37

Endlich gelang es Kahlan, Nancy und ihre Helferin fortzuschicken, indem sie ihnen erklärte, sie sei erschöpft und wolle nichts weiter als zu Bett gehen. Das Angebot, ein Bad zu nehmen, sich das Haar bürsten, sich massieren oder sich etwas zu essen bringen zu lassen, schlug sie ab, mit ihrem Kleid ließ sie sich jedoch von Nancy helfen, um bei der Frau keinen Verdacht zu erregen.

Endlich alleine, rieb sich Kahlan in der Kühle die nackten Arme. Sie betastete ihre Wunde unter dem Verband. Die war gut verheilt und schmerzte kaum noch. Dazu hatte Drefan seinen Teil beigetragen, und wahrscheinlich hatten auch Nadines Umschläge etwas genutzt.

Kahlan streifte einen Morgenrock über und ging zu dem Schreibtisch neben einem der Kamine. Dort war es angenehm warm, aber nur von einer Seite. Einer Schublade entnahm sie Papier und Feder. Während sie den silbernen Deckel des Tintenfasses abnahm, versuchte sie ihre Gedanken und das, was sie schreiben würde, zu ordnen.

Richard, mein Liebster,

ich habe etwas Wichtiges zu erledigen, und ich muß es alleine tun. Es ist mir ernst damit. Nicht nur aus Achtung vor Dir, sondern auch, weil Du der Sucher bist, begrüße ich, was Du tust, obwohl ich es mir gelegentlich anders gewünscht hätte. Ich bin mir darüber im klaren, daß ich Dir manchmal erlauben muß, das zu tun, was Du tun mußt. Ich bin die Mutter Konfessor, deshalb solltest Du verstehen, daß auch ich manchmal tun muß, was ich tun muß. Dies ist so ein Fall. Ich flehe Dich an, wenn Du mich liebst, dann respektiere meine Wünsche, misch Dich nicht ein, und laß mich tun, was ich zu tun habe.

Cara habe ich getäuscht, was ich sehr bedauere. Sie weiß nicht, was ich vorhabe und daß ich fortgehe. Ich würde äußerst ungehalten sein, solltest Du sie dafür zur Rechenschaft ziehen.

Wann ich zurückkehre, weiß ich nicht. Vermutlich werde ich ein paar Tage abwesend sein. Ich tue dies, um unsere Situation zu verbessern. Hab bitte Verständnis, und sei nicht zu böse auf mich – mir bleibt keine andere Wahl. Unterzeichnet, die Mutter Konfessor, Deine Königin, auf ewig Deine Liebe in dieser Welt und der danach – Kahlan.

Kahlan faltete den Brief zusammen und schrieb Richards Namen darauf. Dann öffnete sie ihn und las ihn noch einmal durch, um sich zu vergewissern, daß sie nichts verraten hatte, was er nicht erfahren sollte. Die Formulierung ›um unsere Situation zu verbessern‹ gefiel ihr. Das war so vage und konnte alles mögliche bedeuten. Sie hoffte, nicht zu schroff darauf bestanden zu haben, er dürfe sich nicht einmischen.

Schließlich zog sie eine Kerze heran und erhitzte das Ende eines Siegelwachsstiftes, den sie der Schublade entnommen hatte. Sie beobachtete, wie das Wachs auf den Brief tröpfelte und eine rote Pfütze bildete, dann drückte sie das Siegel der Mutter Konfessor – den Doppelblitz – in das warme Wachs. Sie küßte den Brief, blies die Kerze aus und lehnte den Brief dagegen, so daß man ihn unmöglich übersehen konnte.

Früher war ihr nie recht klar gewesen, warum das Siegel der Mutter Konfessor ein Doppelblitz war, jetzt aber wußte sie es. Er stand für das Symbol des Con Dar – des Blutrausches –, eines Bestandteils der Magie eines Konfessors aus grauer Vorzeit. Einer Magie, die so selten heraufbeschworen wurde, daß sie ihr völlig unbekannt gewesen war. Kahlans Mutter war gestorben, bevor sie ihr hatte beibringen können, wie man den Con Dar im Notfall einsetzte.

Gleich nachdem sie Richard begegnet war und sich in ihn verliebt hatte, hatte sie den Con Dar instinktiv heraufbeschworen. Unter dem Einfluß dieser Magie hatte sie sich zur Warnung, sich ihr nicht in den Weg zu stellen, einen Blitz auf jede Wange gemalt. Mit einem Konfessor im Blutrausch war eine vernünftige Auseinandersetzung nicht möglich.

