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Kahlan sah zu, wie die Hexe wieder im düsteren Wald verschwand. Schlingpflanzen, die von knorrigen Ästen herabhingen, reckten sich, um ihre Herrin im Vorübergehen zu berühren, während Ranken und Wurzeln sich streckten, um sie am Bein zu streifen. Sie verschwand hinter einem Nebelschleier. Unsichtbare Wesen riefen mit leisen Pfeif- und Schnalzlauten aus der Richtung, in die sie gegangen war.

Kahlan wandte sich zu dem moosüberwucherten Findling um, den Shota ihr gezeigt hatte, und fand gleich dahinter den Brunnen der Sliph. Das silbrige Gesicht kam hinter dem runden Steinmäuerchen hervor und beobachtete, wie Kahlan sich näherte. Fast wünschte Kahlan, die Sliph wäre nicht erschienen; als würden die Dinge, die sie in Erfahrung gebracht hatte, ungeschehen bleiben, wenn sie nicht zurückkehrte.

Wie sollte sie Richard in die Augen sehen, ohne ihre Seelenqualen herauszuschreien? Wie sollte sie mit diesem Wissen weiterleben können? Woher sollte sie ihren Lebenswillen nehmen?

»Möchtest du reisen?« fragte die Sliph.

»Nein, aber ich muß.«

Die Sliph legte die Stirn in Falten, als sei sie verwirrt. »Wenn du reisen willst, bin ich bereit.«

Kahlan ließ sich auf die Erde sinken, lehnte sich mit dem Rücken an den Brunnen der Sliph und zog die Beine unter ihren Körper. Sollte sie wirklich so leicht aufgeben? Sollte sie sich einfach demütig und bescheiden in ihr Schicksal fügen? Sie hatte keine andere Wahl.

Denk an die Lösung, nicht an das Problem.

Irgendwie erschienen ihr die Dinge nicht mehr ganz so hoffnungslos wie eben, noch unten in Agaden. Es mußte sich doch eine Möglichkeit finden lassen. Richard würde nicht so leicht aufgeben. Er würde um sie kämpfen. Sie nahm sich vor, auch um ihn zu kämpfen. Sie liebten sich, und das war das Allerwichtigste.

Kahlan fühlte sich, als sei ihr Verstand umnebelt. Sie versuchte entschlossen, sich zu konzentrieren. Unmöglich durfte sie einfach aufgeben. Sie mußte sich diesem Problem mit ihrer alten Resolutheit stellen.

Daß Hexen Menschen verhexten, wußte sie. Nicht unbedingt aus Bosheit, es war einfach ihre Art. Etwa so, wie ein Mensch nichts dafür konnte, ob er groß war oder klein, oder für die Farbe seiner Haare. Hexen verhexten Menschen, denn so funktionierte ihre Magie.

Shota hatte Richard sozusagen verhext. Beim ersten Mal hatte ihn nur die Magie des Schwertes der Wahrheit davor bewahrt.

Das Schwert der Wahrheit.

Richard war der Sucher. Genau das taten Sucher schließlich: Sie lösten Probleme. Sie liebte den Sucher. Er würde nicht einfach aufgeben.

Kahlan pflückte ein Blatt ab und zerriß es in kleine Streifen, während sie sich alles, was ihr Shota erzählte hatte, abermals durch den Kopf gehen ließ. Was durfte sie glauben? Das alles kam ihr inzwischen vor wie ein Traum, aus dem sie im Begriff stand zu erwachen. Die Dinge konnten einfach nicht so hoffnungslos stehen, wie sie geglaubt hatte. Ihr Vater hatte ihr beigebracht, niemals aufzugeben, mit jedem Atemzug zu kämpfen, bis zum letzten, wenn es sein mußte. Und auch Richard würde nicht so ohne weiteres eine Niederlage eingestehen. Noch längst war es nicht vorbei. Die Zukunft war weiterhin die Zukunft, und was Shota auch gesagt hatte, bislang war gar nichts entschieden.

Irgend etwas an ihrer Schulter störte sie. Während sie ihren Gedanken nachhing, schlug sie kurz mit der Hand danach, dann begann sie wieder, Streifen von dem großen Blatt abzureißen. Es mußte einen Weg geben, wie sich das Problem lösen ließe.

Als sie sich zum zweiten Mal auf die Schulter schlug, berührten ihre Finger das Knochenmesser. Es fühlte sich warm an.

Kahlan zog das Messer heraus und hielt es in ihrem Schoß. Es war warm, schien zu pulsieren und zu vibrieren, ja, wurde so heiß, daß es unangenehm wurde, es in der Hand zu halten.

Staunend verfolgte Kahlan, wie die schwarzen Federn sich aufrichteten. Sie tanzten und flatterten und drehten sich wie in leichtem Wind. Ihr Haar hing schlaff herab. Die Luft stand vollkommen still. Kein Lüftchen wehte.

Kahlan sprang auf.

»Sliph!«

Das silbrige Gesicht der Sliph war sofort neben ihr, ganz nah. Kahlan trat erschrocken einen Schritt zurück.

