61

Benommen stieg Richard vom Thron des Zauberers an der Stirnseite des Saales der Winde herunter. Seine Schritte hallten in der Ferne wider. Es war der Platz, der ihm von Rechts wegen zustand: der Thron des Zauberers. Er war der einzige Kriegszauberer, überhaupt der einzige, der sowohl Additive als auch Subtraktive Magie besaß.

Das Innere des Tempels der Winde war mehr als kolossal. Es überstieg fast jedes Begriffsvermögen. An diesem lautlosen Ort gab es keinerlei Geräusch, es sein denn, er erzeugte selber eines oder wünschte es kraft seines Willens herbei.

Unter der Gewölbedecke, die die himmelstrebenden Höhen weit oben abschloß, hätten Adler Platz gefunden, und dabei wäre ihnen vermutlich kaum aufgefallen, daß sie im Innern eines Gebäudes gefangen waren. Berghabichte, hätte es hier welche gegeben, hätten unterhalb dieses himmlischen Gewölbes dahingleiten, sich in die Tiefe stürzen und sich dabei ganz in ihrem Element fühlen können.

An den Seiten stützten gewaltige Säulen Mauern, die bis in den fernen Schwung des Kreuzrippengewölbes hinaufreichten. Gewaltige, in diese Seitenwände eingelassene Fenster ließen zusätzliches Streulicht herein.

Wenigstens konnte er die Seitenwände sehen. Das weit entfernte Ende des Saales hingegen verlor sich schlicht im Dunst und war nicht zu erkennen.

Fast alles hier hatte die Farbe eines fahlen Nachmittagsdunstes: die Fußböden, die Säulen, die Mauern und die Decke. Fast schien es, als bestünden sie aus diffusem Licht.

Richard war ein winziges Insekt in einer gewaltigen Gebirgsschlucht. Dennoch war der Ort nicht grenzenlos, denn es gab ein Jenseits außerhalb der Mauern.

Früher hätte ihn ein solcher Ort gelähmt und mit Ehrfurcht erfüllt. Heute empfand er weder das eine noch das andere. Er fühlte sich nur benommen.

Zeit hatte hier keinerlei Bedeutung außer der, die er hierherbrachte. Zeit fand keinen Punkt, an dem sie in der Ewigkeit hätte Anker werfen können. Er hätte statt weniger Wochen ein Jahrhundert hierbleiben können und doch nur selbst den Unterschied bemerkt – und lediglich deshalb, weil er es wollte. Das Leben zählte wenig hier: ein Begriff, so bedeutungslos wie das andere Ende der Ewigkeit; auch den hatte er an diesen Ort gebracht. Doch der Tempel der Winde war zu sinnlicher Wahrnehmung fähig und gewährte ihm in seiner von Zauberern geschaffenen steinernen Umarmung Schutz.

Er schlenderte weiter durch den Saal. Zu den Seiten hin, unter jedem Bogen, hinter jedem Säulenpaar, gab es einen überwölbten Nebenraum. Dort ruhten jene magischen Gegenstände, die man hier zur sicheren Verwahrung untergebracht hatte – die aus der Welt des Lebendigen und zu ihrem Schutz hierhergebracht worden waren.

Richard verstand sie und konnte sich ihrer bedienen. Ihm war bewußt, wie gefährlich diese Gegenstände waren und warum manche sie für alle Zeiten weggeschlossen wissen wollten. Das Wissen der Winde gehörte jetzt ihm.

Mit diesem Wissen hatte er der Pest Einhalt geboten. Er hielt das Buch, mit dem man die Seuche ausgelöst hatte, nicht in den Händen, aber das war auch nicht nötig, um es unschädlich zu machen. Das Buch war von hier entwendet worden und stand daher noch immer mit den Winden in Verbindung. Es ging einfach darum, die von den Winden ausgehenden Kraftströme umzuleiten, die es der Magie des Buches ermöglichten, in der Welt des Lebendigen Macht zu entfalten.

Tatsächlich war es so simpel, daß er sich schämte, nicht früher darauf gekommen zu sein. Tausende von Menschen waren gestorben, weil er so dumm und unwissend gewesen war. Hätte er damals geahnt, was er jetzt wußte, er hätte einfach ein aus beiden Seiten seiner Kraft gewobenes Netz ausgeworfen, und Jagang hätte mit dem Buch nichts anfangen können. So viele Menschen hatten den Tod gefunden – dabei wäre alles so einfach gewesen.

