11

Sie hatten Mühe, die Stadt zu verlassen. Andrej hatte bisher kaum etwas von Petershausen gesehen, aber er glaubte nicht, das die Stadt mehr als drei- oder vierhundert Einwohner hatte. Jetzt mußte es die doppelte Anzahl von Menschen sein, die ihre Mauern füllte, und durch das wuchtige Tor drängten immer noch Flüchtlinge herein. Sie kamen ausnahmslos zu Fuß, denn vor dem Tor stand eine Truppe Bewaffneter, die die Menschen zwang, ihre Wagen stehen zu lassen und nur mit dem weiterzugehen, was sie auf dem Leib trugen. Ihre Wagen und Karren waren ein Stück vor der Stadt zu einem unregelmäßigen Karree zusammengestellt. Andrej bemerkte etwas, das ihn keineswegs überraschte: Vielleicht dreißig oder vierzig von Tepeschs Männern waren offensichtlich dazu abgestellt, das zurückgelassene Hab und Gut der Flüchtlinge zu bewachen, aber nicht wenige taten das Gegenteil: Sie plünderten. Es kam ihm grausam vor, das man die Menschen, die bereits fast alles zurückgelassen hatten, was sie besaßen, nun auch noch zwang, diesen letzten kümmerlichen Rest herzugeben, aber er sah auch ein, das es keine andere Möglichkeit gab. Die Stadt platzte schon jetzt aus ihren Nähten. Auf den Wehrgängen und hinter den Zinnen der großen Türme gewahrte er nur wenige Wachen. Wenn Petershausen sich auf eine längere Belagerung vorbereitete, dann geschah dies nicht sehr durchdacht.

»Wie groß ist Draculs Heer?«, wandte er sich an Vlad, während sie sich der kleinen Gruppe bewaffneter Reiter näherten, die in geringer Entfernung auf sie wartete.

»Nicht allzu groß«, antwortete Vlad.

»Vielleicht einhundertfünfzig Mann. Der Rest sind einfache Soldaten, Söldner oder Bauern und Gefangene, die zum Dienst gezwungen worden sind.« Er überlegte einen Moment.

»Alles in allem vielleicht gut fünfhundert Mann. Möglichweise auch siebenhundert, aber nicht mehr.«

»Gegen dreitausend kampferprobte Männer auf Selics Seite.« Abu Dun schüttelte den Kopf.

»Das ist Selbstmord.«

»Du solltest niemals Menschen unterschätzen, die um ihr nacktes Leben kämpfen«, sagte Vlad. Abu Dun nickte.

»Das tue ich nicht«, sagte er.

»Ich weiß, wozu sie fähig sind. Ich habe genug von ihnen getötet.« Andrej war erleichtert, das sie mittlerweile die wartenden Pferde erreicht hatten und aufstiegen. Vlad hob die Hand zum Zeichen, das sie aufbrechen sollten; eine Geste, die Andrej mehr über ihn sagte, als er vielleicht wußte. Sie kam zu selbstverständlich, zu schnell. Vlad war es gewohnt, zu befehlen. Und er war es gewohnt, das seinen Befehlen Folge geleistet wurde. Der kleine Trupp setzte sich in Bewegung. Sicher nicht durch Zufall hielten die Reiter zwar einen deutlichen Abstand zu ihnen, gruppierten sich aber zu einem lang gestreckten Oval, das sie von allen Seiten einschloss und so jeden Fluchtversuch unmöglich machte. Andrej hatte auch nicht vor, zu fliehen. Er brannte darauf, Burg Waichs - und damit Fürst Tepesch - zu sehen. Allerdings schlugen sie nicht den direkten Weg zur Burg des Drachenritters ein, sondern bewegten sich nach Osten. Sie ritten eine Weile in nordöstlicher Richtung, nicht allzu schnell, aber stetig, und kamen Burg Waichs in dieser Zeit nicht sichtbar näher, sondern bewegten sich fast parallel zu der düsteren Burg, die wie ein Bote aus einer fremden, unheimlichen Welt am Horizont aufragte. Andrej bedauerte es, Waichs nicht genauer erkennen zu können - ganz egal, wie lange es dauern würde, irgendwann würden sich Tepesch und er mit dem Schwert gegenüberstehen, und jedes Detail, das er über die Festung des Drachenritters in Erfahrung brachte, mochte über Leben oder Tod entscheiden aber zugleich war er auch beinahe erleichtert. Von Waichs schien etwas ... Düsteres auszugehen. Er konnte es nicht wirklich erfassen, aber es war da. Sie ritten einen sacht ansteigenden, aber langen Hang hinauf, und als sie seine Kuppe erreicht hatten und anhielten, lag Sultan Selics Heerlager direkt unter ihnen. Andrej stockte der Atem, als er die ungeheure Masse aus Zelten, Männern und Tieren - zum größten Teil waren es Pferde, aber Andrej erblickte zu seiner Überraschung auch etliche Kamele - unter sich sah. Sie waren noch Meilen entfernt, aber sicherlich mehr als dreitausend Mann. Er hatte noch nie so viele Menschen auf einmal gesehen. Hätte man ihm in diesem Moment erzählt, das das Heer zehntausend Mann umfasste, er hätte es geglaubt. Vlad ließ ihm Zeit, das osmanische Heer zu betrachten, dann berührte er seinen Arm und deutete in die entgegengesetzte Richtung. Andrejs Blick folgte der Geste. Tepeschs Heer lagerte auf der anderen Seite der flachen Hügelkette, kaum zwei Meilen von den Türken entfernt. Es mochten sechshundert Mann sein, aber gegen das türkische Heer wirkten sie hilflos.

