Vier

»Fünfzehn Minuten bis zum Kontakt mit CEO Kolanis Streitmacht.«

Iceni saß da und beobachtete ihr Display, während sie überlegte, wie sie ihren Plan zeitlich so umsetzen konnte, dass er auch funktionierte. In ihre Gedanken vertieft stieß sie immer wieder auf Hindernisse, ganz gleich in welche Richtung sie ihre Idee entwickelte.

»Zehn Minuten bis zum Kontakt.«

Bei einer kombinierten Annäherungsgeschwindigkeit von 0,2 Licht schrumpften selbst große Entfernungen manchmal viel zu schnell zusammen. Iceni wusste, wie rasend schnell diese zehn Minuten vergehen würden, während sie nach einer Lösung suchte. In den Aufzeichnungen, die sie sich angesehen hatte, schien es, als habe Black Jack eine Art Instinkt, wann er welche Aktion in die Wege leiten musste. Iceni besaß aber weder diesen Instinkt noch genügend Erfahrung, um einschätzen zu können, wann was zu tun war. Aber aus einigen Berichten ergab sich auch der Eindruck, dass Black Jack über eine Gruppe von Offizieren verfügte, die ihn unterstützten. Offiziere wie diese Befehlshaberin des Schlachtkreuzers, den er zu seinem Flaggschiff gemacht hatte. Aber Iceni hatte keine solche …

Plötzlich erinnerte sie sich an eine Bemerkung, die erst vor Kurzem gefallen war. Sie werden auf der Brücke nicht allein sein. Marphissa. War sie gut genug, um ihr zu helfen? Akiri kam ganz eindeutig nicht dafür infrage. Aber vielleicht könnte die Executive ja etwas für sie tun. »Executive Marphissa, private Besprechung.«

Akiri ließ Sorge und Eifersucht erkennen, als Marphissa zu Iceni eilte und schweigend abwartete, bis die Privatsphäre um den Platz herum aktiviert war. »Ich möchte Folgendes machen. Können Sie den zeitlichen Ablauf für dieses Manöver festlegen?« Während Iceni ihr Vorhaben schilderte, riss Marphissa zunächst überrascht die Augen auf und kniff sie gleich darauf nachdenklich zusammen.

»Ja, das kann ich«, erwiderte sie schließlich.

War Selbstüberschätzung die Grundlage für ihre Antwort? Oder war es ein sorgfältig überlegtes Urteil? »Ganz sicher?«

»Nicht mit absoluter Gewissheit, Madam CEO. Aber ich bin mir dennoch sicher, es erledigen zu können.«

»Gibt es jemanden an Bord dieses Kreuzers, bei dem Sie glauben, dass er besser geeignet wäre?«

»Nicht dass ich wüsste.«

»Dann werden Sie das Manöver durchführen, und Sie werden den Zeitpunkt bestimmen, wann es am besten durchgeführt wird«, wies Iceni sie an. »Ohne es allgemein zu verkünden, werde ich Ihnen die Steuerkontrolle über den Kreuzer übertragen, wenn wir noch eine Minute bis zum Kontakt haben. Ich kümmere mich um die Zielerfassung aller mobilen … aller Kriegsschiffe, die zu uns gehören.«

»Ja, Madam CEO. Ich habe verstanden und werde gehorchen.«

Marphissa kehrte an ihren Platz zurück, während Akiri das Ganze mit sichtlich gemischten Gefühlen verfolgte. Aber jeder Supervisor hatte Grund zur Sorge, wenn sich ein CEO mit einem Untergebenen in einer Privatsphäre unterhielt, da Beförderungen und Degradierungen oft nur davon abhingen, wie ein CEO gelaunt war.

»Fünf Minuten bis zum Kontakt.«

Alle Waffensysteme auf den Schweren Kreuzern, den Leichten Kreuzern und den Jägern unterstanden Icenis Kontrolle. Es juckte ihr in den Fingern, die Zielprioritäten einzugeben, doch sie hielt sich zurück. Falls Kolani immer noch auf irgendeine Weise über das Komm-Netz mit diesen Einheiten verbunden war, könnte sie so Icenis Absichten durchschauen und ihren Plan vereiteln.

Akiri und die Manager auf der Brücke taten alle so, als würden sie sie nicht beobachten, doch Akiris Nervosität war auch jetzt wieder nicht zu übersehen. »Madam CEO«, sagte er schließlich. »Wir benötigen für die Zielerfassung der Gefechtssysteme immer noch die Befehle zur Priorität.«

»Und Sie werden sie auch bekommen«, gab Iceni zurück und wunderte sich, wie ruhig und gelassen sich ihre Stimme anhörte.

»Drei Minuten bis zum Kontakt.«

Gut fünfeinhalb Millionen Kilometer trennten die beiden, mit einer kombinierten Geschwindigkeit von sechzigtausend Kilometern pro Sekunde aufeinander zurasenden Streitkräfte in diesem Moment. Iceni schüttelte den Kopf, während sie versuchte, sich solche Entfernungen und Geschwindigkeiten vorzustellen. Sie kam zu dem Schluss, dass sie dazu nicht in der Lage war. Aber vielleicht erging es Black Jack ja genauso. In einer solchen Situation konnte ein Mensch nur den Maßstab des Displays so einstellen, dass diese beiden Faktoren in ein Verhältnis zueinander gestellt wurden, mit dem der menschliche Verstand etwas anfangen konnte.

»Zwei Minuten bis zum Kontakt.«

Sorgfältig gab Iceni die Zielprioritäten ein, hielt inne, um gleich dreimal zu überprüfen, ob auch tatsächlich alles so war, wie es sein sollte. Dann schickte sie diese Daten an die Gefechtssysteme aller mobilen Streitkräfte unter ihrem Kommando.

Sekundenlang war Akiri darüber erleichtert, dass die Befehle endlich auf seinem Display angezeigt wurden, aber dann zuckte er überrascht zusammen. »Was ist …?«

Doch Iceni gab bereits den Befehl ein, mit dem die Steuerkontrolle auf Marphissa übertragen wurde. Die nickte knapp, um ihr anzuzeigen, dass sie bereit war.

