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Er kannte den Tod, doch an das Töten selbst würde er sich nie gewöhnen. Aber manchmal blieb ihm keine andere Wahl, als seine Skrupel zu überwinden. Andrej preßte sich mit angehaltenem Atem in den schwarzen Schlagschatten unter der Treppe und lauschte. Ihm war entsetzlich kalt. Er zitterte am ganzen Leib. Sein Herz hämmerte so laut, das es jedes andere Geräusch zu übertönen schien, und jeder Muskel in seinem Körper war zum Zerreißen angespannt. Er hielt das Schwert mit solcher Kraft umklammert, das es schon beinahe wehtat. Obwohl rings um ihn herum vollkommene Dunkelheit herrschte, wußte er, das Blut von der Klinge tropfte und sich zwischen seinen Füßen zu einer schmierigen Pfütze sammelte. Er glaubte den Dunst des Blutes riechen zu können, vergegenwärtigte sich aber, das es das Schiff war, dessen düsteren Odem er in sich aufnahm. Es roch falsch.

Andrej war in seinem Leben schon auf vielen Schiffen gewesen und er wußte, wie sie riechen sollten: nach Meer. Nach Salzwasser und Wind, möglicherweise nach Fisch, nach faulendem Holz und moderndem Tauwerk, nach nassem Segelzeug oder auch nach den exotischen Gewürzen und kostbaren Stoffen, die sie transportiert hatten. Dieses Schiff jedoch stank nach Tod. Aber schließlich war er auch nie zuvor an Bord eines Sklavenschiffes gewesen. Schritte näherten sich, polterten einen Moment auf dem Deck über ihm und kamen noch näher, entfernten sich dann wieder.

Andrej atmete auf. Er hätte den Seemann mit einem Stich ins Herz getötet, rasch, lautlos und vor allem barmherzig, aber er war froh, das er es nicht hatte tun müssen. Sein Stiefvater Michail Nadasdy hatte ihn zu einem überragenden Schwertkämpfer ausgebildet, der im Notfall blitzschnell zu töten vermochte, aber Andrej war nicht hier, um ein Blutbad anzurichten. Dabei war er fest dazu entschlossen gewesen, genau das zu tun, als Frederic und er sich an die Verfolgung des Sklavenschiffes gemacht hatten. Hätten sie Abu Duns Sklavensegler sofort eingeholt oder auch nur am nächsten Tag, hätte er wahrscheinlich versucht, nach und nach die gesamte Mannschaft des Seelenverkäufers auszulöschen. Aber das war nicht geschehen und Andrej dankte Gott dafür. Es hatte in den letzten Tagen schon genug Tote gegeben und er selbst hatte Dinge getan, die weitaus schrecklicher waren als alles, was er sich je hatte vorstellen können. Mit Schaudern dachte Andrej an Malthus, den goldenen Ritter, und an das, was passiert war, nachdem er ihn getötet hatte ...

Andrej verscheuchte den Gedanken. Wenn das alles hier vorbei war, hatte er genug Zeit, um nachzudenken - oder auch, um zur Beichte zu gehen, obwohl er gerade das sicherlich nicht tun würde. Im Moment galt es wichtigere Fragen zu klären: Wie sollte er ein Schiff in seine Gewalt bringen, auf dem sich mindestens zwanzig schwer bewaffnete Männer befanden, ohne sie alle umbringen zu müssen? Er wußte, das er gut war. Sein Schwert war nicht umsonst gefürchtet. Aber er kannte auch seine Grenzen. Einer gegen zwanzig, das war unmöglich; selbst, wenn dieser eine so gut wie unsterblich war. Unglückseligerweise bedeutete unsterblich nicht auch automatisch unverwundbar.

