Husathirn Mueri sagte: „Einen Augenblick nur, Hresh, wenn du so gut sein willst.“
Der Chronist, im Begriff, das Haus des Wissens zu betreten, blieb auf der Treppe stehen und warf dem Sohn der Torlyri einen fragenden Blick zu. Husathirn Mueri nahm zwei Stufen auf einmal und stand gleich darauf neben Hresh. Mit gedämpfter Stimme fragte er: „Weißt du eigentlich, was sich bei uns in der Stadt tut, Hresh?“
„Im allgemeinen oder mit einem besonderen Bezug?“
Ein hurtiges Lächeln von Husathirn. „Also — du weißt es nicht! In diesem Moment ist dein Bruder draußen im Stadion und exerziert das Heer!“
Hresh mußte blinzeln. Es waren erst drei Tage vergangen, seit das Präsidium über die Ratifizierung dieses neuen Bündnisvertrags mit Yissou abstimmte. Taniane und Thu-Kimnibol hatten sich heftig zugunsten des Vertrags eingesetzt, und nur ein paar Übervorsichtige wie Puit Kjai hatten dagegen eingewandt, daß dieses Bündnis Dawinno früher oder später in einen Krieg hineinziehen werde. Wahrscheinlich eher später als früh, hatte Hresh dabei gedacht. Doch schien sich die Entwicklung stärker zu beschleunigen, als er erwartet hätte.
„Wir haben doch gar kein Heer“, sagte er, „bloß eine Stadtpolizei.“
„Nun, inzwischen haben wir eine Armee. Thu-Kimnibol und seine Freunde haben sie über Nacht auf die Beine gestellt. Sie nennen sie ‚Das Schwert Dawinnos‘. Dein Bruder betont hartnäckig, daß wir jeden Moment Krieg gegen die Hjjks haben werden und daß wir darauf vorbereitet sein müßten.“ Husathirn Mueri gab ein rauhes Geräusch von sich, das Hresh nach einiger Überlegung als ein Lachen erkannte. „Man stelle sich das nur mal vor! Die halbe Stadt hockt in diesem Augenblick in den Bethäusern Kundalimons und singt Lobpreisungen auf die Insektenkönigin. und die andere Hälfte der Bürgerschaft ist draußen im Stadion und exerziert und macht sich bereit, sie umzubringen!“
„Wenn ein Krieg kommt“, sagte Hresh bedächtig, „dann müssen wir natürlich zum Kampf bereit sein. Doch wieso glaubt Thu-Kimnibol.“
„Der Bündnisvertrag mit Salaman legt fest, daß wir Yissou im Falle eines feindlichen Angriffs zu Hilfe kommen.“
„Ich weiß durchaus, was der Vertrag vorsieht. Aber die Hjjks haben doch keinerlei Feindseligkeiten begangen.“
„Noch nicht.“
„Besteht Grund zu der Annahme, daß sie es tun werden?“
Husathirn Mueri ließ den Blick gedankenschwer ins Leere schweifen. „Ich habe Gründe, es zu vermuten.“
„Aber Salaman erzählt uns doch seit Jahren unablässig, daß die Hjjks ihn zu überfallen beabsichtigen! Ich nehme an, seine Mauer ist höher und immer höher geworden, so daß sie nun auf höchst eindrucksvolle Weise selbst unglaublich über seine Stadt herunterdroht. Aber in der Zwischenzeit ist keine Invasion erfolgt. Nie! Und alle diese unterstellten Bedrohungen seines Reichs durch die Hjjks waren schlichte Ausgeburten seines geänderten Hirns. Wieso sollte sich das auf einmal jetzt geändert haben?“
„Ich glaube, die Dinge haben sich geändert“, sagte Husathirn Mueri.
„Weil Salaman das Friedensangebot der Königin zurückgewiesen und wir es ignoriert haben?“
„Zum Teil. Ich vermute jedoch, nur zu einem ganz geringen Teil. Ich glaube vielmehr, es gibt in unserm Volk Leute, die aktiv und bewußt an einem Krieg basteln, indem sie die Hjjks zu Aktionen gegen uns provozieren.“
„Was redest du da, Husathirn Mueri?“
„Ich kann es dir wiederholen, wenn du möchtest.“
„Du bringst da eine sehr schwere Beschuldigung vor. Hast du irgendwelche Beweise dafür?“
Wieder starrte Husathirn Mueri in die Ferne. „Die hab ich durchaus.“
„Dann sollte aber das Präsidium informiert werden!“
„Es betrifft aber eine Person — Personen, Hresh, die dir nahestehen. Sehr nahe.“
Hreshs Stirn verzog sich finster. „Diese ganzen unheilschwangeren Anspielungen auf irgendwelche Verschwörungen, Husathirn Mueri, sind recht ärgerlich für mich. Entweder du sagst mir geradeaus und offen, was du willst, oder du läßt mich in Ruhe!“
Husathirn Mueri wirkte zerknirscht. Mit einem Übermaß an Konzilianz sagte er: „Vielleicht war ich zu vorschnell. Vielleicht ziehe ich ja zu hastige Schlußfolgerungen. Natürlich zögere ich, möglicherweise Unschuldige, jedenfalls im Moment noch Unschuldige, in diesem Moment in die Sache zu involvieren. Aber laß es mich auf andre Weise dir klarmachen, darf ich? Es gibt gewisse große Kräfte des Universums, die uns zu Kampf und Krieg drängen, jedenfalls glaube ich das. Unvermeidlich! Manchmal ist eben etwas unvermeidlich, so wie das Auftreten der Todessterne unvermeidlich war. Verstehst du, was ich sagen will, Hres?“
Es war unerträglich — dieses pseudoreligiöse Gewäsch aus dem Munde eines Ungläubigen wie Husathirn Mueri. Aber Hresh begriff: Er würde aus dem Mann nichts Greifbar-Zusammenhängendes herausholen können. Der Kerl war entschlossen, vage und ausweichend zu bleiben, und keine noch so eindringliche Befragung würde seine Schutzbarrieren durchbrechen können.
Er war stets in Versuchung, wenn er mit Husathirn Mueri sprach, ihn mittels Zweitgesicht zu sondieren, um herauszufinden, welche Absichten sich hinter seinen Worten versteckten. Aber Hresh widerstand der Versuchung. Außerdem war Husathirn Mueri zweifellos auf einen derartigen Vorstoß vorbereitet und hatte bestimmt einen Gegenschlag parat.
Reichlich gereizt sagte Hresh also: „Also, mögen die Götter uns verschonen, doch wenn die Hjjks gegen Salaman ziehen, dann sind wir verpflichtet, ihm zu Hilfe zu kommen. Das ist nun mal vertraglich abgemacht. Und was das Gerede von einer Verschwörung betrifft, so werde ich das vorläufig als bloßes Geschwätz ansehen, bis ich stichhaltige Gegengründe vorgelegt bekomme. Jedenfalls, warum regst du dich so über Thu-Kimnibols Armee auf? Wenn es Krieg gibt, sollten wir dann unvorbereitet in ihn ziehen?“
„Du übersiehst den wichtigen Punkt, obwohl du ihn soeben selbst genannt hast. Begreifst du denn nicht? Es wird Thu-Kimnibols Armee sein! Wenn wir so knapp vor dem Ausbruch des Krieges stehen, und ich glaube, damit hat er recht, dann läge es in den Befugnissen des Präsidiums, eine Streitmacht zu organisieren. Es müßte offiziell die Mobilmachung verkündet werden. So etwas darf nicht einfach das patriotische Privatvergnügen eines prestigesüchtigen einflußreichen Prinzen sein. Begreifst du das denn nicht, Hresh? Oder hat dich die Liebe zu deinem Halbbruder dermaßen blind gemacht, daß du vergessen hast, daß er seines Vaters Sohn ist? Oder wünschst du dir etwa einen zweiten Harruel hier bei uns? Denk darüber nach, Hresh!“
Hresh verspürte einen scharfen Schock.
Die Jahre fielen plötzlich von ihm ab, und er war wieder ein Junge. Es war der ‚Tag des Schismas‘, der Spaltung des VOLKS. Hier standen die aus dem Koshmarstamm, drüben, ihnen gegenüber die anderen, die sich auf Harruels Seite geschlagen und für den Auszug aus Vengiboneeza optiert hatten. Minbain, Hreshs Mutter, Harruels Gefährtin, war unter ihnen; doch Hresh hatte sich gerade entschieden, nicht mit ihr zu ziehen. „Ich habe hier noch wichtige Dinge zu erledigen“, hatte er gesagt.
Und Harruel hatte zorngeschwellt in plötzlicher blinder Wut mit seinem gewaltigen Arm ausgeholt.
„Erbärmlicher Knabe! Du verlauster, flohzerstochner kleiner Betrüger!“
Der Schlag streifte ihn nur, doch er war heftig genug, um Hresh von den Füßen zu reißen und ihn durch die Luft segeln zu lassen. Und dann lag er betäubt und zitternd auf der Erde. Und blieb da so liegen, bis Torlyri kam, ihn aufhob und in ihre warmen Arme schloß.
„Denk darüber nach“, sagte Torlyris Sohn jetzt zu ihm. „Ist es dein Bruder Thu-Kimnibol, der dort im Stadion jetzt seine Armee ausbildet? Oder ist es König Harruel?“ Husathirn Mueri bedachte Hresh mit einem scharfen spähenden Blick, dann machte er kehrt und ging. Als Hresh die Eingangshalle des Hauses des Wissens betrat, verfolgte ihn weiter das von Husathirn Mueri Gesagte, und er steckte tief in Gedanken über die Bedrückungen der Vergangenheit und die bedrohlich scheinende Zukunft. Da kam aus einem der inneren Büros Chupitain Stuld auf ihn zu und fragte: „Soll ich die Artefakte von Tangok Seip jetzt rauf in dein Studio bringen, Herr?“
„Die Artefakte von Tangok Seip?“
„Ja, die Funde, die dieser Bauer nach dem Erdrutsch dort in der Höhle entdeckt hat. Du hast gesagt, du willst sie dir heute mal vornehmen.“
„Ach ja. Ja. Diese Werkzeuge meinst du.“
Er mühte sich, den Nebel abzuschütteln, der ihn einhüllte. Seine Gedanken waren von einem Ende der Welt bis zum anderen zerstreut.
Diese versteckten Schätze aus der Großen Welt, ja. Chupitain Stuld hatte ihn während der letzten paar Tage unablässig gedrängt, die Funde zu untersuchen. Wahrscheinlich hat sie ja recht damit, dachte er. Wochen waren seit der Entdeckung verstrichen, und er hatte sich noch nicht einmal bereitgefunden, sie auch nur anzusehen. Er war von anderen Sachen völlig präokkupiert und abgelenkt worden. Aber Plor Killivash hatte ihm den Fund als bedeutend gemeldet. Wenigstens muß ich mir das mal anschauen, sagte sich Hresh.
Chupitain Stuld wartete geduldig auf eine Antwort.
„Ja, bring sie mir hinauf. In eine halben Stunde, ja? Ich muß vorher erst noch ein paar andere Dinge erledigen.“
Dann ging er über die Wendelrampe zu seinem privaten Studio hinauf.
Auf irgendeine merkwürdige Weise befindet er sich auf einmal außerhalb des Gebäudes. An der Dachbrüstung. Und ohne daß er sich bemüht hätte, den Barak Dayir aus seinem Brustbeutel zu holen, fühlt er plötzlich, wie er emporsteigt, in die Höhenluft hinaufschwebt, über der Stadt kreist und mühelos höher und immer höher fliegt, über die Wolkenballungen hinaus und tiefer — höher — hinein in den Himmel jenseits des Firmaments. Hier oben ist alles Schwärze, von Scharlachstreifen durchzogen. Kühle Luftströme fließen an ihm vorbei. Winzige Eisgeschosse bombardieren sein Fell. An den Fingerspitzen sitzen Eiskristalle. Und er tanzt auf dem Nichts.
Wenn er nach unten blickt, kann er alles wie durch ein sauberes Fenster in der Finsternis sehen. Die ganze Stadt liegt frei vor ihm.
Er sieht das Stadiongelände und die Rekruten des ‚Schwert von Dawinno‘ in Marschformation exerzieren, und an ihrer Spitze stapft breitbeinig und heftig gestikulierend die eindrucksvolle Gestalt Thu-Kimnibols und brüllt Kommandos.
Er sieht Nialli Apuilana durch einen Park gehen, und sie bewegt sich wie jemand, der sich in einem Traum verirrt hat. Geheimnisse umhüllen ihre Seele. Eine grelle scharlachrote Spannungslinie läuft hindurch, als stünde sie kurz vor dem Zerreißen.
Hinter Nialli — beträchtlich von ihr entfernt — lauert Husathirn Mueri. Auch er ein Rätsel, ein Geheimnis: An der Oberfläche ziemlich durchschaubar seine Machtgier und dies kläglich-lechzende Verlangen nach Nialli. Doch was verbirgt sich darunter? Hresh spürt nur eine Leere. Wie kann das sein? Dieses Nichts? Im Sohn von Torlyri und Trei Husathirn? Da muß doch noch etwas mehr sein in ihm als dies. Aber was? Wo?
Hreshs Blick schweift weiter.