»Soll ich die Türken allein angreifen oder reitest du mit mir?«, fragte Andrej spöttisch. Vlad warf ihm einen warnenden Blick zu, sagte aber nichts. Abu Dun fügte hinzu:

»Gib mir Zeit, um auf die andere Seite zu gelangen. Du treibst sie vor dir her, und ich mache sie alle nieder.«

»Ein interessanter Vorschlag, Heide«, sagte eine Stimme hinter ihnen.

»Ich werde darüber nachdenken: falls mein eigener Plan fehlschlägt.« Andrej drehte sich im Sattel herum - und fuhr so heftig zusammen, das sein Pferd scheute und nervös mit den Vorderhufen zu scharren begann. Tepesch war nur wenige Schritte hinter ihnen aufgetaucht; Andrej hatte seine Stimme erkannt, noch bevor er sich herumgedreht hatte, und blickte nun auf den Drachenritter in seiner blutroten Rüstung. Auch sein Pferd war auf die bizarre Art gepanzert und sah aus wie ein Fabelwesen. Tepesch hatte zusätzlich eine kurze Lanze im Steigbügel stecken, an der eine schwarze Flagge mit einem blutroten Drachen befestigt war. Andrejs Erschrecken galt aber nicht Dracul. Es galt den beiden Rittern, die etwa zwanzig Meter hinter ihm aufgetaucht waren. Sie waren ebenso außergewöhnlich gekleidet wie Tepesch, aber nicht in Rot, sondern in blitzendes Gold gerüstet. Biehler und Körber, die Handlanger von Vater Domenicus.

»Oh ja«, sagte Tepesch spöttisch, als er Andrejs Erschrecken bemerkte.

»Fast hätte ich es vergessen. Ich habe lieben Besuch mitgebracht. Ich war sicher, du würdest sie gerne begrüßen und ein wenig mit ihnen über alte Zeiten plaudern, aber leider ist der Augenblick dazu nicht besonders günstig. Zunächst muss ich einen Krieg gewinnen.« Andrej hörte kaum hin. Er starrte die beiden goldenen Ritter an. Sie hatten ihre Helme abgenommen und vor sich auf die Sättel gelegt. Andrej war es unmöglich, den Ausdruck auf ihren Gesichtern zu deuten. Er selbst empfand nichts als Hass, blindwütigen, roten Hass, der ihn dazu bringen wollte, sich unverzüglich auf die beiden Ritter - die beiden Vampyre! - zu stürzen und ihnen das Herz aus den Leibern zu reißen!

»Ich sehe, du freust dich mindestens so sehr wie sie über das Wiedersehen«, höhnte Tepesch. Andrej reagierte noch immer nicht. Er begann am ganzen Leib zu zittern. Die Heftigkeit seiner eigenen Reaktion überraschte ihn. Er hatte diesen beiden Männern den Tod geschworen, aber er hatte nicht gewusst, wie sehr er sie hasste. Sein Zorn grenzte an Raserei.

»Ihr wollt Selic angreifen?«, fragte Abu Dun.

»Das ist im Allgemeinen der Zweck einer Armee«, antwortete Dracul spöttisch, »eine andere Armee anzugreifen.«

»Bei einem so unterschiedlichen Größenverhältnis? Das ist Wahnsinn!«

»Die Größe einer Armee bestimmt nicht immer den Ausgang der Schlacht«, antwortete Tepesch.

»Ich weiß zwar nicht, warum ich dir meine Schlachtpläne offenlegen soll, aber bitte: Selic rechnet nicht mit einem Angriff.«

»Du glaubst wirklich, er hätte deinen kleinen Aufmarsch nicht bemerkt?«

»Seine Späher waren so nahe, das ich ihren Atem riechen konnte«, antwortete Tepesch.

