Acht

Ein Display, das die Sterne der näheren Umgebung zeigte, schwebte mitten über dem Konferenztisch, aber Iceni sah gar nicht hin. Sie schien in ihre Gedanken vertieft zu sein und starrte so abwesend auf das virtuelle Fenster mit dem idyllischen Strand, als würde sie nicht mal das richtig wahrnehmen.

»Was gibt es?«, fragte Drakon schließlich. »Sie wollten sich auf neutralem Boden mit mir treffen, ohne Berater und Adjutanten, nur Sie und ich.«

Sie atmete langsam ein, als würde sie allmählich von weit her ins Hier und Jetzt zurückkehren, dann erst sah sie ihn an. »Ja. Es gibt sehr interessante Neuigkeiten von Taroa. Der Jäger, den ich in dieses System geschickt hatte, ist vor ein paar Stunden zurückgekehrt. Haben Sie den Bericht schon gesehen?«

»Ja.« Drakon warf einen Blick auf das Sternendisplay, auf dem Taroa durch besonders intensives Leuchten hervorgehoben wurde, was aus irgendeinem Grund auch für den Stern Kane galt. »Bürgerkrieg an drei Fronten gleichzeitig. Sie verfügen nicht über so viele Truppen, deshalb sind es nicht so schwere Kämpfe, aber dafür finden sie weit verstreut statt. Da Taroa kein Hypernet-Portal besitzt, gibt es dort nicht sehr viele Schlangen und Syndikat-Truppen. Die Loyalisten können die beiden anderen Gruppierungen nicht besiegen.«

Iceni nickte, dabei fiel ihm auf, dass sie nicht länger auf die Darstellung von Taroa, sondern auf die von Kane schaute. »Es gibt da noch eine andere Sache, die mir von dem Befehlshaber dieses Jägers gemeldet wurde. Diese Sache findet sich nicht mal im vertraulichen Teil seines Berichts. Es ist ihm gelungen, ein persönliches Treffen mit dem Befehlshaber eines Leichten Kreuzers bei Taroa zu arrangieren, der in dem herrschenden Kampf bislang eine neutrale Position einnimmt, und der sich uns hier im System möglicherweise anschließen wird.«

»Das ist schön.« Ein Leichter Kreuzer mehr oder weniger kam ihm nicht wie ein so bedeutsames Thema vor, dass Iceni deshalb so abgelenkt sein könnte.

»Wichtig ist, was dieser Befehlshaber uns noch erzählt hat. Sie wissen, dass die Schiffswerften bei Taroa an einigen maßgeblichen Bauarbeiten für die Syndikatwelten beteiligt waren. Nichts so Gewaltiges wie das, was Werften wie die bei Sancere auf die Beine stellen können, aber dennoch große Projekte. Die Werften von Taroa sind wesentlich besser ausgestattet als unsere, weil die Syndikat-Regierung der Ansicht war, dass sie keinem so großen Risiko durch Angriffe der Enigma-Rasse ausgesetzt sind. Also sind erheblich größere Mittel dorthin geflossen.« Iceni sah ihm in die Augen und beugte sich vor. »In den Werften von Taroa befindet sich ein fast fertiggestelltes Schlachtschiff. Es verfügt nur über eine Minimalbesetzung und wird derzeit noch ausgestattet.«

Einen Moment lang stockte Drakon der Atem. »Ein Schlachtschiff?«, wiederholte er schließlich. »Sie sagten doch, dass es in den umliegenden Sternensystemen maximal Leichte Kreuzer gibt.«

»Ja, das hat man mir weisgemacht. Um es komplett auszurüsten, wurde dieses Schlachtschiff offiziell in ein anderes Sternensystem geschickt, das wesentlich näher bei Prime liegt, weil die Syndikat-Regierung dort viel leichter darauf zugreifen könne. Aber in Wahrheit hat der CEO auf Taroa das Schiff nach Kane geschickt, da er glaubte, eines Tages vielleicht doch mal ein Schlachtschiff zu benötigen. Er setzte darauf, im Chaos nach Black Jacks Sieg bei Prime das Schiff von allen unbemerkt beiseiteschaffen zu können.«

»Allesamt vernünftige Annahmen von ihm.«

»Ja, nicht wahr? Aber wir benötigen dieses Schlachtschiff dringender als er. Wenn wir es unter unsere Kontrolle bekommen, besitzen wir genügend Feuerkraft, um hoffentlich jeden Angriff auf dieses Sternensystem abwehren zu können.«

»Könnten wir die Fertigstellung denn hier erledigen?«

»Ja.«

Sein Blick kehrte zurück zum Sternendisplay. »Und es liegt bei Kane. Wie verstecken die da ein Schlachtschiff? Das System ist zwar nicht allzu dicht besiedelt, aber es leben dort viele Bürger, und es herrscht ein ständiges Kommen und Gehen von Handelsschiffen.«

»Diese Frage habe ich mir auch gestellt.« Iceni vergrößerte den Kane zeigenden Ausschnitt, womit die um den Stern kreisenden Planeten sichtbar wurden. »Die Haupteinrichtung der dortigen mobilen Streitkräfte ähnelt unserer und befindet sich in der Nähe eines der Gasriesen. Sehen Sie diese großen Monde? Wenn man das Schlachtschiff an der Stelle hinter dem Gasriesen und im richtigen Winkel zu den beiden Monden platziert, kann man es von den bewohnten Standorten im Sternensystem und von den üblichen Flugrouten aus nicht sehen. Man müsste dann schon zum Gasriesen fliegen und gezielt danach suchen.«

Drakon nickte bedächtig und versuchte, diese Gedanken auf seine eigenen Erfahrungen mit Bodeneinsätzen zu übertragen. »Man versteckt es also dort, wo niemand danach suchen würde. Aber irgendwer bei Kane muss doch darüber Bescheid wissen.«

»Der Befehlshaber des Leichten Kreuzers glaubt, dass die Behörden auf Kane mitspielen und die Anwesenheit des Schlachtschiffs verschweigen, weil man ihnen versprochen hat, es nicht nur zur Verteidigung von Taroa, sondern auch von Kane einzusetzen.«

Er ließ sich diese Neuigkeiten durch den Kopf gehen, und gewohnheitsmäßig dachte er gleichzeitig darüber nach, welche Folgen das alles für irgendwelche Pläne mit sich bringen würde. »Wenn diese Information zutrifft, dann können wir uns den Luxus einer Erkundungsmission nicht leisten. Wir müssen an dieses Schlachtschiff herankommen, bevor die Waffen aktiviert werden und bevor die Leute, die sich auf Taroa diese Kämpfe liefern, auf die Idee kommen, das Schiff dazu zu holen, um damit die Schlacht zu ihren Gunsten zu entscheiden. Das heißt, wir müssen blind vorrücken.«

»Ja, ich weiß.« Iceni strich sich übers Haar. »Es könnte sich auch um eine Falle handeln, und alles, was den Sprungpunkt bei Kane verlässt, gerät mitten in ein Minenfeld oder etwas Ähnliches. Aber ich sehe keine Alternativen. Die Beute ist einfach zu wichtig, da können wir uns ein Zögern nicht leisten.«

»Und wo ist das Problem?«, fragte er, nachdem er Iceni eine Weile angesehen hatte.

»Es gibt sogar zwei Probleme«, erwiderte sie. »Ich werde mich mit fast allen Kriegsschiffen auf den Weg dorthin machen müssen. Einen Jäger werde ich als Kurier zurücklassen, damit ich darüber informiert werden kann, wenn es hier während meiner Abwesenheit zu irgendeiner Katastrophe kommt. Wenn andere hier eintreffen, werden Sie also praktisch wehrlos sein. Außerdem muss ich das Kommando persönlich führen. Ich glaube zwar, ich kann Sub-CEO Marphissa vertrauen, aber das Risiko ist zu groß, dass sie in Versuchung geraten könnte, sich das Schlachtschiff anzueignen. Außerdem hat sie noch nie eine Flotte bei einem Einsatz befehligt.«

»Sie müssen das Kommando persönlich führen.« Darum ging es also. »Mit anderen Worten: Sie müssen mich hier allein zurücklassen.«

»Ganz genau.«

Drakon zuckte mit den Schultern. »Wenn Sie mit einem Schlachtschiff zurückkommen, ist es völlig egal, was ich während Ihrer Abwesenheit geplant haben könnte. Sie werden dann so oder so die Oberhand haben.«

»Und wenn es da gar kein Schlachtschiff gibt? Oder wenn bereits genügend Waffen aktiv sind und ich das Schiff nicht einnehmen kann? Und wenn ich deshalb kehrtmachen muss? Und wenn ich dabei auch noch ein paar von meinen Schiffen verliere? Was wird dann sein?«

Er lehnte sich zurück und rieb sich übers Gesicht. »Sie werden mir einfach vertrauen müssen.«

Iceni atmete frustriert durch. »Nehmen wir uns doch Ihren letzten Satz noch einmal vor, General Drakon, damit Sie mir sagen können, ob irgendetwas davon Sie nachdenklich werden ließe, wenn ich das Gleiche zu Ihnen sagen würde.«

»Ich hätte gewisse Schwierigkeiten mit dem Begriff ›vertrauen‹«, räumte er ein und spreizte die Hände. »Ich kann Ihnen keine Geiseln mitgeben, bei denen mir die Hände gebunden wären. Ich kann Ihnen versprechen, dass ich Sie nicht hintergehen werde, aber was ist das Versprechen eines CEO schon wert? In meinem Fall ist es schon einiges wert, weil ich nur selten etwas verspreche. Aber ich weiß, dass es für Sie keinen Grund gibt, mir zu glauben. Doch ich habe Ihnen gegenüber mit offenen Karten gespielt.«