Da, jetzt sieht er seinen Garten der Gefangenen Tiere. Die pelzigen rätselhaften blauen Stinchitolen, die friedfertigen Thekmurs, die Stanimander. Die zwitschernden Sisichile toben, als wüßten sie, daß er ihnen zuschaute. Die Stumbain — die Diswil — die Catagraks — die ganze vielzählige Schar von wundervollen und rätselhaften Geschöpfen, die Dawinno-der-Verwandler auf das Angesicht der tauenden Erde ausgeschüttet hat und die Hreshs Fänger für seinen Zoo eingesammelt haben.
Und die Caviandis. Da sind sie, an ihrem Bach, die beiden schlanken friedfertigen Geschöpfe. Wie wunderschön — der glatte purpurdunkle Pelz und die dichten leuchtend gelben Mähnen. Sie blicken empor, und sie sehen ihn hoch droben in seinem Himmel. Und sie lächeln.
Er spürt die Strahlung ihrer warmen Seelen bis hier herauf. Sie-Kanzi und Er-Lokim: seine Freunde. Freunde! Seine Caviandi-Freunde!
Ihre wortlosen Grüße schweben zu ihm herauf, und seine Antwortgrüße steigen, wortlos, nieder. Und erneut sprechen sie, und er antwortet ihnen; und dann fragt er, und sie antworten ihm. Ohne Worte, ja sogar ganz ohne Begriffe. Eine schlichte stumme Kommunion, eine Verbindung im Sein, ein anhaltender Austausch des Geistes, der sich unmöglich anders als durch sich selber ausprägen könnte.
Hresh weiß mittlerweile, daß sie keine Wortbegriffe brauchen, jedenfalls nicht in dem Sinne, wie er Wörter und Begriffe versteht; ebenso wie ‚Er-Lokim‘ und ‚Sie-Kanzi‘ nicht Namen nach seinem Begriffsschema sind. Sie leben jenseits von derlei Dingen, genau wie sie und alle ihresgleichen nicht dem Zwang unterliegen, Städte erbauen zu müssen oder Dinge herstellen zu müssen, oder was all die anderen ‚Zivilisationsnotwendigkeiten‘ sein mögen. Ihr ‚Anderssein‘ macht den Kern ihres Wesens aus, ihrer Besonderheit, Fremdartigkeit und ‚Unvolkischkeit‘.
Ihre Seelen fließen über in Hreshs Seele, und die seine in die ihren, und auf einmal taucht eine neue Vision innerhalb der Vision auf, die er erlebt. Er sieht auf der Erde eine zweite Große Welt; sie unterscheidet sich von der ersten, ist aber nicht weniger grandios. Eine Welt nicht nur der sechs Rassen, sondern eine von Dutzenden, Hunderten von Rassen: solche aus dem VOLK und die der Caviandis und der Stinchitole und Thekmuren, der Sisichil und Stanimander und Catagraks. aller lebendigen Geschöpfe — alle vereint, durch fortgesetztes Verständnis aneinander gebunden, alles miteinander teilend. eine Welt, die in ihrer Ganzheit reicher und tiefer wäre als sogar die alte Große Welt. eine Neue Welt, die alles umfaßte, was Leben hat auf Erden.
Plötzlich fragt eine mißtönende Stimme in Hreshs Kopf: Sogar die Hjjks? Und er antwortet sofort und ohne nachzudenken: ]a, sogar die Hjjks. Natürlich, die Hjjks auch!
Dann jedoch denkt er etwas weiter nach und fragt sich, ob die Hjjks tatsächlich bereit wären, sich einer derartigen multirassischen Konföderation anzuschließen. Immerhin waren sie ja Bestandteil der früheren gewesen, ein Überbleibsel. Und der Verwandler hatte seit den Tagen der Großen Welt Hunderte von Jahrhunderten Zeit gehabt, sie zu verändern und emporzuheben. Es konnte doch sein, daß sie sich dermaßen weit über die restlichen irdischen Rassen hinausentwickelten, daß sie nun nicht mehr fähig sind, sich den anderen auf irgendeinem Gebiet als Gleichrangige zuzugesellen.
Aber ist das so? fragte sich Hresh. Sind sie denn zu Göttern geworden? Ist Sie, die Großkönigin der Hjjks, ein Gott?
In diesem Augenblick, aber wirklich nur einen Lidschlag lang, zuckt sein träumendes Bewußtsein blitzhaft nordwärts in die kahle Ödnis der kalten Lande, in denen der Horizont von einem leuchtenden Glühen erhellt ist. Und dort schaut er die gewaltige geheime KÖNIGIN, wie sie bewegungslos in ihrer Kammer ruht und die Geschicke der vielen Millionen Angehörigen des Insektenvolks lenkt und — soweit Hresh dazu eine Meinung haben kann — auch der restlichen Welt. Er spürt die Kraft und Stärke dieses unermeßlichen Bewußtseins und der gigantischen Lebensmaschine, des NESTS, über das die Königin herrscht. Er beobachtet die Verflechtung der Teile, das Hin und Her schimmernder Webkolben, die Spinnfäden im Netzgeflecht des Lebens.
Und dann ist es vorbei, und er schwebt wieder im unbestimmten leeren Raum; doch das dröhnende Echo dieser Unermeßlichkeit hallt in ihm nach.
Ein Gott? Herrschend über eine göttliche Rasse?
Nein, denkt Hresh. Nein, gewiß keine Götterrasse!
Die Himmlische Fünffaltigkeit — sie sind Götter: Dawinno, Emakkis, Mueri, Friit und Yissou — der Verwandler und Zerstörer, der Ernährer, der Trostspender, der Heilende, der Beschützer.
Und der Nakhaba der Beng, auch er ist ein Gott. Der Mediator, der vermittelnd zwischen dem VOLK und den Menschlichen steht und der zu ihnen zu unseren Gunsten spricht. So hatte der alte Noum om Beng es Hresh gelehrt, als er ein Knabe war in Vengiboneeza.
Und deshalb muß es so sein, sagt Hresh sich jetzt, daß auch die Menschlichen Götter sind, denn wir wissen, daß sie erhaben sind sogar über Nakhaba und älter als die Große Welt.
Vielleicht waren sie es ja, die die übrigen fünf Rassen der Großwelt ins Leben gerufen haben? Die Hjjks und die Seelords, die Mechanischen und Vegetabilischen und die Saphiräugigen? War das möglich? Daß sie es müde wurden, allein auf Erden zu leben, die Menschlichen? Und daß sie sich die anderen erschufen, um mit ihnen gemeinsam eine neue große Kultur zu erbauen, die über viele Jahre hin üppig gedeihen und dann zugrunde gehen sollte, wie alle Kulturen sterben?
Wo aber sind sie dann, wenn sie denn schon Götter sind?
Sind sie tot wie die Saphiräugigen, die Vegetabilischen, die Mechanischen und die Seeherren?
Nein, denkt Hresh. Denn wie sollten Götter sterben können? Sie haben sich nur einfach aus der Welt zurückgezogen. Vielleicht hat ihr Erschaffer sie an einen anderen Ort berufen, und sie erbauen IHM eine neue Erde, weit, weit weg.
Oder aber sie sind immer noch bei uns, in der Nähe, aber unsichtbar, warten ihre Zeit ab, verhalten sich abweisend und halten sich versteckt und warten, daß sich ihr großer Plan zu verwirklichen beginnt, was immer dieser Plan sein mag. Und die Hjjks sind bei all ihrer Schrecklichkeit nur ein Teilaspekt dieses Plans — und nicht etwa die Urheber des Plans oder seine Bewahrer.
Vielleicht. Vielleicht.
Aber wenn es eine neue Große Welt geben soll, dann müssen die Hjjks daran beteiligt sein. Wir müssen ihnen, wie Nialli das einmal gesagt hat, als Mitlebewesen, als Mitmenschen begegnen. Und jetzt sind wir dabei, uns auf den Krieg gegen sie vorzubereiten. Das ergibt doch keinen Sinn! Wo soll denn da ein Sinn liegen? Ein Sinn? Sinn?
Hresh weiß es nicht. Und er kann sich auch nicht länger in der Schwebe halten. Seine Seele sackt spiralig durch die Dunkelheit nach unten und einem schweren Aufprall auf dem Boden zu. Bei seinem Himmelssturz schaut Hresh auf die Stadt hinab, die ihm entgegenstürzt, und er erhascht einen letzten Blick auf seinen Bruder Thu-Kimnibol, der stolzgeschwellt vor seinem Heer im Stadion herumstapft. Dann durchfährt Hresh eine Zone unbegreifbarer Fremdheit, und als er wieder bei Bewußtsein ist, sitzt er an seinem eigenen Schreibtisch und ist nur etwas benommen und verwirrt.
In seinem Kopf wirbelt alles durcheinander. Nun ja, es ist alles so, wie es immer war in seinem Leben: Zu viele Fragen. und nicht genug Antworten.
Die Stimme Chupitain Stulds schnitt scharf in seine Verwirrtheit hinein. „Herr? Herr Hresh? Ich hab dir die Funde von Tangok Seip gebracht. Herr? Hresh? Geht es dir nicht gut?“
„Ich. äh. also.“
Das Weib stürzte ins Zimmer und hing dann bedrohlich über ihm. Ihre Augen waren vor Besorgnis weit aufgerissen. Hresh raffte sich zusammen. In seiner Seele kreisten wirbelnd immer noch tumulthaft die brüchigen Trümmer seines Traums.
„Herr?“
Er raffte sich und alle verfügbare Fröhlichkeit zusammen. „Ein bißchen verträumt gewesen, weggetreten, weiter nichts. War tief in Gedanken.“
„Aber du hast so seltsam ausgesehen, Herr!“
„Nein, nein, ist schon alles in Ordnung. War nur mal so weg und verträumt, ein bißchen, Chupitain Stuld. In Gedanken weit weg, na ja und so, eben weit weg.“
„Ich könnte später wiederkommen, wenn du.“
„Nein. Aber nicht doch, bleib schön da.“ Er richtete einen Finger auf den Kasten, den sie trug. „Hast du das Zeug da drin? Also, dann laß mich mal sehen. Es ist sowieso kaum zu entschuldigen, daß ich die Dingelchen so lang auf mich hab warten lassen. Plor Killivash hat sie bereits untersucht, hast du gesagt?“
Aus irgendwelchen Gründen rief die Frage in der Frau eine unangemessene verwirrte und schnatterhafte Reaktion hervor. Er fragte sich, warum.
Sie fing an, die Objekte auf seinem Tisch auszulegen.
Es waren insgesamt sieben, mehr oder weniger kugelförmige Gegenstände, und alle von einem Ausmaß, daß man sie leicht in der Hand halten konnte. Aufgrund des eleganten Designs und der üppigen Materialverschwendung erkannte Hresh sie sogleich als Arbeiten aus der Großen Welt. Allesamt waren sie aus dem unverwüstlichen bunten Metall geschaffen, wie es die exzellenten Kunstwerker jener verschwundenen Ära bevorzugten. Die Schatzkeller in Vengiboneeza hatten solcherlei ‚Instrumente‘ hundertfach preisgegeben. Und manche davon hatten auch die klügsten Köpfe nicht wieder operationsfähig machen können; einige hatten kurzfristig ein paar verblüffende Wirkungen produziert und waren dann für immer betriebsuntauglich; aber einige andere hatte er begreifen und in den Griff bekommen können und sie danach jahrelang nutzbringend eingesetzt.
Solche Funde wurden in jüngerer Zeit nur noch selten gemacht. Und dieser neue war recht bemerkenswert. Und es verriet das Ausmaß der Verwirrung, in der sich Hreshs Seele befand, daß er die Fundstücke so lange seinen Assistenten überlassen hatte, ohne selbst auch nur einen Blick darauf zu werfen.
Nun betrachtete er die sieben Objekte, berührte jedoch nicht eines davon. Er wußte, wie gefährlich es war, solche Gegenstände zu handhaben, wenn man nicht wußte, welche der verschiedenen Ausstülpungen sie aktivieren konnte.
„Hat irgendwer eine Idee, zu was sie gut sind?“
„Dies hier. ah. es löst Stoffe auf. Wenn ich den Knopf da an der Seite drücken würde, käme ein Lichtstrahl heraus und würde alles von hier bis zur Wand auflösen. Und das da legt eine Hülle aus Dunkelheit über Gegenstände, eine Art von Schleier, durch den man nicht hindurchsehen kann; du könntest also damit durch die Stadt gehen, und keiner würde dich wahrnehmen. Und dies da — es schneidet wie ein Messer, und sein Strahl ist derart stark, daß wir die Tiefe des von ihm gemachten Lochs nicht ausmessen konnten.“ Chupitain Stuld warf ihm einen argwöhnischen Blick zu, als sei sie nicht sicher, ob er ihr zuhörte. Sie nahm ein weiteres Objekt hoch. „Also, das da, Herr.“
„Einen Augenblick!“ sagte Hresh. „Ich sehe hier nur sieben von diesen Instrumenten.“
Wieder bekam sie diesen bedrückten Ausdruck. „Ja, sieben. Genau, Herr.“
„Wo sind die übrigen?“
„Die — übrigen?“
„Ich glaube mich zu erinnern, daß man mir am Tage, als sie hergebracht wurden, von elf Objekten gesprochen hat. Das war vor etlichen Monden — ich erinnere mich genau, während der Regenzeit. elf Artefakte aus der Großwelt, das hast du mir damals gesagt, da bin ich ganz sicher; aber es kann auch Sangrais mir gesagt haben.“
„Ich war es, Herr“, gab sie mit sehr leiser Stimme zu.
„Also, wo sind die restlichen vier?“
Ihre Bedrücktheit hatte sich nun in Furcht verwandelt. Sie stieß sich hastig von seinem Arbeitstisch ab, fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und begann hastig, sich das Fell zu glätten.