»Aber er denkt wie du, das wir es nicht wagen werden, ihn anzugreifen. Graf Oldesky wartet mit tausend Husaren einen Tagesritt westlich von hier, um sich mit uns zu verbünden und die Osmanen zu zerschmettern, bevor sie in Ungarn einfallen können. Selic erwartet, das wir dorthin reiten, um ihn mit vereinten Kräften schlagen. Außerdem sind die Muselmanen abergläubische Narren, die nicht bei Nacht kämpfen. Wir greifen bei Einbruch der Dunkelheit an, mit dem Vorteil der Überraschung auf unserer Seite.«.

»Und viel weniger Kriegern.«

»Ich habe Verbündete, mit denen Selic nicht rechnet.« Tepesch drehte sich wieder zu Andrej um.

»Die habe ich doch, oder?«

»Wenn ich dir sagen würde, das du dich mit dem Teufel verbündet hast - würde dich das beeindrucken?« Es fiel Andrej schwer, überhaupt zu sprechen. Sein Blick hing wie gebannt auf den Gesichtern der beiden Ritter. Er konnte nicht sagen, ob sie zornig, triumphierend oder hasserfüllt aussahen, aber sie starrten ihn ebenso konzentriert an wie er sie.

»Die Wahl liegt bei dir«, sagte Tepesch.

»Wir werden angreifen. Spätestens, wenn die Sonne untergeht. Es ist deine Entscheidung, ob sie an meiner Seite reiten oder ob du es tust.« Er griff neben sich und löste ein Schwert vom Sattel, das Andrej als sein eigenes erkannte, als er es ihm hinhielt. Er rührte keinen Finger, um danach zu greifen.

»Was hast du mit Domenicus gemacht?«, fragte er, »und ...«

»Und mit seiner entzückenden Begleitung?« Er senkte das Schwert, steckte es jedoch nicht ein, sondern legte es quer vor sich über den Sattel.

»Ihnen ist nichts geschehen, keine Sorge. Sie sind meine Gäste. Sie werden mit der gleichen Zuvorkommenheit behandelt wie dein junger Freund. Solange ich am Leben bin, heißt das. Sollte ich in der Schlacht fallen, sterben sie. Ebenso wie du und dein schwarzgesichtiger Freund.« Er hob abermals das Schwert.

»Sollten wir aber siegen ... dann wäre es keine Frage, welcher Seite meine Sympathien gehören. Überdenke deine Entscheidung also gut.«

»Geh zum Teufel«, sagte Andrej.

»Wie du willst.« Tepesch befestigte Andrejs kostbares Sarazenenschwert wieder an seinem Sattel und wandte sich mit erhobener Stimme an die Krieger:

»Ihr bleibt hier und gebt auf sie Acht. Sollte ich fallen tötet ihr sie.« Er riss sein Pferd herum und sprengte los. Nebel Biehler und Körber angekommen, blieb er noch einmal stehen und wechselte ein paar Worte mit ihnen dann setzten die zwei goldenen Reiter ihre Helme au und sie galoppierten zu dritt weiter.

»War das klug?«, fragte Abu Dun. Er klang nicht ängstlich, aber deutlich besorgt.

»Nein«, gestand Andrej.

»Aber mit ihm zu gehen wäre ebenso dumm. Er reitet in den sicheren Tod.« Er drehte sich halb im Sattel herum, um sich an Vlad zu wenden.

»Werden sie es tun?«

»Euch töten?« Vlad hob die Schultern. Er lenkt sein Pferd näher heran und senkte die Stimme, damit die anderen seine Worte nicht hörten.

»Das kann ich nicht sagen. Dracul ist bei seinen Männern nicht beliebt, aber sie gehorchen seinen Befehlen.«

»Auch wenn er tot ist?«, fragte Abu Dun. Vlad hob zur Antwort nur noch einmal die Schultern. Andrej hingegen war noch nicht endgültig davon überzeugt, das Fürst Tepesch wirklich in den siehe ren Tod ritt, wie Abu Dun anzunehmen schien. Dracul mochte sein, was er wollte: Er war kein Dumm kopf, und er war kein Selbstmörder. Wenn er diese Irrsinnsangriff tatsächlich ausführte, dann hatte er noch einen Trumpf im Ärmel.