Der Blutrausch war die subtraktive Seite der Magie eines Konfessors, die zur Rache heraufbeschworen wurde. Kahlan hatte darauf zurückgegriffen, als sie der Überzeugung war, Darken Rahl habe Richard umgebracht. Er konnte nur zugunsten eines anderen Menschen entfesselt und ausschließlich dazu eingesetzt werden, diesen Menschen zu beschützen. Sich selber konnte sie damit nicht verteidigen.

Wie ihre Konfessorenkraft, die sie stets tief in ihrem Innern gespürt hatte, war inzwischen auch der Con Dar gleich unterhalb der Oberfläche allzeit gegenwärtig: eine drohende Gewitterwolke über dem Horizont. Als sie ihn brauchte, um Richard zu beschützen, hatte sie augenblicklich gespürt, wie er sie durchfuhr: ein bläulicher Blitz, der alles zerstörte, was sich ihm in den Weg stellte.

Ohne die Subtraktive Magie in Verbindung mit der verbreiteten Additiven konnte niemand in der Sliph reisen. Sowohl die Schwestern der Finsternis als auch jene Zauberer, die zu Günstlingen des Hüters geworden waren, waren in der Lage, diese Form der Magie anzuwenden.

Kahlan betrat ihr Schlafgemach. Sie streifte den Morgenrock ab und warf ihn aufs Bett. Sie zog die unterste Schublade ihrer reich verzierten Kommode auf und wühlte in ihren Sachen nach dem Gegenstand, den sie benötigte.

Drinnen lagen die Kleider, die sie früher auf ihren Reisen getragen hatte und die für ihr Vorhaben besser geeignet waren als das weiße Kleid der Mutter Konfessor. Sie stieg in ihre grüne lange Hose. Dann nahm sie ein festes Hemd heraus, zog es über und knöpfte es mit zitternden Fingern zu. Sie stopfte das Hemd in die Hose und schloß den breiten Gürtel. Die Hüfttasche ließ sie zurück.

Ganz hinten aus der Schublade holte Kahlan einen in ein Rechteck aus weißem Stoff gewickelten Gegenstand hervor. Sie legte ihn auf den Boden, beugte sich über ihn und schlug die Ecken des Tuches zurück.

Obwohl sie wußte, was es war und wie es aussah, konnte sie nichts dagegen machen: Sie fröstelte, als sie es jetzt wiedersah.

Auf dem Tuch lag das Knochenmesser, das Chandalen ihr vermacht hatte. Es handelte sich um eine aus dem Armknochen seines Großvaters hergestellte Waffe.

Das Messer hatte ihr bereits einmal das Leben gerettet. Sie hatte Prindin damit getötet, einen Mann, der ihr Freund gewesen war, sich später aber dem Hüter zugewandt hatte.

Zumindest glaubte sie, ihn getötet zu haben. Sie erinnerte sich nicht mehr genau, was an jenem Tag geschehen war. Damals hatte sie unter dem Einfluß eines Giftes gestanden, das Prindin ihr verabreicht hatte. Sie war nicht vollkommen sicher, ob nicht vielleicht doch die Seele von Chandalens Großvater sie gerettet hatte. Prindin hatte sich auf sie geworfen, und plötzlich, so schien es, hatte sie das Messer einfach in der Hand. Sie wußte noch genau, wie sein Blut am Messer herabgelaufen und ihr über das Handgelenk getropft war.

Tiefschwarze Rabenfedern breiteten sich fächerförmig von der runden Knochenverdickung am oberen Ende aus. Raben standen bei den Schlammenschen für mächtige Seelenmagie. Man brachte sie mit Tod in Verbindung.

Chandalens Großvater hatte die Seelen um Hilfe ersucht, um seinen Stamm davor zu bewahren, von einem anderen Stamm der Wildnis, den Jocopo, hingemetzelt zu werden, dem die kriegerische Gier nach Blut den Verstand geraubt hatte. Niemand kannte den Grund, die Folge war jedoch ein Blutbad gewesen.

Er hatte eine Versammlung einberufen und die Seelen um Hilfe gebeten. Damals war sein Stamm friedfertig und nicht in der Lage gewesen, sich zu verteidigen. Die Seelen hatten Chandalens Großvater gezeigt, wie man die Jocopo töten konnte, wodurch sein eigener Stamm zu den Schlammenschen geworden war. Die Schlammenschen verteidigten sich und entledigten sich der Bedrohung.

Die Jocopo gab es nicht mehr.

Chandalens Großvater hatte seinem Sohn beigebracht, wie man Beschützer seines Stammes wurde, und Chandalens Vater wiederum hatte dieses Wissen an Chandalen weitergegeben. Kahlan kannte nur wenige Männer, die diese Aufgabe so gut erfüllten wie Chandalen. In einer Schlacht mit der Armee der Imperialen Ordnung hatte er wie die Verkörperung des Todes gewütet. Sie selbst allerdings nicht minder.