»Soweit mir das bekannt ist.«

»Wie sieht die Alternative aus, Madam Präsidentin? Wir sitzen zusammen hier in diesem Sternensystem und halten uns mit Waffengewalt in Schach, bis von Prime eine so große Flotte eintrifft, dass wir beide angeschmiert sind? Vorausgesetzt, der Gewinner der Kämpfe bei Taroa kommt nicht zuvor auf die Idee, dass es doch schön wäre, ein Hypernet-Portal zu kontrollieren, schickt das Kriegsschiff her und übernimmt dieses System, ehe sich die Syndikat-Regierung mit uns befassen kann.«

Iceni betrachtete eine Zeit lang ihre auf der Tischplatte liegenden Hände an, dann kehrte ihr Blick zu Drakon zurück. »Was soll Ihrer Meinung nach aus diesem Sternensystem werden, General?«

Darauf gab es viele mögliche Antworten, die meisten davon waren Lügen oder Irreführungen. Er sah Iceni an und kam zu dem Schluss, dass seine Erwiderung so nah an die Wahrheit herankommen sollte, wie er selbst sie begriff. »Etwas Besseres als das, mit dem ich aufgewachsen bin. Etwas, das es notfalls wert ist, dafür sein Leben zu geben.«

»Ich kenne Ihre Personalakte. Ich weiß, dass es etliche Gelegenheiten gab, bei denen Sie für die Syndikatwelten hätten sterben können.«

»Sie haben keine Vorstellung davon, wie sehr mich das geärgert hätte. Ganz ehrlich. Mir waren die Syndikatwelten egal. Ich habe versucht, die Leute zu beschützen, die mir wichtig waren, selbst wenn sie sich Hunderte Lichtjahre von mir entfernt aufhielten. Ich hatte keine andere Wahl.« Bei der Erinnerung an diese Jahre machte er eine Geste, die seine Wut und seine Hilflosigkeit beschrieb. »Jetzt habe ich eine Wahl. Ich will, dass mir das wichtig ist, wofür ich kämpfe. Die Schlangen und alles andere loszuwerden, was mit der Kontrolle durch die Syndikat-Regierung verbunden war, das war eine zwingende Notwendigkeit. Das konnte ich planen und in die Tat umsetzen, aber danach … Ich versuche noch immer dahinterzukommen, was getan werden muss.«

Daraufhin sah sie ihn so lange schweigend an, dass er sich zu fragen begann, ob er noch etwas sagen sollte. »Ich habe Angst vor Ihnen, General Drakon«, erklärte sie schließlich. »Und ich habe Angst davor, zu welchem Handeln Sie mich möglicherweise zwingen werden. Ich möchte nicht, dass dieses Sternensystem zerstört wird.«

»Ich auch nicht«, sagte er und tippte auf die Tischplatte, um seine Worte zu unterstreichen. »Halten Sie mich denn für so dumm?«

»Nein.«

»Gut. Solange die Chance besteht, dass Sie mit einem Schlachtschiff unter Ihrem Kommando zurückkehren – warum sollte ich da so dumm sein, während Ihrer Abwesenheit die gesamte Macht an mich zu reißen? Gehen wir das Ganze doch mal pragmatisch an. Wenn ich die Macht übernehmen wollte, müsste ich Sie als Erstes töten. Nur dann habe ich eine Chance, die mobilen Streitkräfte, also die Kriegsschiffe, auf meine Seite zu bekommen. Ohne die kann ich mich gar nicht an der Macht halten.«

Iceni lächelte. »Offenbar haben Sie darüber nachgedacht, wie Sie mich loswerden könnten.«

»Wollen Sie behaupten, Sie haben nicht darüber nachgedacht, was nötig wäre, um mich als Rivalen auszuschalten? Was ich sagen will: Wenn Sie dieses Sternensystem erst einmal verlassen haben, sind Sie für mich unerreichbar. Das heißt, die sicherste Methode um zu verhindern, dass ich mich zum Alleinherrscher aufschwinge, besteht darin, von hier wegzugehen. Es macht Sie nicht verwundbar, ganz im Gegenteil.«

Nachdem sie ihn einen Moment lang angesehen hatte, begann sie zu lachen. »General, Ihrer Logik kann ich nicht widersprechen.«

»Wann reisen Sie ab? Und teilen wir es den Bürgern mit?«

»So bald wie möglich, und … nun, es gibt gute Gründe, es bekanntzugeben, aber es gibt auch gute Gründe, es ihnen zu verschweigen.« Sie musterte das Sternendisplay. »Wenn ich nicht auffindbar bin, werden zu viele Leute auf den Gedanken kommen, dass General Drakon seine Rivalin ausgeschaltet hat. Wenn meine Flotte den Sprung unternimmt, werden meine Leute den Bürgern mitteilen, dass ich zu einer besonderen Mission aufbreche, um …«

»… um unseren Nachbarn den Frieden zu bringen?«, führte er den Satz ironisch zu Ende.

»Oh, das ist gut. Ja, eine Friedensmission.«

»Das war nicht mein Ernst. Was soll sein, wenn Sie zurückkommen und die Leute herausfinden, dass Sie in Wahrheit losgezogen sind, um ein Schlachtschiff in Ihre Gewalt zu bringen?«

Wieder lächelte sie ihn an. »Warum sollte ich mich dafür interessieren, was irgendwer von mir denkt? Ich habe ein Schlachtschiff.«

Diesmal blieb Drakon ernst. »Irgendwer? Mich eingeschlossen? Sie werden die Kontrolle über beträchtliche Feuerkraft haben.«

»Richtig. Sie werden mir einfach vertrauen müssen.«

Wenigstens zitierte sie ihn nicht in einem herablassenden Tonfall. »Wie wollen Sie das Schiff in Ihre Gewalt bringen? Sturmeinheiten, die sich aus den Besatzungen der mobilen Streitkräfte rekrutieren?«

»Was können Sie mir bieten?«, wollte sie wissen.

»Deutlich mehr, als Sie gebrauchen können. Ist es möglich, mir den aktuellen Status Ihrer mobilen Streitkräfte anzuzeigen?« Drakon betrachtete die Übersicht, die sie daraufhin für ihn in einem virtuellen Fenster öffnete. »Sehr geringe Zuladung … Platz für höchstens drei Shuttles … Meine Empfehlung lautet, Ihnen drei Trupps Spezialkräfte zur Verfügung zu stellen. Das sind nicht genug Leute, um die Crew eines voll einsatzfähigen Schlachtschiffs zu überwältigen, aber wenn da nur eine Minimalcrew vorhanden ist, dann sollte es ausreichen.«

»Ich werde Ihre Empfehlung annehmen«, sagte Iceni. »Wer wird diese Spezialkräfte befehligen?«

»Normalerweise wird das bei dieser Größenordnung von einem Lieutenant oder einem Captain erledigt.« Er bemerkte ihre Ratlosigkeit, als sie die neuen Titel hörte. »Das entspricht dem Dienstgrad eines Sub-Executive oder eines Junior Executive. Aber Sie benötigen jemanden, der hochrangig genug ist, um ein Schlachtschiff zu kontrollieren. Jemanden, an dessen Loyalität und Zuverlässigkeit wir nicht zweifeln müssen, je erfahrener, umso besser.«

Drakon schwieg erneut, um in Ruhe nachzudenken. Normalerweise hätte er Morgan oder Malin empfohlen, aber Morgan verhielt sich momentan noch viel zu unberechenbar, und nach Malins Eskapade behagte es Drakon nicht, den Mann für längere Zeit aus den Augen zu lassen. »Colonel Rogero. Er ist dafür am besten geeignet. Aggressiv und fähig und sehr zuverlässig. Außerdem werden seine Untergebenen keine Probleme damit haben, seinen Zuständigkeitsbereich für die Dauer der Mission zu übernehmen.«

»Rogero?«, fragte Iceni. »Zuverlässig?«

Sie wusste über die Befehlshaberin des Allianz-Schiffs Bescheid. Drakon hatte Iceni davon in Kenntnis gesetzt, als während des Aufenthalts von Black Jacks Flotte die Nachricht für Rogero eingegangen war. »Auf jeden Fall.«

»Was ist mit Ihren anderen Senior-Befehlshabern?«

»Kai ist zuverlässig, kann aber etwas behäbig sein. Er arbeitet gern einen detaillierten Plan aus, und an den hält er sich dann auch. Sie brauchen jemanden, der schnell und flexibel ist. Gaiene ist zwar aggressiv genug, manchmal sogar etwas zu sehr, aber wenn er ganz auf sich allein gestellt ist, kann schon mal sein Temperament mit ihm durchgehen. Sie können nichts mit jemandem anfangen, der zu viele Risiken eingehen will, wenn Sie nur drei Trupps zur Verfügung haben. Und ich bin mir auch nicht sicher, wie gut Gaienes Untergebene arbeiten, wenn er sie nicht beaufsichtigt.«

Wieder sah sie ihn an, als versuche sie, seine Gedanken zu lesen, dann nickte sie einmal kurz. »Also gut. Ich brauche Ihre Soldaten und Colonel Rogero so bald wie möglich im Orbit.«

»Zwei Stunden«, sagte er nach kurzem Kalkulieren.