Andrej trat lautlos unter der Treppe hervor und sah nach oben. Die Luke zum Deck stand offen. Es war tiefste Nacht. Der Himmel hatte sich mit Wolken zugezogen, die das Licht der Sterne auslöschten und den Mond verdunkelten, der nicht mehr als ein vage angedeuteter, grauer Kreis war. Abgesehen von den Schritten, die sich nun wieder dem Einstieg näherten, war es vollkommen still. Eine Wache, die vermutlich nur auf dem Deck des dickbäuchigen Seglers hin- und herging, um die Langeweile zu vertreiben und nicht im Stehen einzuschlafen; vielleicht auch, um die Kälte zu verscheuchen, die vom Wasser aufstieg und in die Glieder biß. Das Sklavenschiff hatte an einer flachen Sandbank beinahe in der Flussmitte Anker geworfen. Abu Dun war ein vorsichtiger Mann. Wenn man vom Sklavenhandel lebte, mußte man das wohl sein. Um ein Haar hätte diese Vorsicht Andrejs Plan schon in den ersten Sekunden vereitelt. Es hatte sich als nicht sonderlich schwierig erwiesen, zur Flussmitte hinauszuschwimmen. Das Donauwasser war eisig und die Strömung weitaus stärker, als er erwartet hatte. Jeder andere Mann wäre an dieser Aufgabe gescheitert und schon auf halbem Wege ertrunken, aber Andrej war kein gewöhnlicher Mann, und so war er - wenn auch erst im dritten Anlauf, weil die Strömung ihn immer wieder von der Sandbank wegspülte - lautlos an Bord des Schiffes geklettert. Der Posten oben war leicht zu täuschen gewesen.

Andrej hatte gelernt, sich lautlos wie eine Katze zu bewegen und mit den Schatten zu verschmelzen, sodass er nur einen günstigen Moment abpassen mußte, um über das dunkle Deck zu huschen und in der offenen Luke zu verschwinden. Dummerweise war es die falsche Luke gewesen. Andrejs Plan sah vor, sich in Abu Duns Quartier zu schleichen und den Sklavenhändler in seine Gewalt zu bringen, um sein Leben gegen das der Sklaven einzutauschen, die im Bauch des Schiffes in Ketten lagen. Ein simpler Plan, aber gerade das war es, was Andrej daran gefallen hatte. Die meisten guten Pläne waren einfach. Aber unter der Luke, die er gefunden hatte, befand sich nicht Abu Duns Schlafgemach, sondern ein Raum mit einer einzelnen, äußerst massiven Tür, hinter der vermutlich die Sklavenquartiere lagen. Zwei Krieger bewachten den Raum. Andrej hatte einen von ihnen töten müssen und den anderen niedergeschlagen und geknebelt. Er war genauso überrascht gewesen wie die beiden Wächter, die Wächter, die angesichts der fortgeschrittenen Zeit ohnehin nicht mehr aufmerksam waren. Hätte er nur den Bruchteil einer Sekunde später reagiert, es hätte für ihn nicht so günstig ausgehen können ...

Andrej verscheuchte auch diesen Gedanken. Sein Blick wanderte noch einmal durch den Raum und blieb an der eisenbeschlagenen Tür Jenseits der Treppe hängen. Er wußte nicht, was dahinter lag, aber er konnte es sich ziemlich gut vorstellen. Ein dunkler, möglicherweise mit Gitterstäben in noch kleinere Käfige unterteilter Raum, groß genug für fünfzig Menschen, in dem mehr als hundert Sklaven aneinander gekettet in ihrem eigenen Schmutz lagen. Die Überlebenden aus dem Borsä-Tal, das auch ihm einst Heimat gewesen war. Menschen, die zum großen Teil wenn auch nur entfernt - mit ihm verwandt waren. Die von Vater Domenicus’ Schergen verschachert worden waren, um seinen inquisitorischen Feldzug gegen angebliche Hexen und Teufelsanbeter zu finanzieren. So etwas wie seine Familie. Nun, nicht ganz. Schließlich hatten diese Menschen ihn schon vor einer Ewigkeit aus ihrer Mitte vertrieben, hatten ihn als Ketzer und Dieb gebrandmarkt, als ruchbar wurde, daß er - wenn auch unfreiwillig - in den Kirchraub in Rotthurn verstrickt gewesen war. Aber trotzdem konnte er nicht so tun, als wären sie ihm vollkommen fremd. Vielleicht hätte er sich sogar um ihre Befreiung bemüht, wenn ihn mit diesen Menschen gar nichts verbunden hätte, abgesehen davon, das sie Menschen waren und er die Sklaverei für das schändlichste aller Vergehen hielt. Außerdem hatte er seinem Zögling Frederic versprochen, alles für die Rettung seiner Verwandten aus dem Borsä-Tal zu tun. Die Verlockung war groß, die Tür zu öffnen und die Gefangenen zu befreien. Es gab nicht einmal ein Schloß, sondern nur einen schweren, eisernen Riegel. Aber es war unmöglich, gut hundert Gefangene zu befreien, ohne das irgend jemand auf dem Schiff etwas davon merken würde. Sie waren jetzt so lange in Gefangenschaft, das es auf ein paar Augenblicke mehr oder weniger nicht mehr ankam.