Wenigstens hatte er seine Heilkräfte einsetzen können, um die Krankheit bei den meisten aufzuhalten, die erkrankt waren, bevor er den Magiefluß unterbrochen hatte. Wenigstens war die Pest vorbei.

Auch wenn er dadurch alles verloren hatte. Welch ein Preis für all diese Menschenleben. Welch ein Preis, fürwahr.

Nadine hatte es das Leben gekostet. Er empfand tiefe Trauer um sie.

Jagang und die Bedrohung aus der Alten Welt hätte er ebenfalls beseitigt, aber von hier aus war ihm das nicht möglich. In der Welt des Lebendigen hatte er nur Einfluß auf Dinge, die von hier aus in sie hineingebracht worden waren, und auf das Unheil, das sie dort anrichteten.

Aber er hatte das Zentrum der Kraft an diesem Ort berührt; es war nicht mehr möglich, durch den Saal der Verräter einzutreten. Zweimal würde Jagang dasselbe Kunststück nicht gelingen.

Richard hielt inne. Er zog sein Schwert blank, Drefans Schwert. Er hielt es auf seinen ausgestreckten Handflächen, starrte es an, beobachtete, wie das Licht darauf fiel. Dies war nicht sein Schwert – das Schwert der Wahrheit.

Er ließ seinen Willen, der das Geburtsrecht der Kraft enthielt, vom Grund seiner Seele aus in die Waffe strömen. Wo er sich zuvor abgemüht hatte, auch nur das unbedeutendste Bruchstück seiner Kraft hervorzubringen, kam seine Gabe jetzt mit der Leichtigkeit eines Seufzers. Die Kraft floß durch seine Arme nach außen in den Gegenstand, den er in den Händen hielt.

Kraft seines Willens bestimmte er seine Bestandteile, wog sie gegeneinander ab bis zum gewünschten Ergebnis, zur gewünschten Reihenfolge, bis sich das Schwert in seinen Händen in das Gegenstück dessen verwandelte, das er so gut kannte. Er hielt das Gegenstück des Schwertes der Wahrheit in der Hand, wenn auch ohne den mit ihm verbundenen Geist der längst dahingeschiedenen Seelen, die sein echtes Schwert benutzt hatten. In jeder anderen Hinsicht allerdings war es dasselbe. Es enthielt dieselbe Kraft, dieselbe Magie.

Der Versuch, das Schwert der Wahrheit herzustellen, hatte so manchen Zauberer das Leben gekostet, doch schließlich war einigen von ihnen Erfolg beschieden gewesen. Gleich anschließend hatte man das Wissen hierhergebracht, und jetzt stand es Richard zur freien Verfügung, wie alles Wissen hier.

Er packte das Heft und hielt die Klinge in die Höhe. Richard ließ die Kraft, die Magie, den Zorn in sich hineinfluten, ließ ihn durch seinen Körper tosen, nur um überhaupt etwas zu spüren. Selbst Zorn war besser als nichts.

Nur hatte er keine Verwendung für ein Schwert. Der Zorn erlosch, um wieder durch Leere ersetzt zu werden.

Er schleuderte das Schwert hoch in die Luft und hielt es dort fest, wo es auf einem Kraftkissen langsam rotierte. Mit einem Stoß zerschmetterte er die von ihm eigenhändig hergestellte Klinge zu einer Wolke aus metallischem Staub und verbannte diesen, einer weiteren Überlegung folgend, ganz aus dem Sein.

Wieder verspürte er die Leere. Leere und Einsamkeit.

Ein Gefühl, als sei dort jemand, ließ ihn sich umdrehen. Wieder eine Seele. Ab und zu kamen sie, um ihn zu besuchen, um mit ihm zu sprechen, ihn zu drängen, in seine Welt zurückzukehren, bevor es zu spät war, bevor er den Faden verlor, der in die Welt des Lebendigen führte.

Diese Gestalt, diese Seele, erschreckte ihn so sehr, daß er in starrem Schrecken wie angewurzelt stehenblieb.

Sie sah aus wie Kahlan.