»Eine Minute bis zum Kontakt.«

Iceni atmete tief durch, dann betätigte sie das Komm-Band. »Für das Volk«, übermittelte sie an jeden in ihrer Flotte. Vielleicht konnte dieser alte Spruch, der jegliche Bedeutung verloren zu haben schien, ihren Gefolgsleuten in diesem Moment Mut machen.

Marphissa saß vor Konzentration wie erstarrt da und sah auf ihr Display, während die Hand über den Kontrollen schwebte.

Akiri drehte sich verständnislos zu Iceni um. »Madam CEO, die Streitmacht von CEO Kolani wird ihren Beschuss auf unseren Kreuzer konzentrieren.«

»Möglicherweise befindet sich unser Kreuzer dann aber nicht mehr an der Stelle, an der CEO Kolanis Streitmacht ihn erwartet«, entgegnete sie.

»CEO Kolanis Streitmacht eröffnet das Feuer«, meldete der Ablauf-Manager.

Ein weiterer nervöser Seitenblick von Akiri, aber Iceni schüttelte den Kopf. »Wir feuern nur, wenn wir uns verteidigen müssen.«

Die letzten Sekunden bis zum Kontakt vergingen rasend schnell. Höllenspeer-Partikelstrahlen schossen aus den Kriegsschiffen unter Icenis Kommando hervor und zielten auf die gegnerischen Raketen, die fast vollständig lange vor ihrem Ziel detonierten, als sie von den Höllenspeeren getroffen wurden. Weitere Geschosse fielen einem Sperrfeuer aus Kartätschen zum Opfer, metallenen Kugeln, die nach dem Prinzip von kinetischer Energie und Masse erhebliche Schäden anrichten konnten. Icenis Kreuzer wurde durchgeschüttelt, als seine Schilde von ein paar Raketen getroffen wurden, die trotz allem durchgekommen waren und gefährliche Schwachstellen hervorriefen.

Gleich darauf spürte Iceni die Wirkung der Fliehkräfte, da Marphissa in der letzten Sekunde die Steuerbefehle aktivierte. Das Summen der Trägheitsdämpfer, das normalerweise zu tief war, um vom menschlichen Ohr wahrgenommen zu werden, steigerte sich zu einem lauten Heulen, da die Systeme bis an die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit getrieben wurden.

Der Kreuzer schoss nach oben und kämpfte gegen die Flugrichtung an, der er seit über einer halben Stunde gefolgt war.

Dicht unterhalb des Kreuzers jagten die beiden Streitkräfte so schnell aneinander vorbei, dass das menschliche Auge nicht in der Lage war, den Moment der maximalen Annäherung der Schiffe untereinander zu erfassen. Icenis Kreuzer hatte im letzten Moment noch ein paar Raketen abgefeuert, und das Gleiche machten auch ihre übrigen Kriegsschiffe.

Keine dieser Waffen war jedoch auf den Kreuzer ausgerichtet, auf dem sich Kolani befand. Stattdessen konzentrierten sich alle Raketen und alle Höllenspeere auf das Heck des anderen Kreuzers ihrer Streitmacht. Die C-818 erzitterte, als zahlreiche Treffer die Achterschilde ausschalteten und die nächsten Geschosse sich in die Hauptantriebseinheiten bohrten.

Das Sperrfeuer aus Höllenspeeren und Kartätschen, das auf die Stelle gerichtet worden war, an der sich Icenis Kreuzer hätte befinden müssen, verpuffte nahezu wirkungslos, wenn man von ein paar Streifschüssen absah, die über die Schilde des ausweichenden Schweren Kreuzers strichen.

»C-818 hat sämtliche Antriebseinheiten verloren«, rief der Ablauf-Manager. »Das Schiff ist nicht länger manövrierfähig!«

Iceni lächelte zufrieden. »Da CEO Kolani damit nur noch über einen Schweren Kreuzer verfügt, stehen unsere Chancen beim nächsten Vorbeiflug schon deutlich besser.«

»Aber …« Akiri saß da und schüttelte den Kopf, da er noch zu begreifen versuchte, was da soeben geschehen war. »CEO Kolani könnte jetzt aber die Flucht antreten und jede weitere Kampfhandlung vermeiden.«

»Das wäre sicher das Vernünftigste«, stimmte sie ihm zu. »Aber Sie kennen CEO Kolanis Temperament. Sie denkt im Augenblick nicht vernünftig. Sie ist wütend und ist jetzt nur noch mehr als vor fünf Minuten darauf aus, mich zu töten. Abgesehen davon wäre die Rückkehr nach Prime mit nur einem Schweren Kreuzer Grund genug, sie wegen Inkompetenz vor ein Erschießungskommando zu stellen. Nein, sie wird wieder angreifen.«

Auf ihrem Display war zu sehen, wie die manövrierunfähig geschossene C-818 auf ihrem letzten Vektor weiterkroch, während der Rest von Kolanis Formation eine möglichst enge Kurve flog, die angesichts der hohen Geschwindigkeit aber trotzdem sehr ausladend ausfiel. Dennoch war schon jetzt zu erkennen, dass Kolani es auf eine neuerliche Konfrontation anlegte.

»An alle Einheiten: Drehen Sie eins eins null Grad nach oben.« Iceni holte den Rest ihrer eigenen Streitmacht zurück zu ihrem Kreuzer und flog dann die Kehre weiter, ohne ihre Schiffe einer ähnlichen Belastung auszusetzen, wie Kolani es ihrer Flotte zumutete. »Sie wird schon zu uns zurückkommen«, sagte sie und ließ ihre Schiffe stabilisieren.

Entsprechend der Standardvereinbarungen für Steuerbefehle in einem Sternensystem bedeutete oben alles, was sich oberhalb jener Ebene abspielte, auf der die Planeten um ihren Stern kreisten. Unten bezeichnete folglich alles unterhalb dieser Ebene. Backbord stand für eine Drehung weg vom Stern, Steuerbord damit in die entgegengesetzte Richtung. Diese Konventionen waren in einer Umgebung ohne echtes Oben und Unten die einzige Möglichkeit, Richtungsangaben zu verstehen, die von einem anderen Schiff übermittelt wurden. Für einen Beobachter auf einem Planeten hätte es so ausgesehen, als hätten sich die Schiffe so weit nach oben bewegt, dass sie die Vertikale verlassen hatten und kopfüber weiter über die Ebene des Sternensystems hinwegflogen. Kolanis Streitmacht hatte genau das Gleiche getan, sodass die Flugbahnen der beiden Flotten sich in einem Winkel annäherten, als wollten sie zwei Seiten eines Dreiecks vervollständigen, dessen Basis die ursprüngliche Flugbahn der Kriegsschiffe vor ihrer ersten Begegnung darstellte.