»Sliph, ich muß reisen.«

»Wir werden reisen, komm. Wohin möchtest du?«

»Zu den Schlammenschen. Ich muß zu den Schlammenschen.«

Das flüssige Gesicht legte sich nachdenklich in Falten. »Diesen Ort kenne ich nicht.«

»Es handelt sich nicht um einen Ort, sondern um Menschen. Menschen« – Kahlan tippte sich vor die Brust – »wie ich.«

»Ich kenne verschiedene Menschenvölker, aber diese Schlammmenschen sind mir unbekannt.«

Kahlan strich ihr Haar zurück und versuchte nachzudenken. »Sie leben in der Wildnis.«

»Ich kenne verschiedene Orte in der Wildnis. An welchen möchtest du reisen? Nenne ihn, und wir werden reisen. Du wirst erfreut sein.«

»Na ja, es handelt sich um einen Ort, wo es flach ist. Grasland. Flaches Grasland. Keine Berge wie hier.« Kahlan deutete auf die Umgebung, dann wurde ihr aber bewußt, daß die Sliph außer den Bäumen nichts sehen konnte.

»Ich kenne mehrere Orte, die so sind.«

»Welche denn? Vielleicht erkenne ich sie wieder.«

»Ich kann an einen Ort reisen, von dem aus man den Fluß Callisidrin überblickt –«

»Westlich des Callisidrin. Die Schlammenschen leben weiter westlich.«

»Ich kann in das Tal Tondelen reisen, zur Harjaschlucht, in die Keaebene, nach Sealan, Herkon, Split, Anderith, Pickton, zum Jocopo-Schatz –«

»Wohin? Wie lautete das letzte?« Die meisten anderen Orte, die die Sliph genannt hatte, kannte sie, die jedoch lagen nicht in der Nähe der Schlammenschen.

»Der Jocopo-Schatz. Möchtest du dorthin reisen?«

Kahlan hielt das Knochenmesser in der Hand – das Messer des Großvaters. Chandalen hatte ihr erzählt, wie die Jocopo Krieg gegen die Schlammenschen geführt und die Ahnenseelen Chandalens Großvater darin unterrichtet hatten, wie er sein Volk gegen die Jocopo verteidigen konnte. Weiter hatte Chandalen ihr berichtet, früher, vor dem Krieg, hätten sie mit den Jocopo Handel getrieben. Die Jocopo mußten ganz in der Nähe der Schlammenschen leben.

»Sag das letzte noch einmal.«

»Der Jocopo-Schatz.«

Auf die hallenden Worte hin fingen die schwarzen Federn an zu tanzen und sich zu drehen. Kahlan schob das Knochenmesser wieder unter das Band an ihrem Oberarm. Sie war mit einem Sprung auf der Steinmauer.

»Dahin will ich. Zum Jocopo-Schatz. Kannst du mich dorthin bringen, Sliph?«

Ein silbriger Arm hob sie mit einer gleitenden Bewegung von der Steinmauer herunter. »Komm. Wir reisen zum Jocopo-Schatz. Du wirst erfreut sein.«

Kahlan holte noch einmal rasch Luft, dann stürzte sie in die Gischt aus Quecksilber. Sie atmete aus und sog die Sliph in sich hinein, doch betrübt vom Kummer, Richard zu verlieren, empfand sie diesmal keine Wonne.


Zedd lachte wie ein Irrer. Ann stand aus seiner Perspektive Kopf. Er streckte ihr die Zunge raus und gab einen langen, unflätigen Ton von sich.

»Du brauchst gar nicht so zu tun«, knurrte sie. »Das ist ganz offensichtlich dein natürlicher Zustand.«

Zedd strampelte mit den Beinen, als versuche er kopfüber stehend durch die Luft zu laufen. Das Blut schoß ihm in den Schädel.

»Möchtest du würdevoll sterben?« fragte er sie. »Oder lieber weiterleben?«

»Ich werde hier nicht den Narren spielen.«

»Das ist genau das richtige Wort – spielen! Sitz nicht einfach so im Matsch herum. Spiel damit!«

Sie beugte sich vor und schob ihren Kopf ganz nahe an seinen. »Zedd, du kannst unmöglich ernsthaft glauben, daß so etwas funktioniert.«

»Das waren deine eigenen Worte. Du treibst dich mit einem Verrückten herum. Die Idee stammt praktisch von dir.«

»Ich habe nichts dergleichen vorgeschlagen!«

»Vielleicht stammt die Idee nicht direkt von dir, aber du hast mich darauf gebracht. Ich werde dir mit Freuden das ganze Verdienst daran zuschreiben, wenn wir die Geschichte weitererzählen.«

»Sie weitererzählen! Erstens wird es überhaupt nicht gelingen. Zweitens bin ich mir durchaus im klaren, daß du es nur zu gerne weitererzählen würdest. Ein Grund mehr für mich, es nicht zu tun.«

Zedd stimmte ein Geheul wie ein Kojote an. Er machte seine Beine und Arme steif und ließ sich wie ein gefällter Baum fallen. Ann wurde mit Matsch bespritzt. Kochend vor Wut wischte sie sich einen Klecks von der Nase.