Chandalen trug das aus den Knochen seines Großvaters sowie ein aus denen seines Vaters hergestelltes Seelenmesser stets bei sich. Das aus den Knochen seines Großvaters hatte er Kahlan vermacht, damit es sie beschütze. Und so war es auch gekommen. Vielleicht würde sich das wiederholen.

Kahlan nahm das Knochenmesser voller Ehrfurcht in die Hand.

»Großvater von Chandalen, du hast mir bereits einmal geholfen. Bitte beschütze mich jetzt abermals.« Sie küßte das geschliffene Messer.

Wenn Kahlan Shota schon gegenübertreten mußte, dann wenigstens nicht unbewaffnet. Eine bessere Waffe konnte sie sich nicht vorstellen.

Sie knotete das Band aus gewebter Präriebaumwolle um ihren Arm und schob das Messer hindurch. Es lag, verdeckt von den schwarzen Zierfedern, fest auf ihrem Oberarm. Aufgrund der Befestigungsart ließ sich die Waffe verblüffend schnell ziehen. Kahlan wollte eine Frau aufsuchen, vor der sie sich fürchtete, und mit dem Knochenmesser war ihr dabei entschieden wohler zumute.

Einer anderen Schublade entnahm Kahlan einen leichten hellbraunen Umhang. Wegen der Schneestürme des Frühlings hätte sie gerne einen schwereren eingepackt, es war jedoch damit zu rechnen, daß sie ihnen nicht lange ausgesetzt sein würde. In Agaden würde es nicht so kalt sein wie in Aydindril.

Sie hoffte, die helle Farbe werde es ihr erleichtern, sich unbemerkt an den Posten oben bei der Burg vorbeizuschleichen, zudem ließ sich das Messer in dem leichten Umhang schneller ziehen.

War es töricht zu glauben, sie könne das Messer schneller ziehen, als Shota einen Bann aussprach, überlegte sie, und war eine solche Waffe gegen eine Hexe überhaupt von Nutzen? Sie warf den Umhang über die Schultern. Das Messer war alles, was sie hatte.

Außer ihrer Konfessorenkraft. Vor der hatte Shota Respekt: Gegen die Berührung durch einen Konfessor war niemand gefeit. Gelang es Kahlan, die Hexe zu berühren, wäre es deren Ende. Allerdings besaß Shota Magie, die bislang verhindert hatte, daß Kahlan ihr nahe genug kam, um von ihrer Kraft Gebrauch zu machen.

Damit der blaue Blitz des Con Dar seine Wirkung entfalten konnte, brauchte Kahlan sie allerdings nicht zu berühren. Sie seufzte. Zu ihrer eigenen Verteidigung ließ sich der Con Dar nicht heraufbeschwören. Kahlan hatte Richard mit dem Blitz beschützt, als der Screeling ihn angegriffen hatte und als die Schwestern der Finsternis ihn abgeholt hatten.

Sie spürte, wie eine Woge der Erkenntnis durch ihre Gedanken flutete. Richard liebte sie und wollte sie heiraten, um immer bei ihr sein zu können. Shota hatte ihm diesen Wunsch verwehrt und Nadine geschickt, damit diese ihn heiratete. Davon wollte er nichts wissen.

Nadine war einfach über die Tatsache hinweggegangen, daß Richard Kahlan liebte, hatte ihn gequält und verletzt. Er wollte nicht mit ihr Zusammensein und duldete ihre Anwesenheit nur, weil Shota etwas im Schilde führte und er Angst hatte, sie aus den Augen zu lassen. Auf keinen Fall aber wollte er gezwungen sein, sie zu heiraten.

Shota stand im Begriff, Richard Unheil zuzufügen.

Die Hexe stellte eine Gefahr für ihn dar. Kahlan konnte den Con Dar heraufbeschwören, um ihn zu schützen. Sie hatte es schon einmal getan, als die Schwestern Richard gegen seinen Willen gefangenzunehmen drohten. Kahlan konnte den blauen Blitz benutzen, um Shota in ihre Schranken zu weisen. Dieser Art von Magie hatte die Hexe nichts entgegenzusetzen.

Kahlan wußte, wie Magie funktionierte. Diese Magie stammte aus ihrem Innern. Wie jene aus Richards Schwert war sie mit dem subjektiven Empfinden verbunden. Fühlte Kahlan sich berechtigt, sie zu Richards Verteidigung einzusetzen, dann tat der Con Dar, was sie von ihm verlangte. Sie wußte, Richard wollte nicht, daß Shota ihn benutzte, ihn beherrschte, ihm vorschrieb, wie er sein Leben zu leben hatte.

