Luft mit einem milchigen Sprühdunst; und wer davon atmete, fiel krank darnieder, und einige erholten sich nicht mehr davon.

„Mit derlei muß man rechnen“, sagte Zechtior.

„Wir beugen uns dem Willen der Götter“, antwortete sein Volk.

Die Überlebenden zogen unbeirrt weiter. Zechtior Lukin aber wartete, daß die Himmlischen Fünf ihm eröffnen würden, wenn sie den Platz erreicht hatten, an dem sie ihre Stadt errichten sollten.

Jenseits der Kalkberge ließ die Grauheit nach. Das Land war hier fahlbraun mit roten Streifen, was vielleicht ein Anzeichen von Fruchtbarkeit war, und es floß ein Fluß von Osten nach Westen, der sich in drei Läufe gabelte. An derer Ufern zeigte sich die Vegetation in glänzendgrünem Laub, und einige der Büsche trugen dicke bläulichrote Früchte mit runzeliger Schale. Sie erwiesen sich als eßbar.

„Hier wollen wir bleiben“, erklärte Zechtior Lukin. „Ich spüre die Anwesenheit der Himmlischen Fünf.“

Er wählte eine kleine Erhebung zwischen den beiden südlichen Flußgabelungen, die ihm wohl über dem Überschwemmungsniveau des Flusses zu liegen schien, und dort schlugen sie ihre Zelte auf, in denen sie zu wohnen gedachten, bis sie die ersten festen Häuser erbaut hatten. Drei der Weiber, die mit ungewöhnlich starkem Zweitgesicht begabt waren, begaben sich eine Strecke abseits und sandten die Nachricht von ihrer Niederlassung nach Yissou; denn Zechtior Lukin hatte dies dem König versprochen. Salaman hatte ihn mit einer Methode vertraut gemacht, einer Kombination aus Tvinnr und Zweitsichtigkeit, die den Kontakt über weite Entfernungen aufrecht erhalten konnte. Zechtior war eher skeptisch, doch da ein Versprechen für ihn so viel galt wie ein heiliger Schwur, schickte er die Weiber aus, um die Nachricht zu senden.

Er sagte: „Ich nenne diesen Ort Salpa Kala“, und das heißt ‚Ort der Himmlischem‘.

Am Morgen des vierten Tages der Gründung von Salpa Kala erschienen überraschend drei Hjjks, als wären sie aus der Erde gewachsen, und gingen ohne Zögern auf Zechtior zu, der gerade die Errichtung eines Zeltes überwachte. Er fühlte sie hinter sich, noch ehe er sich umwandte und sie sah; er konnte den starken eiskalten Druck gegen sein Bewußtsein spüren, die abweisende dürre bleiche Kälte ihrer nüchternen Seelen.

Ruhig sagte einer — Zechtior vermochte nicht zu sagen, welcher, denn er sprach lautlos mit der summenden dröhnenden Stimme der Gedanken: „Dieser Ort ist für euch verboten. Ihr werdet ihn heute abend verlassen und in euer eigenes Land heimkehren.“

„Dieser Ort ist Salpa Kala und ist uns von den Himmlischen Fünf als unsere Wohnstatt gegeben“, erwiderte Zachtior ruhig.

Mit dem Zweitgesicht strahlte er die Vision aus, die er einst gehabt hatte, die unermeßliche Masse der Königin des Insektenvolkes über Yissou schwebend, als wollte er damit übermitteln, daß er von ihrer Macht und Größe wisse und sie akzeptiere, wie er alles hinnahm; aber er versuchte gleichfalls zu übermitteln, daß ihm von den Göttern — den gleichen hochmächtigen Göttern, welche die Geschicke des Hjjk-Volkes lenkten — befohlen sei, daß er an diesen Ort ziehen und hier eine Siedlung gründen müsse.

Aber wenn seine Botschaft die Hjjks erreicht oder sie irgendwie beeindruckt hatte, so ließen sie sich das nicht anmerken.

„Ihr werdet heute abend von hier weggehen“, sagte die schabende Stimme erneut.

„Wir werden das Geschenk der Götter nicht preisgeben“, erwiderte Zechtior Lukin.

Die Hjjks sprachen danach nicht mehr. Er betrachtete sie ruhig, die langen schimmernden Körper, die vielfacettierten Augen, die orangeroten Segmente ihrer Atemschläuche, die vorspringenden Schnäbel, die sechs schlanken starren Beine. Der kleinste der Hjjks war einen ganzen Kopf größer als er selber, doch bezweifelte er, daß er mehr wog als ein Kind, so ausgedorrt und fleischlos wirkte der Leib. Ihre starren gelb-schwarzen Panzer reflektierten das Licht des klaren Morgens unangenehm scharf. Doch er empfand keine Furcht vor ihnen.

Nach einiger Zeit zuckte er die Achseln, kehrte ihnen den Rücken zu und wandte sich wieder der Errichtung des Zeltes zu.

„Was werden wir tun?“ fragte Cheppilin der Sattler, nachdem die Hjjks davongestelzt waren.

