Zwölf

Iceni glaubte, ihr Herz habe aufgehört zu schlagen, und nur allmählich wurde ihr klar, dass Rogero nur einmal geschossen und dabei auch noch an ihr vorbei auf etwas gezielt hatte. Als sie sich umdrehte, sah sie eine Schlange, die ein paar Meter hinter ihr schwankend dastand und auf ein großes, blutendes Loch in der Brust starrte. Dann ließ der Mann seine Waffe fallen. Alle Kraft und das Leben waren aus ihm gewichen, und gleich darauf brach er auf dem Deck zusammen.

Rogero lief um Iceni herum, um sich davon zu überzeugen, dass die Schlange auch tatsächlich tot war.

Erschrocken schluckte sie, ihr Herzschlag hatte wieder eingesetzt. »Hatten Sie mir nicht gesagt, dass Ihre Soldaten während meines Besuchs auf dieser Einheit für meine Sicherheit sorgen würden, Colonel Rogero?«

»Ich habe Wachen aufgestellt …«

»Dann ist der Wachmann, der für diesen Gang verantwortlich war, offenbar schon tot. Falls nicht, werde ich dafür sorgen, dass er …«

»Madam Präsidentin.« Rogeros Stimme unterbrach sie in ihrem Redefluss. »Ich habe diesen Gang unbewacht gelassen.«

Entweder veranlasste sie, dass dieser Mann sofort vor ein Erschießungskommando gestellt wurde, oder aber sie nahm sich die Zeit, Rogeros Motive zu ergründen. »Wieso?«, fragte sie mit einer Selbstbeherrschung, die sie zumindest selbst für bewundernswert hielt.

»Weil wir wussten, dass die Schlangen diese Einheit mit Überwachungstechnik aller Art vollgestopft haben, wir aber in der wenigen verfügbaren Zeit nicht alles aufspüren konnten. Jede überlebende Schlange würde deshalb wissen, wo sich meine Wachen befinden, und sie würden auch wissen, dass ein Shuttle hierher unterwegs ist und einen wichtigen Besucher transportiert. Uns ist natürlich auch bekannt, dass die Schlangen darauf gedrillt sind, bis zum Tod zu kämpfen, anstatt sich zu ergeben. Eine überlebende Schlange, die einen ›versehentlich‹ unbewachten Weg entdeckt, würde nicht auf einen späteren Zeitpunkt für einen Attentatsversuch warten, sondern diese Gelegenheit nutzen, um den wichtigen Besucher zu töten. Wann und wo es zu diesem Attentatsversuch gekommen wäre, hätte keiner von uns wissen können.«

»Und wie genau hat das jetzt zu meiner Sicherheit beigetragen, Colonel Rogero?«

»Das hat es insofern, als dass ich genau wusste, wo und wann ich mit einem Anschlag rechnen konnte, Madam Präsidentin.«

Immer noch wütend sah sie Rogero an, aber allmählich stieg sie hinter die Logik seiner Vorgehensweise. »Sehr gut. Machen Sie so etwas nie wieder.«

»Jawohl, Madam Präsidentin.«

»Ist das die Art von Denkweise, die General Drakon bei seinen Untergebenen fördert?«

»Jawohl, Madam Präsidentin.«

»Ich bin nicht so, Colonel Rogero, das sollten Sie sich besser merken. Und jetzt bringen Sie mich zur Brücke.«

Der kurze Weg zur verschlossenen Luke, hinter der die Brücke lag, wirkte beklemmend auf Iceni, da sie wusste, dass die Blicke der überlebenden Crew und auch die Blicke aller verbliebenen Verteidigungsanlagen allein auf sie gerichtet waren. »Hier spricht Präsidentin Iceni. Diese Einheit der mobilen Streitkräfte untersteht jetzt der Kontrolle des unabhängigen Sternensystems Midway. Ich garantiere Ihnen Sicherheit, und nun öffnen Sie die Luke.«

Das anschließende Warten kam ihr viel zu lange vor, und sie begann sich zu fragen, ob sie noch etwas anfügen sollte, da war auf einmal zu hören, wie hydraulische Systeme zum Leben erwachten und massive Bolzen mit einem sanften Zischen zurückgefahren wurden. Dann folgte ein dumpfes Poltern, und schließlich öffnete sich die Luke sehr langsam nach innen, was das immense Gewicht eindrucksvoll unterstrich, das bei diesem Vorgang bewegt werden musste.

Gemeinsam mit Colonel Rogero und den umstehenden Soldaten betraten sie die Brücke. Dort roch es nicht allzu gut, was aber nicht verwunderlich war, liefen doch die Lebenserhaltungssysteme im Notfallmodus, der für eine lokale Abschottung der Brücke vom Rest des Schiffs sorgte. Aber auch die anwesenden Crewmitglieder verbreiteten keinen sehr angenehmen Geruch. Sub-Executive Kontos ließ die Überlebenden auf der Brücke in zwei kurzen Reihen Aufstellung nehmen.

Als Iceni stehen blieb, drehte sich Kontos zu ihr um. Die Bewegung sorgte dafür, dass er leicht schwindlig einen Schritt zur Seite machte und gegen eine Konsole stieß. Sie wartete, bis er sich gefangen hatte, dann folgte ein Salut, wobei Kontos einen Moment lang zögerte, ehe er mit der Faust seine Brust berührte. »Sub-Executive Kontos, diensthabender Befehlshaber der Ausstattungsmannschaft der B-78.«

Mit ernster Miene erwiderte sie den Salut, wobei ihr nicht entging, dass die Kontos unterstellten Manager genauso leicht schwankten wie er selbst. Die hageren Gesichter zeugten von den Entbehrungen, die sie hatten ertragen müssen. »Sind Ihre Rationen knapp geworden?«

»Wir verfügen nur über einen Teil der Notfallrationen, weil diese Einheit noch nicht als einsatzbereit gilt«, erklärte Kontos. »Wir haben die vorhandenen Rationen so eingeteilt, dass sie bis zu unserer Rettung ausreichen würden.« Dann zwang seine Schwäche ihn dazu, an einer anderen Konsole Halt zu suchen.

»Rühren Sie sich«, befahl Iceni an alle gerichtet. »Das gilt auch für Sie, Sub-Executive Kontos. Setzen Sie sich, legen Sie sich hin, tun Sie, was für Sie am besten ist. Colonel Rogero, lassen Sie den Leuten Wasser und Essen bringen. Kommodor Marphissa, steht die Verbindung noch?«

»Ja, Madam Präsidentin.«

»Rufen Sie das Shuttle zurück. Ich will, dass die Bordärztin der C-448 mit ihrer Assistentin herkommt. Die Crewmitglieder des Schlachtschiffs müssen medizinisch versorgt werden. Ich weiß nicht, welche medizinischen Vorräte sich hier an Bord befinden, also soll sie ihre Notfallausrüstung mitbringen.«

Rogero, der inzwischen endlich sein Helmvisier geöffnet hatte, kniete sich hin und half Kontos, sich gegen die Konsole gelehnt hinzusetzen. Als er sich aufrichtete und sich zu Iceni stellte, flüsterte er ihr zu: »Er hat die Truppe zusammengehalten, als alle hier im Begriff waren, langsam zu verhungern. Sie waren isoliert, eine Kommunikation mit der Außenwelt war nur möglich, wenn es ihnen gelang, die von den Schlangen eingerichteten Barrieren für kurze Zeit zu umgehen. Dennoch hat er dafür gesorgt, dass sie alle weitermachen und durchhalten. Ziemlich beeindruckend für einen Junior-Sub-Executive.«

»Glauben Sie, ich würde schlecht über ihn urteilen, weil er zusammengebrochen ist?«

»Er ist nicht in bester Verfassung«, antwortete Rogero diplomatisch.