Die sanfte, leuchtende Erscheinung schwebte vor ihm und verstrahlte ein Glühen von derselben Farbe wie alles andere an diesem Ort, nur intensiver, mit deutlicheren Umrissen.

Sie sah aus wie Kahlan. Zum ersten Mal seit Wochen klopfte sein Herz.

»Kahlan? Bist du gestorben? Bist du jetzt eine Seele?«

»Nein«, antwortete die Seele. »Ich bin Kahlans Mutter.«

Richards Anspannung löste sich. Er wandte sich ab und setzte seinen Weg durch den Saal fort. »Was willst du?«

Wie dies gelegentlich ihre Art war, folgte ihm die Seele interessiert, ihm, der in ihrer Welt vielleicht eine Merkwürdigkeit darstellte.

»Ich habe dir etwas mitgebracht«, meinte die Seele.

Richard drehte sich um. »Was?«

Sie hielt ihm eine Rose hin. Das Grün des Stiels und das Rot der Blütenblätter hatten in dieser farblosen Welt eine verblüffende Wirkung. Es war eine Augenweide. Ihr Wohlgeruch füllte seine Lungen mit ihrem angenehmen Duft. Er hatte fast vergessen, wie schön diese Dinge sein konnten.

»Was soll ich damit?«

Die Seele hielt sie ihm hin, drängte sie ihm geradezu auf. Er hatte keine Angst vor den Seelen, die ihn besuchten. Selbst jene, die ihn haßten, konnten ihm nichts anhaben. Er wußte sich zu schützen.

Richard nahm die Rose. »Danke.« Er steckte sie in seinen Gürtel.

Dann drehte er sich um und ging weiter. Die Seele von Kahlans Mutter folgte ihm. Er mochte ihr nicht ins Gesicht sehen. Sie war zwar eine Seele, und ihre Gesichtszüge waren durch das ihnen eigene Glühen undeutlich, trotzdem glich sie zu sehr ihrer Tochter.

»Kann ich mit dir sprechen, Richard?«

Seine Schritte hallten durch den Saal. »Wenn du willst.«

»Ich möchte dir von meiner Tochter Kahlan erzählen.«

Richard blieb stehen und drehte sich um. »Warum?«

»Weil sie ein Teil von mir ist. Sie war von meinem Fleisch und Blut, genau wie du vom Fleisch und Blut deiner Mutter bist. Kahlan ist meine Verbindung zur Welt des Lebendigen, zu der Welt, in der ich einst gelebt habe. Und in die du zurückkehren mußt.«

Richard setzte abermals seinen Weg fort. »Mein Zuhause ist hier. Ich habe nicht die geringste Absicht, in diese Welt der Bitterkeit zurückzukehren. Wenn ich eine Nachricht an deine Tochter überbringen soll, muß ich bedauern. Das kann ich nicht. Laß mich in Frieden.«

Er hob die Hand, um sie aus dem Saal zu verbannen, sie dagegen flehte ihn mit erhobenen Händen an, seine Kraft zurückzuhalten.

»Ich will überhaupt nicht, daß du eine Nachricht überbringst. Kahlan weiß, daß ich sie liebe. Ich will mit dir sprechen.«

»Weshalb?«

»Wegen dem, was du Kahlan angetan hast.«

»Ihr angetan? Was habe ich ihr denn angetan?«

»Ich habe ihr einen Sinn für Pflicht anerzogen. ›Konfessoren kennen keine Liebe, Kahlan. Sie kennen nur Pflicht.‹ Das habe ich damals zu ihr gesagt. Zu meiner Schande habe ich ihr nie erklärt, was ich damit meinte. Ich fürchte, ich habe ihr keinen Raum für ihr eigenes Leben gelassen.