„Nun, wir werden nicht weichen“, gab Zechtior zurück. „Dies hier ist unser, kraft des Willens der Götter, die es uns schenkten, ist es nicht so?“

Und er gab seinen Anhängern Befehl, Waffen zu verteilen: Schwerter, Speere, Messer, Keulen. Bei Sonnenuntergang scharten sie sich eng um ihre zusammen-getragene Habe und warteten auf die Rückkehr der Hjjks.

Die drei von vorher — Zechtior nahm jedenfalls an, daß sie es waren — kamen aus den Schatten hervor.

„Ihr seid noch immer da“, sprach die summende Hjjk-Stimme.

„Dieser Ort ist unser.“

„Es ist kein Ort für Fleischlinge. Geht fort, oder ihr werdet sterben.“

„Die Götter haben uns hierher geführt“, sagte Zechtior. „Der Wille der Götter geschehe.“

Vom anderen Ende des Lagers ertönte ein schriller Schrei. Rasch blickte er sich um, aber der eine schnelle Blick genügte ihm. Aus dem Flußdickicht war eine Horde dunkler kantiger Gestalten hervorgebrochen: Hjjks, zu Hunderten, vielleicht Tausenden: Es war, als hätte sich jeder Kiesel am Gestade in einen Hjjk verwandelt. Und sein Volk geriet bereits in Panik.

Zechtior Lukin hob seinen Speer. „Kämpft!“ brüllte er. „Kämpft! Feigheit ist Glaubensverrat und Sünde!“

Er trieb seinen Speer in das glitzernde Auge des nächststehenden Hjjk, zog ihn wieder heraus und hieb einem zweiten mit der scharfen Kante der Spitze die Atemröhre ab.

„Kämpft!“

„Wir werden alle umgebracht!“ rief Lisspar Moen ihm zu.

„Wir sind den Göttern sowieso einen Tod schuldig, und heute nacht fordern sie ihn ein, ja“, sprach Zechtior und schmetterte den dritten Hjjk zu Boden, gerade als der seinen klickenden Schnabel über ihm öffnete. „Aber wir werden trotzdem kämpfen. Wir kämpfen bis zum Ende.“

Das Insektengesindel Schwärmte überall im Lager herum. Die Speere blitzten. Die scharfen kreischenden Stimmen ertränkten die Stimmen der gläubigen Akzeptänzler.

Lisspar Moen hat recht, sagte Zechtior zu sich. Wir werden hier und heute allesamt sterben.

Also habe ich wohl den Willen der Götter nicht richtig verstanden. Wie es scheint, haben sie doch nicht vorherbestimmt, daß ich es sein soll, der die Neue Welt aufbaut. Soviel scheint schon mal klar. Also gut: Auch das ist der Wille der Götter, ebenso wie es ihr Wille war, die Todessterne auf die Welt herniederstürzen zu lassen, vor sieben mal hunderttausend Jahren!

Einen Augenblick lang überlegte er sogar zaudernd, ob es rechtens war, überhaupt den Versuch eines Widerstandes zu unternehmen. Wenn nämlich die Götter seinen Tod bestimmt hatten für diese Nacht — und den Tod aller seiner Leute —, wie sie dies zweifellos getan hatten, sollte er dann nicht seinen Speer niederlegen, die Arme falten und gelassen auf sein Ende warten, genau wie es die Saphiräugigen getan hatten, als der Lange Winter sie überrollte?

Vielleicht sollte er das tun. Ein rascher Blick in die Runde verriet ihm, daß einige seiner Gefolgsleute sich zu verstecken oder zu fliehen versuchten, aber andere hielten ruhig stand und boten mit der Resignation des wahren gläubigen Akzeptänzlers den Speeren der Hjjks die Brust.

Ja, dachte er, ja, das ist der rechte Weg.

Doch er erkannte auch, daß er selbst dies nicht tun konnte. Hier, kurz vor seinem Ende, angesichts der unmittelbaren Vernichtung fühlte er sich geradezu zum Widerstand gestoßen, so nutzlos er sein mochte und so völlig im Widerspruch zu allem, was er geglaubt und gelehrt hatte. Anscheinend lag es nicht in seiner göttergegebenen Natur, sich so bereitwillig abschlachten zu lassen. In der letzten Stunde seines Lebens mußte Zechtior Lukin einen Aspekt seines Wesens und seiner Seele mit Erstaunen zur Kenntnis nehmen, den er niemals in sich zu entdecken erwartet hätte.

Ein Schein-Akzeptänzler! Ein Heuchler und Lügner!

Soviel immerhin vermochte er sich einzugestehen. Er erwog das Problem einen kurzen Augenblick lang im Geiste, und schob es dann von sich. Er war schließlich, wie er war und wie die Götter ihn gemacht hatten, im Guten wie im Schlechten.

Er war von einem weiten Ring von Hjjks umzingelt. Die glitzernden Augen sahen aus wie kaltblitzende dunkle Monde. Zähnefletschend ging er in breitbeinige Kampfstellung, als sie auf ihn einzudringen begannen.

Er schlug und schlug und schlug wieder zu, bis er außerstande war, noch weiter zuzustoßen.

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