»Ich kann erkennen, wenn jemand sich selbst bis zum Äußersten getrieben hat, Colonel Rogero, und mir ist klar, was es bedeuten muss, den Rest der Crew zusammenzuhalten, damit keiner von ihnen auf die Idee kommt, sich zu ergeben.« Mit einem Nicken deutete sie auf Kontos, der kraftlos gegen die Konsole gelehnt dasaß. »Wenn Sub-Executive Kontos bei uns bleiben möchte, ist er bei unseren mobilen Streitkräften mehr als willkommen.«

»Und ich wollte schon sagen«, entgegnete Rogero lächelnd, »wenn Sie ihn nicht haben wollen, wird General Drakon bestimmt an ihm interessiert sein.«

»Pech gehabt, ich hab’s zuerst gesagt, Colonel.«

»Sie bekommen aber doch schon das Schlachtschiff, Madam Präsidentin.«

Iceni sah ihn verdutzt an. Wer hätte gedacht, dass Rogero ein Mann mit Humor war? »Ich hörte, dass einer Ihrer Soldaten verletzt wurde.«

»Ja, aber nichts Ernstes. Die Schlangen waren so ausgerüstet, dass sie die nichtsahnenden Mitglieder einer mobilen Streitmacht hätten niedermetzeln können, aber gegen Truppen in Gefechtspanzerung konnten sie nichts ausrichten.«

»Wie unerfreulich für sie.«

»Präsidentin Iceni?«

»Ja, Kommodor?«

»Der Leichte Kreuzer CL-924 hat die erste Rettungskapsel des zerstörten Schweren Kreuzers an Bord geholt. Sie bestätigen, dass es sich um Crewmitglieder handelt, nicht um Schlangen.«

Iceni unterdrückte ihre Erleichterung, da sich gleichzeitig Misstrauen regte. »Weisen sie sich als Crewmitglieder aus oder sind sie Crewmitglieder?«

»Sie sind es, Madam Präsidentin. Ich habe ihre Bilder in der Flotte herumgereicht, und jemand auf der C-413 kennt einen von ihnen.«

»Gut.« Iceni betrachtete die erschöpften Überlebenden des Schlachtschiffs und sah, dass ein paar Soldaten eingetroffen waren, die Lebensmittelrationen mitgebracht hatten. »Schaffen Sie endlich diese Bordärztin rüber.«

Sie verbrachte einige Zeit damit, von zwei Soldaten begleitet einen Rundgang durch das Schlachtschiff zu unternehmen. Die beiden Männer folgten ihr nur für den Fall, dass sich in einem der unzähligen Quartiere oder in einem der vielen Seitengänge noch weitere Schlangen versteckt halten sollten. Die Feuerkontrollzitadelle und die Maschinenkontrollzitadelle hatten es geschafft, mit ihnen in Verbindung zu bleiben, auch wenn die Schlangen alles in ihrer Macht Stehende versucht hatten, die Kommunikation zu unterbrechen.

Das Ganze hatte etwas ungewollt Ironisches an sich, überlegte Iceni. Die Zitadellen existierten nur, weil man Angst vor einer meuternden Crew hatte und eine sichere Zuflucht zur Verfügung haben wollte, falls es Marines der Allianz einmal gelingen sollte, in ein Schiff einzudringen. Die Zitadellen dienten als Ort, an dem Offiziere und ISD-Agenten lange Zeit aushalten konnten, bis es Syndikat-Streitmächten gelänge, das Schiff zurückzuerobern. Doch die Maßnahmen, die eigentlich dem Zweck gedient hatten, die Kontrolle durch das Syndikat sicherzustellen, waren in ihr Gegenteil verkehrt worden und hatten die Schlangen davon abgehalten, eben diese Kontrolle zu erlangen. Stattdessen hatte Iceni das Schlachtschiff den Syndikatwelten abnehmen können.

»Madam Präsidentin, Colonel Rogero lässt ausrichten, dass die Crewmitglieder von der Brücke in die Krankenstation gebracht worden sind. Sie ist noch nicht komplett eingerichtet, aber es sind Betten vorhanden, und ein Teil der Ausrüstung ist einsatzbereit.«

»Bringen Sie mich hin.«

Die Krankenstation war erheblich größer, als man auf den ersten Blick hätte meinen sollen, was dadurch kam, dass Krankenzimmer und OP-Räume in regelmäßigen Abständen von Schotten unterteilt wurden. Durch diese Bauweise wurde gewährleistet, dass bei einem Schaden oder einem Druckverlust nicht gleich ein einzelner großer Bereich in Mitleidenschaft gezogen wurde, sodass sich die Verluste auf kleine Sektionen beschränken ließen, während der große Rest unversehrt blieb. So wie alle Schlachtschiffe und Schlachtkreuzer war auch dieses hier so ausgelegt, dass nicht nur Verletzte der eigenen Crew versorgt werden konnten, sondern auch das Personal der kleineren Eskortschiffe, der Bodenstreitkräfte und anderer Einheiten.

In diesem Moment herrschte in den meisten der nur teilweise eingerichteten Räume gähnende Leere und damit auch Stille. Die überlebenden Mitglieder der Ausstattungsmannschaft belegten bloß ein paar Krankenzimmer, nur je ein Vertreter der Teams war in jeder Zitadelle zurückgeblieben. »Wo ist Sub-Executive Kontos?«, wollte Iceni wissen, als ihr Rogero entgegenkam.

»Er bestand darauf, auf der Brücke zu bleiben, bis seine reguläre Ablösung eintrifft. Die Ärztin hat ihn dort aufgesucht, und ich habe dafür gesorgt, dass er genug zu essen und zu trinken hat.« Rogero musterte sie fragend. »Wollen Sie ihn wirklich immer noch haben?«

»Auf jeden Fall. Wer ist das dienstälteste überlebende Crewmitglied?«

»Vermutlich er hier.« Colonel Rogero ging vor ihr her. Auf der Krankenstation wirkte er in seiner ausladenden Gefechtsrüstung noch bedrohlicher als sonst. An einem Bett blieb er stehen, darin lag ein Mann mittleren Alters in der Uniform eines Managers. »Er hat gegessen und getrunken, und dank der verabreichten Medikamente ist er so wie die anderen inzwischen weitgehend ansprechbar.«

»Ich weiß, wie ich ihn wach bekomme.« Der Mann lag flach auf dem Bett, er atmete schwer, und auch wenn seine Augen geöffnet waren, starrte er nur an die Decke und pendelte zwischen Bewusstlosigkeit und Wachsein hin und her. Iceni stellte sich neben das Bett. »Sie«, sagte sie und betonte das eine Wort auf eine Weise, die nur CEOs beherrschten. Der Tonfall machte daraus ein Kürzel für eine Reihe von Fragen, von denen jeder Arbeiter wusste, dass sie schnell und korrekt beantwortet werden mussten: Wer sind Sie? Wie lautet Ihre Tätigkeitsbezeichnung? Was machen Sie gerade?

Ein Leben lang antrainierte Reflexe ließen den Mann hochschrecken, sein Blick erfasste Icenis Gesicht und verharrte dort. »Senior-Manager Mentasa, Systemintegration, zugeteilt der Ausstattungsmannschaft für die Mobile Einheit B-78.« Er versuchte sich hinzusetzen, aber Iceni drückte ihn sanft zurück auf das Bett.

»Ruhen Sie sich aus«, sagte Iceni. »Was können Sie mir darüber erzählen, was sich auf diesem Schiff abgespielt hat?«

Der Mann blinzelte ein paar Mal, als könne er seine Gedanken nicht ordnen und als würde er nicht verstehen, warum sich Iceni so untypisch verhielt. Dann nickte er bedächtig. »Wir waren bei der Arbeit … die üblichen Schichten. Unser Befehlshaber war … Sub-CEO Tanshivan. Er war von … von welchem Versorgungsschiff? Das Versorgungsschiff … mit einer Lieferung von höchster Priorität.« Wieder blinzelte Mentasa. »Der Sub-CEO … ging hin, um die Lieferung in Empfang zu nehmen. Wir standen in Verbindung mit ihm. Plötzlich quollen Scharen von Menschen durch die Luke herein. Wirklich Scharen. Und Waffen. Der Sub-CEO rief: ›Die wollen uns umbringen!‹ Keine Ahnung, woher er das wusste, auf jeden Fall rief er das. ›Versiegelt die Zitadellen!‹, befahl er. Und dann … dann … starb er. Ich wollte sagen … sie schossen. Und wir … Die Verbindung brach ab.«

»Es gab keine Vorwarnung, dass die Schlangen hierher unterwegs waren? Gab es keine Veranlassung zu der Vermutung, dass sie herkommen würden?«

»Nein … es … es gab Demon- … Demonstrationen auf dem Planeten. Davon hatten wir gehört. Große Unruhen … dann wurden die Nachrichtenübertragungen unterbrochen. Nicht unsere Angelegenheit. Keine Ahnung, was das zu bedeuten hatte. Ich war noch nie hier … Im System Kane, wollte ich sagen. Ein paar Tage später tauchten sie auf …«