Mehr als jeder andere Konfessor, den ich kannte, wollte Kahlan das Leben in vollen Zügen genießen. Die Pflicht hat ihr das größtenteils verwehrt. So wurde sie zu einer so guten Beschützerin ihres Volkes. Sie wollte den Menschen eine Chance geben, glücklich zu werden, weil sie selbst so deutlich erkennt, was ihr verwehrt geblieben ist. Daher bleibt ihr nichts anderes übrig, als die kleinen Freuden zu genießen, wo sie nur kann.«

»Worauf willst du hinaus?«

»Genießt du das Leben nicht, Richard?«

Richard ging weiter. »Das mit der Pflicht verstehe ich. Ich wurde für die Pflicht geboren. Damit habe ich jetzt abgeschlossen. Ich habe mit allem abgeschlossen.«

»Du begreifst genausowenig wie sie, was ich mit Pflicht meine. Für die richtige Person, die Person, die wahrhaft für die Pflicht geboren ist, bedeutet sie eine Form der Liebe, durch die alles möglich wird. Pflicht heißt nicht immer, daß einem Dinge verwehrt bleiben, sondern nur, daß diese auf andere übertragen werden. Pflicht sollte man nicht als lästige Aufgabe auffassen, sondern als etwas, das man am besten in Liebe tut.

Willst du nicht zu ihr zurückkehren, Richard? Sie braucht dich.«

»Kahlan hat jetzt einen Ehemann. In ihrem Leben ist für mich kein Platz.«

»Aber in ihrem Herzen.«

»Kahlan hat gesagt, sie wird mir niemals verzeihen.«

»Hast du noch nie aus Verzweiflung etwas von dir gegeben, das du später bereut hast, Richard? Hast du dir nie gewünscht, du könntest deine Worte ungesagt machen?«

»Ich kann nicht zu ihr zurück. Sie ist mit einem anderen verheiratet. Sie hat einen Eid geschworen, und sie hat … ich werde nicht zurückgehen.«

»Selbst wenn sie mit einem anderen verheiratet ist, selbst wenn du nicht bei ihr sein kannst, selbst wenn es dir das Herz bricht, zu wissen, daß du sie nicht haben kannst, liebst du sie nicht genug, um ihr Herz zu heilen? Ihrem Herzen seinen Frieden zurückzugeben? In dieser Liebe, die du empfindest, zählst du dort allein und sie überhaupt nicht?«

Richard warf der Seele einen wütenden Blick zu. »Sie hat auch ohne mich ihr Glück gefunden. Ich kann ihr nichts mehr geben.«

»Hat dir die Rose Freude gebracht, Richard?«

Richard ging weiter. »Ja, sie ist sehr schön. Danke.«

»Wirst du dir also überlegen zurückzugehen?«

Richard wirbelte zur Seele von Kahlans Mutter herum. »Danke für die Rose. Hier sind eintausend zurück, damit du nicht behaupten kannst, ich sei dir etwas schuldig geblieben!«

Richard streckte die Hand aus, und die Luft füllte sich mit Rosen. Rosenblüten wehten und wirbelten herum wie in einem roten Schneesturm.

»Es tut mir leid, daß ich dich nicht zwingen kann zu verstehen, Richard. Offensichtlich tue ich dir nur weh. Am besten lasse ich dich jetzt alleine.«

Richard brach zusammen, fühlte sich zu elend, um sich auf den Beinen zu halten. Bald würde er zu ihnen gehören, eine Seele sein und dieses Zwischenreich nicht mehr ertragen müssen, wo er zwischen den Welten hin- und hergerissen wurde. Er hatte zu essen, wenn ihn danach verlangte, er konnte schlafen, wann er wollte, aber er konnte das Leben hier auf keinen Fall endlos weiterführen. Dies war nicht die Welt des Lebendigen.

Schon bald würde er einer von ihnen sein und mit dieser Leere, die sein Leben darstellte, abgeschlossen haben.

Früher hatte Kahlan diese Leere ausgefüllt. Sie war sein ein und alles gewesen. Er hatte ihr vertraut. Er hatte geglaubt, sein Herz sei bei ihr sicher aufgehoben. Er hatte sich zuviel erträumt. Wie hatte er ein solcher Narr sein können? War das alles Einbildung gewesen?

Richard hob den Kopf. Er sah zur anderen Seite des Saales hinüber. In Gedanken ging er die Gegenstände durch, die dort aufbewahrt wurden. Der Quell der Blicke. Dort irgendwo stand er, auf der anderen Seite des Saales. Wie man ihn benutzte, wußte er.