»Diesmal«, sagte Iceni, »werden wir das gesamte Feuer auf CEO Kolanis Kreuzer konzentrieren.« Es konnte geschehen, dass der Kreuzer C-990 dabei zerstört wurde, doch bestand nach wie vor die Gefahr, dass Kolani aus Verzweiflung über eine wahrscheinliche Niederlage den Planeten zu bombardieren begann. Das musste um jeden Preis verhindert werden, selbst wenn es die Zerstörung eines Schweren Kreuzers bedeutete, den Iceni lieber nicht verlieren wollte.

»Madam CEO«, sagte der Komm-Manager, »wir empfangen Übertragungen vom Planeten, die Sie interessieren dürften.«

»Hat General Drakon noch die Kontrolle über den Planeten?«

»Ja.«

»Dann befasse ich mich damit, wenn wir mit CEO Kolani fertig sind.«

Das würde nicht annähernd so lange dauern wie beim ersten Anlauf, da die beiden Flotten wieder aufeinander zurasten. Akiri schien sich mit dem Schaden abgefunden zu haben, den seine Einheit erleiden mochte. Marphissa machte einen sehr selbstzufriedenen Eindruck, versuchte aber, das nicht allzu offen zu zeigen.

Als der nächste Kontakt nur noch zwanzig Sekunden entfernt war, leuchtete ein Alarmsymbol auf Icenis Display auf, da mit einem Mal zwei der drei Leichten Kreuzer und drei der vier Jäger aus Kolanis Streitmacht ausscherten und sich von den restlichen Kriegsschiffen entfernten. Ein Trick, um in letzter Sekunde Icenis Pläne zu durchkreuzen?

»Sie weichen dem Kontakt mit uns aus«, meldete Marphissa. »Sie gehen auf Abstand zu Kolani.«

Iceni blieb gerade genug Zeit, um bestätigend zu nicken, dann rasten die verbliebenen Kriegsschiffe auch schon aneinander vorbei. Alle noch verbliebenen Einheiten von Kolanis Flotte hatten ihr Feuer auf Icenis Kreuzer konzentriert, allerdings beschränkte sich das nun lediglich auf einen Schweren Kreuzer, einen Leichten Kreuzer und einen Jäger. Auf Icenis Seite fanden sich dagegen drei Schwere Kreuzer, ein Leichter Kreuzer und vier Jäger, die alle ihre Waffen auf Kolanis Flaggschiff ausgerichtet hatten.

Im nächsten Moment entfernten sich beide Flotten schon wieder voneinander. Von den erlittenen Treffern lief noch immer ein Zittern durch Icenis Kreuzer C-448, da meldeten die Sensoren den Status von Kolanis Kreuzer. Die C-990 hatte schwere Schläge einstecken müssen und trudelte durchs All, da ihre Steuersysteme ausgefallen waren. Der Bug war völlig zerstört, und an etlichen Stellen war die Hülle durchschlagen worden, was zu erheblichen inneren Beschädigungen geführt hatte. »Versuchen Sie Kontakt zur C-990 aufzunehmen«, befahl Iceni.

»Wir könnten das Schiff erledigen«, gab Marphissa zu bedenken. »Die Schilde sind komplett ausgefallen.«

»Nein.« Die Brückencrew beobachtete sie und wunderte sich zweifellos über eine CEO, die einen Anflug von Gnade erkennen ließ. Iceni schob das Kinn vor und setzte eine versteinerte Miene auf, woraufhin sich jeder schnell wieder seinen Aufgaben widmete. »Wenn möglich, möchte ich dieses Schiff bergen und reparieren. Wir brauchen jedes Schiff, das wir kriegen können.« So. Das klang nach einer schönen, pragmatischen Rechtfertigung, um nicht die hilflose Crew der C-990 abschlachten zu müssen. »Und fordern Sie die restlichen Einheiten von CEO Kolani zur Kapitulation auf.«

Die Schiffe, die bei Kolani geblieben waren, und die, die sich kurz vor dem zweiten Aufeinandertreffen abgesetzt hatten, erklärten nach unterschiedlich langen Pausen ihre Bereitschaft, Icenis Autorität anzuerkennen. Diese zeitlichen Differenzen mochten ein Hinweis darauf sein, wie lange es jeweils gedauert hatte, die an Bord befindlichen Schlangen zu eliminieren. Als Letzte meldete sich der beim ersten Aufeinandertreffen angeschlagene Schwere Kreuzer C-818, deren Executive Icenis Autorität ebenfalls anerkannte und mitteilte: »Ich muss bedauerlicherweise vom Tod unseres ehemaligen Befehlshabers Sub-CEO Krasny berichten, der sich beim Aufeinandertreffen unserer Flotten ereignet hat.«

Akiri stutzte. »Wie kann Krasny ums Leben kommen, wenn die Antriebseinheiten seines Kreuzers zerschossen werden?«

»Vermutlich ein unglücklicher Unfall«, sagte Iceni.

Marphissa warf ihr daraufhin einen Blick zu, der verriet, dass sie beide das Gleiche dachten: dass Krasny sich nicht hatte ergeben wollen und dass seine Untergebenen die Sache daraufhin selbst in die Hand genommen hatten. Da Marphissa es im Gegensatz zu Akiri aber verstand, Diskretion zu wahren, sprach sie das nicht laut aus. Es war einfach nicht nötig, die Besatzungen dieser Kriegsschiffe auf Ideen zu bringen, wie sie sich der Senior Executives und der CEOs ihrer eigenen Einheiten entledigen konnten.

Der Komm-Manager seufzte frustriert. »Wir können von der C-990 kein Signal empfangen. Womöglich sind deren Komm-Systeme ausgefallen. Könnte sein, dass wir ein Shuttle rüberschicken müssen.«

»Die Komm-Systeme mögen vielleicht ausgefallen sein, aber es wird ja nicht auch die gesamte Crew tot oder bewusstlos sein«, wandte Marphissa ein. »Jemand hätte inzwischen zu einer Luftschleuse gelangen müssen, um sich mit Lichtzeichen bemerkbar zu machen.«

»Eine Rettungskapsel hat soeben die C-990 verlassen«, meldete der Ablauf-Manager. »Und noch eine.«

»Nur zwei?«, murmelte Akiri.

