41

Shota schenkte Tee nach. »Was wollt Ihr wissen?«

Kahlan nahm ihre Tasse. »Wißt Ihr etwas über den Tempel der Winde?«

»Nein.«

Kahlan stutzte, die Tasse in der Hand. »Nadine habt Ihr jedenfalls erzählt, die Winde machten Jagd auf Richard.«

»Das ist richtig.«

Shota machte eine vage Handbewegung. »Ich weiß nicht, wie ich einer Frau, die keine Hexe ist, erklären soll, wie ich den Strom der Zeit wahrnehme, das Vorbeiziehen zukünftigter Ereignisse. Man könnte es ein wenig mit Erinnerung vergleichen. Wenn man an ein Ereignis oder eine Person aus der Vergangenheit denkt, dann erinnert man sich daran. Manchmal erinnert man sich lebhaft an zurückliegende Ereignisse. Dann wieder gar nicht.

Meine Fähigkeit funktioniert ebenso, nur kann ich dasselbe mit der Zukunft machen. Für mich besteht zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft kein großer Unterschied. Ich treibe auf einem Fluß aus Zeit und blicke sowohl stromauf- als auch stromabwärts. Ich kann ebenso einfach in die Zukunft blicken, wie Ihr Euch an vergangene Ereignisse erinnert.«

»Zuzeiten jedoch kann ich mich an bestimmte Dinge gar nicht erinnern«, wandte Kahlan ein.

»Ebenso ergeht es mir. Ich kann mich nicht erinnern, was aus dem Vogel wurde, den meine Mutter immer rief, als ich noch ganz klein war. Ich weiß noch, wie er auf ihrem Finger saß, während sie ihm leise, zärtliche Worte zuflüsterte. Ist er gestorben oder fortgeflogen?

Andere Ereignisse, wie der Tod eines geliebten Menschen, sind mir dagegen sehr lebhaft in Erinnerung geblieben. So sehe ich genau das Kleid vor mir, das meine Mutter am Tag ihres Todes trug. Noch heute könnte ich Euch die Länge des losen Fadens an ihrem Ärmel angeben.«

»Verstehe.« Kahlan starrte in ihren Tee. »Ich kann mich auch sehr gut an den Tag erinnern, an dem meine Mutter starb. An jede schreckliche Einzelheit, und dabei würde ich das alles gerne vergessen.«

Shota stützte ihre Ellenbogen auf den Tisch und schlang ihre Finger ineinander. »So geht es mir mit der Zukunft. Nicht immer kann ich die erfreulichen Ereignisse in der Zukunft sehen, die ich sehen möchte, und manchmal kann ich nicht verhindern, daß ich Dinge erblicke, die mir zuwider sind. Einige Ereignisse habe ich ganz deutlich vor Augen, andere dagegen, ganz gleich, wie sehr ich sie mir klarer wünsche, bleiben nebelhafte Schatten.«

»Wie verhält es sich mit den Winden, die Jagd auf Richard machen?«

Shota schüttelte geistesabwesend den Kopf. »Das war beunruhigend. Es war, als werde mir die Erinnerung eines anderen aufgezwungen. So als benutzte mich jemand, um eine Nachricht weiterzugeben.«

»War es eine Nachricht oder eher eine Warnung?«

Shota runzelte nachdenklich die Stirn. »Das habe ich mich auch gefragt. Die Antwort darauf kenne ich nicht. Ich habe sie durch Nadine weitergegeben, weil ich dachte, Richard sollte in jedem Fall davon erfahren.«

Kahlan fuhr sich mit der Hand über die Stirn. »Shota, als die Pest ausbrach, brach sie bei Kindern aus, die ein Spiel gespielt oder dabei zugesehen hatten.«

»Ja'La.«

»Ja, richtig. Kaiser Jagang –«

»Der Traumwandler.«

Kahlan sah auf. »Ihr habt von ihm gehört?«

»Gelegentlich sucht er meine Erinnerungen an die Zukunft heim. Er bedient sich gewisser Tricks und versucht, in meine Träume einzudringen. Das lasse ich nicht zu.«

»Haltet Ihr es für möglich, daß es der Traumwandler war, der Euch diese Nachricht über die Winde, die Jagd auf Richard machen, eingegeben hat?«

»Nein. Ich kenne seine Tricks. Mein Wort darauf, es war keine Botschaft von Jagang. Wie war das mit der Pest und diesem Spiel, Ja'La?«

»Nun, Jagang hat seine Fähigkeit als Traumwandler dazu benutzt, in den Geist eines Zauberers zu schlüpfen, den er losschickte, um Richard zu ermorden. Er war bei der Ja'La-Partie anwesend. Der Zauberer, meine ich. Der Kaiser hat das Spiel durch die Augen des Zauberers verfolgt.