Er überzeugte sich noch einmal davon, das sein Gefangener nicht nur immer noch bewußtlos, sondern auch sicher geknebelt und gefesselt war, dann legte er das Schwert aus der Hand, ließ sich neben dem toten Wächter auf die Knie sinken und zog ihm das Gewand aus. Dabei bemühte er sich, so wenig Lärm wie möglich zu machen, um den Wächter oben an Deck nicht zu alarmieren. Es kostete ihn erhebliche Überwindung, den einfachen Kaftan überzustreifen, der naß und schwer war und stank. Der Mann hatte heftig geblutet und im Augenblick des Todes schien er die Beherrschung über seine Körperfunktionen verloren zu haben. Der Turban stellte ein Problem dar. Andrej hatte keine Ahnung, wie man einen Turban band. Also wickelte er sich das Stück Tuch einfach ein paar Mal um den Kopf und hoffte, das das etwas mißglückte Ergebnis in der Dunkelheit nicht auffiel. Dann hob er sein Schwert auf und ging schnell und leicht nach vorne gebeugt, sodass sein Gesicht nicht zu sehen war, nach oben.

Der Wächter befand sich am anderen Ende des Schiffes, würde aber gleich kehrtmachen, um die zweite Hälfte seiner Runde zu beginnen. Das Schiff war nicht groß; allenfalls dreißig Schritte. Er konnte eine Konfrontation mit dem Wächter nicht riskieren, und so wich er mit langsamen Schritten zur anderen Seite des Schiffes aus und lehnte sich lässig gegen die Reling. Sein Herz klopfte. Er versuchte den Wächter unauffällig aus den Augenwinkeln heraus zu beobachten. Seine Hand fingerte nervös am Griff des Schwertes herum, das er so hielt, das es nicht zu sehen war. Irgendetwas stimmte nicht. Er spürte es. Der Großteil der Mannschaft lag auf einem niedrigen Aufbau und schlief; ein paar schnarchten so laut, das er es deutlich hören konnte. Der Posten, der sich nun herumdrehte, bewegte sich auf eine Art, die zeigte, das er zum Umfallen müde war und darum kämpfte, nicht im Gehen einzuschlafen.

Alles schien in Ordnung. Aber das war es nicht. Irgendetwas war hier nicht so, wie es zu sein vorgab. Eine Falle? Andrej konnte keinen Grund dafür erkennen. Abu Dun konnte nicht wissen, das er hier war. Der Pirat war der Falle, die Graf Bathory ihm gestellt hatte, durch ein geradezu geniales, allerdings auch mehr als riskantes Segelmanöver entkommen. Er hatte sofort Kurs auf den Bosporus genommen, als wolle er durch das Marmarameer die Ägäis ansteuern und direkt auf die großen arabischen Sklavenmärkte zuhalten. Doch dann hatte er sein gedrungenes Frachtschiff eine überraschende Wende vollziehen lassen, um geradewegs wieder nach Norden zu steuern: An Constäntä vorbei, das sie erst kurz zuvor verlassen hatten, und bis hoch ins Donaudelta hinein. Offenbar wollte er flussaufwärts Richtung Tulcea fahren, eine Stadt, die fast so alt wie Rom war und durch ihre günstige Lage den Zugang zu allen drei Donauarmen kontrollierte. Frederic und er hatten das Schiff fast eine Woche lang vom Ufer aus verfolgt, immer in sicherem Abstand, um von den Piraten an Bord nicht entdeckt zu werden - was alles andere als einfach war, denn das Donaudelta war ein verwirrend großes Gebiet ineinander verwobener Wasserwege, Seen, von Schilf bedeckter Inseln, tropischer Wälder und Sanddünen. Das Schiff war sehr langsam in den unteren der drei Donauarme hineingefahren und hatte einmal sogar fast einen halben Tag auf der Stelle gelegen, sodass Andrej vermutete, das der Pirat und Sklavenhändler auf jemanden wartete; vielleicht auf einen anderen Piraten, vielleicht auch auf einen Kunden, dem er seine lebende Fracht verkaufen wollte. Aber so weit würde Andrej es nicht kommen lassen. Der Wächter rief ihm irgendetwas zu, was Andrej nicht verstand; es mußte Türkisch oder auch Arabisch sein, die Sprache einer der beiden Völker, aus denen sich der größte Teil der Besatzung rekrutierte. Immerhin hörte er den scherzhaften Ton heraus, hob die linke Hand und gab ein Grunzen von sich, von dem er wenigstens hoffte, das es als Antwort genügte. Offensichtlich verfehlte es seine Wirkung nicht, denn der Mann lachte nur und setzte seinen Weg fort.