Von dem hohen Zaun aus Stöcken beobachteten grimmig dreinblickende Wächter der Nangtong ihre beiden Gefangenen – ihre beiden Opfergaben. Zedd und Ann hockten Rücken an Rücken im Morast und lockerten die Fesseln, mit denen ihre Handgelenke zusammengebunden waren. Die mit Speeren und Bogen bewaffneten Wächter schien das nicht weiter zu kümmern. Die Gefangenen konnten nicht entkommen. Zedd wußte nur zu gut, wie recht sie damit hatten.

Im Morgengrauen waren die ersten zufrieden aussehenden Menschen am Schweinepferch erschienen. Im Laufe des Vormittags war die Menschenmenge immer weiter angewachsen, da mehr und mehr Dorfbewohner vorbeischauten, um ein Schwätzchen mit den Wächtern zu halten und einen Blick auf die Opfergaben zu werfen. Offenbar waren alle bester Laune, denn jetzt hatte man ein Opfer für die Seelen. Hatte man die unzufriedenen Seelen erst günstig gestimmt, wäre ihr Leben gesichert.

Mittlerweile wirkten die Wächter und die anderen Nangtong, die von der anderen Seite zuschauten, nicht mehr ganz so glücklich. Nervös zupften sie an den Tüchern herum, die ihre Gesichter verhüllten, und prüften, ob diese auch genug bedeckten und festsaßen. Die Wächter gingen dazu über, noch mehr Asche auf Gesicht und Körper zu verteilen. Offenbar konnte man nicht vorsichtig genug sein, wenn man vor den Seelen unerkannt bleiben wollte.

Zedd steckte seinen Kopf zwischen die Knie und schlug in der feuchten, klebrigen Pampe einen Purzelbaum. Wie verrückt lachend, beschrieb er rollend einen Kreis um Anns gedrungene Gestalt, die auf dem kalten Erdboden kauerte.

»Würdest du bitte damit aufhören?«

Zedd legte sich, alle viere ausgestreckt, vor ihr in den Matsch. Er ruderte mit ausgestreckten Armen und Beinen durch den Schlamm.

»Ann«, meinte er mit gesenkter Stimme, »wir haben eine wichtige Aufgabe zu erledigen. Uns wäre, glaube ich, ein größerer Erfolg beschieden, wenn wir diese Dinge in dieser Welt erledigten und nicht bis zur Unterwelt warteten, bis nach unserem Tod.«

»Mir ist durchaus klar, daß wir tot niemandem nützen.«

»Dann wäre es doch einleuchtend, daß wir fliehen müssen, findest du nicht auch?«

»Natürlich wäre es das«, brummte sie. »Nur glaube ich kaum –«

Zedd ließ sich auf ihren Schoß fallen. Sie schreckte angewidert zurück. Sie rümpfte die Nase, als er ihr seine dreckverschmierten Arme um den Hals schlang.

»Wenn wir nichts unternehmen, Ann, sterben wir. Wenn wir versuchen, uns gegen diese Leute zur Wehr zu setzen, sterben wir ebenso. Ohne unsere Magie haben wir keine Chance, ihnen zu entkommen. Unsere einzige Möglichkeit besteht darin, sie davon zu überzeugen, uns laufenzulassen. Wir sprechen ihre Sprache nicht, und selbst wenn, weiß ich nicht, ob wir sie umstimmen könnten.«

»Ja, aber –«

»So wie ich die Lage einschätze, bleibt uns nur eine Chance. Wir müssen sie überzeugen, daß wir völlig übergeschnappt sind. Das Opfer ist eine heilige Handlung zu Ehren der Seelen ihrer Ahnen. Sieh dir die Wächter hinter meinem Rücken an. Sehen sie glücklich aus?«

»Das nicht gerade.«

»Wenn sie uns für verrückt halten, überlegen sie es sich vielleicht noch einmal, ob sie uns ihren Seelen opfern. Würden die Seelen nicht beleidigt sein, wenn sie einen Verrückten als Opfergabe erhielten? Wäre das nicht respektlos? Wir müssen ihnen angst machen, sie könnten ihre Seelen mit zwei Übergeschnappten beleidigen.«

»Das ist … verrückt.«

»Betrachte es einmal so. Ein Opfer ist so etwas Ähnliches wie eine vertraglich abgesicherte Zweckehe zwischen zwei Stämmen. Die Braut ist das Opfer des einen Stammes an den anderen, vertreten durch die Person des neuen Gemahls. All das geschieht in der Hoffnung auf eine friedliche und gewinnbringende Zukunft. Der neue Stamm der Braut behandelt sie voller Respekt. Der Stamm der Braut behandelt den Gemahl und dessen Stamm mit Respekt. Das Ganze ist eine Übereinkunft, die Einheit, Fortdauer und Hoffnung auf die Zukunft versinnbildlichen soll.