Er war erzürnt, weil Richard die Regeln geändert hatte, damit alle Kinder mitspielen konnten. Unter diesen Kindern brach die Pest aus. Das ist einer der Gründe, weshalb wir glauben, Jagang sei dafür verantwortlich.

Das erste Kind, das wir aufsuchten, lag bereits im Sterben.« Kahlan legte die Fingerspitzen auf die geschlossenen Augen, als sie daran dachte. Sie atmete tief durch, um sich wieder zu fassen. »Es starb, während Richard und ich neben ihm knieten. Er war noch ein kleiner Junge. Ein unschuldiger Junge. Wegen der Pest war sein ganzer Körper von Fäulnis befallen. Er hat ein unvorstellbares Leid durchgemacht. Vor unseren Augen hauchte er sein Leben aus.«

»Das tut mir leid«, flüsterte Shota.

Kahlan sammelte sich, dann sah sie auf. »Nachdem er bereits gestorben war, hob er noch einmal die Hand und packte Richards Hemd. Seine Lungen füllten sich mit Luft, er zog Richard heran und sagte: ›Die Winde machen Jagd auf dich.‹«

Von der anderen Seite des Tisches kam ein gequältes Seufzen. »Dann hatte ich recht. Es war keine Einbildung, sondern tatsächlich eine Nachricht, die durch mich übermittelt wurde.«

»Richard glaubt, der Tempel der Winde mache Jagd auf ihn, Shota. Er ist im Besitz des Tagebuches eines Mannes, der während des Großen Krieges vor dreitausend Jahren lebte. Darin wird berichtet, wie die Zauberer aus jener Zeit Gegenstände von großem Wert und großer Gefährlichkeit in dem Tempel unterbrachten und diesen dann fortschickten.«

Shota beugte sich stirnrunzelnd vor. »Fort? Wohin denn?«

»Das wissen wir nicht. Der Tempel der Winde stand früher auf dem Gipfel von Berg Kymermosst.«

»Den Ort kenne ich. Es gibt dort keinen Tempel, nur ein paar alte Ruinen.«

Kahlan nickte. »Möglicherweise haben die Zauberer ihre Macht dazu benutzt, die Seite des Berges wegzusprengen und den Tempel unter einem Erdrutsch zu begraben. Was immer sie getan haben, er ist verschwunden. Dem Tagebuch zufolge hält Richard es für möglich, daß der rote Mond eine Warnung des Tempels war. Des weiteren nimmt er an, der Tempel der Winde sei auch einfach unter der Bezeichnung ›die Winde‹ bekannt.«

Shota tippte mit einem Finger gegen ihre Teetasse. »Die Nachricht könnte also unmittelbar vom Tempel der Winde stammen?«

»Haltet Ihr das für möglich? Wie kann ein Ort eine Nachricht schicken?«

»Die Zauberer aus jener Zeit konnten Dinge mit ihrer Magie anstellen, über die wir heute nur staunen können. Nehmt zum Beispiel die Sliph. Soviel ich weiß, und nach allem, was Ihr mir berichtet habt, ist es Jagang vermutlich auf irgendeine Weise gelungen, einen Gegenstand von tödlicher Gefährlichkeit aus dem Tempel der Winde zu entwenden und damit die Pest auszulösen.«

Kahlan fühlte, wie eine Woge kalter Angst sie durchflutete. »Wie könnte er so etwas machen?«

»Er ist ein Traumwandler. Er hat Zugang zu unermeßlichem Wissen. Trotz seiner plumpen Ziele ist er alles andere als dumm. Ich wurde von seinem Geist im Schlaf berührt, wenn er des Nachts auf Jagd ging. Man darf ihn nicht unterschätzen.«

»Er will alle Magie vernichten, Shota.«

Shota zog eine Braue hoch. »Ich sagte bereits, ich werde alle Eure Fragen beantworten. Ihr braucht mich nicht an mein eigenes Interesse in dieser Angelegenheit zu erinnern. Jagang bedeutet für mich eine ebensogroße Bedrohung wie die Gefahr, die mir durch den Hüter droht. Er verspricht, die Magie zu vernichten, setzt aber für die Erreichung dieses Zieles selbst Magie ein.«

»Aber wie könnte er diese Pest aus dem Tempel der Winde entwendet haben? Haltet Ihr das überhaupt für möglich? Ganz ehrlich?«

