Zedd schlenderte, sich gemächlich umsehend, in die düstere Gaststube und mußte feststellen, daß sein schweres kastanienbraunes Gewand mit den schwarzen Ärmeln und den von einer Kapuze überdeckten Schultern hier fehl am Platz war. Das weiche Licht der Lampen stellte die drei Reihen Silberbrokat an jeder Manschette und den breiteren Goldbrokatstreifen, der rings um den Hals und senkrecht die Vorderseite hinunterlief, protzig heraus. Ein roter Samtgürtel mit einer goldenen Gürtelschnalle raffte das prächtige Gewand an der Hüfte.
Er vermißte seine schlichten Kleider, doch die hatte er vor langem abgelegt – auf Adies Drängen. Die alte Magierin hatte diese Maskerade persönlich für ihn ausgesucht. Für mächtige Zauberer war eine schlichte Ausstaffierung so etwas wie eine militärische Uniform. Zedd vermutete jedoch, seine alten Kleider hatten ihr einfach nicht gefallen.
Er vermißte Adie. Ihr mußte das Herz brechen, weil sie ihn vermutlich für tot hielt. Das bereitete ihm Kummer. Fast alle hielten ihn für tot. Vielleicht würde er Ann, sobald sie Zeit hätten, bitten, eine Nachricht zu schreiben, um Adie mitzuteilen, daß er noch lebte.
Am meisten Sorgen machte er sich allerdings um Richard. Der Junge brauchte ihn. Richard hatte die Gabe, und ohne rechte Anweisung war er so hilflos wie ein aus dem Nest gefallenes Adlerküken. Wenigstens hatte Richard das Schwert der Wahrheit, das ihn erst einmal beschützte. Zedd hatte vor, seinen Enkel aufzusuchen, sobald sie Nathan gefaßt hatten. Lange würde es nicht mehr dauern, dann konnte er sich auf den Weg zu Richard machen.
Der Wirt musterte Zedds auffallende Kleidung, dabei blieb sein Blick an der goldenen Gürtelschnalle hängen. Eine Ansammlung hagerer Gäste in Fellen, abgerissenem Leder und zerlumpten Wollklamotten bedachte ihn aus den Nischen an der Wand rechts von ihm mit neugierigen Blicken. Zwei grobgezimmerte Tische standen unbesetzt auf dem mit Stroh bestreuten Fußboden und warteten auf Gäste.
»Das Zimmer kostet eine Silbermünze«, verkündete der Wirt gelangweilt. »Wenn Ihr Gesellschaft wollt, macht das noch eine Silbermünze.«
»Wie es scheint, erweist sich meine Kleiderwahl als recht kostspielig«, merkte Zedd an.
Der stämmige Wirt lächelte mit einem Mundwinkel und streckte seine fleischige Hand aus, die Handfläche nach oben. »Es kostet, was es kostet. Wollt Ihr jetzt ein Zimmer oder nicht?«
Zedd ließ eine einzelne Silbermünze in die Hand des Mannes gleiten.
»Dritte Tür links.« Er deutete mit einem Nicken seines braunen Lockenkopfs hinten auf den Flur. »An Gesellschaft interessiert, alter Mann?«
»Ihr müßtet mit der Dame teilen, die gerade gerufen hat. Ich dachte, vielleicht hättet Ihr Interesse, ein wenig mehr Profit zu machen. Sehr viel mehr.«
Die Brauen des Mannes zuckten neugierig, während seine Hand sich um die Silbermünze schloß.
»Und das heißt?«
»Nun, wie ich hörte, ist ein guter alter Freund von mir dafür bekannt, daß er hier absteigt. Ich habe ihn eine ganze Weile nicht gesehen. Wäre er heute abend hier, und könntet Ihr mich zu seinem Zimmer führen, wäre ich vor Glück und Freude so überwältigt, daß ich mich törichterweise von einer Goldmünze trennen würde. Von einer ganzen Goldmünze.«
Der Mann musterte ihn erneut von Kopf bis Fuß.