»Geht es auch in einer Stunde?«

»Nein. Außerdem kann ich einen Vorlauf von zwei Stunden als Teil einer Übung verkaufen. Ein panikartiges Aufbrechen innerhalb einer einzigen Stunde wird zu viel Aufmerksamkeit auf sich lenken.«

»Einverstanden. Also zwei Stunden. Wir sehen uns, wenn ich zurück bin, General Drakon.«

Auch wenn Iceni entschieden hatte, dass ihr keine andere Wahl als ein Flug nach Kane blieb, versetzte sie der Gedanke, darauf zu vertrauen, dass Drakon ihr während ihrer Abwesenheit nicht in den Rücken fallen würde, in eine noch schlechtere Laune als zuvor. Hastig traf sie alle erforderlichen Vorbereitungen, um sich mit dem Shuttle zur C-448 bringen zu lassen. Sie setzte ihre Kontrolle über dieses Sternensystem aufs Spiel, und sie lieferte sich wieder der Gnade der Kriegsschiffsbesatzungen aus. Zwar hatte die Crew ihr ihre Loyalität ausgesprochen, doch etwas Ähnliches hatte sie zuvor auch schon gegenüber den Syndikatwelten gemacht. Jeder CEO wusste, dass unbequeme Schwüre schnell über Bord geworfen werden konnten, und den Besatzungen war das spätestens jetzt auch klar.

Diese Leute hatten zudem miterlebt, wie einfach man sich unerwünschter Autoritätspersonen entledigen konnte. Die Arbeiter auf den unteren Ebenen wurden mit einem Mal mit den gleichen Regeln vertraut gemacht, an die sich die Höherrangigen über Generationen hinweg gehalten hatten, und das konnte für eben diese Höherrangigen nichts Gutes bedeuten.

Auf einem so kleinen Schiff wie einem Schweren Kreuzer konnte sie zudem ihre Leibwächter nicht mitnehmen, es wäre gar kein Platz für sie vorhanden. Hinzu kam, dass das Potenzial für Missverständnisse und Gewaltausbrüche auf dem beengten Raum eines Kriegsschiffs zu hoch war.

Vor ihrem geistigen Auge sah sie ein Bild, wie sie von einer Meute lachender Arbeiter aus einer Luftschleuse ins All gestoßen wurde. Iceni zuckte nervös zusammen, als die Türglocke einen vor ihrer Tür wartenden Besucher ankündigte. Togo. Vor ihm sollte sie keine Angst haben, doch ihre Überreaktion half ihr dabei auch nicht weiter. Na, großartig. Sie hatte noch nicht mal einen Fuß ins Shuttle gesetzt und war jetzt schon mit den Nerven am Ende.

»Was ist los?«, herrschte sie Togo an, als er eintrat.

»Sie hatten mich gebeten, alles über Colonel Malin und Colonel Morgan herauszufinden«, sagte er, ohne eine Miene zu verziehen, obwohl Iceni so offensichtlich schlecht gelaunt war. »Ich dachte mir, ich sollte Ihnen meine bisherigen Erkenntnisse mitteilen, bevor Sie abreisen. Verzeihen Sie, wenn ich mich geirrt habe.«

»Nein, nein, Sie haben sich nicht geirrt. Ich will auf jeden Fall mehr über Drakons Leute erfahren, bevor ich ihnen dieses Sternensystem überlasse.« Sie machte einen Moment lang die Augen zu, bis sie zur Ruhe gekommen war. »Setzen Sie sich. Was haben Sie herausgefunden?«

Togo setzte sich kerzengerade in den Sessel. Dass er schon so lange der persönliche Assistent einer CEO war, verdankte er nicht zuletzt der Tatsache, dass er sich nichts auf seine engen Kontakte zu hochrangigen Offizieren einbildete. Er zog seinen Reader aus der Tasche, räusperte sich und begann seinen Bericht. »Colonel Malin ist der Sohn einer unverheirateten Offizierin im medizinischen Dienst, die vier Jahre vor seiner Geburt ihren Ehemann beim Kampf gegen die Allianz verloren hat und seitdem verwitwet war.«

»Eingefrorener Embryo oder eine Affäre?«, warf sie ein.

»Offenbar eine Affäre. Die Identität des Vaters ist nicht bekannt.«

Das war nichts Ungewöhnliches, jedenfalls nicht in einem Krieg, der schon eine halbe Ewigkeit zu dauern schien. So viele Ehepartner waren gefallen, so viele Witwen und Witwer hatten jemanden gesucht, um Nachkommen zu zeugen, ohne viele Fragen zu stellen.

»Bran Malins Mutter half ihm, in den Reihen der Sub-Executives unterzukommen«, fuhr Togo fort. »Sie selbst hatte den Dienstgrad einer Sub-CEO inne, als sie in den Ruhestand ging. Sie starb vor einigen Jahren an den Folgen einer langwierigen Erkrankung, die sie sich bei der Arbeit in einer geheimen medizinischen Forschungseinrichtung zugezogen hatte. Nach ein paar Einsätzen auf Versorgungs- und Frontposten bat Bran Malin darum, den Bodenstreitkräften unter Drakons Kommando zugeteilt zu werden. Er ist jetzt achtundzwanzig Jahre alt und dient seit nunmehr sieben Jahren unter Drakon; zuerst als Befehlshaber von Bodeneinheiten, schließlich als Drakons enger Berater.« Togo nahm den Reader runter. »Mehr gibt es über ihn nicht, es sei denn, Sie möchten, dass ich alle seine Positionen aufliste, die er vor Drakons Kommando innehatte. Ihre eigene Einschätzung, dass er ein beherrschter und bedächtiger Mann ist, wird mir von jeder auffindbaren Quelle bestätigt. Da er diese Eigenschaften besitzt, gibt es keinen Hinweis darauf, dass er jemals Unzufriedenheit über die Syndikat-Regierung geäußert hat.«

Iceni dachte über das Gehörte nach, dann nickte sie. »Und Morgan?«

»Ihre Vorgeschichte ist wesentlich interessanter.«

»Irgendwie hatte ich mir das schon gedacht.«

Ihre Bemerkung entlockte Togo ein flüchtiges Lächeln, dann berichtete er weiter: »Roh Morgans Eltern fielen im Kampf gegen die Allianz, als sie noch sehr jung war. Danach wuchs sie in diversen staatlichen Waisenhäusern auf, und als sie das gesetzlich vorgeschriebene Alter erreicht hatte, schloss sie sich den Bodenstreitkräften an und meldete sich freiwillig für den Einsatz als Kommandosoldat. Ihre Ausbildung wurde erheblich verkürzt, und ich musste sehr tief graben, um dahinterzukommen, was dann passierte.«

Fasziniert beugte sich Iceni vor. »Irgendein Geheimauftrag?«

»Extrem geheim, Madam Präsidentin. So geheim, dass anscheinend sogar der Codename aus den Aufzeichnungen gelöscht wurde. Aber ich konnte aus den verbliebenen ISD-Akten genug zusammentragen, um zumindest Folgendes sagen zu können: Es handelte sich um eine Operation, die die Enigma-Rasse zum Gegenstand hatte.«

»Die Enigmas?« Damit hätte sie nun wirklich nicht gerechnet. »Jede Versuch der Syndikatwelten der letzten hundert Jahre, Operationen zu unternehmen, die mehr über die Enigmas herausfinden sollten, war ein kompletter Fehlschlag.«

»Was auch für Roh Morgans Mission gilt«, bestätigte er. »Ich konnte in Erfahrung bringen, dass bei diesem Anlauf kleine natürliche Asteroiden zum Einsatz kamen, die man aushöhlte, um in jedem von ihnen einen einzelnen, in Kälteschlaf versetzten Kommandosoldaten zu verstecken, dazu gerade so viel Ausrüstung wie unbedingt nötig, um ihn in diesem Zustand zu belassen. Die Asteroiden wurden von einem Schiff außerhalb eines von den Enigmas besetzten Sternensystems ausgesetzt und in Richtung der Planeten geschickt, wobei ihre Geschwindigkeit so gering gehalten wurde, dass alles ganz natürlich wirkte.«

»Kein Wunder, dass sie die Kommandosoldaten in Kälteschlaf versetzt haben. Bei diesen Geschwindigkeiten hat es doch Jahrzehnte gedauert, ehe die Asteroiden irgendeinen Planeten erreichten.«

»Ja, genau«, stimmte Togo ihr zu und schüttelte den Kopf. »Sobald sich die Asteroiden einem Planeten genähert hatten, wurden die Kommandosoldaten aus dem Kälteschlaf geholt. Sie sollten dann landen und jegliche Informationen übermitteln, derer sie habhaft werden konnten, bevor die Enigmas sie aufspürten und töteten.«

»Ein Jahrzehnte dauerndes Selbstmordkommando«, murmelte Iceni fassungslos, »ohne irgendeine Garantie, dass es zu Resultaten führen würde. Und dafür hat Morgan sich freiwillig gemeldet?«

»Ja«, bestätigte Togo. »Wie Sie wissen, versuchte die Syndikat-Regierung verzweifelt, etwas über die Enigmas herauszufinden. In den ersten Jahrzehnten ließen die Aliens sich nicht anmerken, ob sie etwas von dieser speziellen Operation ahnten, doch als sich einige Asteroiden ihrem inneren System näherten, da eröffneten die Enigmas das Feuer und schossen einen nach dem anderen ab. Es wurde beschlossen, eine Bergung der überlebenden Kommandosoldaten zu versuchen. Dabei wurden tatsächlich zwei von ihnen – und eine davon war Morgan – von einem speziellen automatischen Schiff aufgelesen, das von den Enigmas aus unerfindlichen Gründen nicht beschossen und zerstört wurde.«