»Soviel kann ich Euch verraten, die Pest ist nicht von allein ausgebrochen. Eure Vermutung ist richtig. Sie wurde mit Hilfe von Magie ausgelöst.«

»Wie können wir sie aufhalten?«

»Ich kenne kein Heilmittel gegen die Pest.« Shota trank einen Schluck Tee. Dann sah sie zu Kahlan auf. »Andererseits, wie könnte man eine Pest auslösen?«

»Mit Hilfe von Magie.« Kahlan runzelte die Stirn. »Ihr meint … Ihr meint, wenn Magie sie auslösen konnte, dann könnte Magie ihr auch Einhalt gebieten, auch wenn wir nicht wissen, wie man die eigentliche Krankheit behandelt? Wollt Ihr mir das vorschlagen?«

Shota zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht, wie man eine solche Seuche auslöst, und ebensowenig, wie man sie heilt. Ich weiß, daß Magie dabei im Spiel war. Wenn Magie dafür verantwortlich ist, dann wäre es einleuchtend, daß man ebenfalls Magie dagegen einsetzen kann.«

Kahlan richtete sich auf. »Demnach besteht Hoffnung, daß wir sie beenden und all die Menschen vor dem Tod retten können?«

»Schon möglich. Wenn wir die einzelnen Teile zusammenfügen, scheint alles auf eins hinzudeuten: Jagang hat eine Magie aus dem Tempel der Winde entwendet, um damit die Pest auszulösen, und der Tempel versucht, Richard vor dieser Schändung zu warnen.«

»Warum ausgerechnet Richard?«

»Was meint Ihr? Was unterscheidet Richard von allen anderen?«

Kahlan fühlte sich durch Shotas dünnes, schlaues Lächeln wie gelähmt.

»Er ist ein Kriegszauberer. Er besitzt Subtraktive Magie. Auf diese Weise hat er die Seele von Darken Rahl besiegt und dem Hüter Einhalt geboten. Richard verfügt als einziger über die Macht, das zu tun, was helfen könnte.«

»Vergeßt das nie«, sprach Shota leise in ihre Tasse hinein.

Plötzlich hatte Kahlan das Gefühl, einen Pfad entlang geführt zu werden. Sie wies das Gefühl von sich. Shota versuchte bloß zu helfen.

Sie nahm all ihren Mut zusammen. »Warum habt Ihr Nadine geschickt, Shota?«

»Damit sie Richard heiratet.«

»Warum ausgerechnet Nadine?«

Ein trauriges Lächeln spielte über Shotas Lippen. Auf diese Frage hatte sie gewartet.

»Weil ich mir Sorgen um ihn mache. Ich wollte, daß es jemand ist, bei dem er wenigstens ein bißchen Erfüllung findet.«

Kahlan schluckte. »Aber die findet er bei mir!«

»Ich weiß. Dennoch ist es ihm bestimmt, eine andere zu heiraten.«

»Das sagt Euch der Strom zukünftiger Ereignisse? Eure Erinnerung … an die Zukunft?« Shota nickte knapp. »Es war nicht Eure Idee? Ihr wolltet nicht einfach eine Frau schicken, die ihn heiratet, nur damit ich ihn nicht heirate?«

»Nein.« Shota lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und blickte in die Bäume. »Ich sah, daß er eine andere heiraten wird. Das bedeutet großes Leid für ihn. Ich machte meinen ganzen Einfluß geltend, damit es jemand ist, den er kennt, jemand, der ihm wenigstens ein wenig Trost spendet. Ich wollte ihm möglichst allen Kummer ersparen.«

Kahlan wußte nicht, was sie sagen sollte. Sie fühlte sich wie damals, als sie beim Kampf mit Marlin unten in den Abwasserkanälen gegen die Flut des Wassers angekämpft hatte. Sie mußte an die Wucht des Stroms denken, der sie an einer Stelle festgehalten hatte.

»Aber ich liebe ihn doch«, war alles, was ihr einfiel.

»Ich weiß«, antwortete Shota leise. »Die Entscheidung, ihn eine andere heiraten zu lassen, habe nicht ich getroffen. Ich konnte lediglich beeinflussen, wer es sein würde.«

Sie wich den alterslosen Augen der Hexe aus und hatte Mühe, stockend Luft zu holen.