Wir sind die Braut, die den Seelen geopfert werden soll. Wie sähe das aus, wenn die Nangtong eine unwürdige, geistig zurückgebliebene Braut opferten? Angenommen, du wärst eine der Seelen, wärst du dann nicht beleidigt?«

»Bekäme ich dich bei dem Handel ab, ganz bestimmt.«

Zedd heulte den Himmel an. Erschrocken rückte Ann ein Stück von ihm ab.

»Es ist unsere einzige Chance, Ann.« Er beugte sich ganz dicht heran und flüsterte ihr das folgende ins Ohr. »Ich schwöre einen Eid als Oberster Zauberer, ich werde niemandem erzählen, wie du dich aufgeführt hast.«

Er rückte von ihr ab und grinste. »Außerdem macht es Spaß. Weißt du noch, wieviel Spaß es gemacht hat, als Kind draußen im Dreck zu spielen? Das war einfach das Allerschönste.«

»Aber vielleicht klappt es nicht.«

»Ja, und? Würdest du nicht lieber sterben und Spaß am letzten Tag deines Lebens haben, anstatt hier verängstigt, frierend und verdreckt herumzuhocken? Würdest du nicht lieber ein letztes Mal herumtollen? Laß dich gehen, Prälatin, und erinnere dich, wie es war, ein Kind zu sein. Tu einfach, was immer dir gerade in den Sinn kommt. Hab Spaß. Sei ein Kind.«

Ann dachte mit ernster Miene über seine Worte nach.

»Du wirst es niemandem erzählen?«

»Du hast mein Wort darauf. Du kannst fröhlich wie ein Kind herumtollen, und niemand außer mir – und natürlich den Nangtong – wird je davon erfahren.«

»Wieder eine deiner Verzweiflungstaten, Zedd?«

»Wir leben in verzweifelten Zeiten. Auf geht's.«

Ann setzte ein durchtriebenes Lächeln auf. Sie versetzte ihm einen deftigen Stoß vor die Brust, der ihn nach hinten in den Matsch warf. Hemmungslos lachend warf sie sich auf ihn.

Sie rangen miteinander wie die Kinder, wälzten sich im Schlamm. Nachdem sie sich ein halbes dutzendmal herumgerollt hatten, hatte Ann sich in ein aus Armen, Beinen und zwei Augen bestehendes Schlammonster verwandelt. Der Matsch teilte sich, und zum Vorschein kam ein rosafarbener Mund, der gemeinsam mit Zedds den Himmel anheulte.

Sie formten Bälle aus Dreck und benutzten die Schweine als Zielscheiben. Sie scheuchten die armen Geschöpfe herum. Sie warfen sich auf den runden, festen Rücken der quiekenden Tiere und ritten sie im Kreis, bis sie abgeworfen wurden und im Matsch landeten. Zedd bezweifelte, ob Ann in all den neunhundert Jahren ihres Lebens jemals so schmutzig gewesen war.

Während sie eine Runde Fangen auf einem Bein spielten, bei der man mehr in den Schlamm fiel, als daß man sich hüpfend von der Stelle bewegte, wurde Zedd bewußt, daß ihr Lachen sich verändert hatte.

Ann fand wirklich Spaß daran.

Sie stapften durch Pfützen. Sie jagten den Schweinen hinterher. Sie liefen rund um den Pferch und ratterten mit Stöcken am Zaun entlang.

Und dann verfielen sie auf die Idee, den Wächtern Grimassen zu schneiden. Sie malten sich gegenseitig ulkige Fratzen in den Schlamm auf ihren Gesichtern. Sie gaben jedes unflätige Geräusch von sich, das ihnen in den Sinn kam. Sie hüpften herum und lachten und zeigten mit dem Finger auf die feierlich ernsten Wächter.

Vor lauter Lachen konnten Ann und Zedd sich nicht mehr auf den Beinen halten und wälzten sich, sich den Bauch haltend, wie zwei Betrunkene auf dem Boden.

Die Menschenmenge wuchs immer weiter an. Besorgtes Murmeln ging durch die Reihen der Zuschauer.

Ann stopfte sich die Daumen in die Ohren, wackelte mit den Fingern und schnitt ihnen Grimassen. Zedd stand auf dem Kopf und sang ein paar ihm bekannte anzügliche Balladen. Ann fing hysterisch an zu kichern, als er die entscheidenden Wörter falsch aussprach.

Zedd bekam einen Lachanfall, dann schlug er hin und landete im Matsch, und Ann warf sich auf ihn. Sie hockte auf seinem Bauch, drückte ihn zu Boden und kitzelte ihn unter den Armen, während er zwischen seinen Lachanfällen nach Atem ringend ihre Rippen kitzelte. So viel Spaß hatten die beiden ihr Leben lang noch nicht gehabt. Die Schweine drängten sich in einer Ecke zusammen.

Plötzlich, die beiden waren gerade völlig hemmungslos damit beschäftigt, die kitzligsten Stellen beim jeweils anderen zu entdecken, wurden Wassereimer über ihnen ausgeleert. Sie sahen hoch. Noch mehr Wasser ging auf sie nieder.