»Hat dieser Freund von Euch einen Namen?«
»Nun«, Zedd senkte die Stimme, »wie viele Eurer anderen Gäste hat er mit Namen seine Schwierigkeiten – er scheint sie einfach nicht lange behalten zu können und muß sich ständig neue ausdenken. Aber ich kann Euch verraten, daß er groß ist, älter und weißes Haar hat, das ihn bis hinunter auf die Schultern reicht.«
Der Mann beulte mit der Zunge die Innenseite seiner Wange aus. »Er ist zur Zeit … beschäftigt.«
Zedd holte die Goldmünze hervor, steckte sie aber wieder ein, als der Wirt danach greifen wollte. »Das sagt Ihr. Ich würde gerne selbst entscheiden, wie beschäftigt er ist.«
»Das macht noch eine Silbermünze.«
Zedd zwang sich, seine Stimme im Zaum zu halten. »Wofür?«
»Für die Zeit und die Gesellschaft der Dame.«
»Ich habe nicht die Absicht, mich Eurer Dame zu bedienen.«
»Das sagt Ihr. Wenn Ihr ihn mit ihr zusammen seht, befällt Euch vielleicht ein Stimmungswandel, und Ihr beschließt, Eure Jugend etwas … aufleben zu lassen. Es ist mein Geschäftsprinzip, mir erst das Geld geben zu lassen. Wenn sie mir sagt, Ihr hättet sie nicht mehr als angelächelt, könnt Ihr die Silbermünze zurückbekommen.«
Zedd wußte, daß dieser Fall niemals eintreten würde. Sein Wort stünde gegen ihres, und ihr Wort enthielte den süßen Klang, wenn schon nicht der Wahrheit, dann des zusätzlichen Gewinns. Doch wie die Dinge lagen, war der Preis nicht wichtig, sosehr ihn das auch ärgerte. Zedd suchte in einer Innentasche und gab ihm die Silbermünze.
»Das letzte Zimmer rechts«, sagte der Gastwirt. »Und im Zimmer nebenan haben wir einen Gast, der nicht gestört werden möchte.«
»Ich werde Eure Gäste nicht behelligen.«
Er grinste Zedd verschlagen an. »So unscheinbar sie ist, ich bot ihr ein wenig Gesellschaft an – ohne Aufpreis –, und sie meinte zu mir, wenn jemand ihre Ruhe stört, zieht sie mir bei lebendigem Leib das Fell über die Ohren. Einer Frau, die dreist genug ist, alleine hier hereinspaziert zu kommen, glaube ich aufs Wort. Ich werde ihr die Silbermünze nicht zurückgeben, wenn Ihr sie weckt. Ich werde sie aus Eurer Börse nehmen. Kapiert?«
Zedd nickte gedankenversunken und überlegte kurz, ob er sich etwas zu essen bestellen sollte – er war hungrig –, dann aber verwarf er den Gedanken widerstrebend, »Habt Ihr vielleicht zufällig eine Hintertür, für den Fall, daß ich nachts … ein wenig Luft brauche?« Zedd wollte nicht, daß Nathan zur falschen Tür hinausschlüpfte. »Ich bin mir darüber im klaren, daß das ein wenig extra kostet.«
»Hinten stoßen wir an die Schmiede«, erklärte der Wirt im Fortgehen. »Es gibt keine zweite Tür.«
Letztes Zimmer rechts. Nur ein Eingang. Ein Ausgang. Irgend etwas stimmte da nicht. So töricht wäre Nathan niemals. Und doch spürte Zedd das Knistern der Magie seiner Verbindung in der Luft.
Sosehr er auch daran zweifelte, daß Nathan wie auf dem Präsentierteller für sie im Bett bereitläge, er schlich leise durch den Flur. Angestrengt lauschte er auf ungewöhnliche Geräusche, hörte aber nur das einstudierte Stöhnen vorgetäuschter Leidenschaft einer Frau im zweiten Zimmer links.
Das Ende des Flures wurde von einer einsamen Kerze in einer hölzernen Halterung an der Seite beleuchtet. Vom vorletzten Zimmer aus konnte Zedd das leise Schnarchen der dreisten Dame hören, die nicht gestört werden wollte. Er hoffte, daß sie während der ganzen Geschichte weiterschlief.