Hresh versetzte ihr einen ganz winzigen Schubs mit dem Zweitgesicht. Und fühlte die brodelnde Furcht in ihr, die Beschämung, die Reue.
„Wo sind sie, Mädchen?“ fragte er sanft. „Sag mir die Wahrheit.“
„Weg — als Leihgaben“, flüsterte sie.
„Als Leihgaben? An wen?“
Sie starrte zu Boden.
„An den Prinzen Thu-Kimnibol, Herr.“
„Meinen Bruder? Seit wann interessiert der sich für antike Fundstücke? Was in Nakhabas Namen will er denn damit, möcht ich gern wissen. Und woher weiß er überhaupt, daß die Sachen hier bei uns waren?“ Hresh schüttelte den Kopf. „Wir verleihen keine Objekte, Chupitain Stuld. Schon gar nicht Neuerwerbungen, die noch nicht gründlich untersucht wurden. Auch nicht an Personen wie den Prinzen. Das ist dir doch bekannt!“
„Ja, Herr.“
„Hast du die Ausleihung autorisiert?“
„Es war Plor Killivash, Herr.“ Eine Pause. „Aber ich wußte davon.“
„Und du hast mir nichts gesagt?“
„Ich hab gedacht, es geht schon in Ordnung. Wo doch der Prinz Thu-Kimnibol dein Bruder ist, und.“
Hresh gebot ihr mit einer Handbewegung Schweigen. „Und sie sind jetzt in seinem Besitz?“
„Ich glaube schon, Herr.“
„Warum wollte er sie haben, weißt du etwas darüber?“
Sie zitterte, versuchte zu sprechen, aber sie fand keine Worte.
Chupitain Stulds Beschreibung der verbliebenen Fundstücke hallte in Hreshs Kopf nach — der Objekte, die Thu-Kimnibol nicht für interessant genug gehalten hatte, um sie sich ‚auszuleihen‘:. löst Stoff auf... ein Mantel der Dunkelheit... schneidet wie ein Messer... unermeßlich tief.
O Götter! Und das waren die Objekte, die Thu-Kimnibol nicht mitgenommen hatte. Welche Vernichtungskapazität mochten dann erst die anderen haben?
Und in diesem Augenblick, das wußte Hresh, war Thu-Kimnibol draußen im Stadion, drillte sein Heer und bereitete sich auf den Krieg gegen die Hjjks vor. Er hatte nur wenige Tage gebraucht, um seine Armee aufzustellen.
Und jetzt besaß er auch noch Vernichtungswaffen.
Taniane sagte: „Es ist nicht Thu-Kimnibols Armee, Hresh! Es ist unsere Armee. Die Streitmacht der Stadt Dawinnos.“
„Aber Husathirn Mueri.“
„Die Götter mögen ihn verfluchen, diesen Husathirn Mueri! Er wird uns bei jedem Schritt Schwierigkeiten bereiten, soviel ist sicher. Aber ebenso sicher ist, daß es Krieg geben wird. Und deshalb habe ich Thu-Kimnibol beauftragt, eine bewaffnete Streitmacht aufzubauen.“
„Moment“, bat Hresh. Er blickte Taniane an, als wäre sie eine Fremde und nicht seit vierzig Jahren seine Gefährtin. „Du hast ihn beauftragt? Nicht das Präsidium?“
„Ich bin der Häuptling, Hresh. Wir stehen vor einer kritischen Entwicklung. Da bleibt keine Zeit für langatmige Debatten im Haus.“
„Ich verstehe.“ Er blickte sie fest an. Er konnte kaum glauben, was er da gehört hatte. „Und dieser Krieg? Wieso bist du dermaßen sicher, daß er kommt? Du und Thu-Kimnibol und im übrigen auch Husathirn Mueri. Ist das also alles bereits beschlossene Sache? Hat es eine Geheimabstimmung über eine Kriegserklärung gegeben?“
Taniane ließ sich mit der Antwort Zeit. Hresh wartete. Er spürte an Taniane das gleiche ausweichende Zögern wie vorher bei Husathirn Mueri und bei Chupitain Stuld. Sie alle versuchten ihm etwas zu verheimlichen, ihm Fakten vorzuenthalten. Ein Netz von Trug und Täuschung war gesponnen worden, während er schlief, und sie waren alle eifrig und verzweifelt bemüht, zu verhindern, daß er es nun durchschaute.
Schließlich sprach sie: „Thu-Kimnibol hat während seines Aufenthaltes in Yissou Beweismaterial gesehen, daß die Hjjks in allernächster Zukunft einen militärischen Angriff gegen König Salaman geplant haben.“
„Beweise? Was für Beweise?“
Der Eindruck, daß sie ihm ausweiche, vertiefte sich. „Er sagte etwas von einem Ausritt mit dem König in Hjjk-Gebiet und daß sie auf einen Trupp Hjjks gestoßen sind und sie gezwungen haben, geheime Militärpläne preiszugeben. Oder etwas in dieser Richtung.“
„Und diese militärischen Geheimnisse haben sie bequemerweise in kleinen Körbchen um den Hals mit sich getragen. Persönlich von der Königin unterzeichnet und mit dem hjjkischen Staatssigill versiegelt. Taniane!“
„Hresh, bitte.“
„Und ihr glaubt das? Daß die Invasion in Yissou, mit der Salaman schon seit ewigen Zeiten verbissen hausieren geht, tatsächlich übermorgen stattfindet?“
„Ich tue das, ja.“
„Und welche Beweise dafür gibt es?“
„Thu-Kimnibol kennt sie.“
„Aha. Verstehe. Schön, also sagen wir, die Hjjks machen schließlich doch eine Invasion. Aber wie günstig und prompt das passiert, so knapp nachdem er und mein Bruder zwischen Yissou und Dawinno einen gegenseitigen Verteidigungspakt geschlossen haben, wie?“
„Du klingst so zornig, Hresh! Du hast noch nie zuvor so mit mir geredet.“
„Und ich, ich habe sowas auch noch nie von dir erlebt! Du tänzelst um meine Fragen herum, weichst aus, quasselst was von Beweisen, bringst aber keine vor; du läßt zu, daß Thu-Kimnibol sich hier mitten in der Stadt eine Armee aufstellt, ohne daß ihr euch dazu herablaßt, das in der Kammer auch nur zu diskutieren.“
Und nun starrte sie ihn an, als wäre er ein Fremder. Ihre Lider sanken über die Augen und verdeckten den Blick. Ihr Gesichtsausdruck war kalt.
Hresh konnte das nicht ertragen, diese Mauer des Argwohns und Mißtrauens, die so plötzlich zwischen ihnen emporgewachsen war und die ihm so hoch erschien wie Salamans aberwitziges Mauerbollwerk. Er verspürte den Drang, Taniane zu bitten, sie möge mit ihm tvinnern, mit ihm die Verbindung eingehen, die keinen Argwohn, kein Mißtrauen zuläßt. Dann läge zwischen ihnen alles offen und klar da; sie wären wieder einmal Hresh-und-Taniane-Taniane-und-Hresh, und nicht die Fremden, die sie füreinander geworden waren.
Aber er wußte, daß sie das ablehnen würde. Sie würde Müdigkeit vorschützen oder eine dringende Besprechung in der nächsten Stunde, oder sonst irgendeinen Vorwand haben. Denn wenn sie mit ihm tvinnerte, würde sie vor ihm keine Geheimnisse mehr haben können; und Hresh erkannte, daß sie voll von geheimen Gedanken steckte, die sie entschlossen nicht mit ihm teilen wollte. Er fühlte sich von tiefer Traurigkeit überkommen. Natürlich wußte er, daß er alles, was er zu wissen wünschte, mit der Hilfe des Barak Dayir erfahren konnte. Die Zauberkräfte des Wundersteines würden ihn überallhin tragen, sogar in die behütetsten Winkel in Tanianes Denken. Doch er fand das widerwärtig. Die eigene Gefährtin ausspionieren? Nein. Nein! Eher soll die Stadt zugrundegehen und alle, die in ihr leben, bevor ich das tue!
Nach langem Schweigen sprach Taniane weiter: „Ich habe die Maßnahmen ergriffen, die ich für die Sicherheit der Stadt für nötig erachte, Hresh. Wenn du Einwände dagegen hast, so ist es dein gutes Recht, sie im Präsidium vorzubringen. Ist damit alles klar?“ Ihr steinkalter Blick war abscheulich. „Sonst noch was, das du mir sagen möchtest?“
„Hast du Kenntnis davon, Taniane, daß Thu-Kimnibol sich hinter meinem Rücken widerrechtlich einiger neu entdeckter Funde aus der Großen Welt bemächtigt und sie aus dem Haus des Wissens entwendet hat, um sie als Waffen einzusetzen?“
„Wenn es zum Krieg kommt, Hresh, werden wir Waffen brauchen. Und es wird Krieg geben.“
„Aber sie aus dem Haus des Wissens zu entfernen, ohne mir auch nur mir.“
„Ich habe Thu-Kimnibol autorisiert, für eine angemessene Ausrüstung der Armee zu sorgen.“
„Du hast ihn ermächtigt, Fundobjekte der Großwelt aus dem Haus des Wissens zu stehlen?“
Sie blickte ihn starr und ohne mit der Wimper zu zucken an. „Ich glaube mich zu erinnern, daß du selbst Waffensysteme aus der Großen Welt in der Schlacht von Yissou gegen die Hjjks eingesetzt hast.“
„Aber das war doch etwas ganz anderes! Das war.“
„Etwas anderes, Hresh?“ Taniane lachte. „War es das? In welcher Beziehung anders?“
Für Salaman war das ein böser Tag, oben auf seiner Mauer. Alles war schwummerig und verschwommen. In seinem Kopf wirbelte ein Brei aus scharf knirschendem Unsinn und blockierte die Leitwege in seinem Gehirn. Undeutliche wolkige Bildvorstellungen kamen ab und zu auf ihn zugedriftet. Ein hochragender Turm, der vielleicht als Symbol für Thu-Kimnibol stand. Eine helleuchtende Flamme — vielleicht Hresh? Ein zäher wettergepeitschter Baum, vom Sturm geschüttelt — vielleicht Taniane, dachte er. Und noch eine Bildvorstellung — von einem oder einem Etwas, das Schlangenhaft war und schlüpfrig. Und das konnte Salaman nun ganz und gar nicht interpretatorisch einordnen. Entscheidendes geschah an diesem Tage drunten in Dawinno. Aber was? WAS? Nichts von den Informationen, die er auffing, ergab einen Sinn. Er stellte den Fokus seines Zweitgesichts auf höchste Schärfe. Doch entweder waren seine Perzeptoren an diesem Tag geschwächt, oder aber seine Agenten dort unten schickten einen dermaßen zermatschten Informationsbrei, daß seine Decodierungskapazität dafür nicht ausreichte.
Er befand sich in seinem Pavillon auf der Mauer und bestrich mit seinem Sensor-Organ den Horizont in weiten schweifenden Bögen. Er schickte sein Bewußtsein parallel dazu hinaus in die weiten leeren Gefilde rings um Yissou und zog schwerfällig tiefer in den Süden, um Informationen aufzufangen. Am gegenüberliegenden Punkt der Mauer — die ganze Stadt lag zwischen ihnen — stand Salamans Sohn Biterulve und spähte die Nordflanke aus, ob sich da etwas Neues tat.
Das neue Kommunikations-Verbundsystem war inzwischen endlich aufgebaut. Die Einrichtung hatte den ganzen Winter über gedauert: Freiwillige zu finden, sie auszubilden, sie einzuschleusen, damit sie die Außenposten, als landwirtschaftliche Betriebe getarnt, aufbauen konnten. Doch inzwischen hatte Salaman sein Agentennetz wie eine Perlenkette weit in den Süden, bis fast vor die Tore von Dawinno, gefädelt; und nordwärts ins Hjjk-Territorium, soweit ein Vorstoß dorthin noch als sicher einzustufen gewesen war.
Von überallher kamen die knisternden, krächzenden Zweitgesichts-Transmissionen auf ihn hereingeströmt. Über die zahlreichen Relaisstationen unterwegs. König Salaman konzentrierte seinen starken Verstand mit voller Kraft auf dieses Überwachungsnetz. Inzwischen kam er jeden Tag im Morgengrauen hierher und lauschte und wartete.
Es war nicht leicht herbeizuführen, diese Gedanken-Transmission. Die transmittierten Informationen waren stets verschwommen, schwer zu interpretieren, oftmals vieldeutig. Aber welche andere Möglichkeit hätte es gegeben, wollte man nicht auf die uralte Methode der hin- und herreitenden Kuriere zurückgreifen? Im Idealfall waren die neuesten Nachrichten, die sie übermittelten, erst ein paar Wochen alt. Für die jetzige Situation war so etwas unvorstellbar. Der Fluß der Dinge lief zu rasch. Ja, wenn er einen zauberischen Wunderstein besäße wie Hresh, dann könnte er wohl seinen Geist hierhin schweifen lassen und dorthin, wie es ihm beliebte, und überall und in alles hineinspähen. Doch es gab leider nur den einen Zauberstein, und den hatte nun einmal Hresh.
Heute ging ihm aber auch schon alles in die Quere! Die einlaufenden Botschaften waren wertloses Zeug, Brei und Nebel, dunkel und verquastes Durcheinander, kein bißchen Präzision. Reine Zeit- und Energieverschwendung!