So schnell, wie der Matsch von ihnen heruntergewaschen wurde, warfen sie sich wieder hinein. Aschebeschmierte Wächter packten sie bei den Armen und hielten sie mit vorgehaltenen Speeren in Schach, während sie erneut abgespritzt wurden. Zedd linste hinüber zu Ann. Ann linste zurück. Sie wirkte lächerlich, als ihr Gesicht unter Schlieren von Dreck zum Vorschein kam. Er kicherte und schnitt ihr ein Gesicht. Sie kicherte und zog ihm ebenfalls eine Grimasse. Die Männer brüllten sie an.

Die Wangen aufgebläht, versuchte Zedd, das Lachen einzustellen. Die Wächter stießen ihnen die Speere in den Rücken und drängten sie voran. Das erinnerte ihn daran, gekitzelt zu werden, und sie brachen erneut in Gelächter aus.

Es war, als hätte das Lachen, einmal ausgebrochen, ein Eigenleben. Welchen Unterschied machte es, daß sie geopfert werden sollten? Warum sollten sie zu guter Letzt nicht noch einmal richtig Spaß haben. Wer zuletzt lacht, lacht am besten.

Die Menge aus verschleierten Gestalten teilte sich, während die beiden Gefangenen aus dem Schweinepferch herausgeführt wurden.

Zedd hob kichernd die Arme und winkte. »Wink den Leuten zu, Annie.«

Statt dessen schnitt sie Grimassen. Zedd gefiel der Einfall, und er äffte sie nach. Die Menschen wichen erschrocken zurück, so als böte sich ihnen ein grauenvoller Anblick. Einige Frauen stimmten weinend ein Klagegeheul an. Zedd und Ann zeigten lachend auf sie, als die Frauen Schutz vor diesen Irren suchten und aus der Menschenmenge flüchteten.

Wenig später lagen Zelte und Zuschauer hinter ihnen, während ihre Häscher sie mit ihren Speeren weiterstießen. Kurz darauf befanden sich die beiden verdreckten, stinkenden, glücklichen Opfergaben draußen in den Hügeln. Fünfunddreißig oder vierzig Seelenjäger der Nangtong, allesamt mit einsatzbereiten Speeren oder Bögen in den Händen, zogen hinter ihnen her. Zedd fiel auf, daß einige von ihnen Bündel und Vorräte mitgenommen hatten.

Der Oberste Zauberer Zeddicus Zu'l Zorander und Prälatin Annalina Aldurren hüpften lachend vor den Speeren her und prahlten gegenseitig damit, wie viele Zwiebeln sie verdrücken konnten, ohne daß ihnen die Tränen kamen.

Zedd hatte nicht die geringste Ahnung, wohin sie unterwegs waren, aber es war ein schöner Vormittag, um dorthin zu gehen. Was immer ihr Ziel sein mochte.


»Irgendwie komisch, Lord Rahl«, befand Unterkommandant Crawford.

Richard ließ den Blick über das Geröllfeld wandern. »Was ist daran komisch?«

Der Unterkommandant legte den Kopf in den Nacken und sah an der Felswand hoch. »Na ja, ich meinte, es ist eigenartig. Ich bin inmitten von zerklüfteten Bergen aufgewachsen und habe mein Leben lang Orte wie diesen gesehen, aber diese Stelle hier ist eigenartig.« Er drehte sich um und zeigte. »Seht Ihr den Berg dort drüben? Man kann erkennen, wo der Erdrutsch ausgelöst wurde.«

Richard legte eine Hand an die Stirn, um seine Augen gegen die tiefstehende Nachmittagssonne abzuschirmen. Der Berg, auf den der Unterkommandant zeigte, war zerklüftet und bis auf den obersten Bereich mit Bäumen bestanden. An der steilen Wand unterhalb von ihnen hatte ein Teil nachgegeben und dort, wo das Gestein weggebrochen war, eine Narbe aus nacktem Fels hinterlassen. Am Fuß der kahlen Narbe befand sich ein Geröllfeld.

»Was ist damit?«

»Nun, seht Euch all das Geröll dort unten an. Das ist der Teil, der aus der Flanke des Berges herausgebrochen ist.« Er deutete auf den Hang, oberhalb dessen sie standen. »Aber es ist nicht dasselbe.«

Ein weiterer Soldat kam hinzu und salutierte mit einem Faustschlag aufs Herz. Er sah vorsichtig zu Ulic und Egan hinüber, die mit verschränkten Armen dastanden, und wartete schweigend ab.

»Nichts, Lord Rahl«, sagte er, nachdem Lord Rahl seinen Gruß erwidert hatte. »Nicht ein einziger Gesteinssplitter, der von Werkzeugen bearbeitet worden wäre.«

»Sucht weiter. Versucht es an den äußeren Rändern des Geröllfeldes. Sucht nach Stellen, wo ihr unter einige der größeren Brocken kriechen könnt, und seht Euch auch dort um.«

Der Soldat salutierte und eilte davon. Der Tag ging dem Ende zu. Richard hatte erklärt, er habe nicht die Absicht, einen weiteren Tag zu bleiben. Er wollte zurück nach Aydindril. Vermutlich würde Kahlan am Abend eintreffen, vielleicht erst morgen. Dann wollte er dasein.