Er stand auf, ging quer durch den Saal und trat zwischen zwei der Säulen hindurch zum steinernen Quell der Blicke. Der bestand aus zwei in Stufen übereinander angeordneten Becken, das untere hüfthoch und das obere gleich oberhalb seines Kopfes. Beide Becken waren längliche Rechtecke. In den glitzernden, holzkohlengrauen Stein waren reich verzierte Symbole der Unterweisung und der Kraft geschlagen. Das untere Becken war bis zum Rand mit einer silbrigen Flüssigkeit gefüllt, die der Sliph zu ähneln schien und doch ganz anders war, wie er wußte.

Richard nahm den silbernen Krug aus dem Regal darunter und tauchte ihn in das untere Becken. Er leerte den Krug in das obere.

Damit fuhr er fort, bis das obere mit der vorgesehenen Menge der Flüssigkeit angefüllt war.

Richard beugte sich über das untere, um seine Hände auf die entsprechenden Symbole zu legen, die sich zu beiden Seiten hin erstreckten. Die Hände auf die Blickschlitze gelegt, las er vornübergebeugt die uralten Worte. Nachdem die Worte gesprochen waren, konzentrierte er sich auf den Menschen, den er beobachten wollte. Dabei setzte er ein schmales Kraftband frei, um die Flüssigkeit im oberen Becken freizugeben.

Das silbrige Naß ergoß sich vor seinem Gesicht in einer dünnen, silbernen Fläche über die messerscharfe Kante des oberen Beckens. In diesem Wasserfall aus Blickflüssigkeit erkannte Richard den Menschen, den er in Gedanken gerufen hatte: Kahlan.

Ihm schnürte sich die Brust zusammen, als er sie sah. Fast hätte ihm der Atem gestockt, fast hätte er gequält aufgeschrien.

Sie trug ihr weißes Konfessorenkleid. Die vertrauten Konturen ihres Gesichts weckten in ihm eine quälende Sehnsucht. Sie befand sich in der Nähe ihrer Gemächer, ihres Schlafzimmers im Palast der Konfessoren. Dort war es Nacht. Richard fühlte sein Herz gegen seine Rippen schlagen, als er sah, wie sie mit einer gleitenden Bewegung vor irgendeiner Tür stehenblieb.

Drefan schlich sich von hinten an sie heran. Er legte ihr die Hände auf die Schultern und drückte sie, dabei beugte er sich weiter vor und brachte seinen Mund dicht an ihr Ohr.

»Kahlan, meine Gemahlin, meine Liebste. Bist du bereit, zu Bett zu gehen? Ich hatte einen schweren Tag. Ich freue mich auf eine Nacht lustvoller Leidenschaft.«

Richard ließ den Quell los. Er riß die Fäuste hoch und taumelte zurück. Der Quell der Blicke zerschellte explosionsartig, gewaltige Feuer- und Rauchsäulen trieben schwere Gesteinsbrocken vor sich her. Steinsplitter sirrten durch den Saal und verschwanden in der Ferne. Mächtige Steintrümmer stiegen heulend, aufgewirbelt von einem tosenden Inferno, in die Höhe, bis sie ihren Aufwärtsschwung verloren und wieder abwärts stürzten, um zu Splittern und Staub zu zerspringen. Die Blickflüssigkeit überflutete den Boden.

In jedem Tröpfchen, in jeder Pfütze konnte Richard Kahlans Gesicht erkennen.

Er machte kehrt und ging. Ein Feuerstoß fegte sengend über den Boden hinweg und verdampfte jedes einzelne Tröpfchen, dennoch konnte er ihr Gesicht noch in den feinsten Nebeltröpfchen erkennen, die die Luft füllten. Er riß die Fäuste hoch. Jedes Tröpfchen, jeder winzig kleine Dunstpartikel, erlosch hinter ihm zu nichts.

Benommen sank Richard in der Mitte des Saales zu Boden und starrte ins Leere.

Ein hämisches Lachen wurde mit den Winden herangeweht. Richard wußte, wer das war. Sein Vater war zurückgekehrt, um ihn ein weiteres Mal zu quälen.

»Was ist, mein Sohn?« fragte Darken Rahl mit seiner spöttisch zischelnden Stimme. »Bist du nicht glücklich über meine Gattenwahl für deine einzig wahre Liebe? Mein eigener Sohn, mein eigenes Fleisch und Blut, Drefan – verheiratet mit der Mutter Konfessor. Ich persönlich halte ihn für eine gute Wahl. Er ist ein guter Junge. Sie wirkte eigentlich ganz zufrieden. Aber das weißt du ja bereits, nicht wahr? Du solltest dich freuen, daß sie zufrieden ist. Und wie zufrieden.«

Darken Rahls Gelächter hallte durch den Saal.