»Wie seltsam, dass die Enigmas diese Rettungsaktion zuließen. Aber noch mehr wundert mich, wieso überhaupt irgendein CEO eine solche Aktion befohlen hat, bloß um zwei Junior-Arbeiter zurückzuholen.«

Togo zog kurz die Schultern hoch. »Es ging dabei nicht vorrangig um die Rettung der Arbeiter, sondern um eine Bergung der intakten Asteroiden. Man wollte untersuchen, wie die Enigmas auf deren besondere Eigenschaften aufmerksam werden konnten. Dass Morgan und ein weiterer Kommandosoldat überlebten, war nur ein Nebeneffekt.«

»Ja, natürlich.« Sie fragte gar nicht erst, ob die Untersuchung irgendetwas ergeben hatte, weil sie wusste, dass das nicht der Fall gewesen sein konnte. Die Asteroiden waren wie jedes andere Unterfangen, das die Syndikatwelten im Hinblick auf die Enigmas unternommen hatten, ein Fehlschlag gewesen, weil die auf Quantenebene arbeitenden Würmer der Aliens jedes automatische System des Syndikats befallen hatten. Dank dieser Würmer wussten die Enigmas immer ganz genau, womit die Syndikatwelten gerade beschäftigt waren. Und sie waren sogar in der Lage, die Sensoren des Syndikats in die Irre zu führen, ohne dabei aufzufallen.

Die Syndikatwelten waren niemals auf diese Würmer aufmerksam geworden, weil sie für die normalen Sicherheitssysteme der Computer nicht feststellbar waren. Nein, es war ein weiteres Mal die Allianz gewesen, die auch auf dieses Problem aufmerksam geworden war. Oder genauer gesagt: Black Jack. Er war derjenige, der ihnen verriet, wie man diese Würmer aufspürte und unschädlich machte. Diese peinliche Enthüllung eines weiteren Versagens des Syndikats hatte bei Iceni das Fass zum Überlaufen gebracht, sodass sie begann, eine Revolte zu planen.

Togo tippte auf seinen Reader. »Es gab Probleme, Morgan und den anderen Kommandosoldaten aus dem Kälteschlaf zu holen. Auch wenn sie ungefähr zwanzig Jahre in diesem Zustand verbracht hatten, hätte das keine Schwierigkeiten bereiten dürfen. Ich konnte keine Details dazu finden, nur vage Anmerkungen, die mich aber davon überzeugt haben, dass alle Kommandosoldaten vor ihrer Mission einem speziellen mentalen Training unterzogen worden sein könnten.«

»Ein spezielles mentales Training?« Das könnte alles Mögliche bedeuten, und in den überwiegenden Fällen würde etwas sehr Hässliches dahintergesteckt haben.

»Ich weiß es nicht mit Sicherheit, Madam Präsidentin. Morgans psychologische Beurteilung stufte sie innerhalb akzeptabler Werte ein, allerdings mit starken Schwankungen. Sie wurde von weiteren Einsätzen mit den Kommandosoldaten ausgeschlossen, und schließlich entließ man sie zurück in den Dienst der regulären Bodenstreitkräfte. Das geschah zu einer Zeit, als die Bodenstreitkräfte unter einem gravierenden Mangel an Junioroffizieren litten. Der wiederum war durch einige fehlgeschlagene Offensiven verursacht worden, bei denen die Zahl der getöteten Junioroffiziere weit über dem üblichen Schnitt lag. Zahlreiche Arbeiter der Bodenstreitkräfte wurden daraufhin für eine Beförderung zu Junior-Sub-Executives vorgesehen, darunter auch Morgan.«

Iceni sah Togo skeptisch an. »Trotz dieser Vorgeschichte und ihrer Beurteilung wurde sie für eine Beförderung in den Dienstgrad der Sub-Executive vorgesehen?«

»Den Grund dafür konnte ich nicht herausfinden, Madam Präsidentin. Es gibt eine medizinische Beurteilung, die sie für eine sofortige Beförderung als geeignet einstuft, aber eine Erklärung dafür existiert nicht. Morgan selbst kann sich nicht in einer Position befunden haben, jemanden zu bestechen oder so zu beeinflussen, dass ein solches Ergebnis dabei herauskommt. Es findet sich aber auch kein Hinweis auf irgendeinen Gönner, der sich für sie hätte einsetzen können. Zudem gibt es in ihrer Vorgeschichte auch keine Lücken, in denen ein solcher Gönner Platz fände.«

»Als Sie sagten, Colonel Morgans Vergangenheit sei interessant, da habe ich nicht damit gerechnet, dass es so interessant werden könnte«, kommentierte Iceni.

»Bedauerlicherweise fand sich kein Befehlshaber der Bodenstreitkräfte, der bereit gewesen wäre, die Zuweisung von Sub-Executive Roh Morgan unter seinen Oberbefehl zu akzeptieren. Ihre Personalakte wies Unklarheiten auf, und ihre psychologische Beurteilung war alles andere als standardmäßig ausgefallen. Schließlich nahm Drakon sie mit der Begründung, sie verdiene eine Chance.«

Iceni zog eine Braue hoch. »Ist das Ihre Vermutung, oder gibt es einen Beleg dafür, dass das tatsächlich sein Argument gewesen ist?«

»Drakons Einwilligungserklärung enthält den Satz: ›Diese Offizierin verdient eine Chance, Karriere zu machen.‹ Seine Entscheidung, ihr diese Möglichkeit zu erlauben, bildet die Grundlage für Morgans ausgeprägte Loyalität ihm gegenüber. Allerdings sagen meine Quellen auch, dass sie heute auch eine große Bewunderin von Drakons Fähigkeiten als Führer und als Befehlshaber im Gefecht ist.«

Das war wirklich sehr interessant. »Dann ist Colonel Morgan in etwa so alt wie Sie?«

»Sie war fast achtzehn, als sie sich freiwillig für das Selbstmordkommando meldete. Nach Jahreszahlen gerechnet ist sie jetzt sogar älter als ich, Madam Präsidentin. Körperlich ist sie aber im Kälteschlaf nicht gealtert, sodass sie derzeit siebenundzwanzig Jahre alt ist. Sie dient jetzt seit acht Jahren unter Drakon.«

Was treibt eine Siebzehnjährige dazu, sich freiwillig für ein Selbstmordkommando zu melden? Iceni seufzte und fragte sich, wie viele Männer und Frauen in diesem Alter wohl in den hundert Jahren Krieg im Kampf gegen die Allianz gefallen waren. »Dann hat Morgan also bereits unter Drakon gedient, als Malin die Szene betrat?«

»Ja. Alles deutet darauf hin, dass die beiden sich vom Augenblick der ersten Begegnung an nicht ausstehen konnten.«

»Hass auf den ersten Blick?« Und trotzdem waren sie beide bei Drakon geblieben. Hatte er als Anführer denn etwas so Inspirierendes an sich? Irgendwie schien ihr das keine ausreichende Erklärung zu sein. »Wie sieht Morgans psychologische Beurteilung heute aus?«

»Nahe genug an den Standardwerten, um als akzeptabel eingestuft zu werden«, antwortete Togo.

Das war nicht gerade eine berauschende Einschätzung der seelischen Stabilität einer Person. »Interessant. Das habe ich zum größten Teil nicht gewusst, aber viele Fragen bleiben noch unbeantwortet. Halten Sie die Augen offen, ob Sie sonst noch was in Erfahrung bringen können. Die beiden stehen General Drakon sehr nahe, und wenn ich weiß, warum das so ist, dann werde ich auch aus General Drakon wieder ein bisschen schlauer. Haben Sie irgendwelche Fragen, wie Sie was erledigen sollen, solange ich nicht da bin?«

Togo zögerte kurz. »Ich bitte um die Erlaubnis, Sie begleiten zu dürfen, Madam Präsidentin. Wie wir erst unlängst gesehen haben, sind nicht einmal die Einheiten der mobilen Streitkräfte vor der Bedrohung durch Attentäter sicher. Wenn jemand im Militär nach Ihrem Leben trachtet, dann würde es von den Schuldigen ablenken, wenn sie zuschlagen, während Sie sich außerhalb dieses Sternensystems aufhalten.«

Sie sah ihn eindringlich an. »Haben Sie irgendwelche Hinweise darauf, dass etwas Derartiges geplant ist?«

»Nein.«

»Ich habe auch keinen Grund zu glauben, dass irgendetwas in dieser Art vorbereitet wird.« Das stimmte nicht so ganz. Eigentlich stimmte es überhaupt nicht. Aber ihre Quelle in Drakons Nähe befand sich in einer Position, um zu wissen, ob Drakon jemanden auf sie angesetzt hatte. Nicht einmal Togo wusste von dieser Quelle, weil die einfach viel zu wichtig war, als dass Iceni eine Enttarnung riskieren wollte.