»Auch auf die Entscheidung, wer Euer Gemahl sein wird«, fügte Shota hinzu, »hatte ich keinerlei Einfluß.«

Kahlans Blick kehrte zu Shota zurück. »Was? Was soll das heißen?«

»Es ist Euch bestimmt zu heiraten. Richard wird es nicht sein. Darauf hatte ich keinen Einfluß. Das ist kein gutes Zeichen.«

Kahlan war am Boden zerstört. »Was soll das heißen?«

»Irgendwie sind die Seelen in diese Geschichte verwickelt. Sie waren lediglich bereit, eine begrenzte Einflußnahme hinzunehmen. Für alles weitere haben sie ihre Gründe. Die sind mir allerdings verborgen.«

Kahlan merkte, wie ihr eine Träne über die Wange kullerte. »Was soll ich nur tun, Shota? Ich verliere den einzigen Menschen, den ich je geliebt habe. Ich könnte nie einen anderen lieben als Richard, nicht einmal, wenn ich wollte. Ich bin ein Konfessor.«

Shota saß reglos wie ein Fels da und betrachtete sie. »Die Guten Seelen sind uns weit entgegengekommen, als sie mir bei der Wahl von Richards Braut ein Mitspracherecht einräumten. Ich habe mich umgesehen und keine andere gefunden, für die er auch nur annähernd soviel Sympathie aufbringen würde. Vielleicht wird er mit einer Frau wie ihr eines Tages glücklich und beginnt sie zu lieben.«

Kahlan legte ihre zitternden Hände in den Schoß. Ihr war übel. Es hatte keinen Sinn, mit Shota zu streiten. Dies war nicht ihr Werk. Die Seelen hatten ihre Hand im Spiel.

»Was hätte das für einen Sinn? Was hat er davon, wenn er Nadine heiratet? Was habe ich davon, wenn ich mit jemandem vermählt werde, den ich nicht liebe?«

Shotas Stimme klang sanft und einfühlsam. »Das weiß ich nicht, mein Kind. Bei manchen Menschen wählen die Eltern den Ehepartner aus, bei Euch haben die Seelen die Entscheidung darüber gefällt.«

»Wenn die Seelen tatsächlich etwas damit zu tun haben, warum sollten sie dann wollen, daß wir leiden? Sie haben uns an den Ort gebracht, wo wir Zusammensein konnten.« Kahlan stemmte sich gegen das Gewicht der Wasserfluten. »Warum tun sie uns so etwas an?«

»Vielleicht«, sagte Shota leise und sah Kahlan dabei fest in die Augen, »weil du ihn verraten wirst.«

Die Kehle schnürte sich ihr zusammen, und ihr Atem stockte. Die Prophezeiung ging ihr wie ein Schrei durch den Kopf.

… denn die in Weiß, seine wahre Geliebte, wird ihn in ihrem Blut verraten.

Kahlan sprang auf. »Nein!« Sie ballte die Fäuste. »Ich würde ihm niemals weh tun! Ich würde ihn niemals verraten!«

Shota nippte gelassen an ihrer Teetasse.

»Setzt Euch, Mutter Konfessor.«

Kahlan konnte ihre Tränen nur mit Mühe unterdrücken, als sie sich wieder auf ihren Stuhl sinken ließ.

»Die Erinnerungen an die Zukunft habe ich ebensowenig in meiner Gewalt wie die Vergangenheit. Wie schon gesagt, Ihr müßt den Mut aufbringen, Euch die Antworten anzuhören.« Sie tippte sich mit dem Finger an die Stirn. »Nicht nur hier« – sie zeigte auf ihr Herz –, »sondern auch hier.«

Kahlan zwang sich, tief durchzuatmen. »Verzeiht. Euch trifft keine Schuld. Das weiß ich.«

Shota zog eine Braue hoch. »Sehr gut, Mutter Konfessor. Wenn man lernt, die Wahrheit zu akzeptieren, ist das der erste Schritt, das eigene Schicksal in die Hand zu nehmen.«

»Ich möchte nicht respektlos klingen, Shota, aber der Blick in die Zukunft hält nicht alle Antworten bereit. Damals meintet Ihr, ich würde Richard mit meiner Kraft berühren. Ich dachte, das würde ihn vernichten. Um zu verhindern, daß Eure Worte Wahrheit werden, um zu verhindern, daß ich ihm etwas antue, wollte ich mich umbringen.

Richard hat nicht zugelassen, daß ich mein Leben aufs Spiel setze. Wie sich herausstellte, entsprach Euer Blick in die Zukunft der Wahrheit, aber es steckte noch mehr dahinter, und zwar auf ganz andere Weise, als wir dachten.