Marphissa deutete auf das Schiff. »Wir könnten nahe genug heranfliegen, um ein Team rüberzuschicken und die Kontrolle zu übernehmen.«

»Madam CEO«, warf Akiri hastig ein. »Davon möchte ich abraten. Irgendetwas stimmt nicht mit der C-990. Würde CEO Kolani noch leben und das Kommando über das Schiff haben, dann hätte sie sich längst bei uns gemeldet, und sei es nur, um uns weiter zu drohen. Sie könnte genauso gut versuchen, alle Projektile auf den Planeten abzufeuern. Aber es geschieht rein gar nichts.«

»Aber wenn CEO Kolani tot oder gefangen genommen worden wäre, dann hätte die Besatzung inzwischen auch längst Kontakt mit uns aufnehmen können«, hielt Marphissa dagegen.

»Richtig. Deshalb stimmt da was nicht. Ich kann nur empfehlen, der C-990 lediglich so nahe zu kommen, dass wir uns im Fall einer Überladung des Antriebs nicht im Gefahrenbereich aufhalten.«

Iceni sah ihn einen Moment lang an, dann machte sie eine zustimmende Geste. »Ich halte das für eine überlegte Vorgehensweise. Wir können nicht ausschließen, dass es zu einer Überladung kommt, zumal die absichtlich von einzelnen Crewmitgliedern herbeigeführt werden könnte. Wir gehen näher ran, aber bleiben außerhalb des potenziellen Radius einer Explosion und schicken eine unbemannte Sonde rüber. Dann werden wir ja sehen, was da drüben los ist.«

»Also gut«, sagte Drakon schließlich laut und deutlich, woraufhin Malin und Morgan aufhörten, sich gegenseitig anzugiften. Sie wussten: Wenn er zu diesem Tonfall griff, sollten sie ihm besser zuhören. »Wir wären zwar in der Lage, diese Mengen mit Waffengewalt in Schach zu halten, aber das stellt immer nur eine kurzfristige Lösung dar. Diese Lektion haben wir bereits auf besetzten Allianz-Planeten gelernt, wenn wir versucht haben, auf diese Weise die Ordnung aufrechtzuerhalten. Ich brauche aber eine langfristige Lösung, und die bedeutet, dass die Mehrheit dieser Bürger unsere Verbündeten bei der Wahrung der öffentlichen Ordnung sein müssen.«

Er sah Rogero, Kai und Gaiene an. »Ich werde den gleichen Befehl an jeden Befehlshaber der Bodenstreitkräfte auf dem Planeten senden. Sie nehmen Kontakt mit der örtlichen Polizei auf und weisen diese Leute an, den Hintern hochzukriegen und ihre Wachen zu verlassen, um auf der Straße ihren Dienst zu verrichten. Sagen Sie ihnen, dass wir sie unterstützen werden und dass wir nicht vorhaben, sie zu bedrohen. Schicken Sie ihnen unsere Leute in Zugstärke, nicht bloß in Truppstärke. Ich betone: Zugstärke. Wir müssen sicherstellen, dass Sub-Executives den Befehl über die Einheiten haben, keine Senior-Manager. Sagen Sie der Polizei, ich werde andere Maßnahmen ergreifen, um den Mob in den Griff zu bekommen, aber wir brauchen die Polizisten nach wie vor auf der Straße, weil sich an ihren Jobs nichts geändert hat.«

»Was ist mit unseren eigenen Soldaten?«, wollte Colonel Gaiene wissen. »Die Disziplin steht auf sehr wackligen Beinen, vor allem in den lokalen Einheiten.« Nach außen hin stellte Gaiene üblicherweise eine gänzlich unbekümmerte Haltung zur Schau, weshalb der besorgte Tonfall, den er jetzt an den Tag legte, umso deutlicher machte, dass es sich tatsächlich um ein gravierendes Problem handelte.

»Stellen Sie den lokalen Einheiten Züge mit unseren Leuten zur Seite und geben Sie die Anweisung aus, dass jeder Soldat erschossen wird, der sich weigert, seine Befehle auszuführen. Noch Fragen?«

»Die lokalen Behörden, Sir«, meldete sich Kai zu Wort. »Was sollen wir mit denen machen?«

»Die werden von mir ihre Befehle erhalten. Sollte es zu Problemen kommen, weil sie nicht tun wollen, was ihnen gesagt wird, dann werde ich Sie informieren, damit Sie ein paar Leute hinschicken können. Das sollen die örtlichen Soldaten übernehmen, da die keinerlei Sympathien für die Herrschaften hegen, die man ihnen vor die Nase gesetzt hat.«

»Und was ist mit den Unterkünften der Schlangen?«, fragte Rogero. »Wir haben die Schlangen einkassiert, die noch zu Hause waren, aber da sind auch noch ihre Familien. Früher oder später werden sich Bürger auf den Weg zu diesen Unterkünften machen, und Sie können sich vorstellen, was die mit diesen Familien anstellen werden.«

»Das Gleiche, was die Schlangen jahrzehntelang mit den Familien anderer Leute angestellt haben«, warf Gaiene ein. »Ich werde keine Träne vergießen, wenn die Bürger sich an ihnen rächen sollten.«

Nach kurzem Zögern schüttelte Drakon den Kopf. »Wir sind nicht wie die Schlangen, und ich bin nicht wie Hardrad. Stellen Sie vor den Unterkünften Wachen auf, und zwar eine ausreichende Zahl, um einen Mob zur Umkehr bewegen zu können. Und achten Sie darauf, dass sich diese Wachen aus unseren Leuten rekrutieren, nicht aus lokalen Einheiten.«

»Wir sind so schon ziemlich dünn gesät«, gab Kai zu bedenken. »Wir alle haben Kinder sterben sehen, Sir. Es ist zwar hässlich, aber …«

»Ich weiß. Wir haben beim Kampf gegen die Allianz-Welten einige von ihnen getötet. Das war mir schon damals zuwider, aber da konnte ich nichts dagegen unternehmen. Jetzt kann ich es, und jetzt will ich nicht noch mehr tote Kinder sehen. Verstanden?« Alle drei Colonels nickten. »Gut, dann setzen Sie mal Ihre Leute und die Polizei in Bewegung.«

»Jawohl, Sir«, antworteten die drei, salutierten kurz, dann verschwanden ihre Bilder.