Kahlans Vorgehen war daher gerechtfertigt: Shota stand im Begriff, Richard Unheil zuzufügen. Der Con Dar würde gegen sie wirken.

Sie hielt inne, ließ sich auf die Fersen sinken und bat die Guten Seelen mit einem Gebet um Unterweisung. Die Vorstellung, sie handele aus Rache oder mache sich auf den Weg, um jemanden zu töten, war ihr unangenehm. Sie wollte nicht denken, daß sie die Absicht hatte, Shota umzubringen. Sie fragte sich, ob sie etwas zu rechtfertigen versuchte, das sich nicht rechtfertigen ließ.

Nein, sie brach nicht in der Absicht auf, Shota umzubringen. Sie wollte lediglich dieser Geschichte mit Nadine auf den Grund gehen und herausfinden, was die Hexe über die Tempel der Winde wußte.

Doch wenn es nicht anders ging, dann wollte sie sich wehren. Mehr noch, sie hatte die Absicht, Richard vor Shota zu beschützen – vor ihren Plänen, seine Zukunft zu ruinieren. Kahlan war es leid, das Ziel ihres unberechenbaren Zorns zu sein. Sollte Shota versuchen, sie zu töten oder Richard dieses Unheil aufzuzwingen, dann würde Kahlan der Bedrohung ein Ende setzen.

Bereits jetzt vermißte sie Richard. Sie hatten so lange dafür gekämpft zusammenzusein, und jetzt verließ sie ihn. Wäre die Situation umgekehrt, wäre sie dann ebenso verständnisvoll, wie sie dies jetzt von ihm erwartete?

In Gedanken noch bei Richard, zog sie die oberste Schublade auf, in der ihr wertvollster Besitz lag. Ehrfürchtig nahm sie das blaue Hochzeitskleid hervor. Davon abgesehen war die Schublade leer. Sie strich mit den Daumen über den feinen Stoff. Als die Tränen Kahlan überwältigten, drückte sie das Kleid an ihren Busen.

Behutsam legte sie das Kleid wieder an seinen Platz zurück, bevor Tränen darauf tropften. Eine ganze Weile stand sie da, eine Hand auf dem Kleid.

Sie schob die Lade zu. Sie hatte eine Aufgabe zu erledigen. Sie war die Mutter Konfessor, ob ihr das gefiel oder nicht. Shota lebte in den Midlands und gehörte daher zu ihren Untertanen.

Sie wollte nicht sterben, ohne Richard wiederzusehen, aber sie ertrug es nicht mehr, daß Shota sich in ihr Leben einmischte und ihre Zukunft verpfuschte. Die Hexe hatte eine andere Frau geschickt, die Richard heiraten sollte. Kahlan hatte nicht die Absicht, dieser Einmischung tatenlos zuzusehen.

Ihr Entschluß festigte sich. Sie griff hinten in den Kleiderschrank und nahm ein verknotetes Seil von einem hölzernen Haken. Es hing dort für den Fall, daß es brannte und die Mutter Konfessor sich über den Balkon retten mußte.

Der heulende Wind und der Schnee trafen sie wie ein Schock, als sie die Glastüren öffnete. Kahlan kniff gegen den Sturm die Augen zusammen und zog die Türen hinter sich zu. Sie streifte die Kapuze über und stopfte ihr Haar darunter. Es wäre nicht gut, wenn die Leute die Mutter Konfessor erkannten – falls in einer solchen Nacht überhaupt jemand unterwegs war. Sie wußte allerdings, daß die Posten oben bei der Burg der Zauberer draußen sein würden.

Rasch befestigte sie das Seil an einem der vasenförmigen Baluster und warf den Rest der schweren Rolle über das Geländer. In der Dunkelheit konnte sie nicht erkennen, ob es bis zum Boden reichte. Sie mußte darauf vertrauen, daß, wer immer das Seil in Kahlans Kleiderschrank gehängt hatte, überprüft hatte, ob es lang genug war.

Kahlan schwang ein Bein über das steinerne Geländer, ergriff das Seil mit beiden Händen und machte sich an den Abstieg.


Kahlan hatte sich entschieden, zu Fuß zu gehen. Sehr weit war es nicht, und wenn sie ein Pferd nähme, müßte sie es an der Burg zurücklassen, wo es gefunden werden könnte und sie verraten würde. Oder aber sie müßte es laufenlassen, bevor sie dort ankam, was nur den Befürchtungen Nahrung gäbe, ihr könnte etwas zugestoßen sein. Zu Pferd wäre es auch schwieriger, an den Posten oben bei der Burg vorbeizukommen. Die Guten Seelen hatten ihr einen Frühlingsschneesturm geschickt. Das mindeste, was sie tun konnte, war, ihn zu nutzen.