Ich berührte Richard, nur seine Magie schützte ihn, und meine Berührung konnte ihm nichts anhaben.«

»Das Ergebnis habe ich nicht vorhergesehen. Nur die Berührung selbst. Der jetzige Fall liegt anders. Ich sehe deutlich, daß ihr beide heiraten werdet.«

Kahlan war benommen. »Wer soll das denn sein? Wen werde ich heiraten?«

»Ich sehe nur eine nebelhafte Gestalt. Die Person kann ich nicht erkennen. Seine Identität kenne ich nicht.«

»Shota, jemand erzählte mir, der Blick einer Hexe in die Zukunft käme einer Prophezeiung gleich.«

»Wer hat Euch das erzählt?«

»Ein Zauberer. Zedd.«

»Zauberer«, murmelte Shota. »Zauberer haben keine Ahnung, was im Verstand einer Hexe vorgeht. Sie glauben immer, sie wüßten alles.«

Kahlan strich ihr langes Haar über eine Schulter nach hinten. »Shota, wir hatten uns vorgenommen, ehrlich zueinander zu sein, habt Ihr das schon vergessen?«

Shota murrte geziert. »Na ja, vermutlich haben sie in diesem Punkt größtenteils recht.«

»Prophezeiungen erweisen sich nicht immer als das, was sie zu sein scheinen. Oft lassen sich die schlimmsten Gefahren umgehen. Glaubt Ihr, ich habe eine Möglichkeit, die Prophezeiung abzuändern?«

Shota runzelte die Stirn. »Die Prophezeiung?«

»Die, von der Ihr gesprochen habt. Der Verrat an Richard.«

Shotas Stirnrunzeln wich tiefem Argwohn. »Soll das heißen, das wurde ebenfalls in der Prophezeiung vorhergesagt?«

Kahlan wich dem stechenden Blick der Hexe aus. »Als der Zauberer erschien, von dessen Geist Jagang Besitz ergriffen hatte, behauptete er, eine Prophezeiung heraufbeschworen zu haben und Richard in eine Falle zu locken. Dort heißt es unter anderem, ich würde ihn verraten.«

»Wißt Ihr die Prophezeiung noch?«

Kahlan fuhr mit dem Finger um den Tassenrand. »Es handelt sich um eine der Erinnerungen, von denen wir sprachen, eine jener Erinnerungen, die wir vergessen wollen, aber nicht können.

Mit dem roten Mond wird der Feuersturm kommen. Der, der mit der Klinge verbunden ist, wird mitansehen, wie sein Volk stirbt. Unternimmt er nichts, werden er und alle seine Lieben in der Glut umkommen, denn keine Klinge, sei sie aus Stahl oder Magie geschmiedet, kann diesem Feind etwas anhaben.

Um dieses Inferno zu löschen, muß er das Heilmittel im Wind suchen. Lichtblitze werden ihn auf diesem Pfad finden, denn die in Weiß, seine wahre Geliebte, wird ihn in ihrem Blut verraten.‹«

Shota lehnte sich zurück, die Teetasse in der Hand behaltend. »Ihr habt ganz recht, wenn Ihr sagt, die Geschehnisse einer Prophezeiung können verändert oder umgangen werden, allerdings trifft das nicht bei einer Prophezeiung mit doppelter Verknüpfung zu. Um eine solche handelt es sich in diesem Fall, eine Falle, in der sich das Opfer voll und ganz verfängt. Die roten Monde sind der Beweis dafür, daß die Falle zugeschnappt ist.«

»Aber es muß doch eine Möglichkeit geben –« Kahlan raufte sich die Haare. »Was soll ich nur tun, Shota?«

»Ihr seid dazu bestimmt, einen anderen zu heiraten«, antwortete sie leise. »Genau wie Richard. Was danach kommt, kann ich nicht erkennen, doch das zumindest ist die Zukunft.«

»Ich weiß, Ihr sprecht die Wahrheit, Shota, nur wie ist es möglich, daß ich Richard verrate? Ich will Euch die Wahrheit sagen: Ich würde eher sterben, als ihn zu verraten. Mein Herz erlaubt mir so etwas nicht. Ich wäre dazu gar nicht in der Lage.«

Shota strich eine Falte ihres Kleides glatt. »Denkt nach, Mutter Konfessor, und Ihr werdet feststellen, wie sehr Ihr Euch irrt. Habe ich Euch nicht den Fehler nachgewiesen, als Ihr dachtet, ich könnte Euch nichts mehr anhaben?«

»Aber wie? Wie kann ich das tun, wo ich doch weiß, es ist mir nicht gegeben, ihn – aus welchem Grund auch immer – zu verraten?«