»Und Sie versiegelten die Zitadellen?«

»Ja.« Manager Mentasa blinzelte, um Tränen zurückzuhalten. »Nicht alle drinnen … nur unsere Schicht … Aber wir mussten die Zitadelle versiegeln. Elende Schlangen … haben alle anderen umgebracht. Dann wollten sie uns dazu bringen … dass wir ihnen aufmachen. So dumm … töteten ihre Geisel … idiotische, verdammte Schlangen.«

Rogero nickte bestätigend. »Ihr Plan beruhte auf dem Überraschungselement. Die Warnung, die der Sub-CEO noch übermitteln konnte, machte das zunichte. Trotzdem haben die Schlangen ihren Plan rigoros durchgezogen und alle Mitarbeiter der Ausstattungsmannschaft getötet, die ihnen über den Weg liefen. Erst als ihnen klar wurde, dass die Zitadellen versiegelt worden waren und von außen mit den mitgebrachten Werkzeugen nicht geöffnet werden konnten, wurde den Schlangen bewusst, dass sie ein paar Leute am Leben hätten lassen sollen, um die übrigen Crewmitglieder zu erpressen, damit sie die Zitadellen öffneten.«

»Ja, Sir«, sagte Mentasa und sah Rogero an. »Tut mir leid, dass wir Ihnen nicht geöffnet haben, aber … wir kannten nur die Dame, und wir wussten … diese CEO würde uns retten.«

Iceni schüttelte wütend den Kopf, wusste aber gar nicht so recht, auf wen sie eigentlich wütend war. »Ich bin keine CEO, ich bin Präsidentin Iceni.«

»Tut mir leid, Madam … Präsidentin? Ich weiß nicht, was eine Präsidentin ist.«

»Etwas Besseres als eine CEO«, warf Rogero ein.

»Aha, ja, Sir. Wir sahen das Schiff kommen … den Frachter. Wir hatten genügend funktionierende Kameras, um zu sehen, wie er um den Planeten herumkam. Wir wussten sofort, dass da noch mehr Schlangen an Bord waren. Und dann … dann kamen Sie hinterher. Da wussten wir, dass … dass die Sterne uns retten würden.« Abrupt unterbrach sich Mentasa und riss erschrocken die Augen auf.

Iceni lächelte ihn sanft an. »Ganz ruhig«, sagte sie. »Ich habe keine Angst vor Ihrem Glauben, und die Regeln der Syndikatwelten gelten überall da nicht mehr, wo ich die Kontrolle übernommen habe. Wenn Sie über solche Dinge reden wollen, steht Ihnen das frei.«

»Glauben Sie an die Sterne? An die Vorfahren?«

Dass ihr diese Frage gestellt werden würde, damit hatte sie nun wirklich nicht gerechnet. Eine ehrliche Antwort kam ihr nur stotternd über die Lippen. »Ich … ähm ja.«

»Weil wir den Frachter kommen sahen«, fuhr der Mann mit festerer, entschlossenerer Stimme fort. »Noch eine Stunde mehr, und sie wären hier eingetroffen, und dann wären wir jetzt alle tot. Eine Stunde mehr. Vielleicht auch nur eine halbe Stunde oder sogar noch weniger. Aber dann kamen Sie her. Die Sterne wollten uns nicht sterben lassen.«

Iceni sah Mentasa schweigend an. Wenn das so wäre, warum haben die Sterne dann Ihre Kameraden sterben lassen? Die, die es nicht in die Zitadellen geschafft haben? Nennen Sie mir einen Grund, warum der eine lebt und der andere stirbt? Warum können die Sterne das nicht erklären? Es wäre viel leichter, dem Glauben meines Vaters zu folgen, wenn die Sterne es erklären würden. »Woher kommen Sie?«

»Seit gut fünfzehn Jahren arbeite ich in Taroa. Meine Familie ist dort.« Die Skepsis war in seinen Gesichtsausdruck zurückgekehrt. CEOs neigten dazu, die Arbeiter zu rekrutieren, die sie gebrauchen konnten, und ihm musste klar sein, dass Iceni ihn brauchte, um dieses Schlachtschiff funktionsfähig zu bekommen.

»Sie und die anderen Überlebenden der Ausstattungsmannschaft werden das Angebot erhalten, an Bord zu bleiben und uns zu begleiten«, erklärte sie ihm. »Oder Sie versuchen Ihr Glück hier in Kane. Wenn Sie mit uns mitkommen, werde ich Ihnen gestatten, nach Taroa weiterzureisen, falls Sie das wollen. Aber wir werden Ihnen auch einen guten Lohn bieten, wenn Sie bleiben wollen, und zudem werden Ihre Familien vor den Schlangen sicher sein.« Weiß dieser Mann, was bei Taroa los ist? Ganz sicher nicht, aber es gibt auch keinen Grund, jetzt etwas dazu anzumerken. »Wenn Sie sich weitestgehend erholt haben, werden wir Sie nach Ihrer Entscheidung fragen.«

»Vielen Dank, Madam … Präsidentin. Die Sterne werden für diesen Tag gut über Sie urteilen.«

Iceni wandte sich ab und entfernte sich in Richtung Ausgang. Wenn die Sterne oder sonst jemand über mein Leben und alles urteilen sollten, was ich in meinem Leben je getan habe, dann kann ich mir nicht vorstellen, dass dabei etwas Gutes für mich herauskommen wird.

Kaum hatte sie den Raum verlassen, entdeckte sie die Ärztin der C-448, die von der Untersuchung der Crewmitglieder in den Zitadellen zurückkehrte. »Wie geht es den Leuten? Jedem von ihnen, meine ich.«

Die Ärztin zuckte mit den Schultern. Sie war eine ältere Frau, die kurz vor der Pensionierung stehen musste. Es schien, als würden all die Leben auf ihr lasten, die sie im jahrzehntelangen Dienst für die Syndikatwelten nicht hatte retten können. »Sie sind alle unterernährt und leiden unter schwerem körperlichem Stress«, sagte sie. »Ganz am Anfang meiner Karriere verbrachte ich sechs Monate meiner Ausbildung als Assistentin in einem Arbeitslager, also gibt es hier für mich nichts zu sehen, was ich nicht längst kenne.«

Ein Arbeitslager. Das Allzweckmittel der Syndikatwelten, um jemanden zu bestrafen, ohne ihn gleich hinrichten zu lassen. Aber allzu oft waren Arbeitslager eigentlich nichts anderes gewesen als eine in die Länge gezogene Exekution. Sie hatte Leute gekannt, die in Arbeitslager geschickt worden waren. Ein paar von ihnen waren nach Verbüßung ihrer Strafe wieder heimgekehrt, aber ein großer Teil hatte gar nicht erst lange genug überlebt.

Bei dem Gedanken daran und an das, was die Schlangen hier versucht hatten, und schließlich bei der Vorstellung, was von diesen Arbeitern geleistet worden war, eine Leistung, durch die Icenis Erfolg überhaupt erst möglich geworden war, spürte sie, wie etwas in ihr zerbrach. »Es wird keine Arbeitslager mehr geben. Da, wo ich etwas zu sagen habe, wird niemand je wieder ein Arbeitslager einrichten.« Sie ging weiter, während Rogero und die Ärztin ihr zweifellos rätselnd hinterherschauten. Ihre Schritte hallten in den leeren Korridoren des Schlachtschiffs wider, und die Soldaten, die auf sie aufpassen sollten, mussten sich beeilen, um nicht den Anschluss zu verlieren.

»Zwei Leichte Kreuzer wollen sich uns anschließen«, berichtete Marphissa. Die C-448 hatte an einer Seite des Schlachtschiffs angedockt und wirkte wie ein Neunauge, das sich an einem Wal festklammerte. Auf diese Weise war es leichter, Personal und Ausrüstung von einem Schiff aufs andere wechseln zu lassen. »Außerdem zwei Jäger. Der andere Leichte Kreuzer und die übrigen zwei Jäger wollen in die Sternensysteme zurückkehren, aus denen der größte Teil der Besatzungen stammt.«

»Welche Sternensysteme sind das?«, wollte Iceni wissen und lehnte sich im Kommandosessel auf dem Schlachtschiff nach hinten. Nur wenige der vorhandenen Kontrollen waren derzeit funktionstüchtig, dennoch fühlte es sich großartig an, dort zu sitzen. Da nur sie und Marphissa derzeit anwesend waren, wurde es noch deutlicher, wie riesig und beeindruckend die Brücke des Schlachtschiffs im Vergleich zu der ihres Schweren Kreuzers war.