Morgan zuckte mit den Schultern. »Wenigstens haben Sie die Sache richtig gemacht, dass jeder erschossen wird, der einen Befehl nicht ausführt. Aber was den Mob ange-«

»Ich war noch nicht fertig«, ging Drakon dazwischen. »Wie viel ist vom Komm-Netz der Schlangen noch übrig? Also alle Einrichtungen, die sie für Ankündigungen und ihre Propaganda fürs Volk sowie für Befehle an die örtlichen Behörden benutzt haben.«

»Die Sachen sind noch intakt«, antwortete Malin grinsend. »Natürlich nicht die Kontrollknotenpunkte im Hauptquartier und in den Subsektoren. Die wurden alle zerstört. Aber wir haben die Relaispunkte eingenommen, also können wir die Software anpassen, um von improvisierten Knotenpunkten wieder zu senden.«

»Wie lange brauchen Sie?«

»Zehn Minuten.«

»Sie haben fünf.«

Letztlich dauerte es rund sechs Minuten, die Drakon nutzte, um die Befehle an die übrigen Bodentruppen auf dem Planeten weiterzuleiten, die denen entsprachen, die er schon Rogero, Kai und Gaiene erteilt hatte. Außerdem hatte er so ein wenig Zeit, um sich zu überlegen, was er den Massen sagen sollte, die überall auf dem Planeten von gekaperten ISD-Überwachungskameras gefilmt wurden. Schließlich wurde ihm bewusst, dass die Syndikatwelten mit ihrer eigenen Propaganda die perfekte Begründung längst geliefert hatten.

»Hier spricht General Drakon«, wandte er sich an die lokalen Regierungsvertreter. »Ich kontrolliere alle Bodentruppen auf diesem Planeten und arbeite eng mit CEO Iceni zusammen. Wir haben jetzt das Sagen. Alle lokalen Regierungsvertreter werden hiermit aufgefordert, nach draußen zu gehen und dafür zu sorgen, dass überall Ruhe einkehrt. Sie werden mithelfen, die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten. Sie werden den Bürgern erklären, dass wir uns aller Schlangen angenommen haben und dass von denen keinerlei Gefahr mehr droht. Und Sie werden dafür sorgen, dass die Feiern nicht außer Kontrolle geraten. Setzen Sie die örtliche Polizei ein, damit sie sicherstellt, dass auf der Stelle alle Spirituosenhandlungen, Bars und Apotheken geschlossen werden. Abteilungen der Bodenstreitkräfte werden Sie aufsuchen, um sich davon zu überzeugen, dass Sie diese Anweisungen befolgen. Und jetzt an die Arbeit.«

Malin schüttelte den Kopf. »Diese Leute wären viel nützlicher, wenn dies tatsächlich die Repräsentanten der Bürger in den einzelnen Vierteln wären. Wahlsoftware zu manipulieren, ist viel einfacher, als die Wähler unter Kontrolle zu halten.«

»Schalten Sie um, ich möchte jetzt zu allen Bürgern sprechen«, forderte Drakon ihn auf und wartete, während Malin die entsprechenden Programmbefehle eingab. Wenn er das nächste Mal ein Wort sagte, würde man seine Stimme aus jedem Telefon, jedem Videoschirm, Terminal, Lautsprecher und jedem anderen Gerät auf dem Planeten hören, das in der Lage war, Nachrichten zu empfangen.

»Bürger«, begann Drakon schließlich. »Ich spreche in meinem Namen und im Namen von CEO Iceni. Wir haben den ISD hier auf dem Planeten und überall in unserem Sternensystem eliminiert. Von nun an wird Midway ein unabhängiges Sternensystem sein. Wir werden nicht länger die Befehle der Syndikatwelten ausführen, die mit ihrer Art der Regierungsführung gescheitert sind. Auch wenn jeder von uns diesen besonderen Tag feiern will, dürfen wir darüber nicht vergessen, wie wichtig es ist, unser Heim, unsere Arbeitsstellen und unsere Familien zu beschützen. Ein Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung könnte sehr schnell zur Folge haben, dass man unser Heim und unsere Arbeitsstellen zerstört und unsere Familien tötet. Ich habe die Polizei angewiesen, auf den Straßen dafür zu sorgen, dass jeder vor denjenigen beschützt wird, die so gedankenlos und verantwortungslos sind, dass sie das Leben und die Sicherheit aller anderen Bürger in Gefahr bringen. Angesichts der Möglichkeit, dass sich noch ein paar Schlangen unter die Feiernden gemischt haben, um sich dort versteckt zu halten, habe ich zudem befohlen, dass die Polizei durch Bodentruppen unterstützt wird. Halten Sie sich immer vor Augen, dass jede Person, die zu Aktionen auffordert, die vielleicht zu Unruhen oder Plünderungen führen, ein ISD-Agent sein könnte, der es darauf anlegt, Ihr Leben in Gefahr zu bringen.«

Vielleicht würde das die Massen ja dazu bringen, sich gegen jeden zu wenden, der versuchte, sie zu irgendwelchen unüberlegten Handlungen zu bewegen.

»Feiern Sie unsere Unabhängigkeit, aber vergessen Sie nie die Feinde, die diese Unabhängigkeit in Gefahr bringen wollen.« Das war immer das Mantra der Syndikatwelten gewesen. Wecke die Angst vor Feinden von außen und aus den eigenen Reihen, wecke die Angst vor Durcheinander und Chaos, damit die Bürger dir treu folgen. »Auch wenn dies bislang vom ISD geheim gehalten worden ist, sollen Sie wissen, dass in einigen anderen, ehemals den Syndikatwelten eng verbundenen Sternensystemen Anarchie herrscht, die schon etliche Menschenleben gekostet hat. Ich werde nicht zulassen, dass es hier auch dazu kommt. Jeder Bürger hat den Anweisungen der Polizei und der Bodenstreitkräfte Folge zu leisten. Gegen friedliche Feiern hat niemand etwas einzuwenden, sie sind sogar zu befürworten. Aber wer Unruhe stiftet oder beim Plündern erwischt wird, der wird sofort erschossen. Es wird diesen Leuten nicht gestattet, ihre Mitbürger in Gefahr zu bringen oder sie zu berauben. Hier spricht General Drakon. Für das Volk. Ende.«

Diesmal kamen ihm die letzten Worte seiner Ansprache ganz besonders vor, obwohl er sie schon unzählige Male gesprochen und das ständige Wiederholen ihnen jede Ernsthaftigkeit genommen hatte. Diesmal war ihm nur zu bewusst, wie bedeutungslos dieses »Für das Volk« eigentlich geworden war. Wir haben das nicht für das Volk getan, sondern für uns selbst, weil wir überleben wollten.