»Also, was meint Ihr, Unterkommandant?«

Unterkommandant Crawford warf einen Stein und verfolgte, wie er erst von einem Felsbrocken, dann von einem zweiten abprallte. Das scharfe Geräusch hallte von der Felswand hinter ihnen wider.

»Könnte sein, daß die Flanke dieses Berges vor sehr viel längerer Zeit herausgebrochen ist. Im Lauf der Zeit wuchsen dort Pflanzen, starben ab, wurden zu Humus, in dem wieder größere Pflanzen wuchsen, dann starben diese ab und bildeten noch mehr Boden. Möglicherweise wurde der Erdrutsch überdeckt.«

Richard wußte sehr gut, worauf Unterkommandant Crawford hinauswollte. Er wußte, wie ein Wald im Laufe der Zeit einen Erdrutsch überdecken konnte. Wenn man am Fuß eines steilen Abgrunds im Wald grub, stieß man oft auf Trümmer des herabgestürzten Berges.

»In diesem Fall halte ich das nicht für wahrscheinlich.«

Der Unterkommandant sah zu ihm hinüber. »Darf ich fragen, warum nicht, Lord Rahl?«

Richard blickte über die Schlucht hinweg zum nächsten Berg. »Nun, seht Euch diese Felswand an. Die Oberfläche ist rauh und uneben, doch das Gestein des Berges, das zurückblieb, nachdem die Flanke abgerutscht war, ist mittlerweile verwittert. Große Teile davon sind alles andere als schroff. Die Zeit hat sie abgeschliffen.

Teile davon weisen jedoch scharfe Kanten auf. Wasser dringt in die Ritzen ein, gefriert und sprengt mit der Zeit immer mehr Gestein heraus. Man kann einige dieser scharfkantigen Stellen sehen, das meiste jedoch hat eine glatte Oberfläche.

Für mich sieht das so aus, als sei das lange vor diesem Erdrutsch hier geschehen, trotzdem kann man das meiste Gestein am Fuß der Felswand liegen sehen. Hier liegt viel weniger Geröll.«

Egan löste die Arme voneinander und strich sein blondes Haar nach hinten. »Könnte einfach an den geographischen Gegebenheiten liegen. Diese Felswand liegt nach Süden und wird von der Sonne beschienen, dadurch können die Pflanzen besser gedeihen, wogegen diese hier nach Norden gerichtet ist, wo die meiste Zeit Schatten herrscht. Vermutlich hat sich der Wald dort drüben nicht so schnell entwickelt, weshalb das Geröll unbedeckt geblieben ist.«

Damit hatte Egan nicht ganz unrecht.

»Und noch etwas.« Richard legte den Kopf in den Nacken und blickte die Tausende von Fuß hohe steile Felswand hinauf, die über ihnen in die Höhe ragte. »Die Hälfte dieses Berges ist verschwunden. Das dort drüben war ein vergleichsweise kleiner Erdrutsch.

Seht an diesem Berg hinauf und versucht Euch vorzustellen, wie er ausgesehen haben müßte, bevor es dazu kam. Er wurde von oben bis unten geteilt, wie ein Baumstamm, den man in zwei Hälften spaltet. Alle übrigen Berge ringsum sind mehr oder weniger kegelförmig. Dieser hier bildet nur einen Halbkegel.

Selbst wenn ich mich irre und die Hälfte des Berges nicht verschwunden ist und er immer schon in etwa die Form hatte, die wir jetzt sehen, sollten hier unten immer noch ungeheure Gesteinsmassen liegen. Selbst wenn er früher schon in etwa diese Form hatte und nur eine zehn oder zwanzig Fuß dicke Gesteinsschicht herausgebrochen ist, müßte allein schon aufgrund seiner ungeheuren Höhe eine gewaltige Geröllmenge entstanden sein.

Dieses Gestein ist scharfkantig, es könnte sich also um Brocken handeln, die durch das Arbeiten des gefrierenden Wassers herausgebrochen wurden. Ich vermute aber, da ich keine von der Zeit geglätteten Teile erkennen kann, daß der Vorfall noch nicht so lange zurückliegt. Und doch kann ich einfach nichts erkennen, was auf die Gesteinsmassen hindeutet, die sich von diesem Berg gelöst haben müssen. Selbst wenn sie mit der Zeit überwuchert worden wären, sollte hier, wo wir stehen, ein gewaltiger Schutthügel entstanden sein.«

Der Unterkommandant blickte sich um. »Da ist etwas dran. Wir befinden uns in etwa auf der Höhe des Grundes der Spalte. Wenn all das Gestein herausgebrochen ist, gibt es hier unter dem Wald keinen Schutthügel.«

Richard sah den Soldaten zu, die überall zwischen den Felsen und Bäumen nach einer Spur des Tempels der Winde suchten. Keiner von ihnen machte den Eindruck, als sei er wirklich etwas auf der Spur.