»Der Leichte Kreuzer will nach Cadez reisen, die Jäger haben Dermat und Kylta zum Ziel.«

»Keines dieser Systeme liegt in der Nähe«, seufzte Iceni, die sich mit einem Mal ungewöhnlich erschöpft fühlte, nachdem nach den errungenen Erfolgen die Anspannung der letzten Tage von ihr abgefallen war. »Aber wenn das die Heimat dieser Besatzungen ist, dann wünsche ich ihnen viel Glück. Was ist mit dem Leichten Kreuzer und den zwei Jägern, die sich auf den Weg zum zweiten Planeten gemacht haben?«

»Die befinden sich inzwischen im Orbit um den Planeten. Wir konnten Shuttlebewegungen beobachten. Allerdings gibt es auf dem Planeten selbst keine Anzeichen dafür, dass es dort Ärger geben könnte. Auch der Komm-Verkehr ist unauffällig.« Marphissa hielt inne und ließ ihren Blick über die praktisch menschenleere Brücke wandern. »Ich habe mit Colonel Rogero darüber geredet. Wir sind beide der Meinung, dass die Bürger hier abwarten, was einerseits Sie tun werden, Madam Präsidentin, und was andererseits die Senior-Schlangen vorhaben.«

»Das ist eine gute Einschätzung. Bürger, die nicht lernen, dass sie abwarten müssen, um zu sehen, was ihre Vorgesetzten vorhaben, bezahlen dafür in aller Regel einen hohen Preis.« Iceni lächelte Marphissa an. »Haben Sie und der Colonel sich inzwischen angefreundet, Kommodor?«

»Als Freundschaft würde ich das nicht bezeichnen, eher als gegenseitigen Respekt. Außerdem bin ich nicht so verrückt, dass ich mich mit einem Schmutzfresser einlassen würde. Nicht mal dann, wenn von ihm nicht diese Schwingungen ausgehen würden, dass er anderweitig liiert ist.«

»Tatsächlich?«

»Das ist bloß der Eindruck, den ich habe. Sie wissen doch, dass manche Leute den Eindruck erwecken, einen Ehering zu tragen, obwohl sie das gar nicht tun. Bei Colonel Rogero habe ich dieses Gefühl.«

»Hat er versucht, sich Ihnen zu nähern?«

Das ließ die Kommodor laut lachen. »Nein. Ich bin mir sicher, wenn er so etwas beabsichtigen würde, dann würde er wissen, dass so was bei mir vertane Zeit ist.«

»Sind Sie mit jemandem liiert?«, fragte Iceni. Es konnte nie schaden, Details aus dem Leben anderer Leute zu wissen, die sich später vielleicht noch als nützlich erweisen konnten.

Diesmal reagierte Marphissa mit einem betrübten Lächeln. »In meinem Leben gab es nur zwei Männer, mit denen ich hätte liiert sein wollen. Der eine starb im Kampf gegen die Allianz bei Atalia, bevor es dazu kommen konnte. Der andere sagte mir nach der Verhaftung meines Bruders durch die Schlangen, dass es seiner Karriere schaden könnte, wenn er noch länger mit mir zu tun hat.«

»Wie nett«, kommentierte Iceni.

»Ich bin mir sicher, nachdem man ihn aus dem Krankenhaus entlassen hatte, ist irgendeine andere naive Frau auf ihn reingefallen.« Wieder sah Marphissa sich auf der Brücke um. Es war unzweifelhaft, dass sie das Thema wechseln wollte. »Woher sollen wir genug Leute kriegen, um dieses Schlachtschiff zu bemannen?«

»Die werden wir rekrutieren müssen, womöglich in anderen Sternensystemen wie zum Beispiel Taroa. Da werden sicher viele Leute daran interessiert sein, so schnell wie möglich von da wegzukommen.« Iceni warf Marphissa ein flüchtiges Lächeln zu. »Dieses Schlachtschiff benötigt auch einen Befehlshaber. Kennen Sie jemanden, der dafür geeignet wäre?«

»Ich … werde mir die Personalakten aller Befehlshaber der mobilen Streitkräfte ansehen müssen, die dafür infrage kommen könnten.«

»Kommodor Marphissa, das war jetzt der Augenblick, in dem Sie hätten sagen sollen: ›Es wäre mir eine Ehre, wenn Sie mich für einen solchen Posten in Erwägung ziehen würden.‹«

Marphissa sah sie ungläubig an. »Vor zwei Monaten habe ich noch nicht mal einen Schweren Kreuzer befehligt.«

»Vor zwei Monaten war ich eine CEO, aber keine Präsidentin. Das Individuum, das dieses Schiff befehligt, muss jemand sein, dem ich vertrauen kann. Jemand, der mit der Verantwortung zurechtkommt, und jemand, der als mein Senior-Befehlshaber der mobilen Streitkräfte agieren kann.« Und jemand, der nicht übermäßig ehrgeizig ist. Hätten Sie sofort sich selbst vorgeschlagen, wären Sie vermutlich nicht mal in die engere Wahl gekommen. »Wenn Sie wollen, bekommen Sie den Posten.«

»Ihr Vertrauen und Ihre Zuversicht in meine Fähigkeiten ehrt mich, Madam Präsidentin. Ja, es würde mir gefallen, einen solchen Posten einzunehmen.« Sie sah sich erneut auf der Brücke um, diesmal jedoch mit einem fast schon besitzergreifenden Ausdruck in den Augen. »B-78. Irgendwie kommt es mir so vor, als sollte das Schiff mehr als nur diese Bezeichnung tragen.«

»Ja? So wie es bei der Allianz der Fall ist? Die Inexplicable oder die Undesirable oder die Insufferable?«

Marphissa grinste sie an. »Die Crews geben den mobilen Einheiten jetzt auch schon Spitznamen.«

»Ich weiß. Als ich noch eine Sub-Executive war, diente ich auf dem Schweren Kreuzer C-333. Die Manager nannten ihn immer Cripple Three, wenn sie glaubten, dass kein Offizier etwas davon mitbekam.«

»Die Crew der C-448 nennt den Kreuzer Double Eight. Wenn unsere Kriegsschiffe schon Namen zugeschrieben bekommen, haben sie dann nicht Besseres verdient als so etwas?«

»Zum Beispiel?«, gab Iceni zurück. »Wie sollte die B-78 genannt werden?«

Kommodor Marphissa überlegte einen Moment lang. »Die B-78 wird das Flaggschiff des Midway-Sternensystems sein?«

»Ja, natürlich.«

»Dann könnten wir als Namen Midway nehmen. Schlachtschiff Midway. Ich bin mir sicher, sie würde diesen Namen mit Stolz repräsentieren.«

»Hmm«, machte Iceni. Sie? Schon seltsam. Kaum hatte ein Schiff einen Namen, wurde es von den Leuten vermenschlicht und wie ein lebendiges Wesen behandelt. Aber das hatten die Besatzungen von Schiffen ohnehin schon immer so gehandhabt. Etwa alle zehn Jahre machte irgendwer aus den Reihen der höheren Dienstgrade den Vorschlag, den mobilen Einheiten individuelle Namen zu geben, und begründete den Vorstoß mit einer Verbesserung der Moral und einem stärkeren Zusammengehörigkeitsgefühl. Aber jeder dieser Vorschläge war anschließend in den Fängen der Bürokratie zugrunde gegangen, da man die Kosten dagegenhielt, auf fehlende stichhaltige Belege für den Nutzen einer solchen Maßnahme verwies und man es sowieso für überflüssig hielt, einer mobilen Einheit auch noch einen Namen zu geben, die bereits über eine völlig ausreichende individuelle Bezeichnung verfügte. Einer der wenigen Fälle, in denen die Bürokratie ihre ablehnende Haltung wiederholt damit begründet hat, die Maßnahme sei überflüssig. Und ein paar von meinen Vorschlägen haben sie genauso abblitzen lassen. Es wäre schön, so etwas zu verwirklichen, allein schon, um die Erbsenzähler zur Weißglut zu treiben. »Ich werde drüber nachdenken.«

»Kommodor!«

Marphissa verzog den Mund. »Man kommt einfach nie wirklich zur Ruhe, nicht wahr?«, merkte sie an Iceni gerichtet an und nahm den Ruf entgegen. »Hier. Ich bin auf der Brücke des Schlachtschiffs.«

»Auf der Einrichtung der mobilen Streitkräfte tut sich etwas.«

»Und was?«

»Interne und externe Explosionen, Kommodor.«

Iceni betätigte ihre eigene Komm-Einheit. »Colonel Rogero, schicken Sie sofort jemanden rauf, der die Brücke bewacht. Ich muss zurück auf die C-448.«

Kaum hatte Iceni ihren Platz auf der Brücke des Schweren Kreuzers eingenommen, rief sie eine Nahaufnahme der Einrichtung der mobilen Streitkräfte auf. Obwohl diese den Gasriesen in gleicher Weise wie das Schlachtschiff umkreiste, war die Einrichtung so weit entfernt, dass sie fast hinter dem Planeten verschwand und somit keine Bedrohung für die Schiffe von Icenis Flotte darstellte.