Nun ja, das ließ sich nicht ändern. Salaman ließ seinen erschöpften Sensor erschlaffen. Vielleicht war morgen ein besserer Tag. Er schickte sich an, die Stufen hinabzusteigen.
Aber dann drang wie eine aufgeregte Himmelsstimme die Bewußtseinsebene seines Sohnes zu ihm herüber:
— Vater! Vater!
— Ja, Biterulve?
— Vater, kannst du mich hören? Hier Biterulve!
— Ja, ich höre dich.
— Vater?
— So red schon Junge! Sag es mir!
Dann folgte Funkstille. Salaman spürte, wie die Wut in ihm bereits wieder heraufzuwallen begann. Eindeutig, der Bub hatte ihm was Wichtiges mitzuteilen; aber es war ebenso eindeutig, daß Biterulves Sendungen und die seinigen nicht koordiniert waren. Salaman fuhr herum und richtete sein Sensororgan schräg in die Richtung, aus der Biterulves Transmissionen kamen. Es war zum Wahnsinnigwerden! Dermaßen ungenau, keine Präzision, bloße Näherungswerte an auswertbar Sinnvolles. Bilder und Gefühlsfetzen, statt Worten, alles codiert, und man mußte es entschlüsseln, mußte es interpretieren. Eines allerdings war klar: Es gab etwas Neues im Norden. Nein, Salaman zweifelte nicht daran. Er spürte unmißverständlich die Erregtheit des Jungen.
— Biterulve?
— Vater! Vater!
— Ich kann dich hören. Sag mir, was es ist.
Salaman fühlte, wie der Junge kämpfte. Biterulve besaß eine tiefe Sensitivität, aber sie war von einer merkwürdigen Art: schärfer über weite Entfernungen als über Nahstrecken. Salaman hämmerte die Faust auf die Backsteinbrustwehr seines Walls. Er reckte sein Sensorium so hoch, wie er nur konnte und bis es nicht mehr höher ging, und bestrich die Luft mit gespreizten Armen, als könnte er auf diese Weise die Botschaft, die sein Sohn ihm sandte, klarer verständlich aus ihm herausholen.
Dann kam eine Bildübertragung, die in ihrer Deutlichkeit keine Zweifel zuließ.
Blutbedeckte Leiber auf einem flachen Stück Lands zwischen zwei Flußgewässern. Hunderte von Leichen. Die Schar von Zechtior Lukin.
Stakige Schattengestalten stolzieren zwischen den Leichen herum, beugen sich ab und zu nieder, als suchten sie sich die eine oder andere Trophäe aus.
Die Hjjks!
— Sie sind tot, Vater! Die Akzeptänzler! Alle bis zum letzten Kind! Kannst du mich hören?
— Ich höre dich mein Junge.
-Vater? Vater? Es ist dermaßen klar über die nördlichen Relaisposten durchgekommen. Sie sind alle umgebracht wor den, im Hjjk-Gebiet, an einem Ort, wo die Flüsse sich gabeln. Alle gläubigen Akzeptänzler — sie sind restlos ausgelöscht.
Salaman nickte beifällig, als stünde Biterulve dicht neben ihm. Er schleuderte mit einem wilden Stoß seine Mentalenergie dem Knaben eine Nachricht zu, so heftig, daß er sicher war, sie würde durchkommen, und erklärte ihm, er habe die Information erhalten und verstanden; und kurz darauf kam die Bestätigung von Biterulve zurück, und der Junge klang wahrlich erleichtert, daß es ihm geglückt war, sich verständlich zu machen.
Endlich! dachte Salaman.
Jetzt endlich beginnen die Räder zu rollen!
Die gläubigen Akzeptänzler hatten ihr ersehntes Martyrium gefunden. Es war an der Zeit, die zweite Kolonne vorzuschicken, die Vergeltungsstreitmacht, die wahrscheinlich gleichfalls einen blutigen Märtyrertod auf dem Schlachtfeld sterben würde, wenn auch gewiß weit weniger gelassen. Und danach mußte man bereit sein für den Totalen Krieg, der unweigerlich folgen mußte.
König Salaman wuchtete sich herum und spähte wieder nach Süden.
Einen Moment lang gönnte er sich Ruhe, stand nur da, atmete flach und sammelte seine Kräfte. Diesmal durfte es weder Zweideutigkeit noch Deutungsspielraum geben. Die Botschaft mußte über die Relaiskette sofort und ohne irgendwelche Verzerrungen transmittiert werden und unverfälscht und fehlerfrei Thu-Kimnibol im fernen Dawinno erreichen.
Salaman beschwor die Bilder herauf. Die toten Leiber am Flußufer. Die dunklen kantigen Gestalten, die sich zwischen ihnen bewegten. Das neue Heereskontingent, das aus Yissou abmarschierte und tapfer in Feindesgebiet vorstoßen würde, um den feigen Meuchelmord an Zechtior Lukin und seiner Schar von Heiligen zu rächen. Der heftige Zusammenprall der Streitkräfte, der unweigerlich erfolgen würde. Die aufgebrachten Hjjks, die weitere Drohungen ausstießen.
Und dann: Das Bild der Tore von Dawinno, die sich auftaten und durch die eine unermeßliche Kriegerschar strömte, mit Thu-Kimnibol an der Spitze.
Salaman lächelte. Er erigierte sein Sensor-Organ und hielt es steif aufrecht. Aus der Wurzel seines Rückgrats pulste Stärke bis in die äußerste Spitze hinauf. Er schloß die Augen und ließ das Wort aus sich hinausbrechen und weiter strömen. Es schoß nach Süden, ein heller Energiestrom von Relaisstation zu Relaisstation — wie ein hüpfender Blitz über die riesige Entfernung zwischen den beiden Städten hinweg.
— Ich berufe mich auf unseren Bündnisvertrag. Wir haben Krieg.
Etwas ist nicht in Ordnung. Nialli Apuilana ist allein in ihrem Zimmer im Nakhaba-Haus. Sie verspürt plötzlich ein Beben, ein Krachen und Knirschen, als wäre die Welt aus ihren Angeln gerissen worden und taumelte nun blindlings durch die Himmelssphären. Sie tritt ans Fenster. Drunten auf den Straßen sieht alles ganz normal aus und ruhig. Aber ihr Zweitgesicht läßt sie die Sonne sehen, die nun auf einmal riesenhaftgewaltig dicht über ihr hängt und aus der Ströme von Blut herabtriefen. Und in der Schwärze des Himmels kreisen wirbelnd die eisgrünen Schweife der Kometen.
Sie beginnt zu zittern, wendet den Blick ab, vergräbt das Gesicht in den Armen. Später dann betet sie. Zunächst zur Fünffaltigkeit, und dann zur Geistseele Kundalimons. Und dann — ohne daß ihr bewußt wird, warum — schickt sie ihre fernreichenden Emissionen auch an die Königin.
Nialli hebt den Hjjk-Stern von der Wand. Sie hält ihn dicht vor ihr Gesicht. Sie hält ihn sacht an den Kanten fest. Sie schaut konzentriert in den offenen Mittelraum, das Zentrum, und konzentriert ihren Sichtbereich immer schärfer, bis er nichts weiter als diese kleine Öffnung umfaßt.
Es ist dunkel dort. Vielleicht wartet im tiefsten Grund des Dunkels ein Bild, aber sie weiß wirklich nicht, ob es da ist. Und wenn da etwas ist, dann ist es verschwommen, verblichen, verwaschen und undeutlich, wie die verwischte geisterhafte Spur eines Gespensts. Früher einmal konnte dieser Stern ihr das Nest nahebringen — oder sie bildete es sich doch wenigstens ein. Jetzt aber.
Nichts. Nur dunkle nebelhafte Schemen, die sich dem Blick entziehen, so sehr sie sich anstrengt, sie zu durchdringen. Und keine Spur vom NEST.
Wohin ist es verschwunden?
War es denn jemals da?
— Willst du wirklich sehen? fragte in ihr eine Stimme.
— Ja!
— Aber was du sehen wirst, könnte dich verwandeln.
— Ich bin schon so viele Male verwandelt worden. Was könnte mir da noch geschehen bei einmal mehr?
— Also gut. So sieh denn und schaue, was es zu schauen gibt.
Und dann hat sie den Eindruck, daß die Überschattung sich auflöst, daß die Dunkelheit im Zentrum des Sterns sich erhellt und daß sie erneut wieder durch seinen Mittelpunkt hindurch in die vertrauten unterirdischen Gänge blicken kann, die eine kurze Zeit hindurch Heimat für sie gewesen waren. Gestalten bewegen sich dort. Nialli packt den Stern fester, und sie späht noch eindringlicher.
Gestalten, ja.
Und nun sieht sie sie nur allzu klar.
Ungeheuerlich. Bizarr. Verzerrt Köpfe scharf wie Kriegsbeile. Arme wie schwingende Schwerter. Riesenhafte kalte Augen, Spiegel, in denen ein kaltes schwarzes Feuer tausend gebrochene Abbilder auf einmal bösartig zurückwirft. Glitzernde scharfe Schnäbel, die zuschnappen und schnarren und ihr durch die Mitte des Sternes dolchscharf entgegenstoßen. Nialli hört das beißende Zischen ihres Gelächters. Sogar ihr Stern, dieses schlichte Gebilde aus einfachem, geflochtenem Grasstroh, ist auf einmal mit scharfen schwarzen Borsten bedeckt. Und seine Mitte ist zu einem dunklen haarumwucherten Mund geworden, einem glitschig klaffenden feuchten schleimigen Loch, das sich ihr mit weichen, einladenden schmatzenden Sauggeräuschen entgegenstülpt.
Etwas zerrt an ihr, versucht sie in die Mitte des kleinen Hechtsterns hineinzuziehen.
Der verführerische Sog ist stark. Heimkehren ins Nest, ja, die Bindung erneut sich aufbauen lassen, dem Nest-Denker zu Füßen sitzen und seine Weisheit in sich aufsaugen. Vor die Königin geführt werden und IHRE Berührung fühlen. War es nicht dies, was sie sich ersehnte? Was sie sich schon immer und von Anfang an ersehnt hatte? Und Kundalimon! Die allerheftigste Versuchung. Sie würden ihr ihren Kundalimon zurückgeben. Komm her zu mir, und Kundalimon wird wieder dein sein. War es so? Wie verlockend das klingt. Und wie leicht es sein würde, dem nachzugeben. Und wie angenehm, in das Nest zurückzukehren. wie tröstlich...wie sicher sie sein würde.
Nein. Nein, wie könnte so etwas überhaupt sein?
Nialli setzt sich mit all ihrer Seelenkraft zur Wehr.
Aber es zieht und zerrt sie noch immer weiter und tiefer hinein. Doch als sie sich weiter dagegen wehrt, läßt der ziehende Sog allmählich nach. Sie schüttelt sich, sie schleudert den Strohstern von sich und sieht ihn durch ihr Zimmer fliegen, bis er auf einer Spitze stehend an der gegenüberliegenden Wand zur Ruhe kommt. Aber selbst von da unten her ruft der Stern weiter: Komm zu uns. Komm... Komm!
Die Alptraumbilder wollen nicht von ihr weichen. Die Schnäbel und Klauen, der borstige Mund, die Myriade von kaltglitzernden Augen. Das brennt in ihrem Bewußtsein weiter, so sehr sie sich auch müht, es von sich zu stoßen. Sie hat gedacht, daß sie schon vor Wochen ihren Kampf gekämpft und gewonnen hätte. Aber nein, der Zugriff der Königin ist noch nicht völlig gebrochen.
Nialli ringt nach Luft. Ihr Herz rast. Auf der Haut fühlt sie ein Brennen wie von eiskalten Pusteln. In ihrem Gehirn wirbeln Rätsel und Fragen.
Die Wände ihres kleinen Gemachs scheinen sich auf sie zuzubewegen. Ströme von Blut schieben sich über den Boden. Abgehackte Gliedmaßen richten sich auf und tanzen wild um sie herum. Von dem Grasstern am Fuß der Wand pulst ein unheilsames, giftiges grünes Licht. Aus der Mitte des Sterns recken sich dünne spillerige Arme und greifen nach ihr. Scharfe Flüsterstimmen rufen sie, von weit her, aber lockend.
„Nein“, sagt sie. „Nein, ich gehöre nicht mehr euch.“
Und sie weicht langsam seitwärts nach hinten, die Augen fest auf den Stern fixiert, schiebt sich behutsam auf die Tür zu und tastet nach dem Griff, und dann schlüpft sie hastig auf den Gang hinaus. Sie zerrt die Tür hinter sich zu und hält den Griff fest in der Hand. Dann lehnt sie sich gegen die Tür, holt tief Luft in ihre Lungen und wartet, daß die Benommenheit von ihr weiche und das Hämmern in ihr Brust sich lege.
Frei. Frei.
Aber was nun?
Es gibt nur einen in der ganzen Stadt, an den sie sich wenden kann.
Ich will zu meinem Vater gehen.
„Sie wollen die Königin vernichten, wenn sie können“, sprach Husathirn Mueri. „Darauf geb ich euch mein Wort.“
Er befand sich in der ‚Kapelle Kundalimons‘ in dem Gäßchen dicht an der Straße der Fischhändler. Es war nicht einer der regulären Versammlungstage der Kongregation. Außer ihm waren nur Tikharein Tourb und Chhia Kreun anwesend: der knabenhafte Priester, die mädchenhafte Priesterin.