»Wenn wir zu fliehen versuchen«, murmelte er, »wirst du uns helfen?« Vlad sah ihn durchdringend an. Er antwortete nicht. Sie waren aus den Sätteln gestiegen. Die Männer, die Dracul zu ihrer Bewachung dagelassen hatte, hatten ein Feuer entzündet, denn mit dem hereinbrechenden Abend wurde es rasch kühler. Andrej hatte zwei- oder dreimal versucht, ein Gespräch mit den Männern in Gang zu bringen, aber sie waren nicht nur einer Antwort, sondern selbst seinen Blicken ausgewichen. Sie gaben sehr gut auf Abu Dun und ihn Acht. Der Pirat und er konnten sich zwar scheinbar frei in dem kleinen Lager bewegen, aber doch keinen Schritt tun, ohne das mindestens drei der Männer diskret in ihrer Nähe waren. Am Anfang war Andrej ein wenig erstaunt über den vermeintlichen Leichtsinn, in Sichtweite des osmanischen Heeres nicht nur ein Lager aufzuschlagen, sondern auch ein so weithin sichtbares Feuer zu entzünden. Aber dann erinnerte er sich an Draculs Worte. Die Türken wussten längst, das sie hier waren. Es schien sie nicht sonderlich zu stören - und warum auch? Sie fühlten sich vollkommen sicher. Fürst Tepesch hielt Wort. Kurz bevor die Sonne unterging kam Bewegung in sein Heer: Die Männer stiegen auf ihre Pferde und gruppierten sich zu drei unregelmäßigen Trupps, die sich ohne weiteres Zögern in Gang setzten. Natürlich konnte das auch den Türken nicht verborgen bleiben, aber Andrej mußte widerwillig zugeben, das Dracul geschickt vorging: Das Heer näherte sich den Türken nicht direkt, sondern schlug einen Weg ein, der es - wenn auch gefährlich nahe - am Heerlager der Türken vorbeiführen würde. Selics Späher mussten annehmen, das sie sich auf den Weg machten, um sich mit der wartenden Verstärkung im Westen zu vereinigen. Natürlich würden sie das nicht zulassen. Es war leichter, zwei schwache als einen starken Gegner anzugreifen, und Selic reagierte so, wie es Andrej an seiner Stelle ebenfalls getan hätte - was genau in Tepeschs Plan zu passen schien: Er ließ einen Teil seiner Reiter aufsitzen und das Lager verlassen, um Tepeschs Tross zu umgehen und ihm in die Flanke zu fallen.

»Dumm ist er nicht«, sagte Abu Dun, der neben Andrej stand und wie er auf die Vorgänge im Tal hinabblickte. Es war ein fast unheimlicher Anblick. Sie sahen kaum mehr als ein großes, schwerfälliges Wogen und Gleiten, das sich in vollkommener Lautlosigkeit zu vollziehen schien. Andrej mußte sich mit immer größerer Mühe in Erinnerung rufen, das es nicht nur Schatten und zufällige Bewegungen waren, sondern Menschen. Menschen, die in wenigen Minuten aufeinander prallen und sich gegenseitig töten würden. Sein Blick suchte Dracul und seine beiden unheimlichen Begleiter. Sie ritten an der Spitze des mittleren Zuges. Zwei goldene Funken, die selbst im rasch verblassenden Licht des Abends deutlich zu erkennen waren. Mühsam riss er sich von dem Anblick los.

»Was?«

»Tepesch«, erklärte Abu Dun und machte eine entsprechende Geste.

»Er ist nicht dumm. Er bringt Selic dazu, seine Kräfte aufzuspalten. Ich an seiner Stelle würde dasselbe tun. Ich verstehe nur nicht ganz, wieso Selic darauf hereinfällt.«

»Er ist dort unten und wir hier oben«, sagte Vlad.

»Er sieht nicht, was wir sehen.« Wieder vergingen etliche Minuten, in denen sie dem Aufmarsch unter sich in gebanntem Schweigen zusahen. Andrej sah nicht, welches Zeichen Dracul seinen Männern gab, aber die drei langen Reihen bisher eher gemächlich dahintrabender Reiter schwenkten plötzlich herum und wurden gleichzeitig schneller. Es war nicht mehr still. Aus dem Tal drang das Dröhnen hunderter eisenbeschlagener Hufe herauf, und Andrej glaubte fast zu spüren, wie die Erde unter ihnen zu vibrieren begann. Das nur allmählich anschwellende, aber Furcht einflößende Kriegsgeschrei aus dutzenden von Kehlen drang an sein Ohr. Obwohl die Türken den feindlichen Heereszug genau beobachtet hatten, schien die Überraschung komplett zu sein. Die drei Abteilungen strebten keilförmig auf einen Punkt dicht innerhalb des türkischen Heerlagers zu, an dem sie sich vereinigen würden. Sie hatten den größten Teil ihres Weges bereits zurückgelegt, bevor ihre Gegner auch nur auf den Gedanken kamen, eine Verteidigung zu organisieren. Einige wenige Pfeile zischten den Angreifern entgegen und ein paar trafen ihr Ziel, aber sie vermochten den Ansturm der Reiterarmee nicht zu verlangsamen, geschweige denn aufzuhalten. Tepeschs Heer krachte wie eine riesige stählerne Faust in das osmanische Lager und zerschmetterte die hastig aufgebaute Verteidigungslinie.

»Es ist trotzdem Wahnsinn«, murmelte Abu Dun.