Irgendetwas spielte sich dort ganz eindeutig ab. »Wir empfangen keine Kommunikation, die einen Hinweis darauf geben könnte, was genau dort los ist.«

»Es finden Kämpfe statt«, ließ der Spezialist verlauten, der derzeit die Ablauf-Konsole bediente.

»Ist das wahr?«, gab Iceni mit all der vernichtenden Ironie zurück, zu der ein CEO fähig war.

Marphissa wandte sich an alle Spezialisten auf der Brücke. »Finden Sie heraus, wer da kämpft und warum. Irgendjemand muss schließlich mit irgendjemandem über das reden, was da drüben los ist.«

»Präsidentin Iceni?«

»Ja, Colonel Rogero.«

»Ich habe gehört, dass in der Einrichtung der mobilen Streitkräfte gekämpft wird. Benötigen Sie meine Soldaten für einen Einsatz in dieser Einrichtung?«

Das war eine wirklich berechtigte Frage. So berechtigt, dass Iceni sich am liebsten geohrfeigt hatte, weil ihr völlig entgangen war, dass sie Bodenstreitkräfte zu ihrer Verfügung hatte. Aber es waren nur drei Trupps. Auch wenn diese Einrichtung nach den Maßstäben einer Schiffswerft wohl nicht als groß bezeichnet werden konnte, war sie nach allen anderen Maßstäben verdammt groß. »Haben wir irgendeine Ahnung, wie viele Leute sich da aufhalten?«

Der Ablauf-Spezialist, der anscheinend seinen vorangegangenen Patzer wiedergutmachen wollte, antwortete rasch: »Nach dem Design zu urteilen, sollte die Basisbesatzung bei sechshundert Mann liegen. Abhängig von den zu erledigenden Arbeiten fasst die Einrichtung aber auch noch bis zu tausend Leute zusätzlich.«

»Dann benötige ich mehr Munition«, warf Colonel Rogero ein. »Falls sich dort tatsächlich so viele Arbeiter aufhalten sollten.«

»Es gibt keinen Hinweis darauf, dass dort momentan an Schiffen gearbeitet wird«, sagte Marphissa. »Wenn wir einen Blick ins Primärdock werfen könnten …«

»Anzeichen für eine Explosion im Primärdock«, rief der Ablauf-Spezialist in dem Moment, da diese Information auch auf ihren Displays aufleuchtete. »Etwas ist dort hochgegangen. Unsere Systeme schätzen, dass ein Jäger einen teilweisen Kernkollaps erlitten hat.«

»Das hilft uns genauso weiter wie ein Blick in das Dock. Das bedeutet, in dem ist nichts vorhanden«, sagte Marphissa zu Iceni. »Zumindest ist nichts mehr vorhanden. Und vom Dock selbst ist auch nichts mehr übrig.«

»Jemand wollte entkommen«, grübelte Iceni. »Aber wer war das?«

»Madam Präsidentin, wir empfangen eine Nachricht für Sie. Sie kommt von der Einrichtung.«

»Abspielen«, befahl sie und sah, wie sich vor ihr ein Fenster öffnete, das eine finster dreinblickende Frau in der Uniform einer Senior-Wartungsmanagerin zeigte.

»Hier spricht … Stephani Ivaskova. Ich bin eine Freie Arbeiterin.«

O verdammt. Das ist gar nicht gut.

»Wir haben diese Einrichtung der Kontrolle durch den ISD und die Syndikatwelten entzogen. Unser Arbeiterkomitee hat jetzt das Sagen. Wir wollen, dass Sie unsere … unsere Kontrolle über diese Einrichtung anerkennen.«

Iceni wartete ein paar Sekunden, um Gewissheit zu bekommen, dass die Freie Arbeiterin Ivaskova ausgeredet hatte, dann setzte sie zu einer Antwort an. Da die im Orbit befindliche Einrichtung nur ein paar Lichtsekunden entfernt war, würde die Verzögerung bei der Kommunikation nicht auffallen. »Hier spricht Präsidentin Iceni vom Midway-Sternensystem. Es gibt für uns keinen Grund, Sie anzugreifen, solange Sie keine Maßnahmen gegen uns ergreifen.«

»Sie … Was eine Präsidentin auch sein mag, wir wollen uns nicht länger von CEOs und Executives vorschreiben lassen, was wir tun und lassen sollen.«

»Dies hier ist nicht mein Sternensystem«, machte Iceni ihr klar. »Ich habe kein Interesse daran, hier irgendwem Vorschriften zu machen.«

»Sie sind im Besitz von Eigentum, das uns gehört«, erklärte Ivaskova dann. »Wir müssen darauf bestehen, dass Sie dieses Eigentum an unser Arbeiterkomitee zurückgeben.«

»Von welchem Eigentum reden Sie?«

»Ich rede von dem Kriegsschiff.«

Sofort schüttelte Iceni den Kopf, während ihre Miene keine Regung zeigte. »Wir haben dieses Schlachtschiff nicht Ihnen, sondern den Syndikatwelten abgenommen. Ich beabsichtige, das Schiff zu behalten. Sobald keine Gefahr mehr besteht, es zu bewegen, werden wir es nach Midway mitnehmen, um es fertigzustellen und einsatzbereit zu machen.«

Ivaskova drehte den Kopf zur Seite und redete allem Anschein nach mit mehr als nur einer Person, aber was gesprochen wurde, wurde von der Komm-Software gezielt unverständlich gemacht. Nach den Veränderungen zu urteilen, die Ivaskovas Gesichtsausdruck durchmachte, und mit Blick auf die eindringlicheren Gesten schien sich die Unterhaltung schnell in einen erbitterten Streit zu verwandeln.

»Ein Arbeiterkomitee?«, fragte Marphissa. »Was soll das sein?«

»Ein anderes Wort für Anarchie. Arbeiterkomitees sind wie Viren, Kommodor. Eine Seuche. Wir müssen dafür sorgen, dass diese Seuche nicht auf unsere Kriegsschiffe überspringt. Lassen Sie unsere Komm-Experten alle Verbindungen zur Einrichtung blockieren, mit Ausnahme der einen, die Sie selbst kontrollieren.«

»Die Hintertürchen …«

»… müssen in dem Moment geschlossen werden, in dem sie aufgehen«, wies Iceni an. »Das hat für Ihr Komm-Personal oberste Priorität.«

»Ja, Madam Präsidentin.«

»Und sorgen Sie dafür, dass jemand das Komm-Personal überwacht, damit keiner von ihnen sich mit dem Arbeiterkomitee unterhält.«

Während Marphissa die Befehle weitergab, meldete sich Ivaskova endlich wieder bei Iceni. »Wir fordern die Herausgabe des Schlachtschiffs.«

»Ihre Forderung wurde zur Kenntnis genommen. Leben noch irgendwelche von Ihren Executives?«, fragte Iceni, die sich ziemlich sicher war, dass sie die Aufmerksamkeit des Arbeiterkomitees leicht auf ein anderes Thema lenken konnte.