Zedd legte sein Ohr an die letzte Tür rechts. Er hörte das leise, kehlige Lachen einer Frau. Wenn etwas schiefging, konnte ihr etwas zustoßen. Wenn es ganz und gar schiefging, konnte sie dabei den Tod finden.
Er hatte Zeit, aber wenn Nathan abgelenkt war, wäre das zweifellos hilfreich. Der Mann war schließlich ein Zauberer. Zedd wußte nicht genau, wie heftig sich Nathan einer Gefangennahme widersetzen würde.
Wie heftig er selbst sich widersetzen würde, war ihm jedoch klar. Damit war der Fall für ihn entschieden. Er konnte es sich nicht leisten, die Gelegenheit verstreichen zu lassen, solange Nathan abgelenkt war.
Zedd stieß die Tür auf, warf eine Hand nach vorn und entflammte die Luft mit lautlosen, verwirrenden Blitzen aus Hitze und Licht.
Das nackte Pärchen auf dem Bett fuhr erschrocken zurück und hielt sich die Augen zu. Mit einer Faust voller Luft schleuderte Zedd Nathan von der Frau herunter und an den hinteren Rand des Bettes. Während Nathan ächzend wild um sich schlug, packte Zedd die Frau am Handgelenk und stieß sie nach hinten aus dem Weg. Dabei riß sie ein Laken mit.
Als die Lichtblitze erloschen und noch bevor sie es schaffte, sich das Laken umzulegen, setzte Zedd ein Netz frei, das sie auf der Stelle erstarren ließ. Fast im selben Augenblick warf er ein ähnliches Netz über den Mann hinter dem Bett, nur daß dieses Netz mit schwerwiegenden Folgen durchwirkt war für den Fall, daß er versuchte, es mit Magie abzuwehren. Für Höflichkeiten oder Nachsicht war keine Zeit.
Plötzlich wurde es in dem schummerigen Zimmer still. Außer einem leisen dumpfen Poltern auf dem Fußboden hörte man fast keinen Laut. Nur auf dem Waschtisch flackerte schwach eine einsame Kerze. Zedd war erleichtert, daß alles so gut gelaufen war und er die Frau nicht verletzt hatte.
Er ging um das Fußende des Bettes herum, um sich den Mann auf dem Boden anzusehen, der wie erstarrt dalag, den Mund zum Ansatz eines Schreis geöffnet, die Hände zusammengekrallt, um sich zu verteidigen.
Das war nicht Nathan.
Zedd starrte ihn ungläubig an. Er konnte die Magie des Halsrings im Zimmer spüren. Er wußte, daß dies der Mann war, den er gejagt hatte.
Er beugte sich über den Mann. »Ich weiß, daß du mich verstehen kannst, also hör mir genau zu. Ich werde jetzt die Magie lockern, die dich hält, aber wenn du schreist, ziehe ich sie wieder fester an und lasse dich für immer in diesem Zustand. Denk genau nach, bevor du es riskierst, um Hilfe zu rufen. Wie du dir wahrscheinlich schon gedacht hast, bin ich ein Zauberer, und niemand, der hier auftaucht, wird etwas zu deiner Rettung tun können, wenn du mein Mißfallen erregst.«
Zedd fuhr vor dem Mann mit der Hand hin und her und nahm den Schleier des Netzes zurück. Der Mann krabbelte auf allen vieren rückwärts an die Wand, sagte aber noch immer kein Wort. Er war alt, aber nicht älter, als Nathan wirkte. Sein Haar war weiß, wenn auch, im Gegensatz zu Nathans glattem Haar, wellig. Es war auch nicht ganz so lang, aber offenbar hatte die knappe Beschreibung dem Wirt gereicht, um in diesem Mann den Gesuchten zu vermuten.
»Wer bist du?« fragte Zedd.