Während sie durch den schweren, nassen Schnee stapfte, begann sie sich zu fragen, ob es klug gewesen war, zu Fuß aufzubrechen. Sie bekräftigte sich in ihrem Entschluß. Wenn sie bereits jetzt anfing, ihre Entscheidungen in Zweifel zu ziehen, dann stand es ihr nicht zu, die Sache zu Ende zu führen.

Die meisten Läden waren geschlossen. Die wenigen Menschen, denen sie begegnete, waren selbst zu sehr damit beschäftigt voranzukommen, um eine gedrungene Gestalt zu beachten, die sich durch den Wind kämpfte. In der Dunkelheit ließe sich nicht einmal unterscheiden, ob sie Mann war oder Frau. Bald würde sie die Stadt hinter sich haben und befände sich auf der menschenleeren Straße, die zur Burg führte.

Den ganzen Weg hinauf überlegte sie, wie sie am besten an den Wachen vorbeikommen sollte. Es waren d'Haranische Soldaten. Die durfte man nicht unterschätzen. Wenn sie erkannt wurde, wäre dies äußerst unvorteilhaft. Man würde es berichten.

Der einfachste Weg, an Posten vorbeizugelangen, war, sie zu töten. Aber das konnte sie unmöglich tun. Das waren jetzt ihre eigenen Leute, die für ihre Sache und gegen die Imperiale Ordnung kämpften. Sie zu töten stand außer Frage.

Sie mit einem Schlag über den Schädel außer Gefecht zu setzen, wäre ebenfalls nicht gut. Nach ihrer Erfahrung erzielte ein Schlag über den Kopf selten das gewünschte Ergebnis. Manchmal war das Opfer nicht bewußtlos und schrie aus Leibeskräften, bevor man irgend etwas unternehmen konnte, schlug Alarm und rief Wachen herbei, die auf Leben und Tod gegen jeden Eindringling vorgingen.

Außerdem hatte sie bereits Männer nach einem Schlag über den Schädel qualvoll sterben sehen. Das wollte sie nicht riskieren. Man schlug jemanden nur dann auf den Kopf, wenn man seinen Tod einkalkulierte, denn der würde aller Wahrscheinlichkeit nach auch eintreten.

Vermutlich hatten Marlin und die Schwester die Wachen mit Hilfe von Magie unbemerkt passiert. Sie besaß jedoch keine, die dazu imstande gewesen wäre. Kahlans Magie würde ihren Verstand zerstören.

Bliebe ein Täuschungsmanöver, oder sie mußte sich hineinschleichen. D'Haranische Wachposten waren in jeder Art von Täuschungsmanövern ausgebildet und kannten wahrscheinlich mehr Tricks, als sie sich vorstellen konnte.

Damit blieb ihr nur noch das Hereinschleichen.

Sie war nicht sicher, wo sie sich befand, aber sie wußte, daß sie sich ihrem Ziel näherte. Der Wind kam von links, also hielt sie sich tief geduckt auf der rechten Straßenseite, wo sie den Wind im Rücken hatte. Sobald sie nahe genug war, würde sie auf allen vieren kriechen müssen.

Wenn sie sich auf die Erde legte, den Umhang über sich breitete und eine Weile wartete, würde der Schnee sie bedecken und unsichtbar machen. Dann mußte sie langsam weiterkriechen und, sobald sie einen Soldaten erblickte, einfach still liegenbleiben, bis er vorüber war. Sie wünschte, sie hätte daran gedacht, Handschuhe mitzunehmen.

Sie beschloß, sich nicht näher heranzuwagen, und wechselte hinüber auf die rechte Straßenseite. Die Brücke würde der schwierigste Teil werden. Dort würde sie wie in einem Trichter in einen verhältnismäßig schmalen Engpaß geraten, wo sie den Soldaten nicht mehr ausweichen konnte. Allerdings fürchteten sich die Soldaten vor der Magie der Burg der Zauberer und standen vermutlich nicht unmittelbar vor der Brücke. Beim letzten Mal hatten sie zwanzig, dreißig Fuß von ihr entfernt gestanden, und in der Dunkelheit und in diesem Schnee war die Sicht alles andere als prächtig.

Allmählich wurde sie zuversichtlicher, was ihre Chance anbetraf, ungesehen durchzukommen. Der Schnee würde ihr ausreichend Deckung bieten.