»Ähm … ja, ein paar. Die meisten starben beim Kampf gegen die Schlangen oder gegen uns, vor allem bei der Explosion eines Jägers im Raumdock, mit dem sie entkommen wollten. Wir wissen, dass Sub-CEO Petrov dort starb.«

»Was ist auf dem zweiten Planeten los? Da wirkt alles sehr ruhig, aber vor ein paar Minuten konnte man das von Ihrer Einrichtung auch behaupten.«

Ivaskova mochte sich jetzt als Freie Arbeiterin bezeichnen, aber sie hatte sich ein Leben lang Vorgesetzten untergeordnet, weshalb sie nun auf jede von Icenis Fragen reagierte, ohne überhaupt zu überlegen, ob es einen Grund gab, ihr Rede und Antwort zu stehen. »Die Schlangen haben die Macht an sich gerissen. Sie haben viele Leute getötet. Es gab etliche Demonstrationen, weil die Bürger und die Arbeiter sich für mehr Rechte eingesetzt haben. Wir wollten, dass die Schlangen und die CEOs von hier verschwinden, damit wir uns selbst regieren können. Und dann auf einmal haben die Schlangen zugeschlagen, und eine Zeit lang wollte niemand etwas unternehmen, da die Schlangen auch die Kontrolle über die mobilen Streitkräfte hatten. Aber dann haben wir gesehen, wie sie von Ihnen geschlagen wurden, und daraufhin sind wir in Aktion getreten. Die drei mobilen Einheiten im Orbit um den zweiten Planeten werden immer noch von den Schlangen kontrolliert, nicht wahr? Solange sie im Orbit bleiben, werden die Leute auf dem Planeten wahrscheinlich weiter abwarten. Aber vielleicht auch nicht. Wir sind es leid. Lieber sterben wir, anstatt noch länger Sklaven zu sein.«

Das wurde ja immer schlimmer. Wenn sich eine solche Denkweise bis nach Midway herumsprach … Mit einem Mal war sie froh über Colonel Malins Ratschlag, den Bürgern gewisse Zugeständnisse zu machen, bevor die auf die Idee kamen, ein viel größeres Stück vom Kuchen zu fordern. »Ich weiß Ihre Unterstützung zu schätzen, Arbeiterin Ivaskova. Ich werde mich in Kürze wieder bei Ihnen melden.« Dann beendete sie das Gespräch und atmete laut seufzend aus.

Wie sollte sie diese Bewegung auf Kane beschränken?

Und was wäre, wenn auf dem Planeten tatsächlich eine umfassende Revolte ausbrach, während die von den Schlangen kontrollierten mobilen Einheiten sich immer noch im Orbit aufhielten? Die Antwort darauf war ihr natürlich klar, weshalb ihr auch bei der Vorstellung übel wurde, wie viel Zerstörung und Tod von dort oben auf den Planeten herabregnen würde.

Eigentlich konnte sie es sich gar nicht leisten, solchen Gedanken nachzugehen, und das war auch gar nicht erforderlich. Es geht darum, meine eigene Position in Midway zu beschützen. Wenn ich anfange, mir Gedanken über das Wohl der Bürger zu machen … okay, darüber mache ich mir sehr wohl Gedanken. »Es wäre für Kane von Nutzen, wenn man sich mit uns verbünden würde.«

»Madam Präsidentin?«, fragte Marphissa.

»Ich habe nur laut gedacht, Kommodor. Von unerwünschten Mitteilungen an unsere Crew einmal abgesehen – glauben Sie, von dieser Einrichtung der mobilen Streitkräfte könnte eine Gefahr für uns ausgehen? Sie sind sehr daran interessiert, das Schlachtschiff zu behalten.«

Marphissa zog nachdenklich die Brauen zusammen. »Wenn sie es haben wollen, werden sie es nicht mit improvisierten Massewerfern zerstören. Trotzdem sollten wir es außer Reichweite schaffen. Wenn ich einen zweiten Schweren Kreuzer andocken lasse, können wir es mit mäßiger Geschwindigkeit abschleppen, bis wir eine Stelle erreichen, an der der Planet den Blick auf das Schiff versperrt.«

»Hervorragend. Machen Sie das.«

»Wenn sie nicht alle ihre Schlepper in die Luft gejagt haben, als dieser Jäger hochging, dann könnten sie damit versuchen, das Schlachtschiff zu erreichen. Sollte es dazu kommen, können wir die eintreffenden Schlepper zerstören, oder wir lassen Colonel Rogeros Soldaten auf die Arbeiter los, sobald sie an Bord gelangen.«

»Die zweite Lösung wäre angebrachter, falls es überhaupt dazu kommt«, erwiderte Iceni und betrachtete ihr Display. »Wir müssen auch noch jemanden hinter den drei Kriegsschiffen herschicken, die von den Schlangen kontrolliert werden.«

»Die können wir nicht einholen«, erwiderte Marphissa. »Es sei denn, sie beschließen, gegen uns zu kämpfen.«

»Ich weiß, aber wir können sie vom zweiten Planeten verscheuchen. Wenn es stimmt, was die Arbeiter der Einrichtung für die mobilen Streitkräfte sagen, dann haben die Schlangen vorangegangene Massenunruhen bereits niedergeschlagen und kontrollieren nach wie vor den Planeten. Viele von ihnen können aber nicht mehr leben, und deshalb benutzen sie die Kriegsschiffe, um die Bevölkerung in Schach zu halten.«

»Wenn wir eine Streitmacht entsenden, um sie zu vertreiben …«

»Dann werden die Senior-Schlangen entweder versuchen, in der Bevölkerung unterzutauchen oder zu diesen drei Einheiten zu gelangen, damit sie durch den nächsten Sprungpunkt entkommen können«, führte Iceni den Satz zu Ende. »Zwei unserer Schweren Kreuzer werden damit beschäftigt sein, das Schlachtschiff ein Stück weit wegzuschleppen.«

»Womit ein Schwerer Kreuzer übrig ist«, folgerte Marphissa. »Wir schicken die C-555 hin, außerdem vier Leichte Kreuzer und vier Jäger. Das wird mehr als genug sein, um die Schlangen zu überwältigen, falls sie auf die Idee kommen sollten, sich auf ein Gefecht mit uns einzulassen, und wir haben immer noch zwei Schwere Kreuzer, zwei Leichte Kreuzer und die restlichen fünf Jäger, falls wir das Schlachtschiff vor einem Selbstmordanschlag oder einer anderen Flotte beschützen müssen, die genau im falschen Moment auftauchen könnte.«

»Veranlassen Sie das. Lassen Sie den Befehlshaber der C-555 wissen, dass er das Kommando über die dermaßen aufgeteilte Flotte hat. Ich will sehen, wie er damit umgeht. Und noch eines: Schicken Sie sofort einen Jäger zurück nach Midway, damit General Drakon über alles informiert wird, was sich hier bislang abgespielt hat. Sorgen Sie dafür, dass der Jäger mit den aktuellsten Zahlen versorgt wird, was unsere Schätzung angeht, wann sich das Schlachtschiff aus eigener Kraft in Bewegung wird setzen können, ohne dass wir uns Sorgen darüber machen müssen, es könnte uns um die Ohren fliegen.«

Iceni sah auf ihr Display und versuchte nachzudenken und sich daran zu erinnern, ob sie wohl irgendetwas vergessen hatte. Sie hatte von dem einzelnen Jäger gesprochen. War da nicht noch irgendein anderer einzelner Jäger gewesen? O ja! »Kommodor, haben Sie gehört, was diese Arbeiterin darüber gesagt hat, was mit diesem Jäger im Primärdock geschehen ist?«, fragte sie Marphissa leise genug, um den Eindruck zu erwecken, diese Frage sei nur für die Kommodor bestimmt, obwohl sie wusste, die Spezialisten auf der Brücke würden mithören können. »Die haben den Jäger in die Luft gesprengt, als die, die sich an Bord befanden, gerade abfliegen wollten. Alle an Bord sind dabei gestorben.«

»Alle?«, erwiderte Marphissa, schaute Iceni an und begriff dann, was die Bemerkung sollte. »Die gesamte Crew? Die haben nicht bloß die Schlangen getötet und die anderen verschont?«

»Nein. Offenbar hat das Leben des Personals der mobilen Streitkräfte für sie genauso wenig Bedeutung wie das Leben der Schlangen.« Ihre Aussage, die zweifellos schon bald in der Flotte kursieren würde, sollte die Besatzungen der verschiedenen Einheiten hoffentlich gegen die Propaganda des Arbeiterkomitees immun machen, die eine nicht zu unterschätzende Bedrohung darstellte. Zumindest würde das auf ihren Kriegsschiffen eine gesunde Portion Argwohn gegenüber allem wecken, was die Arbeiter von sich geben würden.