»Ich heiße William. Dann seid Ihr Zedd.«
Zedd richtete sich auf. »Woher weißt du das?«
»Der Kerl, nach dem Ihr wohl sucht, hat es mir gesagt.« Er zeigte auf den Stuhl ganz in der Nähe. »Was dagegen, wenn ich meine Hose anziehe? Ich habe so ein Gefühl, daß ich sie heute nicht mehr auszuziehen brauche.«
Zedd neigte den Kopf leicht zur Seite, deutete auf den Stuhl und gab William zu verstehen, er solle endlich loslegen. »Red weiter dabei. Und denk dran, ich hab' dir gesagt, daß ich Zauberer bin. Ich bemerke es, wenn mir jemand einen Bären aufbinden will. Denk außerdem daran, daß ich plötzlich bei sehr schlechter Laune bin.«
Was das Erkennen von Lügen anbetraf, sprach Zedd nicht ganz die Wahrheit, dennoch zählte er darauf, daß der Mann das nicht wußte. Was seine Laune anbetraf, stimmte das, was er gesagt hatte.
»Ich bin dem Mann, den Ihr verfolgt, zufällig begegnet. Er hat mir seinen Namen nicht verraten. Er bot mir an…« William blickte hinüber zur Frau, während er sich seine Hosen hochzog. »Darf sie das hören?«
»Wegen ihr brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Sondern wegen mir.« Zedd knirschte mit den Zähnen. »Red schon.«
»Na ja, er bot mir an…« Er linste zu der Frau hinüber. Ihr faltiges Gesicht war zu einer erschrockenen Maske erstarrt. »Er bot mir … einen Beutel voll Geld, wenn ich ihm einen Gefallen tue.«
»Was für einen Gefallen?«
»Daß ich mich für ihn ausgebe. Er trug mir auf, wenigstens bis hierher zu reiten, als sei der Hüter höchstpersönlich hinter mir her. Er sagte, wenn ich hier sei, könnte ich es langsamer angehen lassen, anhalten oder mich ausruhen, was immer ich wollte. Er meinte, Ihr würdet mich einholen.«
»Und das wollte er?«
William knöpfte seine Hose zu, ließ sich nach hinten auf den Stuhl fallen und ging daran, seine Stiefel überzustreifen. »Er sagte, ich könne Euch nicht abschütteln und Ihr würdet mich früher oder später einholen, aber er wollte nicht, daß das passiert, bevor ich wenigstens bis hierhin gekommen wäre. Ich bin sehr schnell geritten, aber ich muß gestehen, ich glaubte nicht, daß Ihr mir so dicht auf den Fersen seid, also dachte ich, ich genieße ein wenig von meinem verdienten Geld.«
William stand auf und schob einen Arm in ein braunes Wollhemd. »Ich soll Euch eine Nachricht übergeben.«
»Eine Nachricht? Was für eine Nachricht?«
William stopfte sein Hemd in die Hose, dann griff er in eine Hosentasche und zog einen ledernen Geldbeutel heraus. Er schien voller Münzen zu sein.
William öffnete den Beutel umständlich. »Sie ist hier drin, zusammen mit dem Geld, das er mir gab.«
Zedd entriß dem Mann den Beutel. »Ich sehe selber nach.«
Der Geldbeutel enthielt überwiegend Goldmünzen, dazu ein wenig Silber. Zedd nahm eine der Münzen zwischen Daumen und Zeigefinger. Er spürte das leichte Nachkribbeln von Magie. Die Münzen waren ursprünglich wahrscheinlich Kupferstücke gewesen, und Nathan hatte sie in Gold verwandelt.
Zedd hatte gehofft, daß Nathan diesen Trick nicht kenne. Gegenstände in Gold zu verwandeln war gefährliche Magie. Selbst Zedd tat das nur, wenn ihm keine andere Wahl blieb.
Im Beutel, neben den Münzen, steckte ein zusammengefaltetes Stück Papier. Er zog es heraus, drehte es in den Fingern um und unterzog es in dem schwachen Licht einer genauen Prüfung, dabei achtete er aufmerksam auf jede Art magischer Fallstricke, die womöglich damit verbunden waren.
William zeigte darauf. »Das ist der Zettel, den er mir gab. Er sagte, ich solle ihn Euch geben, wenn Ihr mich schnappt.«
»Und weiter? Hat er noch etwas gesagt, außer daß du mir diese Nachricht übergeben sollst?«
»Na ja, als wir uns trennten, zögerte er kurz und trug mir noch auf: ›Sag Zedd, es ist nicht, was er denkt.‹«
Zedd dachte einen Augenblick darüber nach. »Wohin ist er gegangen?«
»Weiß ich nicht. Ich saß auf meinem Pferd, und er war nach wie vor zu Fuß. Er sagte, ich solle losreiten, dann gab er meinem Pferd einen Klaps auf den Hintern, und ich ritt los.«
Zedd warf William den Beutel zu. Während er den Mann weiter im Auge behielt, faltete er das Papier auseinander. Im schwachen Schein der einen Kerze überflog er die Nachricht.