»Madam Präsidentin, ich weiß nicht, was General Drakon Ihnen gesagt hat …«

»Ich bin bestimmt nicht so dumm, meine Vorsichtsmaßnahmen nach dem auszurichten, was mir jemand erzählt, der sie überwinden könnte«, redete Iceni weiter. »Haben Sie handfeste Informationen, die auf eine aktive Bedrohung aus dieser Richtung hindeuten?«

Togo hielt kurz inne, schließlich schüttelte er den Kopf. »Nein, Madam Präsidentin.«

»Es ist Ihre Aufgabe, nach Gefahren für mein Leben Ausschau zu halten, und das machen Sie auch sehr gut. Behalten Sie das bei, während ich weg bin. Sie können mir am besten dienen, indem Sie hierbleiben, auf potenzielle Bedrohungen achten und dafür sorgen, dass bis zu meiner Rückkehr alles glatt läuft.«

»Ja, Madam Präsidentin.«

Dann fiel ihr noch etwas ein, was mit einer gewissen Verwunderung einherging, weil Togo nicht schon längst von sich aus darauf zu sprechen gekommen war. »Was ist mit der Durchsuchung des Quartiers und der Habseligkeiten von Sub-CEO Akiri? Was haben Sie entdeckt?«

»Nichts, was dem widersprechen würde, was wir über ihn wissen, Madam Präsidentin.«

»Keine Hinweise darauf, warum der Attentäter ihn zuerst aufgesucht hat? Keine Anhaltspunkte, wieso CEO Kolani ihn auf seinem Posten belassen hatte, obwohl sie so wenig von ihm hielt?«

»Nein, Madam Präsidentin. Weder in der einen noch der anderen Sache ist etwas aufgetaucht, das eine Erklärung liefern könnte. Womöglich besteht auch gar kein Zusammenhang. Es könnte CEO Kolani Spaß gemacht haben, Sub-CEO Akiri zu drangsalieren. Und dass der Attentäter sich ihn zuerst vorgenommen hat, kann darin liegen, dass er als Ihr Berater für ihn besonders interessant war.«

Das klang zwar plausibel, dennoch … Aber sie hatte jetzt keine Zeit, sich intensiver mit dieser Frage zu befassen. »Gut, dann wäre das alles.«

Nachdem Togo gegangen war, hielt Iceni trotz allem einige Augenblicke lang inne und dachte über die Erkenntnisse nach, die ihr Adjutant zusammengetragen hatte. Drakon gab Morgan eine Chance, als niemand dazu bereit war. Eine junge Frau, fast noch ein Mädchen, von der jüngsten Vergangenheit körperlich und geistig traumatisiert. Ich hätte ihr keine Chance gegeben. Warum sollte man ein solches Risiko auch eingehen? Aber Drakon hat es gewagt. Kein Wunder, dass sie ihm gegenüber so loyal eingestellt ist. Keine Wunder, dass all seine Soldaten ihm so ergeben waren. Auch wenn er ganz klassisch zum CEO ausgebildet worden ist, scheinen ihm seine Leute wirklich wichtig zu sein.

Ich wünschte, ich könnte ihm vertrauen. Ich glaube, wenn ich Artur Drakon jemals vertrauen könnte, würde ich ihn tatsächlich sympathisch finden.

Und dann würde er mir möglicherweise einen Dolch in den Rücken stoßen. Ich kann froh sein, dass Togo ihn im Auge behalten wird.

Sub-CEO Marphissa schien sich zu freuen, sie zu sehen, allerdings konnte sich Iceni auch nicht daran erinnern, dass einer ihrer Untergebenen jemals so dumm gewesen wäre, sein Missfallen über ihre Anwesenheit erkennen zu lassen. Stimmt nicht. Da war dieser Executive, der Gelder unterschlagen hatte. Er hatte sehr missmutig ausgesehen, aber wiederum nicht ganz so missmutig wie kurze Zeit darauf, als man ihn zur Strafe in eine Uniform steckte und ihn losschickte, um bei der völlig aussichtslosen Verteidigung eines Sternensystems nahe dem Allianz-Gebiet mitzuhelfen. Wo war das noch gleich gewesen? Ach, ist jetzt nicht weiter wichtig. Alle Verteidiger kamen ums Leben, und auch wenn die Syndikatwelten das System später doch noch zurückerobern konnten, hat die Regierung am Ende doch den Krieg verloren. Also hat das Ganze letztlich nichts bedeutet. Etwas, das es wert ist, dafür zu sterben, hat Drakon gesagt. Ja, so etwas brauchen wir alle.

»Sie sagten, wir werden Übungen durchführen, Madam Präsidentin?«, fragte Marphissa.

»Das ist richtig. Sind alle Soldaten der Bodenstreitkräfte an Bord?«

»Ja. Je ein Trupp auf den drei Schweren Kreuzern. Außerdem haben die drei Shuttles an der Außenhülle dieser Schiffe festgemacht. Die Soldaten haben sehr viel Ausrüstung mitgebracht.«

»Gut. Wir nehmen Kurs auf einen der Sprungpunkte und testen dabei die Kriegsschiffe und alle Soldaten. Wir werden herausfinden, ob jeder in Bestform ist. Außerdem werden wir koordinierte Aktionen üben.« Das gehörte zu den Dingen, die CEOs routinemäßig anordneten: Leute im Kreis herumscheuchen damit niemand in Frage zu stellen wagte, dass man auch die Macht dazu besaß.

»Welcher Sprungpunkt?«

Iceni ließ sich auf ihrem Platz auf der Brücke nieder. Im Midway-Sternensystem gab es zahlreiche Sprungpunkte zu anderen Sternen, insgesamt acht an der Zahl. Weder Bevölkerungsdichte noch Vermögen oder industrielle Leistungsfähigkeit hatten Midway seinen Namen eingebracht. Vielmehr war es die große Auswahl an Sprungpunkten, die dieses System so besonders wertvoll sein ließ.

Einer dieser Sprungpunkte führte zu einem Stern namens Pele, ihn hatte die Allianz-Flotte vor nicht allzu langer Zeit benutzt, um mehr über die fremdartige Enigma-Rasse herauszufinden. Abgesehen von den gelegentlichen vergeblichen Versuchen, doch endlich einmal an Informationen über die Enigmas zu gelangen, hatte seit über einem Jahrhundert kein Schiff der Syndikatwelten mehr einen Sprung dorthin unternommen. Als die Enigmas das Midway-Sternensystem angegriffen hatten, waren sie durch diesen Sprungpunkt hergekommen.

Während Iceni die Darstellung des Sprungpunkts nach Pele auf ihrem Display betrachtete, musste sie an das denken, was Togo ihr mit Blick auf Colonel Morgan gesagt hatte. In welchem Sternensystem wäre Morgan beinahe gestorben? Ihr wurde bewusst, dass Morgans Leben immer wieder von schrecklichen Ereignissen überschattet worden war. Auf der anderen Seite hatte sie so oft Glück gehabt, dass allein dieses Glück kaum als Erklärung für ihr Überleben ausreichte und auch nicht für den Stand, den sie bei Drakon genoss.

Haben die lebenden Sterne Ihnen unter die Arme gegriffen, Colonel Morgan? Aber falls ja, warum sind sie andererseits so grausam zu Ihnen gewesen?

Es gab keine Antworten auf diese Fragen – schon, weil es nie Antworten auf derartige Fragen gab –, und Sub-CEO Marphissa wartete auf Anweisungen. Iceni tat einen Moment lang, als betrachtete sie ihr Display, dann deutete sie mit einer vagen Geste auf zwei der Sprungpunkte, von denen der eine nach Taroa und der andere nach Kane führte. »Setzen Sie einen Kurs in diese Richtung.«

Der nähere von beiden Sprungpunkten, der nach Kane, befand sich jenseits des Orbits des äußersten Planeten im Sternensystem, einem gefrorenen Klotz aus Gas und Gestein, der wegen einer verlassenen Forschungsstation auf seiner Oberfläche den Spitznamen Hotel erhalten hatte. Die Strecke bis dorthin betrug für Icenis Flotte fast sechseinhalb Lichtstunden. Mit 0,1 Licht konnten sie die Strecke in fünfundsechzig Stunden zurücklegen, also in nicht ganz drei Tagen. Aber eine Annäherung an den Sprungpunkt mit einer so hohen Geschwindigkeit würde nur unnötig Aufmerksamkeit erregen. Aber was war riskanter: ein ungewöhnlich schneller Anflug oder die doppelte Reisezeit, die eine routinemäßige Geschwindigkeit von 0,05 Licht mit sich brachte? Doch es schien wirklich nicht ratsam, auf dem Weg zum Sprungpunkt zu trödeln, wenn es womöglich auf jede Minute ankam. Diese Überlegung gab schließlich den Ausschlag.

»Alle Kriegsschiffe bei maximaler Brennstoffversorgung?«, fragte Iceni. Die Anzeige des Flottenstatus gab genau das zwar an, doch niemand konnte diesen Zahlen trauen, da die Befehlshaber der einzelnen Einheiten üblicherweise die wahren Werte schönfärbten, um besser dazustehen. Aber ein guter Flottenbefehlshaber wusste Mittel und Wege, um dennoch die wahren Werte in Erfahrung zu bringen.

»Ja. Status aller Einheiten liegt zwischen acht- und neunundneunzig Prozent«, antwortete Marphissa sofort.

»Dann wollen wir doch mal sehen, wie gut diese Einheiten beschleunigen können«, verkündete Iceni. »Bringen Sie die Schiffe auf 0,1 Licht und halten Sie die Geschwindigkeit bei.«

Die kleine Flotte setzte sich in Bewegung, als die Antriebsmodule zu glühen begannen. Iceni beobachtete, wie die Fahrzeuge sich von der Stelle zu rühren begannen, wobei sie vor allem die C-818 im Auge behielt. Die Antriebseinheiten dieses Schweren Kreuzers waren während des Gefechts mit Kolani schwer beschädigt worden, und erst vor Kurzem war die Meldung eingegangen, alle Reparaturen seien ausgeführt worden.