Zwölf Stunden später beobachtete Iceni, wie die Umrisse der Einrichtung der mobilen Streitkräfte allmählich hinter dem Gasriesen verschwanden, da die Schweren Kreuzer C-448 und C-413 unter großen Anstrengungen die ungeheure Masse des Schlachtschiffs durchs All bewegten. Betrachtete man das Bild auf dem Display, dann sah es eher so aus, als würde die Einrichtung im Schneckentempo ihre Position verlassen, nicht aber das Schlachtschiff. »Mehr beschleunigen können wir nicht?«, wollte Iceni wissen.

Marphissa spreizte hilflos die Hände. »Das könnten wir schon, Madam Präsidentin, aber wir müssen auch wieder abbremsen. Je stärker wir beschleunigen, umso länger benötigen wir, das Schiff wieder zum Stillstand zu bringen.«

»Tja, den Gesetzen der Physik muss sich wohl sogar eine Präsidentin unterordnen.« Ein Komm-Alarm ertönte. »Die Einrichtung der mobilen Streitkräfte ruft mich«, sagte sie. »Wahrscheinlich ist ihnen aufgefallen, dass wir uns mit dem Schlachtschiff entfernen.«

»Selbst ein Arbeiterkomitee sollte einsehen, dass es kein Druckmittel in der Hand hat, um Sie zur Herausgabe des Schiffs zu zwingen.« Marphissa beugte sich vor und aktivierte dabei die Privatsphäre, die sich um ihren Sessel herum bildete. »In der Crew kursieren Gerüchte über das, was sich in der Einrichtung abgespielt haben muss. Es gibt wenig Verständnis für das, was sie getan haben, dafür stimmen ihnen viele in dem Punkt zu, was sie erleiden mussten.«

»Das ist nicht gut.«

»Auf der anderen Seite wird einiges von dem lobend erwähnt, was Sie gemacht haben, zum Beispiel die Änderung der Dienstbezeichnung von Manager zu Spezialist. Das gilt als Beweis dafür, dass Sie die Arbeiter respektvoller behandeln werden, als sie von einem Syndikats-CEO erwarten würden.«

Aber was würden sie dann in Zukunft von ihr erwarten? »Wie lange noch, bis das Schlachtschiff aus eigener Kraft fliegen kann?«, fragte Iceni bestimmt schon zum x-ten Mal.

»Die jüngste Schätzung liegt bei nunmehr sechzehn Stunden. Madam Präsidentin, es wäre gefährlich, sich mit dem Schlachtschiff auf den Heimweg zu machen, wenn sich nur die Ausstattungsmannschaft an Bord befindet. Das sind zu wenige Leute, um diese Einheit wirklich sicher zu bedienen. Ich rate dringend dazu, die Besatzungen der Schweren Kreuzer auf ein Minimum zu reduzieren und mit ihnen das Schlachtschiff zu bemannen, damit sie es nach Midway bringen können.« Nach einer kurzen Pause fuhr Marphissa fort: »Ich sollte wohl allerdings auch erwähnen, dass die Gefechtstauglichkeit der Schweren Kreuzer erheblich eingeschränkt wird, wenn wir so vorgehen.«

Warum bin ich bloß je CEO geworden? Von meinem Posten als Präsidentin ganz zu schweigen! »Ich werde über den Vorschlag nachdenken.« Sorgte sie dafür, dass das Schlachtschiff ausreichend besetzt war, dann waren die Schweren Kreuzer nicht in der Lage, für genügenden Schutz zu sorgen, und dabei war der Sinn der Anwesenheit dieser Kreuzer genau der, den Schutz des Schlachtschiffs zu gewährleisten. Es wäre wirklich erfreulich, wenn sie zur Abwechslung auch mal zwischen zwei guten Alternativen wählen könnte, anstatt immer nur nach dem kleineren Übel suchen zu müssen.

Wenigstens blieb ihr diesmal genügend Zeit, um die verfügbaren Möglichkeiten gegeneinander abzuwägen. Nachdem die Einrichtung der mobilen Streitkräfte mittlerweile nicht mehr in der Lage war, das Schlachtschiff zu sehen, hatten die Schweren Kreuzer damit begonnen, das Schiff so zu drehen, dass es schließlich in die andere Richtung zeigte, damit sie mit ihren Hauptantrieben das Bremsmanöver einleiten konnten. Iceni schaute dabei zu, wie sich das Bild des Gasriesen auf ihrem Display langsam drehte, während die Schiffe ihre neue Position einnahmen. Der Anblick war zwar nicht ganz so ermüdend wie der Versuch, Gras beim Wachsen zuzusehen, aber es war nur ein knapper zweiter Platz, obwohl das Lichtspektrum der Wolken in der Atmosphäre des Gasriesen durchaus etwas Faszinierendes an sich hatte.

Das war das grundsätzliche Problem mit dem Weltall. Bei sehr seltenen Gelegenheiten spielte sich alles viel zu schnell ab, wenn nur Sekundenbruchteile zur Verfügung standen, um weitreichende Entscheidungen zu treffen oder um einen Feind unter Beschuss zu nehmen. Aber die meiste Zeit über spielten sich die Dinge extrem langsam und träge ab. Selbst bei den ungeheuren Geschwindigkeiten, die moderne Raumfahrzeuge erreichen konnten, dauerte es immer noch sehr lange, um Wege zurückzulegen, die sich über Milliarden Kilometer erstreckten. Sogar das Licht erschien einem langsam, wenn es trotz seiner viel höheren Geschwindigkeit etliche Stunden benötigte, um die Strecke zwischen zwei Raumschiffen oder zwischen einem Raumschiff und einem Planeten zu bewältigen. Die Flotte, die Iceni zum zweiten Planeten geschickt hatte, damit die den Schlangen unterstehenden Kriegsschiffe in die Flucht geschlagen wurden, war vor fast zwölf Stunden aufgebrochen, und jetzt war ihr Ziel immer noch gut drei Stunden entfernt, obwohl sie in jeder Sekunde dreißigtausend Kilometer zurücklegte. Jede Reaktion der gegnerischen Flotte würde Iceni dabei erst mit eineinhalb Stunden Verzögerung sehen können.

Gelangweilt und angespannt zugleich fiel es ihr schwer, sich auf die Entscheidungen zu konzentrieren, die zwar nicht unmittelbar, aber doch in nächster Zeit gefällt werden mussten. Icenis Gedanken begannen, um Marphissas Vorschlag zu kreisen, dem Schlachtschiff einen Namen zu geben. Wenn sie sich dazu durchrang, würde jedes andere Kriegsschiff vom Schweren Kreuzer bis hin zum Jäger auch einen Namen haben wollen. Mussten diese Namen nach irgendeinem System vergeben werden?

Wenn es ein System gab, dann konnte sie davon ausgehen, dass es in der Allianz Anwendung fand. Über so etwas konnten die Allianz-Gefangenen in den Arbeitslagern gesprochen haben, weil das nichts betraf, was die Syndikatwelten im Krieg gegen die Allianz hätten verwenden können. Iceni begann eine Suche nach Verhörergebnissen und bekam gleich darauf eine Reihe von Berichten zu diesem Thema angezeigt.

Im ersten Bericht fand sich die Antwort auf eine Frage, die Iceni schon seit einer Weile beschäftigt hatte, ohne dass sich eine Gelegenheit ergeben hätte, dieser Sache auf den Grund zu gehen. Warum taten die Allianz-Politiker nicht etwas für ihr Ego und liehen Schlachtschiffen und Schlachtkreuzern der Allianz ihren eigenen Namen? Die Antwort fand sich in eben ihren Egos, denn wie sich herausgestellt hatte, waren sie sich einfach nicht einig geworden, wem eine solche Ehre zuteil werden sollte. Stattdessen hatten sie sich in endlosen Diskussionen verstrickt. Das wirft die Frage auf, wieso die Syndikatwelten unsere Schlachtschiffe und Schlachtkreuzer nicht nach hochrangigen CEOs benannt haben. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die höchsten Allianz-Politiker sich für wichtiger halten sollten als die hochrangigsten CEOs, denen ich begegnet bin. Vielleicht konnten sich unsere CEOs ja auch nicht darauf verständigen, wer auf diese Weise geehrt werden sollte.