Entschuldige, Ann, aber ich habe wichtige Dinge zu erledigen.
Eine von unseren Schwestern steht im Begriff, eine große Dummheit zu begeben. Ich muß sie daran hindern, wenn ich kann. Sollte ich dabei umkommen, möchte ich, daß du weißt, wie sehr ich dich liebe, doch ich nehme an, das war dir bereits klar. Solange ich dein Gefangener war, konnte ich es nie aussprechen. Zedd, wenn der Mond rot aufgeht, wie ich es erwarte, dann schweben wir alle in tödlicher Gefahr. Geht der Mond drei Tage lang rot auf, bedeutet dies, daß Jagang eine Prophezeiung mit verknüpften Ästen heraufbeschworen hat. Du mußt zum Jocopo-Schatz gehen. Wenn du statt dessen wertvolle Zeit darauf verschwendest, mich zu verfolgen, werden wir alle sterben, und der Kaiser wird den gesamten Gewinn einstreichen. Eine Prophezeiung mit verknüpften Asten zwingt seinem Opfer ein Dilemma auf. Tut mir leid, Zedd, aber das genannte Opfer ist Richard. Mögen die Seelen seiner gnädig sein. Wenn mir die Bedeutung der Prophezeiung bekannt wäre, würde ich sie dir mitteilen, doch das ist leider nicht der Fall – die Seelen haben mir den Zugang zu ihr verweigert. Ann, begleite Zedd. Er wird deine Hilfe brauchen. Mögen die Guten Seelen mit euch beiden sein.
Zedd blinzelte, um seinen verschwommenen Blick zu klären. Dann sah er den Fleck. Er drehte die Nachricht um und sah, daß der Fleck ein Wachsrest war. Die Nachricht war versiegelt gewesen, doch im schwachen Licht war ihm das zunächst nicht aufgefallen.
Zedd hob rechtzeitig den Kopf, um Williams Knüppel zu sehen. Er zuckte zurück, spürte aber trotzdem den betäubenden Schmerz eines Hiebs. Er krachte mit der Schulter auf den Fußboden. William sprang auf ihn und drückte ihm ein Messer an die Kehle. »Wo ist dieser Jocopo-Schatz, alter Mann! Raus mit der Sprache, oder ich schlitze dir die Kehle auf!«
Zedd spürte, wie das Zimmer wankte, und versuchte sein Sehvermögen zu stabilisieren. Ihm war so übel, daß er keine Luft bekam. Er war augenblicklich schweißnaß. Williams Augen thronten wild über ihm. »Red schon!«
Der Mann stach ihn in den Oberarm. »Raus damit! Wo ist der Schatz!«
Eine Hand senkte sich herab und packte William bei den Haaren. Es war eine mittelalte Frau in einem dunklen Gewand. Zedd konnte sich keinen Reim darauf machen, wer sie war oder was sie hier tat. Die Frau stieß William überraschend kraftvoll nach hinten. Er schlug krachend neben der offenen Tür gegen die Wand und sackte zu Boden.
Sie grinste spöttisch auf Zedd herab. »Ihr habt einen großen Fehler gemacht, alter Mann, indem Ihr Nathan habt entkommen lassen. Ich dachte, wenn ich diesem alten Weibsstück folge, brächte mir das den Propheten ein. Aber was finde ich am Ende Eures magischen Hakens? Diesen Trottel hier, anstelle von Nathan. Tja, nun werde ich Euch ein paar Unannehmlichkeiten bereiten müssen. Ich will diesen Propheten.«
Sie machte kehrt und stieß eine Hand nach vorn, in Richtung auf die nackte Frau, die wie erstarrt dastand. Ein Donnerschlag explodierte im Zimmer, als sich ein mitternachtsschwarzer Blitz im Bogen von ihrer Hand entlud. Der tödliche Lichtblitz schnitt die Frau mitsamt dem Laken, das sie in Händen hielt, säuberlich entzwei. Blut spritzte an die Wand. Ihre obere Hälfte stürzte zu Boden wie eine in Stücke geschlagene Statue. Als ihr Oberkörper aufschlug, ergossen sich ihre Eingeweide über den Fußboden, ihre Beine verharrten jedoch in der bisherigen Stellung.