»Sie werden sie zwischen sich zermalmen.« Er deutete nach Westen. Die türkischen Reiter hatten Halt gemacht, als sie bemerkten, was geschah. Sie würden nur wenige Minuten brauchen, um zurückzukehren und in den Kampf einzugreifen. Tepeschs Reiterei begann allmählich an Ausdauer zu verlieren. Die Spitze des wieder vereinten Heeres, angeführt von Dracul selbst und seinen beiden goldschimmernden Begleitern, hatte fast das Zentrum des türkischen Heerlagers erreicht, aber ihr Tempo sank mit jedem Schritt, den sie sich weiter auf das Herz des Lagers, und damit Sultan Selics Zelt, zu kämpften. Die stählerne Wand, die unaufhaltsam vorwärts stürmte und dabei alles niedermachte, was sich ihr in den Weg stellte, begann auseinander zu fallen. Statt eines einzigen gewaltigen Heranstürmens zerfiel die Schlacht in immer mehr einzelne kleine Kämpfe. Noch wichen die Verteidiger zurück, entsetzt von der Wucht des selbstmörderischen Angriffs, aber sie begannen ihre Fassung zurückzugewinnen. Irgendwann würde ihre schiere Übermacht die Entscheidung herbeiführen. Auch Dracul selbst und seine beiden Begleiter wurden immer heftiger attackiert. Sie hatten Selics Zelt, das unschwer an seiner Größe und den zahlreichen bunten Wimpeln und Schilden zu erkennen war, fast erreicht. Andrej vermutete, das Tepesch um jeden Preis den Sultan selbst in seine Gewalt zu bringen versuchte. Vielleicht hoffte er, die Schlacht auf diese Weise entscheiden zu können, bevor die türkische Verstärkung zu ihnen stoßen würde. Selics Krieger kämpften jedoch mit einer Entschlossenheit und einem Mut, die ihresgleichen suchten. Viele wurden von den schwer gepanzerten Pferden einfach niedergeritten und unter ihren Hufen zermalmt, aber die Überlebenden kämpften nur umso verbissener. Noch wichen sie zurück, aber langsam kam der Rückzug zum Erliegen. Andrej sah von der Höhe ihres improvisierten Feldherrenhügels aus noch etwas, das Tepesch von seiner Position dort unten aus verborgen bleiben mußte: Das türkische Heer hatte begriffen, welche Gefahr seinem Anführer drohte. Aus allen Richtungen strömten Krieger herbei, um ihren Herrn zu beschützen.

»Was hat er vor?«, murmelte Abu Dun.

»Nicht mehr lange - und sie werden einfach überrannt!«

»Warte ab«, sagte Vlad. Andrej sah kurz und verwirrt in seine Richtung und er bemerkte dabei etwas, das ihn mit neuer Sorge erfüllte. Die meisten der Krieger in ihrer Nähe folgten der Schlacht ebenso gebannt wie Abu Dun und er, denn auch, wenn sie nicht unmittelbar daran beteiligt waren, so entschied sich mit ihrem Ausgang doch auch ihr Schicksal. Etliche Krieger sahen immer wieder Abu Dun und ihn an und ihre Hände lagen auf den Schwertgriffen. Seine Frage an Vlad, ob die Männer Draculs Befehl auch ausführen würden, wenn ihr Herr vor ihren Augen fiel, schien damit beantwortet zu sein. Doch Dracul fiel nicht. Es waren die beiden goldenen Ritter, die die Entscheidung herbeiführten. Ihr Vormarsch war endgültig zum Stehen gekommen. Sie kämpften gegen eine mindestens zehnfache Übermacht muselmanischer Soldaten, die sie nun ihrerseits einzukreisen begann. Die Hälfte der Reiter in Tepeschs unmittelbarer Umgebung war bereits gefallen und die Überlebenden wurden einer nach dem anderen aus den Sätteln gerissen. Draculs Morgenstern und die Schwerter der beiden Goldenen wüteten fürchterlich unter den Angreifern, die gerade noch Verteidiger gewesen waren, aber ihre Zahl wuchs trotzdem unaufhaltsam. Auch die türkische Reiterei war mittlerweile zu ihnen gestoßen und fiel Tepeschs Soldaten in den Rücken. Die bisher immer noch geordnete Schlachtreihe des Drachenritters begann zusammenzubrechen.