Shota seufzte nachsichtig. »Es ist längst nicht so kompliziert, wie Ihr gerne glauben möchtet. Was wäre zum Beispiel, wenn Ihr nur eine Möglichkeit hättet, ihm das Leben zu retten, und diese darin bestünde, ihn zu verraten, Ihr dadurch jedoch seine Liebe verlöret? Würdet Ihr die Liebe zu ihm opfern, um ihm das Leben zu retten? Sagt die Wahrheit.«

Kahlan schluckte, obwohl sie einen Kloß im Hals hatte. »Ja. Ich würde ihn verraten, wenn ich ihm damit das Leben retten würde.«

»Seht Ihr, es ist nicht gar so unmöglich, wie Ihr dachtet.«

»Ja, schon«, gab Kahlan kleinlaut zu. Sie spielte mit ein paar Krumen auf dem Tisch. »Was hat das alles für einen Sinn, Shota? Warum sollte die Zukunft beinhalten, daß Richard Nadine heiratet und ich einen anderen Mann? Das muß doch einen Grund haben. Es ist das genaue Gegenteil dessen, was wir beide wollen, demnach muß es eine Macht geben, die die Geschehnisse auf diesen Pfad zwingt.«

Nach einem Augenblick des Nachdenkens sagte Shota: »Der Tempel der Winde macht Jagd auf Richard. Dabei haben die Seelen ihre Hand im Spiel.«

Kahlan ließ das Gesicht erschöpft in die Hände fallen.

»Ihr habt zu Nadine gesagt: ›Mögen die Seelen ihm gnädig sein.‹ Was habt Ihr damit gemeint?«

»Die Unterwelt beherbergt nicht nur die Guten Seelen. Alle Seelen sind darin verwickelt – gute wie böse.«

Kahlan wollte nicht mehr weitersprechen. Es war zu schmerzlich, über die Zerstörung ihrer Träume und Hoffnungen zu reden, als seien sie Figuren auf einem Spielbrett.

»Mit welchem Ziel?« murmelte sie.

»Der Pest.«

Kahlan sah auf. »Was?«

»Es hat etwas mit der Pest zu tun und mit dem Gegenstand der Magie, den der Traumwandler aus dem Tempel der Winde entwendet hat.«

»Eurer Meinung nach könnte dies also irgendwie Teil unseres Versuches sein, die Magie zu finden, mit der wir die Seuche aufhalten können?«

»Ich glaube, genau so verhält es sich«, meinte die Hexe schließlich. »Richard und Ihr seid auf der verzweifelten Suche nach einer Möglichkeit, die Pest einzudämmen und das Leben unzähliger Menschen zu retten. Und ich sehe in der Zukunft, daß ihr beide jeweils einen anderen heiraten werdet.

Aus welchem anderen Grund würdet Ihr beide sonst ein solches Opfer darbringen?«

»Warum sollte es erforderlich sein –?«

»Ihr sucht Antworten, die ich Euch nicht geben kann. Ich kann weder ändern, was sein wird, noch kenne ich den Grund dafür. Wir müssen unsere Möglichkeiten abwägen. Denkt nach.

Angenommen, der einzige Weg, all diese Menschen davor zu bewahren, im Sturm der Pest hingerafft zu werden, bestünde darin, daß Richard und Ihr gemeinsam euer Leben aufgebt, um dadurch, sagen wir, die Aufrichtigkeit Eurer Opferbereitschaft unter Beweis zu stellen. Wärt ihr beide unter diesen Umständen dazu bereit?«

Kahlan legte ihre zitternden Hände unterm Tisch in den Schoß. Sie hatte den gequälten Blick in Richards Augen gesehen, als er den Jungen sterben sah. Sie wußte, wie schmerzlich es für sie selbst gewesen war. Wie viele würden noch sterben?

Dennoch käme sie nie mehr mit sich ins Reine, wenn die einzige Chance, diese Kinder zu retten, darin bestünde, ihre Liebe zu opfern, und sie dieses Opfer ablehnte.

»Wie könnten wir uns weigern? Selbst wenn es uns selbst das Leben kosten würde, könnten wir uns weigern? Aber ist es möglich, daß die guten Seelen einen solchen Preis verlangen?«

Plötzlich mußte Kahlan daran denken, wie Dennas Seele Richard vom Mal des Hüters befreit und sich aus freien Stücken bereit erklärt hatte, an Richards Stelle die ewigen Qualen durch die Hand des Hüters auf sich zu nehmen. Später hatte sich herausgestellt, daß Denna sich diesem Schicksal nicht zu stellen brauchte, doch das spielte keine Rolle. Sie war davon überzeugt gewesen und hatte ihre Seele für einen Menschen geopfert, den sie liebte.