Richard dachte nicht einmal daran, die leuchtende Gestalt über ihm zu verscheuchen. Was spielte das jetzt noch für eine Rolle?


»Nun, was meinst du, meine Gemahlin? Wollen wir uns eine Nacht voller wilder Leidenschaft gönnen? Wie du sie meinem Bruder geboten hast, als du ihn für mich gehalten hast?«

Kahlan rammte Drefan den Ellenbogen mit aller Kraft unters Brustbein. Sie erwischte ihn in einem unbedachten Augenblick.

Darauf war er nicht vorbereitet. Er krümmte sich vor Schmerzen und bekam keine Luft.

»Ich habe dich gewarnt, Drefan. Wenn du mich anfaßt, schlitze ich dir die Kehle auf.«

Bevor er sich soweit erholen konnte, um sich über ihren Wutausbruch lustig zu machen oder sie mit der Androhung von Gewalt zu verhöhnen, schlüpfte sie in ihr Gemach, schlug die Tür zu und schob den Riegel vor.

Zitternd stand sie in der nahezu völligen Dunkelheit. Sie hatte etwas gespürt. Einen Moment lang war ihr so gewesen, als sei Richard bei ihr. Um ein Haar hätte sie laut seinen Namen gerufen – geschrien, daß sie ihn liebe.

Sie hielt sich den Bauch vor Schmerzen. Wann würde sie endlich aufhören, an ihn zu denken?

Richard kam nicht mehr zurück.

Kahlan lief über den dicken Teppich in ihrem Salon und ging in ihr Schlafgemach. Als plötzlich jemand vor sie trat, ging sie Deckung suchend in die Hocke.

»Verzeiht«, flüsterte Berdine. »Ich hatte nicht die Absicht, Euch zu erschrecken.«

Kahlan entspannte seufzend ihre Fäuste und erhob sich wieder. »Berdine.« Sie schlang der Frau die Arme um den Hals. »Oh, Berdine, ich bin so froh, Euch zu sehen. Wie geht es Euch?«

Berdine war auf der verzweifelten Suche nach Trost und erwiderte Kahlans Umarmung.

»Es ist schon ein paar Wochen her, und doch erscheint es mir, als sei Raina gestern erst gestorben. Ich bin so wütend auf sie, weil sie mich verlassen hat. Und wenn ich wütend auf sie werde, weine ich, weil ich sie so vermisse. Hätte sie nur ein paar Tage länger durchgehalten, würde sie noch leben. Nur ein paar Tage.«

»Ich weiß, ich weiß«, flüsterte Kahlan. Sie löste sich von Berdine und senkte die Stimme. »Was macht Ihr hier? Ich dachte, Ihr wärt hinauf zur Burg geritten, um Cara abzulösen?«

»Dort war ich auch, aber ich mußte zu Euch, um mit Euch zu sprechen.«

»Soll das heißen, die Sliph ist unbewacht?« Berdine nickte. »Wir dürfen sie nicht alleine lassen, Berdine. So könnten wir übersehen, daß sich jemand nach Aydindril einschleicht – jemand, der gefährliche Magie besitzt. Das war doch der Grund –«

Berdine unterbrach sie. »Ich weiß. Dies ist ebenso wichtig. Außerdem, welchen Unterschied macht das schon? Cara und ich haben unsere Kraft verloren. Wir könnten jetzt ohnehin niemanden mehr aufhalten, der durch die Sliph kommt.