»Ich kann mir nicht vorstellen, daß er sich hier unten befindet. Soweit ich sehe, deutet einfach nichts darauf hin, daß der Berg hier abgestürzt ist.«

Ulic und Egan verschränkten die Arme wieder. Soweit es sie betraf, war die Angelegenheit damit erledigt.

Unterkommandant Crawford räusperte sich. »Lord Rahl, wenn die Hälfte des Bergs Kymermosst, wie es ihn früher gab, nicht hier unten liegt, wo befindet er sich dann?«

Richard und der Soldat sahen sich lange an. »Das wüßte ich auch zu gerne. Wenn er nicht dort unten liegt, dann muß er woanders sein.«

Der blonde Unterkommandant trat von einem Fuß auf den anderen. »Also, er ist bestimmt nicht einfach aufgestanden und hat sich aus dem Staub gemacht, Lord Rahl.«

Richard drehte seine Schwertscheide aus dem Weg und ging daran, von den Felsen herunterzuklettern. Er hatte bemerkt, daß er dem Mann angst machte. Richards Bemerkung schien auf Magie anzuspielen.

»Es muß so sein, wie Ihr sagt, Unterkommandant. Er ist sicher abgerutscht und dann überwuchert worden. Vielleicht war der Einschnitt zwischen den Bergen damals tiefer, und der Erdrutsch hat ihn einfach aufgefüllt, statt einen Hügel zu bilden.«

Dieser Gedanke leuchtete dem Unterkommandanten ein. Sie lieferte ihm eine Erklärung, die greifbar war wie Granit.

Richard glaubte nicht daran. Die Felswand erschien ihm eigenartig. Sie war sehr glatt, so als wäre sie mit einem gewaltigen Schwert abgespalten worden. Sicher, es gab schroffe Stellen, doch damit ließe sich das Geröll erklären, das am Fuß des Berges lag. Ihm schien es so, als sei der Berg abgeschnitten und weggetragen worden, und Wasser und Eis hätten die glatte Oberfläche der Felswand bearbeitet, Stücke herausgebrochen und sie zunehmend zerklüftet. Trotzdem war sie bei weitem nicht so zerklüftet wie die anderen Felswände ringsum.

»Das wäre eine Erklärung, Lord Rahl«, meinte der Unterkommandant. »Wenn das stimmt, dann bedeutet das allerdings, daß der Tempel, den Ihr sucht, tief darunter verschüttet liegt.«

Richard begab sich, dicht gefolgt von seinen beiden riesenhaften Bewachern, zu den Pferden. »Ich möchte mich oben auf dem Gipfel umsehen. Ich will mir die Ruinen dort oben anschauen.«

Ihr Führer, ein Mann mittleren Alters mit Namen Andy Millett, wartete bei den Pferden. Er war mit einem einfachen Wollgewand in Grün und Braun bekleidet, ganz wie Richard es früher getragen hatte. Sein verfilztes braunes Haar hing ihm bis über die Ohren. Andy war ungeheuer stolz, daß Lord Rahl ihn gebeten hatte, sie zum Berg Kymermosst zu führen. Richard kam sich deswegen ein wenig dumm vor. Andy war ganz einfach der erste, auf den Richard gestoßen war, der wußte, wo er lag.

»Ich möchte hinauf zu den Ruinen auf dem Gipfel.«

Andy reichte Richard die Zügel des großen Rotschimmels. »Natürlich, Lord Rahl. Viel gibt's dort oben nicht zu bewundern, aber ich zeige es Euch trotzdem gerne.«

So groß seine beiden Bewacher waren, sie saßen mühelos auf. Ihre Pferde bewegten sich kaum unter dem plötzlichen Gewicht. Richard schwang sich in den Sattel hinauf und zwängte seinen rechten Stiefel in den Steigbügel.

»Können wir vor Einbruch der Dunkelheit dort sein? Der Schnee des Frühlingssturms ist weitgehend geschmolzen. Der Pfad müßte passierbar sein.«

Andy warf einen Blick zur Sonne, die soeben im Begriff stand, einen Berg zu streifen. »So wie Ihr reitet, Lord Rahl, würde ich sagen, ein ganzes Stück eher. Normalerweise halten wichtige Leute mich auf. In diesem Fall bin ich es wahrscheinlich, der Euch aufhält.«

Richard schmunzelte. Er erinnerte sich, dieselbe Erfahrung gemacht zu haben. Je bedeutender die Leute waren, denen er als Führer diente, desto langsamer schienen sie sich zu bewegen.

Als sie bei den Ruinen eintrafen, war der Himmel von roten und goldenen Streifen durchzogen. Die umliegenden Berge lagen in tiefem Schatten. Die Ruinen schienen im honiggoldenen Licht zu erglühen.