Die Frau, die über ihm schwebte, drehte sich um. Ihre Augen schienen aus verflüssigtem Zorn zu bestehen.
»Falls Ihr ebenfalls eine Kostprobe Subtraktiver Magie am eigenen Leib spüren wollt, ein Glied nach dem anderen, dann braucht Ihr mir bloß einen Grund zu liefern. Und jetzt zeigt mir die Nachricht.«
Zedd öffnete die Hand und hielt sie ihr hin. Sie streckte die Hand aus. Er versuchte sich trotz des Schwindelgefühls zu konzentrieren. Bevor sie das Stück Papier an sich reißen konnte, setzte er es in Brand. Es ging in einer leuchtend gelben Stichflamme zu Asche auf.
Mit einem wütenden Aufschrei wirbelte sie zu William herum. »Was stand da drauf, du Wurm?«
William, der bis zu diesem Augenblick starr vor Schreck gewesen war, sprang durch die Tür und rannte den Flur entlang.
Ihr langes, dünnes Haar peitschte um ihr Gesicht, als sie wieder zu Zedd herumwirbelte. »Ich werde zurückkommen und mir die Antworten von Euch holen. Ihr werdet mir alles gestehen, bevor ich Euch schließlich töte.«
Während sie auf die Tür zustürzte, fühlte Zedd, wie eine unbekannte Kombination von Magie seinen hastig errichteten Schild durchbrach. Ein Schmerz explodierte in seinem Kopf.
Er versuchte wieder zu Sinnen zu kommen und sich mit aller Macht aus dem Zugriff der blendenden Schmerzen zu befreien. Er war nicht gelähmt, aber unfähig zu überlegen, wie er sich überwinden sollte, jemals wieder aufzustehen. Nutzlos wie eine auf dem Rücken liegende Schildkröte, strampelte er mit Armen und Beinen in der Luft.
Der brennende Schmerz machte es schwierig, mehr zu tun, als bei Bewußtsein zu bleiben. Er preßte die Hände seitlich an den Kopf und hatte das Gefühl, sein Schädel würde platzen und er müsse ihn zusammenhalten. Er hörte seinen eigenen keuchenden Atem.
Plötzlich ließ der dumpfe Schlag eines Aufpralls die Luft erzittern und hob ihn für einen kurzen Augenblick vom Boden.
Ein greller Blitz erhellte das Zimmer, als das Dach in Stücke riß. Das tosende Krachen splitternden Holzes und berstender Balken ging fast im ohrenbetäubenden Knall des Donners unter. Der Schmerz verschwand.
Das Lichtnetz hatte gezündet.
Staubwolken stiegen in die Höhe, als rings um ihn rauchende Trümmer niedergingen. Zedd rollte sich zu einer Kugel zusammen und bedeckte schützend den Kopf, während Holz und Schutt auf ihn herabprasselten. Es klang, als befände man sich während eines Hagelsturms unter einem Kessel.
Endlich senkte sich Stille über die Szene, und Zedd nahm die Hände vom Kopf und schaute hoch. Zu seiner Überraschung stand das Gebäude noch – wenn man es so nennen wollte. Das Dach war größtenteils verschwunden, so daß der Wind den Staub in die dunkle Nacht hatte tragen können. Die Wände waren durchlöchert wie mottenzerfressene Lumpen. Ganz in der Nähe lagen die blutverschmierten Überreste der Frau.
Zedd unterzog seinen Körper einer eingehenden Prüfung und stellte zu seiner Überraschung fest, daß er, gemessen an den Umständen, in erstaunlich gutem Zustand war. Blut lief ihm an der Schläfe herunter, dort, wo William ihn getroffen hatte, und sein Arm pochte an der Stelle, wo ihn das Messer verletzt hatte, davon abgesehen schien er jedoch unverletzt. Kein schlechtes Ergebnis, wenn man bedachte, was hätte geschehen können.