Was aber nicht stimmen konnte.

»Was ist mit der C-818 los?«, wollte Iceni in trügerisch beiläufigem Tonfall wissen, während der Schwere Kreuzer weiter und weiter hinter den anderen Kriegsschiffen zurückfiel.

Marphissa war darauf auch schon aufmerksam geworden. »Der Befehlshaber der C-818 meldet, dass die Antriebseinheiten nur mit sechzig Prozent arbeiten. Nach der Reparatur sollen sie beim Test angeblich hundert Prozent Leistung erbracht haben.«

Wenigstens befanden sie sich noch in der Nähe des Planeten, sodass Iceni Togo rufen konnte: »Derjenige, der die Reparaturen an den Hauptantriebseinheiten der C-818 abgenommen hat, ist entweder inkompetent oder korrupt. Finden Sie heraus, wer das war, und dann statuieren Sie an ihm ein Exempel.«

»Wie soll dieses Exempel aussehen? Soll ich alle Verantwortlichen hinrichten lassen?«

Es war ihr wirklich zuwider, wenn sie herausfand, dass jemand seiner Verantwortung einfach nicht nachkam. »Wenn Korruption im Spiel ist, dann ja. Wenn es reine Unfähigkeit war, dürfen sie ab sofort mit dem Putzlappen arbeiten.«

»Diejenigen, die für die Bürger sprechen, fordern für die Gerichte ein funktionierendes Rechtssystem«, machte Togo ihr klar. »Eine Hinrichtung der Verantwortlichen könnte bewirken, dass ihr Anliegen bei den Bürgern auf noch breiteren Zuspruch stößt.«

Warum mussten einem manchmal die einfachsten Dinge so unnötig schwer gemacht werden? »Also gut. Unfähigkeit ist eine Angelegenheit der internen Disziplin und wird nicht vor einem Gericht nach Syndikat-Recht verhandelt, das wir erst noch überarbeiten müssen. Sollten Sie auf Korruption stoßen, dann gewähren Sie ihnen ein zügiges Verfahren und richten Sie sie anschließend hin.«

Damit war zwar dieses Problem geregelt, aber die C-818 hatte nichts davon. »Sub-CEO Marphissa, schicken Sie die C-818 zurück in den Orbit, und weisen Sie sie an, bis zu meiner Rückkehr auf … auf General Drakons Befehle zu hören.«

»General Drakon?« Da Marphissa gleich darauf bemerkte, dass Iceni leicht verärgert auf die Rückfrage reagierte, salutierte sie sofort. »Ich werde Ihre Befehle umgehend weiterleiten, Madam Präsidentin.«

»Und sagen Sie ihnen, sie sollen den Antrieb dieses Mal ordentlich reparieren.«

»Ja, Madam Präsidentin.«

Iceni blickte mürrisch auf ihr Display und ließ sich von ihrer schlechten Laune wie von einer Aura umhüllen. Ohne die C-818 blieben ihr nur noch drei Schwere Kreuzer. Dazu kamen die vier Leichten Kreuzer sowie sieben Jäger, aber alles in allem ergab das eine lachhaft kleine Streitmacht gegen ein Schlachtschiff, dessen Verteidigungs- und Waffensysteme möglicherweise zu einem großen Teil bereit waren.

Wenigstens waren die nach Taroa und Kahiki entsandten Jäger rechtzeitig zurückgekehrt, um sich ihnen anzuschließen. Notfalls bestand deren einzige Aufgabe darin, lange genug als Ziele für das Schlachtschiff herzuhalten, damit ihre Kriegsschiffe es mit ein paar gezielten Schüssen außer Gefecht setzen konnten.

Nur der nach Lono geschickte Jäger war nicht zurückgekommen, obwohl das längst hätte geschehen müssen. Was war bei Lono geschehen? Was auch immer passiert sein mochte, es war auf jeden Fall ein Punkt mehr, über den sie sich Sorgen machen musste.

»Madam Präsidentin?«

Iceni drehte sich mit ihrem Sessel zu Marphissa herum, als würde es sich dabei um einen Geschützturm handeln. »Was?«

»Kann ich unseren Einheiten eine Schätzung für die Dauer dieser Unternehmung mitteilen?«, fragte sie verhalten.

»Gibt es ein Problem mit den Vorräten und Beständen unserer Einheiten?«

»Nein, Madam Präsidentin. Alle Einheiten stehen für längerfristige Operationen bereit.« Nach einer kurzen Pause fügte sie dann hinzu: »Sämtliche Waffensysteme sind ebenfalls voll bestückt.«

»Gut.« In dieser Hinsicht war also alles in bester Verfassung, und sie hatte es Marphissa zu verdanken, dass die Kriegsschiffe voll einsatzbereit waren. »Sie haben gute Arbeit geleistet. Bis auf Weiteres werden Sie mit sofortiger Wirkung zur Flottenbefehlshaberin ernannt.«

»Ich … vielen Dank, Madam Präsidentin.«

Iceni lächelte sie flüchtig an. »Danken Sie mir lieber erst, wenn Sie auch wissen, was ich in dieser Position alles von Ihnen erwarte.«

Morgan betrat Drakons Büro und machte einen verdächtig gut gelaunten Eindruck. Ehe die Tür hinter ihr zufallen konnte, folgte ihr Malin in den Raum. Das versetzte ihrer Laune zwar einen leichten Dämpfer, aber dann drehte sie sich zu Drakon um und grinste ihn breit an. »Sie müssen nur ein Wort sagen, dann ist sie tot.«

Drakon lehnte sich auf seinem Platz nach hinten und ließ sich Zeit mit seiner Antwort. »Sie reden von Präsidentin Iceni?«

»Richtig, Sir. Ich habe jemanden in ihrer unmittelbaren Nähe, der jederzeit zuschlagen kann. Und das Schöne ist, dass wir das sogar glaubhaft abstreiten können.«

Anstatt etwas darauf zu erwidern, wanderte Drakons Blick weiter zu Malin.

»Sie müssen sich zwei Fragen stellen, General«, sagte der. »Erstens: Vertrauen Sie der Agentin, die von sich behauptet, bereit zu sein, in Ihrem Auftrag zu handeln und …«

»Diese Agentin hat allen Grund, den Befehl auszuführen!«, unterbrach Morgan ihn.

»… und zweitens: Wollen Sie Icenis Tod? Welchen Nutzen wird es Ihnen bringen, und was würden Sie dabei verlieren?«

Angewidert schüttelte Morgan den Kopf. »Welchen Nutzen ihm das bringen wird? Jeder außer Ihnen kennt die Antwort auf diese Frage!«

Drakon hob eine Hand, um dem Hin und Her ein Ende zu setzen, dabei schaute er wieder zu Morgan: »Wie zuverlässig ist diese Agentin?«

»Ich habe die Fühler ausgestreckt, die Agentin hat reagiert, und wir haben den üblichen Tanz um den heißen Brei veranstaltet, um festzustellen, ob unsere Interessen deckungsgleich sind. Die Agentin kommt unmittelbar an Iceni heran«, betonte Morgan. »Und wenn die Agentin alles richtig arrangieren kann, dann muss sie nicht mal in diesem Sternensystem zuschlagen.«

»Die Agentin ist neu«, wandte Malin ein. »Wir haben nicht viele Informationen, auf die wir uns berufen können.«

»Wie haben Sie …?« Morgan schaute ihn finster an. »Wenn wir darauf warten, dass absolut alles perfekt ist, werden wir niemals etwas tun. Aber Iceni wird das machen. General, Sie wissen so gut wie ich, dass wir nicht unendlich lange dasitzen können, um auf eine Gelegenheit zu warten, die eine hundertprozentige Erfolgsgarantie verspricht.«

»Das ist richtig«, stimmte Drakon ihr zu. »Aber die eigentlich entscheidende Frage ist doch die, ob ich das überhaupt will. Und falls ich es will, ob jetzt der richtige Zeitpunkt dafür wäre. Ich habe Ihnen beiden und niemandem sonst gesagt, wohin Iceni unterwegs ist und was sie vorhat. Sie wissen, wie wichtig ein erfolgreicher Abschluss dieser Mission ist.«

»Diese Sub-CEO kennt ihren Auftrag«, beharrte Morgan. »Sie kann das auch ohne Iceni erledigen.«

»Das ist nicht sicher, und Iceni hat Sie nicht ins Fadenkreuz genommen, General«, sagte Malin.

»Soweit wir das wissen«, fuhr Morgan ihn an.

»Ich habe größeres Vertrauen in Ihre Fähigkeiten, als Sie meinen«, erklärte Malin ihr mit einem kühlen Lächeln auf den Lippen. »Wenn jemand versuchen würde, an General Drakon heranzukommen, hätten Sie das längst bemerkt.«

Dieses Kompliment machte Morgan einen Moment lang sprachlos, aber sie bekam sich schnell wieder in den Griff. »Ich bin nicht vollkommen. General Drakon weiß nur zu gut, dass er niemandem absolut vertrauen kann«, fügte sie mit einem Blick hinzu, der keinen Zweifel daran ließ, dass das auf Malin gemünzt war.