Drakon drehte sich zu Malin und Morgan um. »Richten Sie ein Meldesystem ein, um eine Übersicht zu erhalten, was die automatischen Systeme uns zeigen. Ich muss wissen, ob die Massen irgendwo außer Kontrolle geraten.«

Morgan zuckte mit den Schultern. »Das können wir machen, aber was wollen Sie unternehmen, wenn Sie sehen, ob irgendwo ein Mob zu randalieren beginnt? Wollen Sie den Leuten dann noch mal streng ins Gewissen reden?«

»Dann werde ich die Verstärkung losschicken und so viele Randalierer erschießen lassen wie nötig, bis wieder Ruhe eingekehrt ist.« Das war auch etwas, das er hatte lernen müssen. Man tat, was notwendig war, ob es einem gefiel oder nicht. Vielleicht gab es auch noch andere Methoden, um außer Rand und Band geratene Menschenmengen unter Kontrolle zu bekommen, aber auf diese Methoden hatte er im Moment keinen Zugriff. »Ich werde nicht zulassen, dass die Menschen ihre eigene Welt in Schutt und Asche legen.«

Die optischen Sensoren an Bord des Schweren Kreuzers, auf dem sich Iceni befand, konnten es nicht mit denen eines Schlachtkreuzers oder eines Schlachtschiffs aufnehmen, dennoch waren sie immer noch leistungsfähig genug, um mühelos kleine Objekte aufzuspüren, die mehrere Lichtstunden entfernt waren. Jetzt waren sie der zusammengeschossenen C-990 so nah, dass die Sensoren nicht nur jedes Detail an der Oberfläche zeigten, sondern auch kurze Blicke in das Innere werfen konnten, wo Löcher in die Hülle gerissen worden waren.

Die Iceni treu ergebenen Truppen hatten beide Rettungskapseln bergen können, die fluchtartig aus der C-990 entkommen waren. Eine war leer gewesen, in der anderen fanden sich nur tote Crewmitglieder, auf die aus nächster Nähe geschossen worden war und die allem Anschein nach erst an Bord der Kapsel gestorben waren. Vom Kreuzer ging noch immer kein Lebenszeichen aus.

»Könnten die alle umgebracht haben?«, fragte Akiri von Übelkeit erfasst. »Also … dass sie alle einfach immer weiter und weiter gekämpft hatten, bis die ganze Crew tot war?«

»Es wäre denkbar«, gab Iceni zurück. »Wie lange noch, bis die automatische Sonde in den Kreuzer vordringt?«

»Drei Minuten. Der Anflug dauert länger, weil C-990 trudelt und die Sonde sich an diese Bewegungen anpassen muss, bevor sie in den Rumpf eindringen kann.«

Als die Sonde dann endlich durch einen der großen Risse in der Hülle in die C-990 hineinflog, waren zunächst nur zerstörte Konsolen und aufgerissene Schotte zu sehen. Dann kamen die ersten Leichen in Sichtweite.

»Die da wurden vom Beschuss mit Höllenspeeren getötet«, erklärte Marphissa. »Sie waren schon tot, noch bevor die Luft ins All entweichen konnte.«

Iceni nickte nur schweigend. Eine Fähigkeit, die wir alle gemeinsam haben, ist die, zu bestimmen, wie jemand gestorben ist. Zu viele Menschen, zu viel Erfahrung. Und es ist noch immer nicht vorbei.

Die Sonde flog an den Toten vorbei und steuerte auf die Brücke zu. »Überall Vakuum«, meldete die Sonden-Controllerin. »Keine Hinweise auf Bemühungen, die Löcher im Rumpf zu schließen, damit der Druck im Inneren erhalten bleibt. Diese Luke dort wurde geöffnet, als drinnen noch Druck herrschte. Sie ist aber nicht wegen unseres Beschusses aufgegangen.«

Die Leichen auf der anderen Seite der Luke unterstrichen ihre Aussage. »Lecks in den Schutzanzügen, verursacht durch Handfeuerwaffen.«

»Wie viele von ihnen waren die Angreifer, wie viele Verteidiger?«, wollte Akiri wissen.

»Das lässt sich nicht mehr feststellen.«

Iceni unterdrückte ein Schaudern, als sie sich ausmalte, welche Szenen sich an Bord dieses Schiffs abgespielt haben mussten. Die Crewmitglieder gehen aufeinander los, inmitten der Zerstörungen durch den Beschuss von Icenis Flotte. Keiner kann dem anderen ansehen, auf welcher Seite er steht, sodass jeder Schuss Freund und Feind gleichermaßen treffen kann. Das alles in flackernden Gängen und Quartieren, während um einen herum das Schiff in Stücke geschossen wird.

»Die letzten beiden Meuterer oder die letzten beiden Loyalisten könnten sich gegenseitig umgebracht haben, ohne zu ahnen, wen sie vor sich hatten und was sie da taten«, sprach Marphissa aus, was Iceni durch den Kopf gegangen war. »Wenn da noch jemand lebt, wird er am ehesten auf der Brücke oder im Maschinenraum zu finden sein.«

»Schicken Sie die Sonde zuerst auf die Brücke«, befahl Iceni. Dort hielt sich zweifellos Kolani auf.

Die Sonde bahnte sich ihren Weg durch die Gänge, wobei sie immer wieder Trümmerteilen und Leichen ausweichen musste. Das Innenleben des Kreuzers erinnerte Iceni zunehmend an einen Albtraum, der stellenweise von Notbeleuchtung in grelles Licht getaucht wurde. In anderen Abschnitten flackerte es nervös oder war ganz ausgefallen, sodass völlige Schwärze herrschte, aus der jeden Moment eine Hand mit verkrampften Fingern auftauchen konnte, die nach etwas zu greifen versuchte, was längst nicht mehr da war. Ein zerstörtes Schiff mit einer toten Besatzung, das wirkte, als sei es einer düsteren Weltraumlegende entsprungen.