Zu seinem eigenen nicht geringen Erstaunen hatte Husathirn Mueri sich zu einem regelmäßigen Praktikanten der neuen Glaubenslehre entwickelt. Was als Ausspähung begonnen hatte, war inzwischen — ja, war es das? — gläubige Gefolgschaft geworden. Oder gehörte das noch immer zu seiner Bespitzelung? Er war sich da gar nicht sicher. Jedenfalls, in dem Sturm, der durch Dawinno tobte, war ihm dieses Bethaus, diese schäbige Kellerkapelle, in der sich im Gestank von Trockenfisch viermal wöchentlich nach Schweiß riechende Proleten versammelten, um lautstark ihre Liebe zur Königin hinauszublöken, zu einer Art Zuflucht geworden. Chevkija Aim gegenüber gab er noch immer vor, er führe eine Kriminaluntersuchung durch. In seinem Herzen war er nicht mehr so sicher, daß es das war, was er tat.
Der Knabe sagte: „Aber sind sie denn zu sowas fähig? Kann irgend jemand dazu fähig sein? Es fällt schwer, das zu glauben.“
„Daß die Königin vernichtet werden kann?“
„Nein, daß sie so böse sind, es zu versuchen.“
„Sie werden sie ermorden“, sagte Husathirn Mueri, „genau, wie sie Kundalimon ermordet haben. Ihr Haß gegen die Nest-Wahrheit kennt keine Grenze.“
„Dann war es also Thu-Kimnibol, der Kundalimon getötet hat?“ fragte das Mädchen verwirrt.
Husathirn Mueri wandte sich ihr zu. „Aber das wußtet ihr doch sicherlich längst. Es geschah auf seinen Befehl hin durch den Wachhauptmann Curabayn Bangkea. Der dann seinerseits ebenfalls ermordet wurde, um ihn zum Schweigen zu bringen.“
„Und du weißt, daß dies gewißlich wahr ist?“ fragte Tikharein Tourb.
„Es ist schon wahr. Bei allen Göttern, es ist wahr!“
Tikharein Tourb blickte ihn lange stumm und starr an, als wolle er ihn abschätzen und beurteilen. Die schmalen grünen Augen des Knaben waren kalt wie das Eis, das im innersten Herzen der Welt liegt. Ein einzigesmal vorher hatte Husathirn Mueri solche Augen gesehen: die ausdruckslos hellen Augen des Gesandten Kundalimon. Doch selbst noch im erbarmungslosesten Blick von Kundalimon hatte stets ein Hauch mitkreatürlichen Mitgefühls geleuchtet. Die Augen dieses Knaben hier aber waren völlig eisig und entsetzlich.
Das eisig-wütende Schweigen hielt an und schien kein Ende nehmen zu wollen. Tikharein Tourb und das Mädchen standen statuenstarr und stumm da. Dann sah Husathirn Mueri, daß das Sensor-Organ des Jungen zu zucken und sich zu versteifen begann und sich dann unmerklich seitwärts bewegte, bis es mit der Spitze die Sensorspitze von Chhia Kreun berührte. Es sah beinahe aus, als träten die beiden in eine Kommunion vor seinen Augen. Was sie ja vielleicht taten.
Dann sagte der Junge: „Schwöre mir bei deiner Liebe zur Königin, daß es Thu-Kimnibol war, der Kundalimon ermorden ließ.“
„Ich schwöre es!“ sagte Husathirn Mueri ohne Zögern.
„Und daß es das Ziel dieses von Thu-Kimnibol angezettelten Krieges ist, das Nest zu zerstören und IHREN Tod herbeizuführen, die unsre Trösterin und unsre Lust ist.“
„Das ist das Ziel. Ich schwöre es.“
Wieder blickte Tikharein Tourb starr vor sich hin. Was für ein entsetzliches, für ein beängstigendes Kind der ist, dachte Husathirn Mueri. Und das Mädchen ebenfalls.
„Nun, dann wird er sterben“, sagte der Junge schließlich.
Hresh saß in seinem Garten der Tiere, und es wimmelte um ihn von kleinen prächtig gefärbten Geschöpfen. Die beiden purpur-gelben, seine Caviandis, lagen neben ihm, und er streichelte sie sanft. Er hob den Blick, als Nialli Apuilana hereingestürmt kam.
„Vater!“ rief sie sofort laut. „Vater, mir ist etwas Seltsames widerfahren — etwas ganz Absonderliches.“
Er blickte ihr ausdruckslos und gleichgültig entgegen, wie wenn sie gar nicht gesprochen hätte. Die Augen waren in sich gekehrt, der Gesichtsausdruck noch sanfter als sonst. Eine große Trauerigkeit umgab ihn, wie Nialli sie nie zuvor an ihm gesehen hatte, und er schien unter ihrer Last geschrumpft zu sein, ein Besiegter, ein sehr alter, sehr zerbrechlicher Mann.
Das ängstigte sie. Die eigenen ungeordneten Ängste und Beklemmungen wichen in den Hintergrund. Sie war mit ihrem Entsetzen und in ihrer Not zu ihm gekommen, doch sie erkannte, daß seine Not weit größer sein müsse als die ihre.
„Was ist denn, Vater?“
Hresh zuckte unmerklich die Achseln und wiegte langsam den Kopf her und hin wie ein waidwundes Tier. Er schien ihr unendlich weit entfernt zu sein. Nach einer ganzen Weile sprach er: „Jetzt steht es fest. Es gibt Krieg.“
„Woher weißt du das?“
„Ich habe gerade das Signal aus dem Norden gespürt. Vielleicht hast auch du es aufgefangen. Und nichts kann das Furchtbare mehr aufhalten. Alles ist an Ort und Stelle, und das Wort ist ausgegeben: Es geht los!“
Sie starrte ihn begriffsstutzig an. „Ich bin nicht sicher, daß ich begreife, wovon du redest, Vater.“
„Du weißt also nichts von dem Bündnispakt, den Thu-Kimnibol aus Yissou heimgebracht hat?“
Sie schüttelte den Kopf.
„Wir haben uns dazu verpflichtet, Salaman militärisch zu Hilfe zu kommen, wenn er jemals von den Hjjks angegriffen wird. Und genau das geschieht in Kürze — ein Angriff, den Salaman vermutlich selbst provoziert hat. Vielleicht sogar mit einiger Unterstützung seitens meines Bruders. Und wenn die Hjjks erst einmal auf Yissou-Gebiet vordringen, dann muß unsere Armee nach Norden ziehen, und es gibt einen totalen Krieg.“
„Und das ist genau, was die zwei schon immer haben wollten.“
Hresh nickte. Tonlos sagte er: „Ströme von Blut werden vergossen werden, auf unsrer und auf ihrer Seite. Schreckliche Sündbarkeiten und Greuel werden geschehen. Hjjk-Soldaten werden durch unsere Städte marschieren und sie mit Fackeln in Brand stecken, oder wir werden das Nest zerstören, oder aber es wird alles beides geschehen. Am Ende macht es keinen Unterschied, was wem geschieht. Ob wir siegen oder unterliegen. Alles, was wir bisher erreicht haben, wird zerstört sein.“
Er sah so verloren aus, so untröstlich, daß Nialli ihn am liebsten in die Arme nehmen und streicheln wollte.
Leise sprach sie: „Du sollst dich nicht dermaßen bekümmern, Vater. Salaman träumt nur. Die Hjjks werden Yissou nicht angreifen, und es gibt keinen totalen Krieg.“
„Sie haben Yissou bereits einmal angegriffen.“
„Das waren andere Umstände. Yissou lag genau auf der Strecke einer schwärmenden Hjjk-Gruppe.“
„Einer was?“
„Eines Schwarms. So gewaltig das NEST ist, es kann doch nur eine Population von soundso vielen beherbergen. Es kommt immer wieder einmal die Zeit, da müssen Teile der Bevölkerung sich abspalten und fortziehen. Und dabei brechen sie dann zu Tausenden, manchmal zu Millionen hervor und ziehen mit einer jungen Königin fort. Und sie marschieren weiter, wenn es sein muß, sogar tausend Meilen und manchmal mehr, bis sie den Ort erreichen, an den sie gehen wollen. Und einzig die Götter wissen, wonach sie bestimmen, wo dieser Ort sein soll. Aber sie lassen sich durch nichts auf ihrem Weg aufhalten, bis sie ihn erreicht haben. Und dann erbauen sie dort ein neues Nest.“
Hresh hob den Kopf. In seinen Augen blitzte kurz das altbekannte Feuer auf.
„Und so etwas ereignete sich, als sie Harruels Siedlung angriffen?“
„Ja. Sie hatten höchstwahrscheinlich kein besondres Interesse daran, der Siedlung Schaden zuzufügen. Aber wenn sie ausschwärmen, dann streben sie blindlings geradeaus auf ihrem Weg weiter, und nichts kann sie beirren. Nichts!“ „Ja, aber wenn sie nun jetzt wieder in die gleiche Richtung schwärmen?“
„Das wird nicht geschehen. Niemals ziehen zwei Schwarme n die gleiche Richtung. Ich weiß, wie sehr Thu-Kimnibol nach einem Krieg lechzt, und Salaman auch. Aber sie werden eine Enttäuschung erleben.“
„Beten wir, daß es so kommt.“
„Es sei denn, die Himmlischen Fünf haben uns einen Krieg mit den Hjjks beschieden“, sagte Nialli. „In diesem Fall stehe Dawinno uns allen bei. Aber ich sage dir, Vater, es wird keinen Krieg geben.“
Er schaute sie groß an und lächelte auf diese neue seltsam traurige Art zu ihr herauf. Auch die Caviandis wandten ihr den Kopf zu und blickten sie an. In ihren großen violett schimmernden Augen lag ein seltsames helles Leuchten. Was war es nur? Ebenfalls Trauer? Mitleid?
Dann sagte Hresh so leise, daß sie es kaum hören konnte: „Trotz allem, was du mir sagst, fühle ich, daß der Krieg über uns hereinbricht wie ein gewaltiger Sturm, Nialli. Und wer könnte schon einem Sturm Einhalt gebieten?“
„Aber ich habe im Nest gelebt, Vater. Ich weiß, daß die Hjjks niemals willkürlich und grundlos einen Krieg gegen uns beginnen würden. Das ist einfach nicht artgemäß für sie.“
„Und wenn wir den Krieg beginnen? Wir haben inzwischen ein Heer, weißt du das?“
Ihr blieb die Luft weg. „Seit wann?“
„Es ist eine ganz brandneue Armee. Thu-Kimnibol hat sie aufgestellt. Im Augenblick sind sie im Stadion und exerzieren. Und sobald es erst einmal Armeen gibt, fällt es ganz leicht, Kriege vom Zaun zu brechen.“
„Weiß Taniane das?“
„Ja. Und sie billigt es völlig.“ Hreshs Lächeln war wehmütig. „Sie besitzen Großweltwaffen, die ohne mein Wissen oder meine Zustimmung aus dem Haus des Wissens. entfernt wurden. Auch das findet Taniane ganz in Ordnung.“
„Sie will den Krieg?“
„Sie rechnet mit ihm, um das mindeste zu sagen. Hat sich mit der Vorstellung abgefunden. Wird ihn mit allen ihren Kräften fördern.“
Nialli war vor Entsetzen starr.
Sie sah die Armeen des VOLKES nordwärts in das Land der Hjjks strömen und sah die Scharen der Hjjk-Soldaten ihnen entgegenmarschieren.
Ein grauenvoller Zusammenstoß, ein entsetzliches Blutbad. Thu-Kimnibol setzt seine gestohlenen Großwelt-Waffen ein und erzielt verheerende Verwüstung. Auf den Druck eines Knopfes werden ganze Legionen von Kämpfern zu Dunst und Rauch. Die hjjkischen Formationen, so gewaltig sie sind, werden zurückgeworfen, immer weiter zurück: Die Invasoren rücken im Triumph immer weiter in die dunklen Nordlande vor. Armee um Armee der Kämpfer, aus allen Nestern des Nordens zusammengerufen, wird den Aggressoren entgegengeworfen, und alle werden sie von der unerbittlichen Wut der Angreifer nach und nach vernichtet.
Und das NEST ist in Gefahr! Die KÖNIGIN selbst!
Ja, das Nest-der-Nester im Belagerungszustand. Dort herrscht völlige Konfusion: Der Nest-Überfluß ist dahin, Nest-Wahrheit wird vorenthalten, Ei-Planung ist aus den Fugen, die weisen Nest-Denker huschen davon und suchen Deckung im Staub. Eierproduzenten und Lebenskeimzünder werden beim Versuch zu fliehen niedergemetzelt. Und zuletzt die allerscheußlichste Aggression: Sogar die Königin-der-Königinnen in Eigner Geheiligter Person wird aus der tiefen Kammer gezerrt und hingerichtet. Ihr Leib zerschnitten und verbrannt.
Unvorstellbar! Zum zweitenmal an diesem Tag geriet um Nialli herum die Welt ins Schwanken und begann zu wirbeln.
Dieser Krieg darf nicht stattfinden, dachte sie.
Sie hätte gern laut losgebrüllt, ihrer Wut, Empörung und ihrer Kampfansage gegen die Kriegstreiber gern lautstark Ausdruck gegeben. Sie hätte gern warnende Botschaft ins Nest gesandt, um den Verrat zu denunzieren, den ihre, Niallis, eigenen Leute da begingen. Warnen — durch Träume, oder durch das Zweitgesicht, oder den Barak Dayir. oder auf jede andre Weise, die ihr einfallen mochte. Mehr noch: Sich der geballten Streitmacht von Thu-Kimnibol und Salaman entgegenwerfen und ihren Vormarsch in das geheiligte Gebiet der Königin aufhalten, und durch puren persönlichen Willen und ihre Seelenkraft ihr gesetzloses sündhaftes Streben abzuwenden. Ja, das wollte und würde sie tun, und wenn es sie das Leben kostete.