Es gab einige elegante, mittlerweile zerfallende Gebäude, die einmal Teil eines größeren Palastes gewesen zu sein schienen, genau wie Kahlan gesagt hatte. Da und dort standen auf dem öden Berggipfel noch ein paar Mauerreste, deren Mauerwerk nicht von Schlingpflanzen und Gehölz überwuchert war, wie es im Tal der Fall gewesen wäre, sondern die statt dessen mit einer Schicht Flechten überzogen waren.

Richard stieg ab und gab Unterkommandant Crawford die Zügel. Das Gebäude links der breiten Straße war, gemessen an den Maßstäben, mit denen Richard aufgewachsen war, groß, verglichen mit den Schlössern und Palästen, die er seitdem besucht hatte, handelte es sich jedoch um ein belangloses Bauwerk.

Die Türöffnung war leer. Übriggeblieben waren die zerfallenden Überreste eines noch immer teilweise mit Blattgold versehenen Türrahmens. Drinnen hallten seine Schritte von den Wänden wider. In einem Raum des dachlosen Gebäudes stand eine Bank aus Stein. Der Brunnen in einem anderen enthielt geschmolzenen Schnee.

Ein gewundener Korridor, dessen Faßgewölbe größtenteils erhalten geblieben war, führte Richard an einem Labyrinth von Räumlichkeiten vorbei. Der Korridor teilte sich und ging, wie er vermutete, zu Zimmern in beiden Ecken des Gebäudes. Er folgte der linken Abzweigung zu deren Ende.

Wie alle Räume auf dieser Seite lag er zum Abgrund hinaus. Leere Rechtecke klafften dort, wo einst Fenster das Zimmer vor Wind und Regen geschützt hatten. Man sah über den Rand des Abgrunds hinaus auf die jenseits im blauen Dunst liegenden Berge.

Hier mußten Besucher und Bittsteller des Tempels darauf gewartet haben, vorgelassen zu werden. Während ihrer Wartezeit dürften sie einen prächtigen Blick auf den Tempel der Winde gehabt haben. Wurden sie abgewiesen, war ihnen wenigstens der geblieben. Fast glaubte er vor Augen zu haben, was die Menschen, die in diesem Raum gestanden hatten, gesehen haben mußten.

Er wußte, es war die Gabe, die ihm das alles mitteilte – beinahe so, wie die Seelen derer, die das Schwert der Wahrheit einst in Händen gehalten hatten, ihn führten, wenn er von seiner Magie Gebrauch machte.

Während er so dastand und hinausblickte, sah er ihn fast vor sich, gleich jenseits des Abgrunds, einen Ort von Größe und Macht. Hierher hatten die Zauberer Gegenstände von erhabener Magie geschafft, um sie sicher zu verwahren. Die Zauberer von damals, einige von ihnen Richards Vorfahren, hatten wahrscheinlich an derselben Stelle gestanden wie er und den Tempel der Winde betrachtet.

Im schwindenden Licht schlenderte er an den stattlichen Säulen draußen vorbei, warf einen Blick in die Wachhütten und die ehemals prachtvollen Gärten, berührte die zerfallenden Gemäuer. Obwohl alles jetzt in Auflösung begriffen war, hatte er keine Mühe, sich den majestätischen Anblick vorzustellen, den dies einst geboten haben mußte.

Er stand mitten auf der breiten Straße, die sich durch die zerfallenden Ruinen zog, spürte, wie sich sein goldenes Cape hinter ihm im Wind blähte, und versuchte sich diesen Ort so vorzustellen, wie er damals gewesen war, versuchte ein Gefühl für ihn zu bekommen. Die Straße mehr noch als die Gebäude gaben ihm das unheimliche Gefühl, das verschwundene Bauwerk stehe unmittelbar dahinter. Einst hatte diese Straße genau in den Tempel der Winde hineingeführt.

Mit großen Schritten lief er die breite Straße entlang und stellte sich vor, er schreite auf den Tempel der Winde zu, jener Winde, die behauptet hatten, Jagd auf ihn zu machen. Er passierte einen Mauerrest, lief zwischen den leeren Steingebäuden hindurch und bekam ein Gefühl für die Zeitlosigkeit dieses Ortes, spürte das Leben, das hier einst geherrscht hatte.

Aber wohin war es entschwunden? Wie sollte er es wiederfinden? Wo sonst konnte er suchen?

Hier hatte er gestanden, und selbst jetzt noch konnte Richard ihn fast sehen, ihn fühlen, ihn spüren, so als ziehe ihn seine Gabe immer weiter, bis nach Hause.

Plötzlich hielt ihn jemand fest.

Ulic auf der einen und Egan auf der anderen Seite hatten ihn unter den Armen gepackt und rissen ihn zurück. Er sah nach unten und erkannte, daß der nächste Schritt ihn hinaus in die Leere geführt hätte. Geier schwebten, keine zwanzig Fuß entfernt, genau vor ihm im Aufwind.

Es war, als stünde er am Rand der Welt. Die Aussicht war schwindelerregend. Die Härchen in seinem Nacken stellten sich auf.

Jenseits der Kante zu seinen Füßen sollte eigentlich noch etwas liegen, das wußte er. Aber dort war nichts.

Der Tempel der Winde war verschwunden.

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