Dann tauchte ein Stück weit voraus die gepanzerte Luke auf, die auf die Brücke führte. »Diese Luke wurde ebenfalls mit Gewalt geöffnet«, erklärte die Sonden-Controllerin mit angestrengter Stimme.

Iceni betrachtete die Toten vor der Luke. »Sie haben viele Leute verloren, um ihr Vorhaben umzusetzen.« Eine Brücke galt im Fall einer Meuterei als Zitadelle für die Offiziere, also verfügte sie über aktive Verteidigungssysteme und war entsprechend gepanzert. Ein paar dieser Systeme waren vermutlich beim Beschuss durch Icenis Flotte ausgefallen, aber es waren immer noch genug Sicherheitsmaßnahmen erhalten geblieben, um diejenigen zu dezimieren, die versucht hatten, auf die Brücke zu gelangen.

»Auf der Brücke herrscht auch Vakuum.« Die Sonde näherte sich vorsichtig der Luke und übermittelte dabei die Codes, mit denen alle eventuell noch aktiven Verteidigungssysteme abgeschaltet wurden. Dann hatte der Flugkörper den Durchgang erreicht.

Von der Luke aus betrachtet sah die Brücke weitestgehend intakt aus, aber Iceni konnte auch hier Leichen ausmachen. Hatte die Brückencrew sich untereinander bekämpft? Der Senior-Agent des ISD hätte anwesend und bewaffnet sein müssen. Kolanis Offiziere hätten ebenfalls auf ihrer Seite gestanden. Aber was war mit den anderen, den Managern und Executives, die zur Crew der C-990 gehört hatten?

Aus dem aktuellen Blickwinkel war zu erkennen, dass Kolani noch im Kommandosessel saß. Sie hatte den Rücken der Luke zugewandt und trug einen Schutzanzug, dessen CEO-Kennzeichnung im Lichtschein der Sonde deutlich zu erkennen war. Aber sie bewegte sich nicht und saß völlig starr da. »Keine Lebensanzeichen«, meldete die Sonden-Controllerin. »Von keinem der Schutzanzüge werden Lebensdaten gesendet, das Infrarotbild zeigt keine Wärmequellen. Auf der Brücke müssen alle tot sein.« Die Sonde bewegte sich auf die Brücke vor, gerade als Iceni den Befehl geben wollte, dass sie nicht weiter vordringen sollte. Sie hatte in ihrem Leben schon genug schreckliche Erinnerungen angehäuft, die sie manchmal nachts schweißgebadet aus dem Schlaf hochschrecken ließen. Sie wollte nicht auch noch ständig vom Gesicht der toten Kolani verfolgt werden.

Bevor sie jedoch etwas sagen konnte, ertönte ein Alarm. »Die Sonde hat irgendeinen Schaltkreis ausgelöst«, erklärte die Controllerin. »Stelle Energieanstieg fest. Irgendein Befehl scheint erteilt wor-«

Icenis Bild von der Sonde verschwand vom Display, gleichzeitig ertönte ein viel lauterer Alarm.

»Überladung der Antriebseinheiten der C-990«, meldete Marphissa mit gesenkter Stimme. »Das muss eine Falle gewesen sein. Wenn jemand die Brücke betritt, wird die Zerstörung des Schiffs ausgelöst. Wir befinden uns am Rand der Gefahrenzone, also stellt die Explosion für uns keine Bedrohung dar.«

Icenis Blick ruhte unverändert auf der Stelle, an der sie eben noch das von der Sonde übertragene Bild gesehen hatte. Das war eindeutig Kolanis Werk gewesen, davon war sie überzeugt. In den letzten Minuten ihres Lebens hatte sie noch schnell eine Falle gestellt für alle, die sich an ihrer Niederlage erfreuen wollten. Vielleicht hatte Kolani sogar darauf gehofft, dass es Iceni persönlich sein würde, die ihrem Leichnam gegenüberstand. Tja, da muss ich Sie leider enttäuschen. »Rufen Sie die Flotte zusammen, und dann kehren wir zum Planeten zurück. Geben Sie mir Bescheid, wenn Sie etwas von der C-625 oder irgendeiner anderen Einheit am Gasriesen hören.«

Sie waren rund sechs Lichtminuten vom Planeten entfernt, sodass Informationen mit leichter, aber erträglicher Verspätung bei ihnen eintrafen. Iceni schloss die Augen und rieb sich die Stirn, dann sah sie nach, ob von Drakon eine Nachricht eingegangen war.

Tatsächlich waren sogar etliche Nachrichten von ihm aufgelaufen. Als Iceni sich die ersten davon ansah, wurde sie auf einmal von einer beängstigenden Vision heimgesucht, dass die Verwüstung und das Morden an Bord der C-990 nur ein Prolog für das gewesen war, was sich auf dem Planeten abspielte.

»Die Leute müssen Sie sehen«, beharrte Malin.

»Wenn er sich zu den Massen begibt«, gab Morgan zurück, »dann ist er so gut wie tot.«

Wie üblich hatten sowohl Malin als auch Morgan stichhaltige Argumente zur Hand. Drakon warf einen Blick auf die aktuellen Berichte, die in etlichen Komm-Fenstern übertragen wurden. Er sah zögerliche Polizisten und noch viel zögerlichere Regierungsvertreter, die sich in kleinen Gruppen durch die gewaltigen Massen der Feiernden bewegten. Ihnen folgten Züge von Soldaten, wiederum gefolgt von weiteren Mannschaften, die die Vorausgehenden aufmerksam beobachteten.

Hier und da kam es zu kurzen Gewaltausbrüchen, wenn jemand versuchte, in ein Geschäft einzubrechen und er vom schnellen, brutalen Einsatz nicht tödlich wirkender Reizstoffe zurückgetrieben wurde. Wenn das alles nichts half, wurde umgehend das Feuer auf die betreffende Person eröffnet. Das waren jedoch seltene Einzelfälle, zumal die überwiegende Mehrheit der Feiernden für Gesetzesbrecher nicht viel übrig hatte. Ein über Generationen hinweg eingetrichterter Gehorsam vor Autoritätspersonen konnte nicht über Nacht abgelegt werden; erst recht nicht, wenn diese Autoritätspersonen auf den Straßen unterwegs waren und rigoros gegen jeden vorgingen, der gegen ein Gesetz verstieß.