Ich muß mit Euch sprechen, Mutter Konfessor, und tagsüber kann ich das nicht, weil Drefan ständig um Euch herumschwärmt.«

»Laßt euch nicht dabei erwischen, daß Ihr ihn anders als Lord Rahl nennt, sonst –«

»Er ist nicht Lord Rahl. Das ist er nicht, Mutter Konfessor.«

»Ich weiß. Aber er ist der einzige Lord Rahl, den wir haben.«

Berdine blickte Kahlan in die Augen. »Cara und ich haben über ihn gesprochen. Wir sind uns einig, daß wir ihn töten sollten. Dazu benötigen wir Eure Hilfe.«

»Das dürfen wir nicht tun.« Kahlan packte Berdine bei den Schultern. »Das können wir nicht.«

»Aber sicher können wir das. Wir verstecken uns auf dem Balkon, Ihr sorgt dafür, daß er seine Kleider ablegt, damit er die Messer nicht griffbereit hat, und während Ihr … ihn ablenkt, platzen wir herein und erledigen ihn.«

»Wir können es nicht tun, Berdine.«

»Also gut, wenn Euch bei dem Plan nicht wohl zumute ist, werden wir uns einen anderen ausdenken. Fest steht nur, wir müssen ihn töten.«

»Nein, wir dürfen ihn nicht töten.« Berdine runzelte die Stirn. »Wollt Ihr etwa mit diesem Schwein verheiratet sein? Früher oder später wird er auf seinem Recht als Euer Gemahl bestehen.«

»Hört zu, Berdine. Selbst falls das eintritt, werde ich es ertragen müssen, wenn es bedeutet, daß dadurch Menschenleben gerettet werden. Wir können Drefan nicht töten. Er ist der einzige Lord Rahl, den wir haben. So lange, bis wir überlegt haben, was zu tun ist, hält er allein die Armee zusammen.

Im Augenblick ist man dort wegen seines aggressiven Kommandostils etwas verwirrt. D'Haraner sind es gewöhnt, von Lord Rahl gesagt zu bekommen, was sie zu tun haben. Drefan gibt vor, er sei Lord Rahl. Und im Augenblick kratzt man sich in der Armee am Kopf und fragt sich, ob man wirklich sicher weiß, daß er es nicht ist.«

»Aber er ist es nicht«, beharrte Berdine.

»Dennoch hält er allein im Augenblick alles zusammen. Sobald es auseinanderfällt, wird die Imperiale Ordnung die Midlands problemlos niederwalzen können. In diesem Punkt hat Drefan recht.«

»Doch Ihr seid die Mutter Konfessor. General Kerson ist Euch treu ergeben. Er bleibt, auch ohne die Bande, und das Euch zuliebe. Die meisten Offiziere stimmen mit ihm überein. Euch zuliebe, nicht wegen Drefan. Ihr könnt die Dinge ebensogut wie Drefan zusammenhalten. Sicherlich wird das klappen.«

»Vielleicht aber auch nicht. Mag sein, daß ich Drefan nicht leiden kann, aber er hat nichts getan, was einen hinterhältigen Mord rechtfertigt. So wenig uns seine Methoden gefallen, er gibt sein Bestes. Ihm und mir gelingt es möglicherweise, ein Auseinanderbrechen der Midlands zu verhindern.«

Berdine schob ihren Kopf näher an sie heran. »Das wird nicht lange dauern, und das wißt Ihr.«

Kahlan fuhr sich mit der Hand durchs Gesicht. »Drefan ist mein Ehemann, Berdine. Ich habe ihm einen Eid geschworen.«

»Einen Eid, ja? Warum habt Ihr ihn dann nicht in Euer Bett gelassen?«

Kahlan öffnete den Mund, fand aber nicht die passende Antwort.

»Es ist wegen Lord Rahl, stimmt's? Ihr denkt noch immer, er käme zurück, nicht wahr? Nichts anderes wünscht Ihr Euch sehnlichst.«

Kahlan legte die Fingerspitzen an die Lippen. Sie wandte sich ab. »Wenn Richard die Absicht hätte zurückzukehren, hätte er es längst getan.«

»Vielleicht liegt es an der Pest, vielleicht hat er die Magie noch nicht ganz von der Seuche befreit. Sicherlich kehrt er zurück, sobald er damit fertig ist.«

Kahlan schlang die Arme um ihren Körper. Sie wußte, das war nicht der wahre Grund.