In wenigen Augenblicken würden Selics Krieger Dracul gefangen nehmen und damit den Kampf entscheiden. Da taten Biehler und Körber etwas scheinbar vollkommen Wahnsinniges: Die beiden goldenen Ritter schleuderten ihre Schilde davon und sprangen aus den Sätteln. Ihre gewaltigen Breitschwerter mit beiden Händen schwingend, schlugen und hackten sie sich eine blutige Bahn durch die Reihen der osmanischen Krieger. Ihre Hiebe waren so gewaltig, das Schilde zerbarsten und Helme gespalten wurden. Die schiere Wut ihres Angriffs trieb die Verteidiger noch einmal ein Stück zurück. Trotzdem konnten sie das Blatt selbst auf diese Weise nicht mehr wenden. Wären sie normale Menschen gewesen, wären sie innerhalb weniger Augenblicke überwältigt und getötet worden. Aber sie waren Vampyre, so gut wie unverwundbar und fast unbesiegbar. Sie wurden getroffen, einer von ihnen von einem Speer, der sich in seinen Rücken bohrte, der andere von gleich zwei Pfeilen, die aus unmittelbarer Nähe auf ihn abgefeuert worden waren und von denen einer seine Rüstung und einer seinen Hals durchbohrte. Die beiden Vampyre wankten nicht einmal. Körber riss den Speer aus seinem Rücken und tötete wahllos den ihm am nächsten stehenden Krieger mit der Waffe, an deren Spitze noch sein eigenes Blut klebte, während Biehler die Pfeilspitze abbrach, die aus seinem Hals ragte, und dann das Geschoss auf der anderen Seite herausriss. Eine hellrote Blutfontäne sprudelte aus seinem Hals und versiegte fast augenblicklich. Noch bevor er den Pfeil aus seiner Brust herausriss, tötete der goldene Ritter zwei weitere Türken mit einem einzigen wütenden Schwerthieb, und auch die Klinge des anderen Vampyrs hielt blutige Ernte unter den Muselmanen. Erneut wurden sie getroffen und erneut waren sie nicht aufzuhalten, sondern töteten im Gegenteil die Krieger, die sie verletzt hatten.

Unter den osmanischen Soldaten brach Panik aus; spätestens in dem Moment, in dem auch Tepesch aus dem Sattel sprang und mit fürchterlichen Hieben seines Morgensterns in den Kampf eingriff. Für die Türken mußte es aussehen, als kämpften sie gegen den Leibhaftigen selbst, der gemeinsam mit zwei unverwundbaren Dämonen aus der Hölle emporgestiegen war. Mehr und mehr Osmanen warfen ihre Waffen weg und wandten sich in kopfloser Panik zur Flucht, aber Dracul und seine beiden Höllenkrieger kannten kein Erbarmen. Unterstützt von den wenigen Reitern, die ihnen geblieben waren, setzten sie ihnen nach und fielen über Selic und seine Leibgarde her. Es dauerte nur noch Augenblicke, bis der Heerführer der Muselmanen in ihrer Hand war.

»Das ist Selic«, sagte Abu Dun.

»Ich erkenne ihn an dem albernen Turban.«

»Ach?«, sagte Andrej.

»Ich dachte, du hättest mit dem Krieg nichts zu schaffen.« Abu Dun grinste nur, wandte sich aber ohne eine Antwort wieder dem Geschehen unter ihnen zu. Die panische Flucht hielt an. Von Westen her rückte der osmanische Ersatz heran, aber außer Tepeschs Reitern strömten ihnen nun immer mehr ihrer eigenen Landsleute entgegen. Die Nachricht, das der Teufel selbst unter sie gefahren war, machte in Windeseile die Runde. Das also war die tödliche Überraschung, die Tepesch für Selic bereitgehalten hatte, dachte Andrej. Biehler und Körber waren keineswegs zufällig verwundet worden. Sie hatten gewollt, das das geschah, um Furcht und Entsetzen in die Herzen ihrer Feinde zu säen. Andrej war aber noch nicht ganz sicher, ob Tepeschs Rechnung aufging. Immer mehr Türken ergriffen die Flucht, aber die Verstärkung rückte fast mit der gleichen Schnelligkeit heran. Aus schmerzhafter Erfahrung wußte Andrej, das Schlachten nur zu oft eine eigene Gesetzmäßigkeit entwickelten, die jeden noch so genialen Plan zunichte machen konnten. Indessen kämpften sich immer mehr Reiter ihren Weg zu Selics Zelt frei. Plötzlich waren es die Drachenritter, deren Hauptquartier sich im Herzen des türkischen Lagers befand und die von allen Seiten bedrängt wurden. Viele Osmanen befanden sich immer noch in panischer Flucht, aber der weitaus größere Teil drängte heraus und trieb Tepeschs Reiter dabei vor sich her.