Trotzdem war da ein beharrliches, für Drakon aber unbestimmbares Gefühl, dass sich die Situation auf Messers Schneide bewegte. Die Stimmung der Massen war ausgelassen und fröhlich, mit einem Anflug von Unbekümmertheit und Verantwortungslosigkeit, aber das konnte von einem Moment auf den anderen umschlagen.

»Die Leute freuen sich, die Soldaten zu sehen«, sagte Malin. »Sie betrachten unsere Truppen als Befreier, weil wir die Schlangen getötet haben. Sie müssen diesen Befreiern ein Gesicht geben, General Drakon. Sie müssen der Befreier sein, der Mann, der dieses Sternensystem aus den Klauen der Syndikatwelten gerissen und ihm die Angst vor dem ISD genommen hat.«

»Die Leute haben ihn gesehen«, hielt Morgan dagegen. »Alle haben ihn gesehen, als er die Ansprache gehalten hat.«

»Das ist zu distanziert, zu unpersönlich. Er muss sich unter das Volk begeben.«

»Wo jeder Idiot versuchen kann, ihn zu ermorden?«

Drakon ließ diese Diskussion in den Hintergrund rücken, bis er sie nur noch als ein leises Summen wahrnahm, damit er sich auf seine eigenen Gedanken konzentrieren konnte. Malin und Morgan hatten die gute Angewohnheit, ihre Meinung und die entsprechenden Argumente ohne Umschweife auszusprechen, aber sie hatten auch die schlechte Angewohnheit, anschließend bei einem endlosen Hin und Her wieder und wieder ihre Position darzulegen, ohne irgendetwas Neues hinzuzufügen. »Wir werden folgendermaßen vorgehen«, sagte er schließlich und setzte der Diskussion ein Ende.

Einige Minuten später verließ Drakon in seiner vom Kampf gezeichneten Rüstung, aber mit geöffnetem Visier das Hauptquartier und begab sich in die wartende Menge. Malin und Morgan folgten ihm in ihren hautengen schwarzen Anzügen, beide führten unauffällige, aber todbringende Waffen mit sich. Wie von Drakon erwartet, richteten sich alle Augen auf ihn, nicht aber auf seine Begleiter. In seiner Rüstung war er ein Stück größer und bulliger als die Bürger, sodass er buchstäblich überlebensgroß erschien.

Die erste Gruppe feiernder Bürger, der er sich näherte, verstummte abrupt und sah ihn unschlüssig an, als ihnen klar wurde, dass sich ein CEO mitten unter ihnen befand. Drakon lächelte sie auf jene kameradschaftliche Weise an wie seine Soldaten, eine Geste, die gleichzeitig die Botschaft vermittelte, dass er derjenige war, der hier das Sagen hatte. »Es ist ein wunderbarer Tag!«, rief er. »Das ist jetzt unser Sternensystem, unser Planet, und wir werden uns selbst um ihn kümmern!«

Der einsetzende Jubel bewegte sich wie eine Welle durch die Menge, als hätte jemand einen Stein in einen Teich geworfen. Bedächtig ging er weiter, während die allgegenwärtigen Kameras jeden seiner Schritte filmten und die Bilder überall auf dem Planeten verbreiteten. Bürger streckten fast ängstlich die Hände nach ihm aus, um seine Rüstung zu berühren, andere versuchten die Narben zu ertasten, die der Kampf gegen die Schlangen hinterlassen hatte. Drakon spürte die Macht dieser Menge, als wäre sie ein einziger, riesiger Organismus, und er musste die Angst niederringen, die in ihm aufsteigen wollte. Auf Allianz-Planeten hatte er miterlebt, wie Menschenmassen gepanzerte Truppen überwältigten, seitdem begegnete er jedem Mob mit einer gehörigen Portion Respekt. Doch er versuchte, sich seine Besorgnis nicht anmerken zu lassen, sondern ging in gleichbleibendem Tempo weiter, während er in die Menge winkte und die Leute mit vagen Worten dazu anspornte, die Ordnung zu wahren und die Gesetze zu achten.

Ein junger Mann, der alt genug zu sein schien, um in Kürze eingezogen zu werden, bahnte sich seinen Weg durch die Menge, bis er dicht vor Drakon stand. Die Waffen, die Malin und Morgan sofort auf ihn richteten, konnten ihn offenbar nicht beeindrucken. »Wann wird es Wahlen geben? Wann werden wir wirklich die wählen können, die uns regieren sollen?«

»Dazu werden wir noch kommen«, antwortete Drakon laut genug, um auch von den Umstehenden gehört zu werden. »Die Dinge haben sich verändert.« Wer ein Leben lang mit der Bürokratie der Syndikatwelten zu tun gehabt hatte, der entwickelte automatisch die Fähigkeit, Bedeutungslosigkeiten zu verkünden, mit denen scheinbar alles gesagt, aber nichts versprochen wurde.

Der leidenschaftliche junge Mann sah ihn unschlüssig an, dann wurde er von anderen Bürgern zur Seite gedrängt, die auch zu Drakon wollten, bis er sich in der Menge verloren hatte. Drakon hatte das ungute Gefühl, dass diese Fragen auf nicht allzu lange Sicht eine konkrete Antwort erforderlich machen würden.

Iceni und die anderen auf der Brücke des Schweren Kreuzers verfolgten die Übertragungen von der Oberfläche des Planeten mit, die von Drakons Triumphzug durch die Straßen und von der Bewunderung der Bürger für ihn berichteten. »Man könnte meinen, ich habe gar nichts gemacht«, kommentierte Iceni die Bilder mit einem Tonfall, der ein wenig verärgert, aber auch ein wenig amüsiert klang, um die Sorge zu überspielen, die sie bei diesem Anblick befand. Wenn Drakon zum Gesicht der Herrschaft über dieses Sternensystem wird, dann kann er mich noch einfacher zur Seite drängen. Es könnte sein, dass ich ihn mir doch vornehmen muss.

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