Zornig ballte sie die Fäuste. Alles wollte sie tun, um die Königin und das Nest zu verteidigen. Sie wollte.
Wollte.
Wollte. wollte. Was tun?
Nichts.
Nichts würde sie tun.
Alles war weg und leer. Wo einen Augenblick zuvor noch heißglühender Zorn und Abscheu waren, war jetzt nur noch Leere.
Von einem Augenblick zum anderen war ihr ganzer wilder empörter Zorn erloschen, und sie befand sich in einem merkwürdigen Zustand der Leere, der Benommenheit, fast als wäre sie scheintot. Wieso sollte es sie bekümmern, was mit dem Nest geschah? Und warum brannte sie so sehr darauf, ihr eigenes Leben für das Wohl der Königin zu opfern?
Und dann, in all ihrer Benommenheit, begriff sie, daß diese ganzen wilden Verzweiflungsgedanken, die in ihrer Seele so unfreiwillig heraufgeschossen waren, völlig unhaltbar und substanzlos waren.
Sie waren Trug und Talmi. Nichts weiter als automatische Reaktionen, bar jeden echten Gefühls. Ein letztes Aufzucken der glühenden Loyalitätsflamme, die einstmals für die Königin in Niallis Seele gelodert hatte. Aber das hier war ihr VOLK. Hier. Hier war ihre Stadt.
Und nun zeichneten sich in ihrem Kopf wie eine rote Flammenlinie die Erinnerungen an ihre morgenliche Erfahrung ab. Das gräßliche Bild, als sie ins Zentrum des Grassterns geblickt hatte. Die Eindrücke, die sie in panischer Verwirrung zu ihrem Vater hatten fliehen lassen, um bei ihm Trost zu suchen. Die Klauen, die klickenden Schnäbel, die höhnenden fremdartigen Augen. Sie hörte wieder das zischende Gelächter und die verführerisch wispernden Stimmen. Und nun wußte sie, was diese schreckliche Vision ihr zu sagen hatte.
Noch einmal beschwor sie das Bild in sich herauf, wie die siegreichen Heere des VOLKS das NEST zerstörten, wie sein Reichtum vernichtet, seine Wahrheit niedergemetzelt, der Ei-Plan ausgelöscht und sogar auf entsetzliche Weise die Köngin-der-Königinnen vernichtet wurden. Sie stellte sich dem allem und sah es höchst lebendig in ihrem Kopf.
Aber zu ihrer Verblüffung berührte das alles sie nicht mehr. Sie fand nichts mehr von der Empörung in sich, welche die gleichen Bilder noch vor kurzem in ihr ausgelöst hatten. Sie war befreit. Heute endlich hatte sie den Zauberbann ein für allemal gebrochen.
Was bedeutet es mir schon, wenn das Nest zerstört wird? Wenn die Himmlische Fünffaltigkeit beschlossen hat, daß unsere Bahn und die der Hjjks auf Kollisionskurs laufen sollen, nun, so muß das so geschehen, wird geschehen und ist gut so. Und ist gut so. Und wenn der Zusammenstoß erfolgt, dann gehört meine Loyalität meinen eigenen Leuten.
Alles war für sie nun klar und deutlich.
Wenn es denn zum Krieg kam, dann durfte sie nicht das Geschick des Insektenvolkes beklagen, für das sie so lange mutig eingetreten war, sondern die Verluste an jungen Männern und Frauen aus dem VOLK — ihrem Volk —, die bei dem Feldzug zugrundegehen würden und Tote sein, lang bevor ihre natürliche Zeit gekommen war. tragische, sinnlose Verluste. Darin lag das wirklich Entsetzliche: ihr Blut meilenweit vergossen in den endlosen öden Nordlanden.
„Nialli?“ Hreshs Stimme drang zu ihr wie aus einer anderen Welt.
Sie gab ihm keine Antwort. In ihrem Hirn kreisten wirbelnd Fragen, die sie nicht zu stellen wagte, und Antworten, die unvorstellbar waren.
Wer sind diese Hjjks, die zu lieben ich behauptete?
Nun, sie sind diese Kreaturen, die mich meiner Mutter und meinem Vater entrissen haben, die mich an einen fremden Ort brachten und mich dort zu etwas verwandelten, als das ich nie gedacht gewesen bin.
Aber warum wollte ich sie dann gegen mein eigenes Volk verteidigen?
Sie haben meine Seele verzaubert und mich für ihre Sache gewonnen.
Und Kundalimon — den du liebtest? Was ist mit Kundalimon?
Ihn liebe ich noch immer. Aber sie hatten mit ihm getan, was sie auch mir antaten, damit sie ihn mißbrauchen konnten; und sie würden auch mich durch ihn benutzt haben, wenn er am Leben geblieben wäre.
„Nialli? Nialli!“ Schon wieder Hresh, und er rief nach ihr vom anderen Ende des Firmaments her. Wie in einer Trance sagte sie: „Ja, Vater?“
„Was geschieht mit dir, Nialli?“
Sie öffnete die Augen. „Ich wache auf“, sagte sie. „Aus einem sehr langen Traum.“
Die Caviandis drängten sich warm und weich an sie und rieben die weichen Schnauzen an ihr. Sie streichelte sie behutsam.
Hresh fragte: „Ist wirklich alles in Ordnung?“
„Ja. Ja. Alles ist gut.“ Sie lächelte. „Sei nicht so betrübt, Vater. Noch immer wachen die Götter über uns. Und sie lenken und leiten uns.“ Sie ergriff seine Hand. „Ich glaube, ich gehe jetzt wieder, wenn du nichts dagegen hast. Ich will mit Thu-Kimnibol sprechen.“
Die Rekruten des ‚Schwerts von Dawinno‘ hatten das ganze Stadionfeld mit Beschlag belegt. Sie rannten, sprangen und kletterten über Hürden und fochten Scheinkämpfe mit stumpfen hölzernen Trainingsschwertern aus. Thu-Kimnibol war sich bewußt, daß ihm nur wenig Zeit blieb, die Krieger zurechtzuschleifen und hart zu machen. Jeden Tag mußte das Heer, das Salaman ins Hjjk-Land entsandt hatte, um die Ermordung ‚seiner‘ Akzeptänzler zu rächen, auf Gegenaktionen der Nest-Verteidigertruppen stoßen. Und dann war die Zeit der Finten und Scheingefechte vorbei, und es würde endlich ernsthaft Krieg sein. Und Thu-Kimnibol wußte natürlich auch, daß lang bevor eine Nachricht von der Vernichtung des salamanischen Expeditionskorps ihn hier im Süden erreichen konnte, seine eigenen Truppen bereits auf dem Marsch in den Norden sein mußten, um sich der Streitmacht des Königs in Yissou anzuschließen.
„Reißt eure butterweichen Beine höher, springt höher, ihr Lahmärsche!“ Das war Maju Samlor. Die meisten Ausbilder in Thu-Kimnibols Heer waren Angehörige der Stadtgarde. „Ihr watschelt wie trächtige Weiber herum!“ kam eine andere Stimme aus der gegenüberliegenden Stadionecke. „Setzt mal ein bißchen mehr Dampf dahinter!“ Und in einer anderen Ecke lachte ein riesenhafter Beng in einem gewaltigen Helm mit sieben Hörnern dermaßen laut, daß man es deutlich quer über das ganze Feld hören konnte, und schleuderte drei Rekruten mit einem mächtigen Ausholen seiner Hellebarde durch die Luft.
Thu-Kimnibol erhob sich und klatschte Beifall. Das Kriegsvolk brauchte Ermunterung. Es war genau wie das, was Esperasagiot vor langem über seine Xlendis gesagt hatte, als die Gesandtschaft nach Yissou aufbrach: Stadtzucht, keine Erfahrung und kein Training über lange schwere Strecken. Sogar die kräftigsten Rekruten brauchten einen eisenharten Schliff, um sie auf die bevorstehenden Kämpfe vorzubereiten.
Das Ganze entbehrte nicht einer gewissen Ironie. Thu-Kimnibol erinnerte sich, was sein Vater ihm erzählt hatte: Daß in den langen trägen Tagen seinerzeit im Kokon besondere Maschinen für die Krieger aufgestellt waren, an denen sie sich abstrampeln mußten, um ihrer Muskelerschlaffung entgegenzuwirken. Den ganzen Tag lang schufteten sie schwitzend und grunzend an Apparaten, die so ergötzliche Namen trugen wie: ‚Das Rad Dawinnos‘, ‚Webstuhl Emakkis‘ oder die ‚Fünf Götter‘. Und dann vergingen Tausende von Jahren Kokonleben, und es zeigte sich nie und nirgends ein einziger Feind, da sie ja dermaßen sicher in ihrem Bunker im Berghang hockten. Und nun lebte das VOLK in der Freiheit und offen, und es wimmelte allüberall nur so von Feinden. Und dennoch war das Leben in den großen Städten weiterhin zu angenehm, zu lasch. Es hatte die Leute verweichlicht.
„Springt!“ brüllte Maju Samlor wieder. „Höher! Streckt eure müden Knochen! Und du, du Volltrottel, nimm deinen Sensorschwanz da weg!“
Thu-Kimnibol lachte. Dann blickte er auf und sah Chevkija Aim durch die Sitzreihen zu ihm herabsteigen. Der Wachhauptmann salutierte stramm und sprach:
„Dumanka ist da, Edler. Und Esperasagiot mit seinem Bruder.“
„Schön. Bring sie her!“
Die drei Männer tauchten aus dem Tunnel unter der Tribüne auf. Zuerst Dumanka, hinter ihm die beiden Bengs. Sie salutierten. Esperasagiot sagte: „Meinen Bruder kennst du ja, Prinz? Hat eine gute Hand für Xlendis, hat er, mein Bruder. Sein Name ist Thihaliminion.“
Thu-Kimnibol betrachtete sich den Mann. Er war um Haaresbreite größer als Esperasagiot und hatte das Fell eines reinrassigen Beng von hellstem Gold. Anscheinend zwei, drei Jahre jünger als sein Bruder. „Das ist ein hohes Lob, wenn Esperasagiot meint, du kannst mit Xlendis umgehen. Es ist das erstemal, daß ich von ihm das Zugeständnis höre, daß er nicht der einzige Mann auf Erden mit Xlendiverstand ist.“
„Prinz!“ rief Esperasagiot laut.
Thihaliminion neigte den Kopf. „Was ich weiß, habe ich von ihm gelernt. Er war mein Lehrer in Xlendologie. Ebenso wie Dumanka hier mich zum Gehorsam gegenüber dem Willen der Götter geführt hat.“
„Ihr seid also Gläubige? Akzeptänzler? Alle drei?“ „Alle drei, Prinz“, erwiderte Dumanka, der Quartiermeister, und klatschte fröhlich in die Hände. „Und welchen Frieden, welche Wonnen er uns schenkt, unser Glauben! Ich werde dir ein Büchlein zeigen, Herr. Ich habe es in Yissou bekommen, von einem gewissen Fleischhauer namens Zechtior Lukin. Wenn du darin liest, wird dir das Verständnis aufgetan für die größte Wahrheit der Welt, welche da ist, daß alles so ist, wie es bestimmt ist, daß es nutzlos ist, sich gegen das Schicksal aufzulehnen, denn es sind die Götter, die uns unser Los zuteilen, und was für einen Zweck hätte es.“
„Genug, genug, lieber Freund!“ Thu-Kimnibol hob die Hand. „Bekehre mich bitte ein andermal. Im Moment müssen wir hier eine schlagkräftige Armee aufbauen. Und dafür würdest du von sehr großem Nutzen sein.“
„Was immer deine Herrlichkeit verlangt“, sagte Dumanka.
„Ich hab da so einiges über deinen Zechtior Lukin gehört, als wir in Yissou waren“, sagte Thu-Kimnibol. „Oder doch immerhin über seine Glaubenslehre. Es war König Salaman persönlich, der mir davon sprach. Der Tod ist kein Anlaß zu Jammer oder Bedauern, so ist wohl die Kernidee. Denn er ist ein Teil der göttlichen Planung der Himmlischen. Also müssen wir ihn widerspruchslos hinnehmen, gleichgültig, in welcher Gestalt er zu uns kommt. Hab ich das auch richtig verstanden?“
„Im Kern hast du es verstanden“, sagte Esperasagiot.
„Fein. Fein. Und wie viele von euch. äh. Akzeptänzlern gibt es derzeit bei uns in Dawinno, he?“
„Um die zweihundert, Prinz. Aber wir werden laufend mehr.“ Der Karawanenführer blickte über die Schulter. „Ich seh hier in der Arena da unten ein paar von uns.“
„Und ihr drei seid die Chefideologen und Lehrer?“
„Ich hab zuerst die Lehre in Yissou gelernt“, sagte Dumanka, „und sie an Esperasagiot und Thihaliminion weitergegeben. Und sie haben sie weiterverbreitet, so rasch sie können.“
„Dann verbreitet sie noch schneller. Ich verlasse mich auf euch. Ich will, daß alle meine Männer gläubige Akzeptänzler sind, wenn wir zum Feldzug in den Norden aufbrechen. Ich will Kämpfer um mich haben, die sich vor dem Sterben nicht fürchten.“
Und damit entließ er sie.