Kahlan erstarrte mitten in der Bewegung, als eine Schwertklinge vor ihrem Gesicht auftauchte. Ein schneller Blick ergab, daß sich auf ihrer anderen Seite ebenfalls eine Klinge befand. Ein weiterer Soldat drückte ihr einen Spieß von hinten in den Nacken.

Soviel zum Thema heimliches Hineinschleichen.

»Wer da?« erschallte vor ihr eine barsche Stimme.

Kahlan mußte sich etwas Neues einfallen lassen, und das schnell. Rasch entschied sie sich für ein kleines Stückchen Wahrheit, gemischt mit der Angst der Soldaten vor Magie.

»Ihr habt mich fast zu Tode erschreckt, Kommandant. Ich bin es, die Mutter Konfessor.«

»Zeigt Euch.«

Kahlan streifte ihre Kapuze zurück. »Ich dachte, ich käme unerkannt an Euch vorbei. Aber offenbar sind d'Haranische Posten besser als ihr Ruf.«

Die Männer senkten die Waffen. Kahlan war überaus erleichtert, als sie merkte, wie ihr der Spieß aus dem Nacken genommen wurde. Mit der Waffe hätte der Posten sie im Zweifelsfall getötet.

»Mutter Konfessor! Ihr habt uns wirklich einen Schrecken eingejagt. Was wollt Ihr heute nacht denn schon wieder hier oben? Und obendrein noch zu Fuß.«

Kahlan fügte sich seufzend in ihr Schicksal. »Ruft alle Eure Männer zusammen, dann werde ich es Euch erklären.«

Der Kommandant deutete mit dem Kopf nach hinten. »Hier entlang. Wir haben eine kleine Hütte. Damit Ihr aus dem Wind herauskommt.«

Sie ließ sich auf die andere Straßenseite führen, wo eine einfache dreiwandige Konstruktion stand, die ein wenig Schutz vor Wind und nassem Wetter bieten sollte. Sie war nicht groß genug für sie und alle sechs Soldaten. Die Soldaten bestanden darauf, sie solle sich auf den trockensten Platz ganz hinten stellen.

Sie war hin- und hergerissen zwischen der Zufriedenheit darüber, daß selbst bei einem Schneesturm niemand an den d'Haranischen Posten vorbeikam, und dem Wunsch, es wäre ihr gelungen. Das hätte alles sehr vereinfacht. Jetzt würde sie sich herausreden müssen.

»Hört alle zu«, begann sie. »Ich habe nicht viel Zeit, da ich in einer wichtigen Mission unterwegs bin. Aus diesem Grund bin ich auf Euer Vertrauen angewiesen. Euer aller Vertrauen. Habt Ihr alle von der Pest gehört?«

Die Männer bestätigten mit einem Brummen, sie wüßten Bescheid, und traten verlegen aufs andere Bein.

»Richard, Lord Rahl, versucht eine Möglichkeit zu finden, sie aufzuhalten. Wir wissen nicht, ob es eine Möglichkeit gibt, aber er wird unermüdlich danach suchen, das wißt Ihr. Er würde alles tun, um sein Volk zu retten.«

Die Männer nickten erneut. »Was hat das mit –«

»Ich bin in Eile. Zur Zeit schläft Lord Rahl. Die Suche nach einem Mittel gegen die Pest hat ihn erschöpft. Nach einem Mittel der Magie.«

Die Männer richteten sich ein wenig auf. Der Kommandant rieb sich das Kinn. »Wir wissen, daß Lord Rahl uns nicht im Stich lassen würde. Er hat mich vor ein paar Tagen geheilt.«

Kahlan blickte in die Augen, die ihr entgegenstarrten. »Nun, was wäre, wenn Lord Rahl selbst an der Pest erkranken würde? Bevor er eine Lösung findet? Was würde dann passieren? Dann wären wir alle tot.«

Die Angst stand ihnen deutlich ins Gesicht geschrieben. Für D'Haraner war der Verlust eines Lord Rahl eine verhängnisvolle Sache. Er brachte ihrer aller Zukunft in Gefahr.

»Wie kann man ihn dagegen schützen?« fragte der Kommandant.

»Das hängt ganz von Euch Männern ab, hier und heute nacht.«

»Was vermögen wir zu tun?«

»Lord Rahl liebt mich. Ihr alle wißt, wie besorgt er um mich ist. Die ganze Zeit über läßt er mich von diesen Mord-Sith beschatten. Wachen begleiten mich auf Schritt und Tritt, wohin ich auch gehe. Er würde nicht zulassen, daß ich auch nur auf eine Entfernung von Meilen in die Nähe einer Gefahr gerate. Stets ist er zur Stelle, bevor das Unheil auch nur einen flüchtigen Blick auf mich erhaschen kann.