Von draußen hörte er ein Stöhnen. Eine Frau kreischte hysterisch. Männer warfen Trümmerstücke zur Seite und riefen auf der Suche nach Toten und Verletzten deren Namen.
Plötzlich trat jemand die Tür auf. Sie flog, schief an einer Angel hängend, nach innen.
Zedd seufzte vor Erleichterung, als er eine bekannte, gedrungene Gestalt ins Zimmer huschen sah, deren rotes Gesicht von Sorge gezeichnet war.
»Zedd! Zedd, lebst du noch?«
»Verdammt, findest du, ich sehe nicht lebendig aus?«
Ann kniete neben ihm nieder. »Ich finde, du siehst grauenhaft aus. Du blutest am Kopf.«
Sie half ihm sich aufzusetzen, wobei er laut stöhnte. »Ich kann dir gar nicht sagen, wie froh ich bin, dich lebend zu sehen. Ich hatte Angst, du könntest dem Lichtzauber zu nahe gewesen sein, als er zündete.«
Sie tastete sich durch sein blutverkrustetes Haar und untersuchte die Wunde. »Das war nicht Nathan, Zedd. Fast hätte ich dem Mann den Halsring umgelegt, denn der Bann reagierte auf ihn. Dann kam Schwester Roslyn aus der Tür gestürzt. Sie warf sich auf ihn und brüllte ihn wegen irgendeiner Nachricht an.
Roslyn ist eine Schwester der Finsternis. Sie hat mich nicht gesehen. Meine Beine sind nicht mehr das, was sie einmal waren, aber ich bin gerannt wie ein Mädchen von zwölf, als ich sah, wie sie versuchte, ihre Subtraktive Magie zu benutzen, um den Bann aufzuheben.«
»Das hat wohl nicht funktioniert«, murmelte Zedd. »Wahrscheinlich ist sie noch nie an einen Bann geraten, der von einem Obersten Zauberer ausgesprochen wurde. Aber so gewaltig habe ich ihn ganz bestimmt nicht angelegt. Die Subtraktive Magie hat seine Kraft verstärkt. Das hat unschuldige Menschen das Leben gekostet.«
»Wenigstens auch das dieser gottlosen Frau.«
»Ann, mach mich wieder gesund, dann müssen wir diesen Menschen helfen.«
»Wer war dieser Mann, Zedd? Wieso hat er den Bann ausgelöst? Wo ist Nathan?«
Zedd streckte die Hand aus und öffnete die fest geschlossene Faust. Er ließ die Wärme der Magie in die Asche auf seiner Hand strömen. Die pulvrigen, schwarzen Überreste begannen zuerst zu verklumpen, dann hellte die Asche auf und wurde grau. Die verkohlten Überreste setzten sich wieder zu dem Stück Papier zusammen, das sie einst gewesen waren, und dieses nahm schließlich seine blaßbräunliche Farbe an.
»Ich habe noch nie jemanden gesehen, der das konnte«, flüsterte Ann staunend.
»Sei froh, daß das auch auf Schwester Roslyn zutrifft, sonst hätten wir noch größere Schwierigkeiten als ohnehin schon. Es hat seine Vorteile, Oberster Zauberer zu sein.«
Ann nahm ihm das zerknüllte Stück Papier aus der Hand. Ihre Augen wurden feucht, während sie die Nachricht von Nathan las. Nachdem sie zu Ende gelesen hatte, liefen ihr die Tränen lautlos über das rundliche Gesicht.
»Gütiger Schöpfer«, sagte sie schließlich kaum hörbar.
Ihm brannten ebenfalls die Tränen in den Augen. »Allerdings«, antwortete er leise.
»Was ist dieser Jocopo-Schatz, Zedd?«
Er kniff die Augen zusammen und sah sie scharf an. »Ich hatte gehofft, du wüßtest das. Warum sollte Nathan uns sagen, wir sollen etwas beschützen, ohne uns mitzuteilen, um was es sich dabei handelt?«
Draußen schrien Menschen vor Schmerzen und riefen um Hilfe. Weit entfernt ging krachend ein Mauerstück oder vielleicht der Teil eines Daches zu Boden. Männer brüllten sich Anweisungen zu, während sie sich durch die Trümmer schaufelten.