Das dumpfe Schmettern der hölzernen Übungsschwerter hallte wie eine lustige Musik vom Exerzierfeld zu seinen Ohren herauf. Eine leuchtend helle Vision flammte in seinem Kopf auf: das Nest in Flammen, zu Tausenden über dem Schlachtfeld verstreute sterbende Hjjks, die Schnäbel kraftlos schnarrend, die Königin in letzten Todeszuckungen.
„Herr?“ Schon wieder Chevkija Aim. „Die Edle Nialli Apuilana wäre hier und wünscht dich zu sprechen.“
„Nialli? Wozu in der Götter Namen sollte sie.“ Er grinste. „Aber ja. Wahrscheinlich, um mir eine Predigt über die Verderblichkeit des Krieges zu halten. Sag ihr, sie soll ein andermal wiederkommen. Nächste Woche. Oder im nächsten Jahr.“
„Sehr wohl, deine Herrlichkeit.“
Doch Nialli war ihm auf den Fersen gefolgt. Chevkija Aims Goldfell sprühte Funken vor Verärgerung.
„Seine Prinzliche Hoheit sind derzeit stark beschäftigt.“
„Ach, mich wird er schon empfangen.“
„Er hat mir aufgetragen, dir zu sagen.“
„Und ich befehle dir hiermit, ihm zu sagen, daß seine Gevatterin, die Tochter des Häuptlings, ihn in einer dringenden Angelegenheit zu sprechen wünscht!“
„Edle, es ist unmöglich, daß du so einfach.“
Das Gezeter konnte den ganzen Tag lang so weitergehen. „Schon gut, Chevkija Aim“, sagte Thu-Kimnibol. „Ich rede mit ihr.“
„Ich danke dir, Oheim“, sagte Nialli, und nicht übermäßig freundlich.
Es war lange her, seit er sie zuletzt gesehen hatte — nicht mehr seit seinem Aufbruch nach Yissou. Sie erschien ihm jetzt fast wie eine Fremde. Nicht so sehr ihr verändertes Aussehen verblüffte ihn, sondern die Aura, die sie umgab, die Vibrationen. Sie wirkte stärker, tiefer weiblich, hatte die letzten Reste kindlicher Mädchenhaftigkeit abgestreift. Von ihr ging eine Strahlung von Kraft und Leidenschaft und eine ganz neue Reife aus. Ihre Seele brannte in einem unmißverständlichen leuchtenden Glanz. Und es umgab sie jetzt eine furchteinflößende — Königlichkeit, die sie einhüllte wie ein schimmernder Mantel. Das verlieh ihr eine flammend lodernde Schönheit. Das alles hatte er in ihr nie vorher gesehen. Und es verwirrte ihn nun. Ihm war, als sähe er sie überhaupt zum erstenmal wirklich.
Lange standen sie sich schweigend gegenüber.
Schließlich sagte er: „Also, Nialli? Wenn du gekommen bist, um mit mir zu kämpfen, dann los! Ich bin derzeit ein ziemlich beschäftigter Mann.“
„Du glaubst, ich bin deine Feindin?“
„Ich weiß, daß du es bist.“
„Und warum?“
Er lachte. „Wie könnte es anders sein? Da drunten bilden wir Soldaten aus, bereiten uns auf einen Krieg vor. Und der Feind, gegen den wir ziehen werden, ist das Nest. Das kann dir doch nicht entgangen sein. Und du warst es schließlich, die sich vor dem Präsidium aufgebaut und uns allen erklärt hat, wie wunderbar und klug und edel die Hjjks sind.“
„Das ist lang her, Oheim.“ „Du hast damals gesagt, es sei undenkbar, einen Krieg gegen sie zu führen, weil sie solch unglaublich großartige hochzivilisierte Geschöpfe sind.“
„Ja. Das habe ich gesagt. Und es ist in mancherlei Hinsicht auch wahr.“
„In mancherlei Hinsicht?“
„Teilweise, ja. Nicht in jeder Beziehung. Damals in der Präsidialversammlung habe ich das alles viel zu simpel ausgedrückt. Aber ich war da ja noch recht jung.“
„Aha. Ja, natürlich.“
„Erspar mir dein gönnerhaftes Lächeln, Thu-Kimnibol. Du gibst mir das Gefühl, als wäre ich ein kleines dummes Kind.“
„Das ist aber wirklich nicht meine Absicht, glaube mir. Und du wirkst ganz und gar nicht kindlich auf mich. Aber ich brauche nicht so klug wie Hresh zu sein, um zu begreifen, daß du heute hier erschienen bist — auf Drängen von Puit Kjai, nehme ich an, und von Simthala Honginda und ähnlichen friedenssüchtigen Kerlen —, um mir ein paar Anklagen entgegenzuschmettern und deine Verdammnis des Krieges, den ich gegen deine geliebten Hjjks vorbereite. Schön und gut. Dann schieß los mit deinen Beschuldigungen! Aber dann laß mich in der Aufgabe fortfahren, die ich zu erfüllen habe.“
Niallis Augen funkelten herausfordernd. „Du hast ganz und gar nichts begriffen, Thu-Kimnibol, wie? Ich bin hergekommen, um dir meine volle Hilfe und Unterstützung anzubieten!“
„Was?“
„Ich will mich euch anschließen. Ich will mit euch nach Norden ziehen.“
„Um uns auszuspionieren — für die Königin?“
Sie feuerte einen versengenden Blick auf ihn ab, und er merkte, daß sie eine beißend scharfe Antwort in sich zurückwürgte. Und dann sagte sie sehr frostig: „Du hast nicht die geringste Ahnung, was das für Geschöpfe sind, gegen die du zum Kampf ausziehen willst. Ich aber habe sie in der intimsten Nähe erlebt. Ich kann euch leiten. Ich kann euch beim Anmarsch auf das Nest Erklärungen liefern. Und ich kann euch helfen, Gefahren abzuwehren, die ihr euch bisher noch gar nicht vorzustellen fähig seid.“
„Wenn du mich für einen derartigen Trottel hältst, Nialli, dann unterschätzt du mich gewaltig.“
„Und du liegst vollkommen falsch, wenn du unterstellst, daß ich mich hergeben würde, mein eigen Fleisch und Blut zu verraten.“
„Und? Habe ich irgendeinen Grund, etwas andres anzunehmen?“
Und nun war Niallis Blick eisig. Ihre Nasenflügel blähten sich, ihr Fell sträubte sich, und er sah, daß sie sich heftig auf die Unterlippe biß.
Und zu seiner völligen Verblüffung erigierte sie ihr Sensor-Organ und richtete es gegen ihn.
Mit tödlich-kalter Stimme sagte sie: „Wenn du meine Loyalität bezweifelst, Thu-Kimnibol, bist du hiermit aufgefordert, jetzt gleich mit mir zu tvinnern. Dann kannst du ja selbst entscheiden, ob ich eine Verräterin bin oder nicht.“
Es war ein fremdes unvertrautes Terrain hier draußen. Vier Tagesreisen nordwärts von Dawinno aus und dann noch etliche Tage landeinwärts. Hresh hatte die Gegend noch nie vorher gesehen. Er bezweifelte, daß es viele gab, die jemals hier gewesen waren. Diesseits der Inneren Bergkette gab es keine agrarischen Siedlungen, und die Hauptverkehrsstraße zwischen Dawinno und Yissou verlief weit drüben im Westen.
Ein karstiges Land, von Canyons und Erdspalten durchzogen. Aus der Mitte des Kontinents wehten kalte trockene Winde herein. Viele Male war die Region von Erdbeben erschüttert worden, und die Wanderungen altehrwürdiger Gletscher hatten sie weiter und weiter zermahlen und zermalmt, so daß das Knochengebein der Welt hier offen zutage lag in gewaltigen dunklen Steifen, die sich durch den weicheren rötlichen Fels der Hänge zogen.
Sein Wagen wurde von einem einzigen Xlendi gezogen. Es wäre wohl klüger gewesen, zwei Zugtiere zu nehmen, doch er hatte zu wenig Ahnung, wie man diese Viecher handhabte, und hatte darum beschlossen, sich lieber nicht den Gefahren auszusetzen, die ihm von einem widerborstigen, unverträglichen Zweiergespann vielleicht drohten. Er ließ sein Xlendi dahintrotten, wie es dem Tier beliebte, und rasten, wann es dazu Lust hatte.
An Wegzehrung und Vorräten hatte er nur wenig mit sich gebracht, ausreichend vielleicht, um die ersten paar Tage durchzuhalten. Danach war er in allem, was er bedurfte, auf das angewiesen, was das Land ihm bot.
Und er hatte auch kein Stück aus dem Haus des Wissens bei sich, kein einziges Buch, keine Karten, keine antiken wundersamen Funde. Dies alles war nicht mehr von Bedeutung. Er wollte das alles hinter sich lassen. ALLES. Er machte sich hier zum letzten endgültigen Abenteuer seines Lebens auf mit dieser — Pilgerfahrt. Es war wirklich am besten, daß er sich dabei nicht mit Ballast aus der Vergangenheit belud.
Eine Ausnahme gab es allerdings. Der Barak Dayir in der kleinen Samthülse war um seine Hüfte geschnürt, unter dem Leibgurt. Im allerletzten Moment hatte er sich denn doch nicht davon trennen mögen.
Tag um Tag fuhr er geruhsam weiter, wohin ihn der Weg führen wollte. Beständig suchte er den Horizont nach Stoßpatrouillen der Hjjks ab.
Wo bleibt ihr, ihr Kinder der Königin? Hier bin ich, Hresh-der-voller-Fragen-steckt, und ich bin gekommen, um mit euch zu reden!
Aber er sah nirgendwo Hjjks.
Seiner Vermutung nach befand er sich irgendwo in der Nähe des Filial-Nestes, in dem Nialli vor Jahren als Gefangene geweilt hatte. Doch wenn es in der Gegend Hjjks gab, so ließen sie sich jedenfalls nicht blicken. Oder aber sie waren in diesem Landstrich so verstreut vertreten, daß er an keinem ihrer Lagerplätze vorbeigekommen war.
Das war nebensächlich; irgendwann würde er auf Hjjks stoßen, oder sie würden ihn entdecken. Alles zur rechten Zeit. Inzwischen gefiel es ihm, gelassen weiterzuziehen, quer durch das zerklüftete rauhe Land.
Auf eine gewisse Weise wirkte dieser kühle, windzerzauste Landstrich fruchtbar. Es gab gewaltige Bäume mit schwarzem Stamm und weit sich breitenden gelben Laubkronen, und sie standen alle in gebührlichem Abstand zueinander, als könnten sie einen rivalisierenden Mitbaum in ihrer Nähe nicht dulden und müßten alle Gleichrangigen abwürgen und ersticken, die sich in ihre Dominanzzone vorzustreben wagten. Wuchernde Niedriggewächse mit weißlichem wolligen Laub klammerten sich wie ein dichtes Fell an den Boden. Andere Pflanzen, korbförmig und mit dichtverstricktem Geäst, rollten und taumelten ungehemmt durch das Land, als wären sie ein Getier des Feldes.
Aber wenn es hier Pflanzliches gab, das aussah, als wäre es ein Tier, so sah Hresh hier ebenfalls Tiere, die sehr wohl eigentlich Pflanzen hätten sein können. In einem Loch in der Erde stand eine ganze Plantage von schlangenhaften grünen Kreaturen aufrecht da. Als wären sie an Ort und Stelle im Boden verwurzelt. Hresh beobachtete, wie sie urplötzlich emporschnellten und einen ungeschickten Vogel oder ein Insekt aus der Luft schnappten und sich wieder zurückzogen, und niemals sah er, daß eines dieser Wesen ganz aus seiner Höhlung herauskam. Und dann gab es da andere, die nichts weiter waren als riesenhafte Mäuler über rudimentären Leibern; sie hockten bewegungslos an Steinbrocken und gaben verlockende dröhnende Verführungslaute von sich, die ihre Beute wie in Trance zu ihnen zogen. Hresh erinnerte sich, daß er so ähnliche Geschöpfe einmal als Knabe gesehen hatte — auf der Reise aus dem Kokon nach Vengiboneeza. Damals hätten sie ihn fast selbst an sich gelockt. Aber inzwischen war er jedoch immun gegen ihre unheilbringenden Melodien geworden.
Er hatte niemandem gesagt, daß er aus Dawinno fortgehen werde. Er hatte die Runde gemacht und mit den Menschen — ein letztesmal — gesprochen, an denen ihm besonders lag: Thu-Kimnibol, Boldirinthe, Staip, Chupitain Stuld — natürlich auch mit Nialli und Taniane. Aber er hatte noch nicht einmal Taniane gesagt, daß er für immer Abschied nahm.
Es war ihm nicht leichtgefallen, so mit der Wahrheit hinter dem Berg zu halten. Besonders Taniane gegenüber. Er hatte es schmerzlich ertragen. Aber er wußte auch, daß sie ihn zurückzuhalten versuchen würden, wenn sie erführen, was er plante. Also hatte er sich einfach im Frühdunst aus der Stadt gestohlen. Und nun, wo Dawinno weit hinter ihm lag, verspürte er nicht das geringste Bedauern. Ein langer Phasenabschnitt seines Lebens war zu Ende. Eine neue Phase begann.