»Mutter Konfessor, Ihr wollt ihn doch zurück, oder?«

»Ich bin mit Drefan verheiratet. Ich habe einen Ehemann.«

»Das habe ich Euch nicht gefragt. Ihr wollt, daß er zurückkommt. Ihr müßt wollen, daß er zurückkommt.«

Kahlan schüttelte den Kopf. »Er hat gesagt, er würde mich ewig lieben. Er hat gesagt, sein Herz gehöre ewig mir. Er hat es mir versprochen.« Kahlan unterdrückte ihren Schmerz. »Er ist einfach fortgegangen. Kann sein, daß ich ihn … verletzt habe, aber wenn er mich wirklich liebte, würde er mir das nicht antun. Er hätte mir eine Chance gegeben…«

»Ihr wollt ihn also noch immer.«

»Nein. So möchte ich nicht noch einmal verletzt werden. Diesem Schmerz werde ich mich nie wieder aussetzen. Es war ein Fehler, mich überhaupt erst in ihn zu verlieben.« Kahlan schüttelte abermals den Kopf. »Ich will nicht, daß er zurückkommt.«

»Das glaube ich Euch nicht. Ihr seid einfach aufgebracht, genau wie ich über Rainas Tod. Aber käme sie zurück, ich würde ihr den Tod verzeihen und sie sofort wieder in die Arme schließen.«

»Bei Richard geht das nicht. Ich würde ihm nie wieder von ganzem Herzen trauen können. Ungeachtet dessen, was ich getan habe – dadurch wird es nicht richtiger, mich so zu verletzen. Er hat mich einfach verlassen, nachdem er mir versprochen hatte, mich ewig zu lieben, ganz gleich, was auch geschieht. Er hat mich bei dieser Prüfung im Stich gelassen.

Ich hätte nie gedacht, daß er mir so weh tun würde. Ich habe mein Herz bei ihm in sicheren Händen gewähnt, aber das war ein Irrtum.«

Berdine drehte sie um und packte sie bei den Schultern.

»Das ist nicht Euer Ernst, Mutter Konfessor. Ganz bestimmt nicht. Vertrauen beruht auf Gegenseitigkeit. Wenn Ihr ihn wirklich liebt, dann müßt Ihr ihm trauen, ganz gleich, was passiert, genau wie Ihr davon ausgegangen seid, daß er Euch stets vertraut.«

Kahlan liefen die Tränen über die Wangen. »Ich kann nicht, Berdine. Es schmerzt zu sehr. Ich werde mich dem nicht noch einmal aussetzen.

Und es spielt ohnehin keine Rolle. Das Ganze liegt schon Wochen zurück. Die Pest ist längst vorbei. Richard kommt nicht mehr zurück.«

»Seht her, ich weiß nicht genau, was sich oben auf dem Berg zugetragen hat, aber stellt Euch einfach folgende Frage: Wäre die Situation umgekehrt, wie würdet Ihr Euch dann fühlen?«

»Glaubt Ihr nicht, das mache ich jeden Augenblick eines jeden Tages? Ich weiß genau, wie ich mich fühlen würde. Ich würde mich verraten fühlen. Ich würde ihm niemals verzeihen. Ich würde ihn hassen, genau wie ich weiß, daß er mich haßt.«

»Nein«, versuchte Berdine sie zu besänftigen, »das ist nicht wahr. Er haßt Euch nicht. Lord Rahl mag verwirrt sein oder gekränkt, dennoch wäre er niemals fähig, Euch zu hassen.«

»Trotzdem tut er es. Er haßt mich für das, was ich getan habe. Das ist der zweite Grund, weshalb ich ihn nie wieder in die Arme schließen kann – ich habe ihn zu sehr verletzt. Wie sollte ich ihm je wieder unter die Augen treten? Ich könnte es nicht. Ich könnte ihn nie wieder bitten, mir zu vertrauen.«

Berdine legte ihr einen Arm um den Hals und zog sie an ihre Schulter. »Verschließt Euer Herz nicht, Kahlan. Bitte, nur das nicht.

Ihr seid eine Schwester des Strafers. Als Eure Schwester bitte ich Euch, tut es nicht.«

»Es ändert nichts«, erwiderte Kahlan leise. »Ich kann ohnehin nicht mit ihm Zusammensein, ganz gleich, was ich vielleicht denke, wünsche oder hoffe. Ich muß ihn vergessen. Die Seelen haben mich gezwungen, Drefan zu heiraten. Ich habe ihm und den Seelen meinen Eid geschworen, im Tausch gegen die Rettung von Menschenleben. Ich muß den Eid, den ich geleistet habe, respektieren. Und Richard muß meinen Eid ebenfalls respektieren.«

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