Ebensowenig möchte ich, daß ihm etwas zustößt. Was wäre, wenn er an der Pest erkrankt? Dann verlieren wir alle ihn.

Ich habe vielleicht einen Weg gefunden, ihm zu helfen, die Seuche aufzuhalten, bevor sie uns alle befallen kann – und bevor er sich ansteckt, was irgendwann ganz sicher geschehen wird.«

Ihnen stockte der Atem. »Wie können wir helfen?« fragte der Kommandant.

»Was ich tue, hat etwas mit Magie zu tun – mit sehr gefährlicher Magie. Wenn ich Erfolg habe, kann ich Lord Rahl vielleicht vor der Pest bewahren. Uns alle. Aber wie gesagt, es ist gefährlich.

Ich muß mit Hilfe von Magie für ein paar Tage fort, um festzustellen, ob ich Lord Rahl helfen kann, die Seuche aufzuhalten. Als Soldaten wißt Ihr, wie streng er mich bewacht. Er würde mich niemals gehen lassen. Eher würde er sterben, als zulassen, daß ich mich einer Gefahr aussetze. In dieser Hinsicht kann man mit ihm nicht vernünftig reden.

Aus diesem Grund habe ich die Mord-Sith und meine anderen Bewacher getäuscht. Niemand weiß, wohin ich gehe. Erfährt Richard von meinem Plan, wird er mir folgen und sich der gleichen Gefahr aussetzen wie ich. Welchen Sinn hätte das? Wenn ich getötet werde, wird er ebenfalls getötet werden. Habe ich Erfolg, besteht kein Grund, daß er mir folgt.

Ich wollte nicht, daß jemand erfährt, wohin ich heute nacht aufbreche. Ihr, Männer, seid jedoch zu gute Wachen. Jetzt liegt es bei Euch. Ich riskiere mein Leben, um Lord Rahl zu beschützen. Wollt Ihr ihn ebenfalls beschützen, dann müßt Ihr Verschwiegenheit geloben. Selbst wenn er Euch in die Augen blickt, müßt Ihr ihm erklären, Ihr hättet mich nicht gesehen und niemand sei hier heraufgekommen.«

Die Männer scharrten mit den Füßen, räusperten sich und sahen einander an.

Die Finger des Wachhauptmanns spielten nervös am Heft seines Schwertes. »Wenn Lord Rahl uns in die Augen blickt und uns eine Frage stellt, dürfen wir ihn nicht anlügen, Mutter Konfessor.«

Kahlan beugte sich näher an den Mann heran. »Dann könnt Ihr ihn ebensogut auf der Stelle erschlagen. Denn das käme auf dasselbe heraus. Wollt Ihr Lord Rahls Leben gefährden? Wollt Ihr für seinen Tod verantwortlich sein?«

»Selbstverständlich nicht! Wir alle würden unser Leben für ihn geben!«

»Ich bin ebenfalls bereit, mein Leben für ihn zu opfern. Wenn er dahinterkommt, was ich tue oder wohin ich heute nacht gegangen bin, wird er mir folgen. Helfen kann er mir nicht, aber er könnte dabei das Leben verlieren.«

Kahlan zog ihren Arm unter ihrem Umhang hervor und zeigte nacheinander auf das Gesicht jedes einzelnen Mannes. »Ihr seid dafür verantwortlich, wenn Lord Rahls Leben in Gefahr gerät. Es ist Eure Schuld, wenn er sinnlos ein Risiko eingeht. Womöglich tötet Ihr ihn so.«

Der Kommandant blickte jedem seiner Männer in die Augen. Er rieb sich das Gesicht und überlegte. Schließlich ergriff er das Wort.

»Was verlangt Ihr von uns? Sollen wir auf unser Leben schwören?«

»Nein«, erwiderte Kahlan. »Schwört auf Lord Rahls Leben.«

Die Männer sanken, dem Beispiel des Kommandanten folgend, auf ein Knie.

»Wir schwören einen Eid auf das Leben von Lord Rahl, niemandem zu verraten, daß wir Euch heute nacht gesehen haben, des weiteren schwören wir, daß außer Euch und den beiden Mord-Sith früher am Tag niemand die Burg betreten hat.« Er sah sich nach seinen Männern um. »Schwört es.«

Nachdem alle den Schwur geleistet hatten, erhoben die Männer sich. Der Kommandant legte Kahlan väterlich die Hand auf die Schulter.