Wenn er etwas bedauerte, dann, daß er die Stadt so vortrefflich konstruiert hatte. Jetzt kam es ihm so vor, als hätte er das VOLK den falschen Pfad entlanggeführt, als wäre es ein Fehler gewesen, die Stadt Dawinnos nach dem Vorbild Vengiboneezas zu erbauen, ja überhaupt den Versuch zu wagen, die Große Welt in diesem Neuen Frühling wiederholen zu wollen. Die Götter hatten die Große Welt von der Erde weggefegt, weil sie ihren Zeitablauf ausgelebt hatte. Die Große Welt war bis an die Grenzen ihrer Entfaltungsmöglichkeiten vorgestoßen und hatte dann einen toten Punkt erreicht, den totalen Stillstand. Wären nicht die Todessterne erschienen, um sie zu vernichten, die eigene Vollkommenheit dieser Welt wäre unmerklich in Fäulnis und Verfall übergegangen. Denn eine Kultur, eine Zivilisation ist eben keine Maschine, sondern lebendiges Gesamtwesen und muß entweder wachsen und gedeihen oder verfallen und zugrundegehen. Und eine andere Alternative gibt es dabei nicht.
Hresh hatte sich so sehr gewünscht, daß das VOLK zum Hochniveau der Großwelt, die Hunderte von tausend Jahren dazu gebraucht hatte, sich mit einem einzigen gewaltigen Evolutionssprung hinaufentwickeln werde. Aber das VOLK war dazu nicht fähig und nicht reif gewesen. Schließlich war ja nur eine einzige Generation vergangen, seit sie aus dem Kokon hervorgekrochen waren. Und unter dem Druck dieses evolutionären erzwungenen Sprunges waren sie aus dieser urtümlichen schlichten Einfachheit und Einfältigkeit direkt in ihre spezifische Fäulnis und Verrottung gestoßen worden und hatten nicht einmal eine Atempause und Schonzeit gehabt, um zu wirklicher Menschhaftigkeit zu reifen.
Dieser böse, dieser üble Krieg, zum Beispiel.
Er war eine verbrecherische Verhöhnung der Götter, ein Verbrechen auch nach den Gesetzen der Stadt, ja ein Verbrechen gegen die Zivilisation selbst. Und Hresh wußte, es lag ganz und gar nicht in seiner Macht, irgend etwas zu tun, ihn zu verhindern.
Und so mußte er sich eingestehen, daß er versagt hatte. In der Zeit, die ihm noch gegeben war, wollte er alles in seiner Macht Liegende tun, dafür Sühne zu leisten. Eines jedoch weigerte er sich zu tun: Er würde nicht in trübselige Zerknirschung verfallen über Fehler, die er begangen hatte — oder über jene, die andere gerade im Begriff waren zu begehen. Denn er hatte sein BESTES getan. Das war wirklich der einzige Trost: Er hatte sich wirklich niemals geschont.
„Ich erinnere mich an den Tag deiner Geburt“, sagte Thu-Kimnibol mit Erstaunen in der Stimme. „Hresh und ich blieben zusammen die ganze Nacht auf, die Nacht davor, und.“
„Nicht!“ sagte sie.
„Nicht was?“
„Sprich mir nicht von dem, woran du dich erinnerst, daß ich klein war.“
Er lachte. „Soll ich einfach so tun, Nialli, als wäre ich nicht so viel.“
„Ja. Tu einfach so, wenn du mußt. Nur erinnere mich nicht daran, daß du bereits erwachsen warst, als ich zur Welt kam, einverstanden? Einverstanden, Thu-Kimnibol?“
„Aber — Nialli.“ Dann lachte er.
„Komm her!“ befahl sie. Sie zog ihn eng an sich. Er umschloß sie mit den Armen. Und dann war er über ihr, mit den Händen, den Lippen, dem Sensor-Organ, berührte, streichelte, knabberte, murmelte unablässig ihren Namen. Er war wie ein gewaltiger Fluß, der sich über sie ergoß und sie mit sich fortriß. Und sie ließ sich davontragen. So etwas hätte sie nie erwartet. Und er wohl auch nicht, vermutete sie.
Ob sie sich je an seine massige Größe gewöhnen würde? Er war derart riesenhaft, so stark, so völlig anders als Kundalimon. Wie merkwürdig es war, von ihm derart vereinnahmt zu werden. Aber auch sehr angenehm. Ich glaube, ich kann mich daran gewöhnen — mit der Zeit. Doch ja, das werde ich, dachte sie, als sie spürte, wie er gegen ihren Leib zu beben begann, und sie fing ebenfalls an zu zittern. Doch, ich werde mich bestimmt daran gewöhnen können.
Die Landschaft begann die Gestalt zu ändern. Während der letzten paar Tage hatte Hresh eine niedere Hügelkette zur Linken und eine zweite zur Rechten gehabt, zwischen denen sich eine scheinbar endlose Ebene breitete. Nun strebten die zwei Kämme aufeinander zu und bildeten ein enges geschlossenes Tal ohne Ausgang. Hresh machte an einem Bach mit dichtem grauen Uferschilf halt und überlegte, was er tun solle. Es schien nicht sinnvoll, weiter in diese Sackgasse hineinzufahren. Es war vielleicht am besten, er kehrte um und suchte irgendwo in den Bergen im Osten nach einem Paß.
„Nein“, ertönte eine Stimme, die keine Stimme war und die wortlos zu ihm sprach. „Du tätest besser daran, geradeaus weiterzureisen.“
„Wahrlich ja. Das ist der einzige Weg.“ Eine zweite Stimme, die zu ihm in der stummen Sprache des Denkens redete.
Bestürzt blickte Hresh sich um. Nach all den Tagen ununterbrochener Einsamkeit wirkten die plötzlichen Stimmen auf ihn wie ein Donner.
Zuerst sah er nichts. Dann jedoch entdeckte er im dichten Röhricht am Wasser ein purpurnes Blitzen, und dann sah er die schlanke spitze Schnauze eines Caviandi und dann die eines zweiten. Die geschmeidigen kleinen Fischjäger kamen dann furchtlos aus ihrem Versteck auf Hresh zu. Die Händchen mit den zierlichen gespreizten Fingern wie zum Gruß erhoben.
„Ich bin Er-Kanto“, sagte das eine Caviandi.
„Ich bin Sie-Thikil“, erklärte das andere.
„Mein Name ist Hresh.“
„Ja. Das wissen wir.“ Sie-Thikil gab einen weichen freundlichen Laut von sich und legte ihre Hand in die Hreshs. Die Finger waren schlank und hart, flinke Fischfängerfinger. Er-Kanto ergriff Hreshs andere Hand. Und beide luden ihn ein, mit ihnen zu kommunizieren, so wie es bei dem anderen Paar in seinem Garten der Fall gewesen war, seinen Gefangenen, Er-Lokim und Sie-Kanzi.
„Ja“, sprach er.
Ihre Seelen stürzten auf seine zu, und eine Woge von warmer Freundschaft sprang auf ihn über.
Also bedeutete Freundlichkeit gegenüber einem Caviandi Freundschaft mit allen. Als er sich den zwei Caviandis in seinem Tiergarten zur Kommunion geöffnet hatte, war er unwissentlich ein Bündnis mit der gesamten Caviandi-Rasse eingegangen. Diese beiden hier waren seinem Wagen schon tagelang gefolgt und hatten sein Xlendi insgeheim auf den rechten Pfad gelenkt, dem Weg, der zum Nest führte. Sie hatten ihn um Orte herumgeführt, an denen Gefahren lauerten, ihn zu Weidegründen gelenkt, wo das Zugtier und sein Herr frisches Wasser und Nahrung finden konnten. Hresh begriff, daß seine Fahrt keineswegs so ins Blaue verlaufen war, wie er das angenommen hatte.
Und jetzt erkannte er, daß er nicht zur Seite abbiegen durfte. Der rechte Pfad lief geradeaus und direkt in das sich verengende Tal hinein.
Ernst bedankte er sich bei den Caviandis für ihre Hilfe. Er sah ein letztesmal ihre großen dunkelschimmernden Augen, die ihn über die Reetspitzen grüßten. Dann sanken die geschmeidigen Geschöpfchen in das Schilfdickicht und waren verschwunden.
Er ging zu seinem Wagen zurück. Mit einem raschen Peitschenstreicheln seines Zweitgesichts kitzelte er das Xlendi vorwärts.
Als der Canyon enger wurde, beschleunigte der Bach, der in seiner Mitte floß, seinen Lauf und wurde immer wilder und heftiger, und als die Dämmerung hereinbrach, schoß er mit beständigem dröhnenden Tosen neben Hresh dahin. Er spähte nach vorn und sah, daß die Schlucht in der Tat im hinteren Ende offen war, doch war es nur eine Spalte, und der Bach mußte dort mit der tobenden Gewalt eines Wildwassers hervorschießen.
Hatten die Caviandis ihn getäuscht? Das erschien ihm nicht möglich. Doch wie sollte er mit seinem Wagen durch diesen Schlitz von Öffnung hindurchkommen?
Er fuhr dennoch weiter.
Und nun hörte er deutlich die tausend hallenden und widerhallenden Stimmen des Katarakts. In der scharfen kühlen Abendluft war ein großer blauer Stern heraufgestiegen, und sein Schein brach sich glitzernd in den Wassern. Der Pfad war inzwischen so schmal geworden, daß der Wagen neben dem strudelnden Bach kaum genug Platz hatte. Der Boden begann sich leicht zu heben, was den Schluß zuließ, daß das Strombett zunehmend tiefer geschnitten sein würde, je näher man an die Öffnung der Schlucht herankam.
„Da ist er ja endlich“, kam eine trockene Stimme, spröde wie ein ausgebleichter Knochen, eine stumme Stimme, eine Gedankenstimme. „Der Wißbegierige. Der Frage-Knabe.“
Hresh blickte auf. Vor dem sich tiefer verdunkelnden Himmel zeichnete sich die kantige Gestalt eines Hjjk ab. Hoch aufgerichtet und reglos. In einer seiner zahlreichen Hände hielt er einen Speer, der noch länger war als er selbst.
„Das Kind?“ Hresh lachte. „Ein Kind soll ich sein? Ach, guter Freund, nein, ich bin ein alter Mann. Ein ziemlich müder alter Mann. Wenn du zweifelst, dann sondiere mein Gedanken etwas sorgfältiger, dann wirst du es schon merken.“
„Das Kind bestreitet, daß es ein Kind ist“, sagte ein zweiter Hjjk, der auf der gegenüberliegenden Seite des hochragenden Kliffs erschienen war. „Aber das Kind ist dennoch ein Kind. Was immer es sich einbilden mag.“
„Schön, wenn ihr so wollt, dann bin ich eben ein Kind.“
Und das war er auf einmal wirklich: Denn plötzlich fiel die Zeit einwärts in sich zusammen, und er war wieder der kleine drahtige zappelige Hresh-voller-Fragen, der im ganzen Kokon überall herumstöberte, allen mit seiner Wißbegier auf die Nerven ging, der Koshmar und Torlyri zur Verzweiflung trieb, seine Mutter Minbain plagte, seine Spielkameraden reizte und ärgerte. Die ganze Lebensmüdigkeit seiner späten Jahre fiel von ihm. Er platzte wieder vor wilder Energie und Unbekümmertheit, war erneut Hresh-die-Quasselstrippe, Hresh-der-Sucher, Hresh, im ganzen Stamm der kleinste Junge, aber voll unersättlichem Wissensdrang, der immer wieder am Lukenloch des Kokons hockte und davon träumte, da eines Tages hinauszuschnellen in die unbekannte von Wundern volle Welt, die dort lag.
Die Hjjks machten sich an den Abstieg vom Kliff und kletterten durch das Bruchgestein auf ihn zu. Er wartete mit Gelassenheit auf s.e; er bewunderte ihre Geschicklichkeit, und ihm gefiel, wie das Licht des großen blauen Sterns, der — wie er nun erkannte — nur der Mond war, auf ihren starren gelb-schwarzen Panzern schimmerte. Fünf, sechs, sieben Hjjks kamen herabgeklettert. Seit seiner Kindheit hatte er keinen Hjjk mehr gesehen. Damals hatte er sie für erschreckend und häßlich gehalten; jetzt erkannte er die eigenartige Schönheit ihrer schlanken konischen Gestalten.
Sein Xlendi stand völlig reglos, als hätte es sich in einem Xlendi-Traum verlaufen. Ein Hjjk fuhr ihm sacht mit dem borstigen Unterarm den langen Kiefer hinauf, und das Xlendi folgte sogleich und begann vorwärts zu trotten. Und dort war eine dunkle Höhlenöffnung, eigentlich nur ein Spalt, den Hresh bisher nicht bemerkt hatte, der genau mitten durch die Felswand führte. Vor ihm schimmerte Sternenlicht. Hresh konnte das ferne Brüllen des Katarakts hören. Das Xlendi trottete weiter.
Nach einer Weile langten sie auf einem Sims am Außenhang des Kliffs an. Rechts von Hresh brach das nun milchig tosende Wildwasser durch den Felsspalt, schoß in einem Bogen nach außen und stürzte tief unten in ein gischtendes Becken. Links zog sich ein gewundener Pfad den Hang hinab bis zu einem weiten offenen Grasland, auf dem in der Dunkelheit nichts von Bedeutung zu sehen war.
„Die Königin erwartet dich schon lange“, sagte eine tonlose trockene Hjjk-Stimme, als der Wagen den Abstieg in das Dunkelreich drüben begann.