Die Äste eines nahen Ahornbaumes schlugen in der leichten Brise klackend aneinander. Kahlan hörte die Fahnen auf Shotas Palast im Wind knattern. Die Luft schmeckte nach Frühling. Das Gras hatte eine helle, frische Farbe. Überall ringsum blühte das Leben auf.

Kahlans Herz fühlte sich an, als sei es aus erkalteter Asche.

»Ich werde Euch noch etwas verraten«, sagte Shota wie aus großer Ferne. Kahlan hörte ihr vom Grund eines tiefen Brunnens der Hoffnungslosigkeit zu. »Die letzte Nachricht von den Winden kennt Ihr noch gar nicht. Ihr werdet eine weitere erhalten, die den Mond betrifft. Dies wird die sich daraus ergebende Verbindung sein.

Ignoriert sie nicht, tut sie nicht einfach ab. Eure und Richards Zukunft sowie die Zukunft all dieser unschuldigen Menschen hängt von diesem Ereignis ab. Ihr beide müßt Euer ganzes Wissen benutzen, um die Chance zu erkennen, die man Euch bieten wird.«

»Chance? Welche Chance?«

Shota nagelte Kahlan mit ihrem Blick fest. »Die Chance, Eure erhabenste Pflicht zu erfüllen. Die Chance, das Leben der unschuldigen Menschen zu retten, die auf Euch angewiesen sind.«

»Wann wird das sein?«

»Ich weiß nur, daß es nicht mehr lange dauern wird.«

Kahlan nickte. Zu ihrer Verwunderung kamen ihr nicht einmal die Tränen. Dies alles war die vernichtendste persönliche Katastrophe, die sie sich nur vorstellen konnte – sie würde Richard verlieren –, und sie weinte nicht einmal.

Vermutlich würde sie es später tun, nur nicht jetzt, nicht hier.

Sie starrte auf den Tisch. »Shota, Ihr würdet verhindern, daß wir beide ein Kind bekommen, nicht wahr? Einen Jungen?«

»Ja.«

»Ihr würdet versuchen, unseren Sohn zu töten, wenn wir einen hätten, nicht wahr?«

»Ja.«

»Woher weiß ich dann, daß dies alles nicht nur eine Intrige von Euch ist, die verhindern soll, daß wir ein Kind bekommen?«

»Ihr werdet die Wahrheit meiner Worte mit Eurem eigenen Verstand und Herz beurteilen müssen.«

Kahlan mußte an die Worte des sterbenden Jungen denken, und an die Prophezeiung. Irgendwie hatte sie die ganze Zeit gewußt, daß sie Richard niemals heiraten würde. Das alles blieb ein unerfüllbarer Traum.

Als sie noch jung war, hatte Kahlan ihre Mutter über das Erwachsenwerden ausgefragt und wie es sei, einen Liebsten, einen Mann zu haben, ein Heim. Ihre Mutter hatte vor ihr gestanden – wunderschön, strahlend, streng, jedoch mit ihrem Konfessorengesicht.

Konfessoren kennen keine Liebe, Kahlan. Sie kennen nur die Pflicht.

Richard war als Kriegszauberer geboren worden. Auch er war für einen bestimmten Lebenszweck geboren worden. Für die Pflicht.

Sie beobachtete, wie der Wind ein paar Krumen vom Tisch wehte. »Ich glaube Euch«, erwiderte Kahlan leise. »Ich wünschte, es wäre anders, aber ich glaube Euch. Ihr sprecht die Wahrheit.«


Es gab nichts mehr zu sagen. Kahlan stand auf. Um sich auf den zittrigen Beinen halten zu können, mußte sie die Knie aneinanderpressen. Sie versuchte sich zu erinnern, wo sich der Brunnen der Sliph befand, schien ihre Gedanken aber nicht ordnen zu können.

»Danke für den Tee«, hörte sie sich sagen. »Er war köstlich.«

Falls die Hexe antwortete, bekam Kahlan es nicht mit.

»Shota?« Kahlan griff nach der Rückenlehne des Stuhls, um sich abzustützen. »Könntet Ihr mir den Weg zeigen? Ich glaube, ich weiß nicht mehr genau…«

Shota war sofort bei ihr und nahm ihren Arm. »Ich werde Euch ein Stück begleiten, mein Kind«, sagte sie sanft und voller Mitgefühl, »damit Ihr den Weg findet.«

Schweigend gingen sie die Straße entlang. Kahlan gab sich alle Mühe, sich von dem lauen Frühlingsmorgen ein wenig aufmuntern zu lassen. In Aydindril war es noch immer kalt. Bei ihrer Abreise hatte es geschneit. Trotzdem hatte sie keine rechte Freude an diesem schönen Tag.