»Ich kenne mich mit Magie nicht aus, Mutter Konfessor, das ist die Sache von Lord Rahl, und ich weiß auch nicht, was Ihr heute nacht vorhabt, aber Euch möchten wir ebensowenig verlieren wie ihn. Lord Rahl braucht Euch. Was immer Ihr vorhabt, gebt auf Euch acht!«

»Vielen Dank, Kommandant. Ich denke, Eure Männer sind die größte Gefahr, der ich heute nacht begegnen werde. Morgen wird sich das ändern.«

»Findet Ihr den Tod, dann entbindet uns das von unserem Eid. Wenn Ihr sterbt, müssen wir Lord Rahl mitteilen, was wir wissen. Man wird uns hinrichten, sollte es dazu kommen.«

»Nein, Kommandant. Lord Rahl würde nichts dergleichen tun. Deswegen müssen wir unsere Pflicht tun und ihn beschützen. Denn ohne ihn wird die Imperiale Ordnung über uns herfallen. Diese Menschen haben keinen Respekt vor dem Leben – sie waren es, die diese Pest geschickt haben. Und zwar zuerst Kindern.«


Kahlan mußte schlucken, als sie in das silberne Gesicht der Sliph blickte.

»Ja, ich bin bereit. Was soll ich tun?«

Eine glänzende metallische Hand hob sich aus dem Becken und berührte den oberen Rand der Mauer. »Komm zu mir«, sagte die Stimme, die im Raum widerhallte. »Du brauchst nichts zu tun. Das übernehme ich.«

Kahlan kletterte auf die Mauer. »Und du kannst mich ganz sicher nach Agaden bringen?«

»Ja. Ich war schon einmal dort. Es wird dir gefallen.«

Kahlan wußte nicht so recht, ob es ihr gefallen würde. »Wie lange wird es dauern?«

Die Sliph schien die Stirn zu runzeln. Kahlan sah ihr Spiegelbild in ihrer glänzenden Oberfläche.

»Von hier bis dort. So lange. Ich war schon einmal dort.«

Kahlan seufzte. Die Sliph schien nicht zu begreifen, daß sie dreitausend Jahre geschlafen hatte. Was bedeutete für sie ein Tag mehr oder weniger?

»Du wirst Richard doch nicht verraten, wohin du mich gebracht hast, oder? Ich möchte nicht, daß er es erfährt.«

Das silberne Gesicht verzog sich zu einem schlauen Lächeln. »Keiner, der mich kennt, will, daß andere etwas erfahren. Ich verrate nichts. Sei unbesorgt, niemand wird wissen, was wir zusammen tun. Niemand wird von deinem Vergnügen Kenntnis erhalten.«

Kahlans Gesicht nahm einen verwirrten Ausdruck an. Der flüssige Silberarm legte sich um sie. Der warme, wellenartige Griff hielt sie umklammert.

»Vergiß nicht: du mußt mich atmen«, erklärte die Sliph. »Hab keine Angst. Ich werde dich am Leben erhalten, wenn du mich atmest. Sobald wir das Ziel erreichen, mußt du mich ausatmen und die Luft einatmen. Davor wirst du ebensoviel Angst haben wie davor, mich einzuatmen, aber du mußt es tun, sonst stirbst du.«

Kahlan nickte und holte tief Luft, während sie von einem Bein aufs andere trat. »Ich erinnere mich.« Sie konnte nicht anders, der Gedanke, ohne Atem zu sein, machte ihr angst. »Also gut, ich bin bereit.«

Ohne ein weiteres Wort hob der silberne Arm sie sachte von der Mauer und stürzte mit ihr hinab in die quecksilbrige Gischt.

Kahlans Lungen brannten. Sie hatte die Augen fest geschlossen. Zwar hatte sie es schon einmal getan und wußte, ihr blieb keine andere Wahl, trotzdem erfüllte sie entsetzliche Angst, dieses flüssige Silber in sich einzusaugen. Beim letzten Mal hatte Richard sie begleitet. Diesmal war sie alleine, und Panik überkam sie.

Sie mußte an Shota denken, die Nadine geschickt hatte, damit sie Richard heiratete.

Kahlan ließ die Luft aus ihren Lungen entweichen. Sie nahm einen tiefen Atemzug und sog die seidige Substanz der Sliph in sich hinein.

Es gab weder heiß noch kalt. Sie öffnete die Augen und erblickte Hell und Dunkel in einer einzigen, geisterhaften Vision. Sie spürte Bewegung in dieser schwerelosen Leere, gleichzeitig schnell und langsam, wie ein Stürzen und ein Treiben. Ihre Lungen füllten sich mit der süßen Gegenwart der Sliph. Es war, als nähme sie die Sliph in ihrer Seele auf. Zeit war bedeutungslos.

Es war die pure Wonne.

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