»Was tut er da?«, murmelte Abu Dun stirnrunzelnd. Andrej konnte nur mit den Schultern zucken. Dracul hatte den Mann mit dem auffällig bunten Turban niedergeschlagen, aber offensichtlich nicht getötet. Biehler und Körber hatten den Sultan an den Armen gepackt und hielten ihn nieder, während Dracul heftig mit beiden Armen gestikulierte und Befehle gab. Mit wenigen, schnellen Bewegungen rissen sie Selics Zelt nieder, bis nur noch der drei Meter hohe, mittlere Pfahl stand. Vielleicht hatte Tepesch vor, sein Drachenbanner daran zu hissen. Das Zelt war auf einem kleinen Hügel errichtet, sodass die Flagge auf dem ganzen Schlachtfeld zu sehen gewesen wäre. Vielleicht auch Selics Kopf, falls Tepesch ihn enthaupten und darauf aufspießen ließ. Vielleicht aber auch ...

»Nein«, flüsterte Abu Dun.

»Das kann er nicht tun!« Aber Tepesch tat es. Während er selbst und die beiden Vampyre Selic niederdrückten, rissen einige seiner Krieger den Pfahl aus dem Boden und schleppten ihn heran. Andrej und die anderen sahen mit wachsendem Entsetzen zu, wie Tepesch selbst, wenn auch mit Hilfe einiger seiner Krieger - den Pfahl herumdrehte und sein blutiges Handwerk begann. Er hatte sich gefragt, wie lange eine solch grässliche Tat dauern würde, und war überrascht, wie schnell es ging. Natürlich war es unmöglich, aber trotzdem bildete er sich ein, Selics grässliche Schreie selbst über den Schlachtenlärm hinweg zu hören. Binnen weniger Augenblicke wurde er gepfählt, dann trugen die Krieger den Pfahl an seinen Platz zurück und richteten ihn wieder auf. Damit endete die Schlacht. Hatte vorher schon die Nachricht die Runde gemacht, das der Teufel selbst auf Tepeschs Seite kämpfte, so erschütterte der Anblick ihres gepfählten Anführers die Krieger endgültig. Wer es bisher noch nicht getan hatte, der ließ spätestens jetzt von seinem Gegner ab und wandte sich zur Flucht.

»Es scheint, als könnten wir euch noch eine Weile am Leben lassen«, sagte Vlad.

»Das ist gut. Ich hätte Dracul ungern eine Lüge aufgetischt, wieso ihr uns entkommen seid.« Andrej war nicht ganz sicher, was er von diesen Worten halten sollte. Ohne das er einen Grund benennen konnte, hatte Vlad eine Menge seiner Sympathien eingebüßt, seit sie ihr Lager auf dem Hügel aufgeschlagen hatten. In einem hatte er jedoch vollkommen Recht: Der Kampf war vorbei. Das Töten würde noch eine Weile andauern, denn Tepeschs Reiter verfolgten nun die flüchtenden Osmanen. Tepesch hatte gewonnen.

»Dieser Teufel«, murmelte Abu Dun. Seine Stimme war flach, fast ohne Ausdruck, und Andrej konnte das Entsetzen in seinem Blick verstehen. Ihm selbst erging es kaum anders. Innerhalb kürzester Zeit waren hunderte von Männern gestorben, und trotzdem entsetzte ihn der Anblick des gepfählten Heerführers wie kaum etwas anderes. Vielleicht war es auch etwas anderes. Tepesch hatte einfach darauf gebaut, das die unglaubliche Brutalität dieses barbarischen Akts die Männer unter der Halbmondfahne so entsetzen würde, das er ihren Kampfwillen brach. Seine Rechnung war aufgegangen.

»Wir sollten von hier verschwinden«, schlug Vlad vor. Er machte eine Geste ins Tal hinab.

»Die Heiden sind zwar auf der Flucht, aber ich möchte ungern einem Trupp von ihnen begegnen, den vielleicht nach Rache dürstet.«

»Dein Herr hat gesagt, wir sollen hier warten«, erinnerte Abu Dun. »Falsch«, verbesserte ihn Vlad.

»Er hat gesagt, wir sollen hier warten, bis klar ist, ob wir mit oder ohne euch weiter reiten.« Er hob die Stimme.

»Auf die Pferde!« Und dann fügte er hinzu, schnell und so leise, das nur Andrej ihn verstehen konnte:

»Ihr müsst fliehen, aber wartet auf mein Zeichen. Wir treffen uns in der ausgebrannten Mühle am Fluss.« Sie saßen auf. In der gleichen Formation, in der sie schon hierher gekommen waren, ritten sie weiter und näherten sich dem Ort an dem Sultan Selics Heerlager gewesen war. Obwohl die Nacht schon lange hereingebrochen war, war er jetzt heller erleuchtet als zuvor. Die Kämpfe hatten aufgehört, aber Tepeschs Soldaten waren dabei, das Lager zu plündern, und ganz offensichtlich hatten sie Befehl, alles zu zerstören, was sie nicht mitnehmen konnten. Andrej sah sich immer unruhiger um, je mehr sie sich dem Heerlager näherten. Das Tal hallte noch immer von Schreien, dem dumpfen Trommeln von Hufen und Waffengeklirr wider; Draculs Reiter machtet unbarmherzig weiter Jagd auf die fliehenden Türken Hätten sich die Muselmanen gesammelt und ihn: Kräfte zusammengetan, hätten sie Tepeschs Heer auch jetzt noch mit Leichtigkeit besiegen können. Aber die Männer waren verstört und bis ins Mark erschüttert ein Zustand, in dem das Kräfteverhältnis kaum noch zählte. Sie mussten einen schmalen Bachlauf überqueren als das geschah, worauf Vlad offensichtlich gewartet hatte:

Aus der Dunkelheit stürmten mehrere Gestalten mit Turbanen, spitzen Helmen und runden Schil den heran. Viele der Krieger waren verletzt und ganz eindeutig auf der Flucht. Trotzdem kam es augenblicklich zum Kampf. Die Männer, die Dracul zu ihrer Bewachung abgestellt hatte, schienen geradezu begierig auf ein Gemetzel. Sie waren es, die die Türke angriffen, nicht umgekehrt. Vlad riss sein Pferd mit solchem Ungestüm herum, das das Tier gegen das Andrejs prallte und sich m einem erschrockenen Wiehern aufbäumte. Auch Andrejs Pferd scheute. Er hätte es ohne große Mühe wie der in seine Gewalt bringen können, aber er riss c hart an den Zügeln, das sich das Tier nun ebenfalls aufbäumte und ihn abwarf. Noch während er stürzt sah er, wie Abu Dun herumfuhr und den Krieger neben sich mit einem bloßen Fausthieb aus dem Sattel schleuderte, dann fiel er ins Wasser, drehte sich herum und schwamm mit kraftvollen Zügen so schnell und weit, bis er das Gefühl hatte, seine Lungen müssten platzen. Er hatte sich nicht annähernd so weit entfernt, wie er gehofft hatte. Die Osmanen schienen unerwartet heftigen Widerstand zu leisten - möglicherweise hatten sie auch Verstärkung bekommen -, denn er sah ein einziges Durcheinander kämpfender und miteinander ringender Gestalten. Vlad hatte sein Pferd wieder unter Kontrolle bekommen, doch genau in diesem Moment stürzte sich Abu Dun auf ihn und schlug ihn mit zwei, drei harten Hieben aus dem Sattel. Etwas schlug dicht neben ihm ins Wasser; vielleicht nur ein Stein oder von einem Pferdehuf aufgewirbelter Lehm, vielleicht aber auch eine Waffe, die auf ihn abgeschossen worden war. Er fuhr herum, hielt einen Moment vergeblich nach einem Angreifer Ausschau und schwamm dann abermals unter Wasser weiter. Da er sich nun vollkommen auf das Schwimmen konzentrierte, legte er ein weitaus größeres Stück zurück, bevor ihn die Atemnot zwang, erneut aufzutauchen. An der Stelle, an der er ins Wasser gefallen war, war der Bach gut einen Meter tief, aber hier war er so seicht, das seine Hände und Knie bereits den Boden berührten. Er stand auf, watete noch einige Schritte durch das schlammige Wasser und ließ sich dann am Ufer schwer atmend auf Hände und Knie fallen.

Der Kampf tobte immer noch. Andrej war jetzt vielleicht vierzig Meter entfernt, aber wenn einer der Männer auch nur einen zufälligen Blick in seine Richtung werfen würde, wäre er zu sehen gewesen. Andrej kroch blindlings weiter, bis er einige Büsche erreichte, verbarg sich im Schutz des Unterholzes und ließ sich auf den Rücken rollen. Sein Atem ging pfeifend und die Luft brannte in seiner Kehle. Er war so erschöpft, als hätte er an der Schlacht teilgenommen und sie allein zu Ende geführt. Es vergingen nur wenige Minuten, da knackte es im Geäst hinter ihm und eine wohl bekannte Stimme sagte:

»Du hast wirklich Glück, Hexenmeister, das ich auf deiner Seite stehe. Und das ich weiß, das es keinen Zweck hat, dir die Kehle durchzuschneiden.«

»Was wahrscheinlich der einzige Grund ist, aus dem du auf meiner Seite stehst«, knurrte Andrej. In Gedanken gab er Abu Dun allerdings Recht und erteilte sich selbst einen scharfen Verweis. Der Pirat hatte sich an ihn herangeschlichen, ohne das er es gemerkt hatte.

»Möchtest du noch ein bisschen mit unseren neuen Freunden plaudern oder verschwinden wir, bevor sie merken, das ihnen etwas abhanden gekommen ist?« fragte Abu Dun.

»Und wohin? Ich habe keine Ahnung, wo diese verfluchte Mühle ist.«

»Aber ich.« Abu Dun lachte leise.

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