»Nathan vergißt, daß er anders ist als andere Menschen. So wie du dich an gewisse Dinge vor ein paar Jahrzehnten erinnerst, erinnert sich auch er an das, was war, nur liegt das nicht ein paar Jahrzehnte, sondern ein paar Jahrhunderte zurück.«
»Ich wünschte, er hätte uns Genaueres gesagt.«
»Wir müssen diesen Schatz finden. Und wir werden ihn finden. Ich habe schon ein paar Ideen.« Sie drohte ihm mit dem Zeigefinger. »Und du wirst mich begleiten! Wir haben Nathan noch immer nicht gefaßt. Der Halsring bleibt vorerst dran. Du wirst mich begleiten, hast du verstanden? Ich höre ja gar keine Widerworte!«
Zedd hob die Hand und löste den Ring von seinem Hals.
Ann bekam große Augen, ihr fiel die Kinnlade runter.
Zedd warf ihr den Rada'Han in den Schoß. »Wir müssen diesen Jocopo-Schatz finden, von dem Nathan sprach. In dieser Angelegenheit macht er keine Scherze. Die Sache ist todernst. Ich glaube ihm. Wir stecken in großen Schwierigkeiten. Ich werde dich begleiten, aber diesmal müssen wir vorsichtiger sein. Diesmal müssen wir unsere Spur mit Magie verwischen.«
»Zedd«, erwiderte sie endlich leise, »wie hast du den Halsring runterbekommen? Das ist unmöglich.«
Zedd starrte sie finster an, damit ihm beim Gedanken an die Prophezeiung, die Richard in die Falle locken würde, nicht selbst die Tränen kamen. »Wie gesagt, es hat seine Vorteile, wenn man Oberster Zauberer ist.«
Ihr Gesicht wurde tiefrot. »Hast du einfach … seit wann hättest du den Rada'Han schon abnehmen können?«
Zedd zuckte mit einer knochigen Schulter. »Es hat ein paar Tage gedauert, bis ich dahinterkam. Ungefähr seitdem. Etwa nach den ersten zwei oder drei Tagen.«
»Und trotzdem hast du mich begleitet? Du bist trotzdem mitgekommen? Warum?«
»Wahrscheinlich, weil ich Frauen mag, die in größter Verzweiflung handeln und nicht erstarren. Damit beweisen sie Charakter.« Er ballte die zitternden Hände zu Fäusten. »Glaubst du alles, was Nathan in seiner Nachricht schrieb?«
»Ich wünschte, ich könnte das verneinen. Tut mir leid, Zedd.« Ann schluckte. »Er schrieb: ›Mögen die Seelen ihm gnädig sein‹ und meinte Richard damit. Nathan schreibt nicht ›Gütige Seelen‹, sondern bloß ›Seelen‹.«
Zedd fuhr sich mit seinen astdürren Fingern übers Gesicht. »Nicht alle Seelen sind gut. Es gibt auch böse Seelen. Was weißt du über Prophezeiungen mit doppelter Gabelung?«
»Anders als bei deinem Halsring gibt es aus ihnen kein Entrinnen. Die in ihnen genannte Katastrophe muß herbeigeführt werden, damit die Prophezeiung in Kraft treten kann. Was immer es ist, das Ereignis ist bereits geschehen. Einmal in Kraft getreten, ist die Katastrophe ihrem Wesen nach selbstbestimmend, das heißt, das Opfer hat nur die Möglichkeit, eine der beiden Gabelungen der Prophezeiungen zu wählen. Das Opfer kann lediglich bestimmen, auf welche Weise es lieber … aber das weißt du doch sicher? Als Oberster Zauberer mußt du das wissen.«
»Ich hatte gehofft, du würdest mir sagen, ich hätte mich geirrt«, sagte Zedd leise. »Ich wünschte, Nathan hätte die Prophezeiung wenigstens für uns aufgeschrieben.«
»Sei froh, daß er es nicht getan hat.«