»Und warum sollte er dann dieser Agentin vertrauen? Das ist ein alter ISD-Trick, General. Geben Sie jemandem die Gelegenheit, etwas Bestimmtes zu tun, und sobald er darauf anspringt, haben Sie ihn am Kragen gepackt. Woher sollen wir wissen, dass Präsidentin Iceni nicht bloß dasitzt und abwartet, wann Sie den Befehl geben werden? Wenn Sie das tun, und das Ganze ist eine Falle, dann laufen Sie ins offene Messer.«

Morgans Augen funkelten vor Wut. »Wollen Sie andeuten, ich würde mit Iceni gemeinsame Sache machen?«

»Einen solchen Vorwurf würde ich nicht so indirekt formulieren, sondern unmissverständlich aussprechen, wenn ich einen Beleg dafür hätte.«

»General, ich weiß, wie die Agentin handeln wird!«

Drakon schloss die Augen, um in Ruhe nachzudenken. Fakt ist, ich will sie nicht umbringen. Jedenfalls nicht, solange ich nicht dazu gezwungen bin. Sie leistet gute Arbeit bei der Führung ihrer Hälfte der Dinge, und sie hat zumindest nicht offensichtlich versucht, meine Autorität zu untergraben. Was sie still und heimlich tut, ist natürlich eine ganz andere Frage. »Nein«, sagte er schließlich. »Ich halte das nicht für den richtigen Zeitpunkt. Das ist nicht die Art von Lösung, die ich anstrebe, solange sie nicht zwingend erforderlich wird. Außerdem will ich erst mehr über diese Agentin wissen, bevor ich dieser Person eine so folgenschwere Aufgabe übertrage.«

Malin versuchte, sich eine triumphierende Miene zu verkneifen, während Morgan sich ihre Verärgerung nicht anmerken lassen wollte. »Aber die Option ist noch nicht vom Tisch?«, wollte Morgan wissen.

»Es kann nichts schaden, jemanden an einer Stelle zu haben, von der aus er zuschlagen kann, wenn die Situation es erfordert. Diese Möglichkeit könnte irgendwann sehr wichtig werden.« Die Identität dieses Individuums könnte auch wichtig werden, wenn Drakon irgendwann einmal gezwungen sein würde, jemanden zu opfern, um Iceni weiterhin davon zu überzeugen, dass er mit ihr zusammenarbeitete. »Aber die Entscheidung, ob und wann es notwendig ist, treffe nur ich.«

Ihr Quartier auf dem Schweren Kreuzer war alles andere als großzügig bemessen oder gar luxuriös. Iceni betrachtete den beengten Raum und fühlte sich an ihre Zeiten als Junior Executive erinnert, als sie in noch kleineren und spartanischeren Räumlichkeiten untergebracht gewesen war. Du bist verwöhnt, Gwen, hielt sie sich vor Augen.

Nachdem sie sich davon überzeugt hatte, dass alle Verteidigungs- und Überwachungsanlagen in ihrer Kleidung einwandfrei arbeiteten, rief sie Sub-CEO Marphissa zu sich. »Ich muss mit Ihnen reden.«

Marphissa beeilte sich erfreulicherweise. »Ja, Madam Präsidentin?«

»Schließen Sie die Luke und setzen Sie sich.« Iceni wartete und sah die andere Frau eindringlich an, während ihre Ausrüstung selbsttätig den physiologischen Status der Sub-CEO nach Hinweisen auf Nervosität, Angst und Täuschungsversuchen erforschte. Die tragbare Ausrüstung war zwar nicht so effizient wie das, was eine Verhörzelle zu bieten hatte, doch sie lieferte nützliche Ergänzungen und Erläuterungen zu den normalen Beobachtungen. »Haben Sie von General Drakon gehört?«

Die Anzeichen für ihre Nervosität verstärkten sich unübersehbar, aber während Marphissa antwortete, war nicht feststellbar, dass sie eine Lüge erzählte. »Nicht, seit wir den Orbit verlassen haben.«

»Dann haben Sie zuvor von ihm gehört?«

»Nicht von ihm selbst. Nur als weitergeleitete Anweisungen von demjenigen, der mit mir in Verbindung steht. Ich habe bereits den Code bekommen, den man mir übermitteln wird, wenn man mir befiehlt, Sie bei der ersten guten Gelegenheit zu töten. Bei den erweiterten Anweisungen findet sich ein zweiter Code, der für mich der Befehl wäre, Sie erst zu töten, wenn wir dieses Sternensystem verlassen haben.«

»Verstehe.«

»Das würde bedeuten«, fuhr Marphissa zögerlich fort, »dass unser momentaner Flug zum Sprungpunkt in Wahrheit mit einem Sprung in ein anderes Sternensystem verbunden sein wird.«

Iceni gab einen unverbindlichen Laut von sich. »Aber weitere Codesätze haben Sie bislang nicht erhalten?«

»Nein.«

Wollte Drakon sie nun umbringen oder nicht? Marphissa als Doppelagentin einzusetzen, war ihr als eine gute Idee vorgekommen, Drakons Absichten auf den Grund zu gehen. Aber vielleicht wartete er auch einfach nur auf eine bessere Gelegenheit. Die Ergänzung um einen Zusatzcode, der bewirken sollte, sie außerhalb dieses Sternensystems zu töten, war besonders beunruhigend, wenn sie sich eines von Drakons Argumenten ins Gedächtnis rief, das zur Sprache gekommen war, als sie sich über diese Mission unterhalten hatten. Wenigstens sorgte der Einsatz von Marphissa dafür, dass Iceni vorab informiert werden würde, sollte ein Attentat angeordnet werden, solange sie sich auf dem Kriegsschiff aufhielt.

Natürlich immer vorausgesetzt, dass Marphissa nicht längst die Seiten gewechselt hatte und tatsächlich ein Attentat auf sie verüben würde. Icenis Tod würde eine sehr große Lücke auf einem Posten hinterlassen, der deutlich höher angesiedelt war als Marphissas momentaner Rang, den sie aber für sich würde beanspruchen können, da sie die Kontrolle über die mobilen Streitkräfte hatte und damit am längeren Hebel saß. Es war eine heikle, verzwickte und vor allem verwirrende Sache. Iceni wollte nicht den Befehl geben, Marphissa zu töten. Die Frau hatte sich als eine sehr fähige Untergebene erwiesen, und manchmal bereitete es Iceni Kopfschmerzen, sich mit solchen Dingen befassen zu müssen. »Geben Sie mir sofort Bescheid, wenn Sie wieder von General Drakons Kontaktperson hören.«

»Ja, Madam Präsidentin.«

»Was ist mit Colonel Rogero? Irgendwelche Probleme?« Rogero war der ideale Reserve-Attentäter für den Fall, dass Drakon Icenis Ermordung anordnete und Marphissa aus welchen Gründen auch immer versagte. Er war ein erfahrener Soldat, er stand loyal zu Drakon, und er hatte Zugriff auf ein Team von Spezialisten, das ihm den Rücken freihalten konnte. Außerdem hatte Drakon das perfekte Druckmittel in der Hand, das er auch gegen Rogero einsetzen konnte.

»Keine Probleme«, beharrte Marphissa. »Er hat eines dieser Quartiere, die früher von den Schlangen benutzt wurden, und da bleibt er wohl auch. Ich habe meine Offiziere trotzdem angewiesen, ihn zu beobachten. Außerdem sagen mir die Schiffssysteme, wo er sich gerade aufhält. Jedes Mal, wenn ich mich mit ihm unterhalte, ist er ziemlich kurz angebunden. Ich glaube nicht, dass er etwas für Befehlshaberinnen von Einheiten der mobilen Streitkräfte übrig hat.«

Iceni konnte sich gerade noch ein Lächeln verkneifen. Sein Problem ist, dass er für eine bestimmte Befehlshaberin einer Einheit der mobilen Streitkräfte sogar zu viel übrig hat, und dass sie die Befehlshaberin einer feindlichen Einheit ist. Würden Sie mich töten, Colonel Rogero, wenn Drakon es befehlen und gleichzeitig damit drohen würde, es jedem zu sagen, sollten Sie seinen Befehl nicht befolgen? »Behalten Sie Colonel Rogero sehr gut im Auge.«

»Die Schiffssysteme werden Sie automatisch darauf aufmerksam machen, wenn er sich Ihnen auf weniger als zehn Meter nähert«, erklärte Marphissa.

»Hervorragend.« Bei einem so kleinen Schiff wie diesem Schweren Kreuzer würde so zwar womöglich viel zu oft ein Fehlalarm ausgelöst werden, aber wenn das tatsächlich der Fall sein sollte, konnte sie immer noch die Einstellungen ändern. »Da wäre noch eine andere Sache«, sagte sie und lächelte, um der Situation die Anspannung zu nehmen. »General Drakon hat vorgeschlagen, ob ich nicht die Bezeichnungen der Dienstgrade innerhalb der mobilen Streitkräfte ändern möchte. Das würde unseren Bruch mit dem gescheiterten System der Syndikat-Regierung unterstreichen.«

Marphissa nickte zustimmend. »Niemand kann sich hier für die Kommandostruktur des Syndikats begeistern. Wir sind keine Angestellten in einem Büro, wir sind die mobilen Streitkräfte.«

»Ganz genau. Ich möchte nicht die gleichen Titel verwenden, die Drakon für seine Bodenstreitkräfte ausgewählt hat. Es sind schließlich keine Bodenstreitkräfte.«

Abermals nickte Marphissa, diesmal noch nachdrücklicher.