Warum sollte sie das Schlachtschiff nicht nach sich selbst benennen? Die Iceni. Die Vorstellung eines Schlachtschiffs mit dem Namen Iceni hatte etwas Atemberaubendes an sich. Aber irgendwie kam ihr das auch ein wenig seltsam vor, so als wäre sie eine Herrscherin aus der Antike, die sich für so wichtig hielt, dass sie sich selbst mit einem gewaltigen Monument belohnte. So wie diese … wie hießen sie noch gleich … ja, die Pyramiden auf der Alten Erde.

Trotzdem … Also gut, nehmen wir mal an, ich würde das so machen. Wenn alles gut verläuft, gelingt es uns irgendwann, unsere Flotte um ein weiteres Schlachtschiff oder einen Schlachtkreuzer zu ergänzen. Dieses Schiff würde ich dann nach Drakon benennen. Natürlich vorausgesetzt, dass Drakon bis dahin nichts zugestoßen ist. Aber was mache ich dann bei einem dritten Schiff? Wessen Namen soll das tragen? Ich habe die boshaften Kämpfe miterlebt, die aus nichtigerem Anlass ausgetragen wurden. Will ich mir tatsächlich über solche Dinge den Kopf zerbrechen? Sollen meine größten Kriegsschiffe hochtrabende Monumente für noch lebende Politiker werden? Und was passiert, wenn ich ein Schiff nach Drakon benenne und es kommt zu einem Zerwürfnis? Werde ich das Schiff dann umbenennen? Und irgendwann wieder? Bis der Name für niemanden mehr eine Bedeutung hat, weil er nichts weiter widerspiegelt als eine gerade aktuelle Laune?

War die Weigerung der Syndikatsbürokratie, Kriegsschiffen Namen zu geben, in Wahrheit eine kluge Entscheidung gewesen, um solche Schwierigkeiten zu vermeiden? Vermutlich haben ja sogar diese Leute ab und zu mal richtig gelegen.

Wenn sie sich aber für den Namen Midway entschied, wie Marphissa ihn vorgeschlagen hatte, dann würde sie all diesen Problemen aus dem Weg gehen. Und wenn sie andere Sternensysteme zu Verbündeten machen konnte, dann war das nächste Schlachtschiff womöglich die Kane. Das würde dem gesamten Sternensystem gefallen, und auf die Weise würde sie sich damit auch noch Freunde machen.

Und was ist mit den kleineren Kriegsschiffen? Anscheinend benannte die Allianz ihre Schweren Kreuzer nach Panzerungen oder einfach nach besonders harten Substanzen benannt, so zum Beispiel nach dem Diamanten. Die Leichten Kreuzer waren mit offensiven und defensiven Begriffen belegt worden, und die Zerstörer – Schiffe, die größer waren als die Jäger der Syndikatwelten – trugen die Bezeichnungen von Waffen.

Sie brauchte auch solche Kategorien, aber sie konnte nicht einfach die Einteilungen der Allianz übernehmen. So etwas würde niemandem hier behagen. Was war sonst noch möglich? So wie zuvor bei den Dienstgraden rief Iceni historische Dateien auf und suchte nach Schiffen, die früher einmal in irgendeiner Weise mit den Syndikatwelten zu tun gehabt hatten und die Namen als Bezeichnungen trugen. Sie musste dafür weit in die Vergangenheit vordringen, bis in die Zeit, als die Sternensysteme in dieser Region gerade erst kolonisiert wurden. In einigen Fällen hatten die Menschen von der Alten Erde eine sehr lange Reise auf sich genommen, um so viel Territorium wie möglich für sich zu beanspruchen, während gleichzeitig die Sorge bestand, jeden Moment auf eine andere intelligente Spezies zu stoßen.

In diesen alten historischen Dateien fanden sich einige Schiffsnamen, größtenteils abgeleitet von Individuen, deren einstige Bedeutung schon vor langer Zeit in Vergessenheit geraten war. Vielleicht hatten ein paar dieser Namen Politikern gehört, doch wenn dem so war, dann hatte ihr Streben nach Unsterblichkeit auf diesem Weg das Ziel Ewigkeit weit verfehlt.

Aber da waren auch noch andere Namen. Manticore. Basilisk. Gryphon. Einige davon waren ihr vertraut – sie bezeichneten mythische Kreaturen, mächtige mythische Kreaturen. Und diese Namen reichten weit zurück, bis zu den Schiffen jener Vorfahren, die von den Crewmitgliedern trotz des offiziellen Verbots offensichtlich heimlich weiter angebetet worden waren. Gut, sehr gut sogar. Damit war für die Schweren Kreuzer das Problem schon mal gelöst.

Der Phönix. Icenis Blick blieb an diesem Namen hängen, und sie musste über diese Kreatur nachdenken. Die Taktik der verbrannten Erde, wie sie von den Schlangen und sogar von Nicht-ISD-Angehörigen wie CEO Kolani betrieben worden war, wenn sie sich in die Enge getrieben fühlten, hatte Iceni schon seit einer Weile immer mehr zu schaffen gemacht. Ihr war der Gedanke gekommen, dass solche Leute nichts hatten zurücklassen wollen, was Iceni noch hätte gebrauchen können, nichts außer Asche, die für die Bürger rebellierender Sternensysteme keinerlei Nutzen haben würde.

Aber in der Mythologie hatte sich der Phönix aus der Asche erhoben. Eine Wiedergeburt. Dieses spezielle Symbol sollte keinem beliebigen Schiff gegeben werden, ganz im Gegenteil. Diesen Namen würden sie noch zurückhalten, um ihn als Symbol für etwas zu verwenden, aus dem weitaus mehr werden könnte als nur ein angeschlossenes Sternensystem. Etwas, das bereit war, gemeinsam gegen die vormaligen Herrscher zu arbeiten und sich gemeinsam gegen jede andere Bedrohung zu stellen. Ja, sie würden aus der Asche der Syndikatwelten etwas Neues schaffen.

Aber damit würde sie sich später immer noch befassen können. Für den Augenblick galt es, die Frage zu klären, welche Namen die Leichten Kreuzer erhalten sollten. In der Hoffnung auf eine Inspiration ließ Iceni ihren Blick über das Display wandern. Dort war der abgetrennte Teil der Flotte zu sehen, der sich nach wie vor scheinbar unendlich langsam durch diesen Teil des Systems bewegte. Der angezeigte Vektor der Schiffe verlief in einer Kurve auf den zweiten Planeten zu, so wie die Flugbahn eines Greifvogels, der auf sein Opfer zuschoss.

Ein Greifvogel? Ein Falke, ein Adler, ein … Rabe? War ein Rabe ein Greifvogel? Egal, ihr gefiel dieses Bild.

Damit blieben noch die Jäger. Was sollte sie mit ihnen ausdrücken? Irgendwas mit Aussagekraft, etwas Inspirierendes. Aber was? Vielleicht die Art von Verhalten, die sie bei Sub-Executive Kontos beobachtet hatte, der unerschütterlich auf der Brücke über das Schlachtschiff gewacht hatte, bis seine Ablösung eintreffen würde.

Ein Wachtposten.

Ein Wächter, Verteidiger, Hüter, Späher, Krieger. Da boten sich viele Möglichkeiten an. Und die Crewmitglieder, die froh darüber waren, nicht länger Manager sondern Spezialisten zu sein, würden es sicher begrüßen, wenn ihre Schiffe keine so neutralen Bezeichnungen trugen.

Wie schnell so eine Entscheidung doch getroffen werden konnte, wenn es keine Bürokratie gab, die alles nur unnötig erschwerte.

Iceni sah Marphissa an. »Also, Kommodor, wann möchten Sie formal das Kommando über das Schlachtschiff Midway übertragen bekommen?«

Marphissas Augen leuchteten auf. »Sie bekommt einen Namen?«

»Ja.« Und sie wird vermenschlicht. Daran sollte ich mich wohl besser schnell gewöhnen.

»Madam Präsidentin, es ist mir eine Ehre, dass …«

»Kommodor!«, rief der Ablauf-Spezialist. »Aktivitäten nahe dem zweiten Planeten!«

Iceni drehte sich zu ihrem Display um. Vor eineinhalb Stunden hatten die von den Schlangen kontrollierten Kriegsschiffe etwas unternommen. Aber was?

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