Als sie die steinernen Stufen hinaufstiegen, die man in die Felswand geschlagen hatte, versuchte Kahlan, sich wieder auf ihre Ziele zu besinnen. Wenn es Ihr und Richard irgendwie gelänge, all diese Menschen vor der Pest zu bewahren, dann wäre das etwas Wundervolles. Den meisten Menschen wäre das Opfer, das sie dafür brachten, gleichgültig, aber das würde die Erleichterung nicht mindern, die sie beim Hören eines Kinderlachens empfände oder beim Anblick der Freude einer Mutter, deren Kind gerettet war.

Es gab noch andere Dinge, für die es sich zu leben lohnte. Die Leere konnte sie mit dem Glück füllen, das sie in den Augen ihres Volkes sähe. Sie hätte etwas getan, das niemand sonst zu vollbringen vermochte. Sie und Richard hätten Jagang daran gehindert, all diese Menschen ins Unheil zu stürzen.

Kurz vor dem oberen Rand der Felswand legte Kahlan an einer Biegung der Treppe eine Pause ein und sah hinunter nach Agaden. Es war wirklich ein herrliches Fleckchen Erde, dieses Tal, das sich zwischen die Gipfel schroffer Gebirgszüge schmiegte.

Sie mußte daran denken, wie der Hüter einen Zauberer und einen Screeling geschickt hatte, die Shota hatten töten sollen. Die Hexe war dem Anschlag mit knapper Not entkommen. Damals hatte sie geschworen, ihr Zuhause zurückzuerobern.

»Ich bin froh, daß Ihr Euer Heim zurückbekommen habt. Ich freue mich für Euch, Shota. Wirklich. Agaden gehört Euch.«

»Danke, Mutter Konfessor.«

Kahlan blickte in die Mandelaugen der Hexe. »Was habt ihr mit dem Zauberer gemacht, der Euch aufgespürt hat?«

»Was ich versprochen hatte. Ich habe ihn an den Daumen aufgehängt, bei lebendigem Leib gehäutet und in aller Ruhe zugesehen, wie seine Magie aus seinem gehäuteten Körper wich.« Sie drehte sich um und deutete mit einer Handbewegung hinunter in das grüne Tal. »Mit seiner Haut habe ich den Sitz meines Throns bezogen.«

Kahlan erinnerte sich, daß Shota genau das geschworen hatte. Es konnte kaum verwundern, daß selbst Zauberer sich nur selten nach Agaden wagten. Shota war ihnen mehr als ebenbürtig. Wenigstens ein Zauberer hatte diese Lektion zu spät gelernt.

»Ich kann Euch keinen Vorwurf machen – schließlich hatte der Hüter ihn geschickt, um Euch zu töten. Hätte er Euch in die Finger bekommen, nun, ich weiß, wie sehr Ihr Euch davor gefürchtet habt.«

»Ich bin Richard und Euch etwas schuldig. Der Sucher hat verhindert, daß wir alle in die Hände des Hüters fallen.«

»Glücklicherweise hat dieser Zauberer Euch nicht zum Hüter gejagt.«

Das war durchaus ernst gemeint. Kahlan war sich nach wie vor im klaren darüber, wie gefährlich Shota war, andererseits schien die Hexe eines Mitgefühls fähig zu sein, das Kahlan nicht erwartet hatte.

»Wißt Ihr, was dieser Zauberer zu mir sagte?« fragte Shota. »Er meinte, er habe mir verziehen. Könnt Ihr Euch das vorstellen? Er gewährte mir Vergebung. Und dann bat er mich selbst darum.«

Der Wind wehte Kahlan einige Haare ins Gesicht. Sie strich sie wieder nach hinten. »Eine seltsame Bemerkung, wenn man es recht bedenkt.«

»Das Vierte Gesetz der Magie, wie er es nannte. Er behauptete, dem Vierten Gesetz zufolge hätte Vergeben etwas Magisches. Eine Magie, die eine heilende Wirkung hat. Das gilt sowohl für die Vergebung, die man selbst gewährt, als auch für die, die man gewährt erhält.«

»Ein Günstling des Hüters würde vermutlich alles mögliche behaupten, um mit seinem Verbrechen ungeschoren davonzukommen und vor Euch fliehen zu können. Ich kann verstehen, daß Ihr nicht in der Stimmung wart, ihm zu vergeben.«

Das Licht schien in der alterslosen Tiefe von Shotas Augen zu versinken. »Er hat vergessen, das Wörtchen ›aufrichtig‹ vor ›Vergebung‹ zu setzen.«

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