»Ich habe nach Dienstgraden aus früheren Zeiten gesucht, aber es soll nicht das Gleiche sein, was heute in der Allianz-Flotte Verwendung findet«, redete Iceni weiter. »Ich glaube, das sollten wir ebenfalls vermeiden.«

Wieder ein Nicken, abermals energischer als zuvor. »Wir sind kein … Anhängsel der Allianz-Flotte.«

»Das sehe ich auch so. Eines Tages … na ja, hier.« Iceni rief eine Datei auf und drehte das über ihrem Schreibtisch schwebende Display so, dass Marphissa den Text lesen konnte. »Das sind Dienstgrade in einer Struktur, wie sie früher einmal in einem Teil der Syndikatwelten verwendet wurde, bevor alle Streitkräfte unter einem einzigen System zusammengeführt wurden.«

Marphissa sah Iceni ungläubig an. »Es gab mal Zeiten, in denen die Syndikatwelten lokale Variationen zuließen?«

»Kaum zu glauben, aber wahr. Allerdings ist das auch über hundertfünfzig Jahre her. Es handelte sich um Sternensysteme, die erst kurz zuvor von den Syndikatwelten geschluckt worden waren und noch eine Weile ihre Individualität wahren konnten.« Von »geschluckt« zu reden, war dabei noch freundlich, denn in Wahrheit war es eine Eroberung ohne Schlacht gewesen, als eine kleine Gruppe von Sternensystemen zwischen den Territorien von Syndikat und Allianz so dumm gewesen war zu glauben, sie könnte zu beiden Mächten auf Abstand bleiben. Neutrale Systeme waren in jener Zeit wie reife Früchte gewesen, die jeder gern pflücken wollte. Da die Allianz Kämpfe nach Möglichkeit hatte vermeiden wollen, waren diese Systeme von den Syndikatwelten einverleibt worden. Hätten die idiotischen Führer der Syndikatwelten nicht die Allianz angegriffen, wäre es ihnen auf lange Sicht vermutlich gelungen, auf diese Weise kleinere Koalitionen wie die Rift-Föderation oder die Callas-Republik genauso zu vereinnahmen. Stattdessen hatten die beiden sich während des Krieges auf die Seite der Allianz geschlagen. Was soll jetzt nur aus ihrer angeblichen Unabhängigkeit werden?, überlegte Iceni. Wird die Allianz sie ganz formal übernehmen? Ganz sicher wird man ihnen nicht gestatten, dass sie ihre vollständige Selbstständigkeit zurückerlangen. Ich sollte Black Jack danach fragen, wenn er mit seiner Flotte zurückkehrt. Er muss derjenige sein, der jetzt solche Entscheidungen trifft.

Mit dem Zeigefinger deutete sie auf verschiedene Bereiche des Displays. »Als Flottenbefehlshaberin werden Sie dann Kommodor Marphissa sein. Abhängig von ihrem Dienstalter wird aus den Sub-CEOs und Executives der Kapitan ersten, zweiten oder dritten Grades. Die unteren Executives und Sub-Executives verändern sich dann in Kapitan-Leytenant, Leytenant und Leytenant zweiten Grades. Diejenigen mit dem niedrigsten Dienstalter werden dann die Schiffsoffiziere sein.«

»Ich glaube, diese Veränderung wird auf breite Zustimmung stoßen«, fand Marphissa. »Es ist gut, dass nichts davon den Begriffen der Allianz entspricht und dass es sich auch von der Struktur unterscheidet, die General Drakon für seine Leute gewählt hat. Den mobilen Streitkräften … ich wollte sagen: Den Kriegsschiffen wird es gefallen, sich unterscheiden zu können.«

»Ist irgendetwas an dieser neuen Struktur unklar?«, fragte Iceni.

»Gibt es keinen Dienstgrad über dem Kommodor?«

Iceni musste lachen. »Darüber machen Sie sich jetzt schon Gedanken? Ja, den gibt es. Den Atmiral.«

»Atmiral«, wiederholte Marphissa leise, als wollte sie diesen Titel schon mal üben.

»Wir brauchen erst noch einige Kriegsschiffe mehr, bevor wir einen Atmiral benötigen, Kommodor.«

Sie waren noch dreißig Lichtminuten vom Sprungpunkt nach Kane entfernt. Iceni saß auf ihrem Platz auf der Brücke des Schweren Kreuzers und wandte sich zu Marphissa um. »Kommodor, lassen Sie die Flotte Kurs nehmen auf den Sprungpunkt nach Kane. Befehlen Sie allen Einheiten, beim Eintreffen in Kane zum sofortigen Handeln bereit zu sein.«

»Kane?«, fragte Marphissa verdutzt. Sie hatte offensichtlich fest mit Taroa gerechnet. »Gibt es eine Einschätzung, was uns dort erwarten könnte?«

»Ich werde Sie davon in Kenntnis setzen, sobald wir im Sprungraum sind.«

Bis dahin waren es noch fünf Stunden bei 0,1 Licht. Iceni verbrachte die Zeit auf der Brücke und beobachtete ihr Display, auf dem die Kriegsschiffe trotz einer Geschwindigkeit von dreißigtausend Kilometern in der Sekunde die gewaltigen Strecken innerhalb des Sternensystems nur im Schneckentempo zurücklegten. Bei der gleichen Geschwindigkeit würde eine Reise bis zum nächstgelegenen Stern Laka fast fünfundzwanzig Jahre dauern.

Die altbewährte Sprungtechnologie würde aber dafür sorgen, dass die Flotte Kane in gut sechs Tagen erreichte. Die Schiffe nahmen eine Abkürzung durch eine Dimension, in der diese Strecken erheblich kürzer waren, auch wenn man über den Sprungraum an sich noch immer erschreckend wenig wusste.

Als sie sich schließlich dicht vor dem Sprungpunkt befanden, fragte Marphissa: »Erlaubnis, mit dem Sprung nach Kane fortzufahren?«

»Erlaubnis erteilt. Alle Einheiten befinden sich in Gefechtsbereitschaft, wenn wir bei Kane den Sprungraum verlassen.«

»Ja, Madam Präsidentin.« Marphissa gab den Befehl an die übrigen Kriegsschiffe weiter, dann ordnete sie den Sprung an.

Iceni verspürte das übliche sonderbare Gefühl, das sich einstellte, wenn das endlose Sternenmeer in der schwarzen Ewigkeit des Alls von dem monotonen, matten Nichts des Sprungraums ersetzt wurde. Auch wenn von Menschen gesteuerte Schiffe seit Jahrhunderten durch den Sprungraum reisten, war er noch nie richtig untersucht worden, da keine Methode zu seiner Erforschung bekannt war. Schiffe konnten auf den kurzen Strecken zwischen zwei Sprungpunkten nicht von ihrer Flugbahn abweichen, und die Sensoren erfassten nichts weiter als die graue Leere.

Und dann waren da noch die Lichter. Während Iceni auf ihr Display sah, zog eines der mysteriösen Lichter des Sprungraums vorüber. Niemand hatte bislang herausfinden können, was es mit diesen Lichtern auf sich hatte, wodurch sie verursacht wurden oder welche Bedeutung ihnen zukam. Natürlich gab es allerlei Gerüchte und Aberglauben. Wenn Iceni sich im Normalraum oder auf einem Planeten aufhielt, dann amüsierte sie sich insgeheim über diejenigen, die die Lichter für Zeichen irgendeiner immens überlegenen Macht hielten, die die Menschen beobachtete. Aber wenn sie selbst im Sprungraum unterwegs war, in dieser Region, in der die Menschen nichts verloren hatten, dann verspürte Iceni einen eisigen Schauer, sobald sie ein Licht sah. Dann kam es ihr vor, als würde sie etwas anschauen, das der menschliche Geist einfach nicht begreifen konnte. In diesen Momenten kamen ihr die alten Geschichten ihres Vaters über die lebenden Sterne mit einem Mal viel eindringlicher vor.

Es war im Sprungraum auch nicht möglich, Nachrichten zwischen Kriegsschiffen auszutauschen. Ebenso konnte man keinen Kontakt zum Normalraum herstellen. Was andererseits den Vorteil barg, dass Geheimnisse auch nicht verraten werden konnten. »Kommodor, es wird Zeit, unsere Mission zu besprechen.«

Kommodor Marphissa nahm Icenis Ausführungen mit professioneller Gelassenheit zur Kenntnis. »Ein Schlachtschiff, sagen Sie?«

»Ja.«

Marphissa machte eine unschlüssige Geste. »Das dürfte … interessant werden.«

»Ja«, antwortete Iceni erneut und hoffte insgeheim, dass es nicht zu interessant wurde.

Sechs Tage später befand sich der Schwere Kreuzer in voller Gefechtsbereitschaft, und Marphissa machte einen sehr entschlossenen Eindruck, während sich die Flotte zum Verlassen des Sprungraums bei Kane bereit machte. »Wenn das Schlachtschiff einsatzbereit ist und sich in der Nähe des Sprungpunkts aufhält, dann wird der Kampf nur von kurzer Dauer sein«, sagte sie an Iceni gewandt.

»Sind Sie bereit, das herauszufinden, Kommodor?«, fragte Iceni und versuchte, völlig selbstsicher zu erscheinen.

»Ja, Madam Präsidentin.«

Das graue Nichts des Sprungraums wurde durch die Sterne inmitten der endlosen Schwärze ersetzt, und Iceni hatte wie immer Mühe, die Auswirkung dieses Vorgangs auf ihren Körper unter Kontrolle zu halten, damit sie sich ganz auf ihr Display konzentrieren konnte, um herauszufinden, was sie bei Kane erwartete.

Загрузка...