Andrej atmete auf. Er konnte hier an Deck keinen Kampf anzetteln. Ganz gleich, wie schnell er den Piraten auch tötete, er konnte nicht ausschließen, das der noch einen Warnschrei ausstieß, der die schlafenden Männer auf dem Achterdeck weckte. Aber die Wache ging vorüber, ohne weitere Notiz von ihm zu nehmen, und nach einem kurzen Augenblick setzte Andrej seinen Weg fort. Nachdem er durch die falsche Luke geklettert war, hatte er zumindest eine ungefähre Vorstellung davon, wie es unter Deck des Schiffes aussah. Er hatte Abu Dun mehrmals aus der Ferne dabei beobachtet, wie er in der Luke verschwand oder auch daraus auftauchte, einmal nur zur Hälfte bekleidet. Deshalb hatte er angenommen, der Mann schliefe dort, wo in Wirklichkeit die Sklaven untergebracht worden waren. Diesen Fehler galt es jetzt zu korrigieren. Trotzdem mußte Abu Duns Quartier sich dort unten befinden. Er bewegte sich schnell und lautlos die Treppe hinunter und blieb kurz stehen, um sich zu orientieren was in der herrschenden Dunkelheit allerdings fast unmöglich war. Er befand sich in einem schmalen, nur wenige Schritte langen Gang, der so niedrig war, das er nur gebückt darin stehen konnte. Der Gang endete vor einer Wand aus massiven Balken, die ihm eigentlich viel zu wuchtig für ein relativ kleines Schiff wie dieses schienen, bis er begriff, das er nun auf der anderen Seite des Sklavenquartiers stand, das offensichtlich den Großteil des gesamten Rumpfes einnahm. Die Erkenntnis erfüllte ihn mit neuem Zorn, denn sie bedeutete nichts anderes, als das Abu Dun keineswegs nur ein Pirat war, der in der Wahl seiner Beute nicht sonderlich wählerisch war. Dieses Schiff war eigens für den Transport lebender Fracht gebaut worden. Sklaven. Sein Entschluss stand fest: Er würde Abu Duns Sklavenschiff auf den Flussgrund schicken. Die Mannschaft würde er schonen, obwohl sie vermutlich auch nur aus einer Bande von Mördern und Halsabschneidern bestand, aber das Piratenschiff selbst würde er versenken. Dazu mußte er jedoch erst einmal Abu Dun finden und ausschalten.

Erneut beschlich ihn das Gefühl, das hier irgendetwas nicht stimmte. Er versuchte, dieses Gefühl einzuordnen, aber es gelang ihm nicht, und so konzentrierte er sich wieder auf seine Umgebung. Er war schon viel zu lange hier. Frederic war am Ufer zurückgeblieben und er hatte ihm eingeschärft, sich nicht von der Stelle zu rühren, ganz egal, was geschah, aber er war nicht sicher, wie weit er sich auf Frederic verlassen konnte. Der junge hatte sich verändert, seit sie Constäntä verlassen hatten, und Andrej war mit jedem Tag weniger sicher, ob ihm diese Veränderung gefiel. Etwas polterte. Andrej fuhr erschrocken zusammen, bevor ihm klar wurde, das der Lärm nicht in seiner unmittelbaren Nähe, sondern irgendwo über seinem Kopf seinen Ursprung hatte. Hinter einer der beiden Türen, die rechts und links des schmalen Ganges abzweigten, war Abu Dun. Er umschloss sein Schwert fester, öffnete wahllos die Tür auf der linken Seite und betrat den Raum. Er hatte Glück. Der Raum war winzig und er wirkte noch kleiner, denn er war bis zum Bersten gefüllt mit Kisten, Truhen, Säcken und Bündeln. Eine kleine, aber anscheinend aus purem Gold gefertigte Öllampe, die unter einem schwarzen Rußfleck an der Decke hing, spendete flackerndes, rotes Licht, das gerade ausreichte, den Raum mit hin- und herhuschenden Schatten und der Illusion von Bewegung zu erfüllen. Es gab nur ein winziges, mit buntem Bleiglas gefülltes Fenster. Abu Dun lag - nackt bis auf eine knielange baumwollene Hose - auf einer schmalen, aber mit Seide bedeckten Liege direkt unterhalb des Fensters und schlief. Er schnarchte mit offenem Mund. Auf einem kleinen Tischchen neben ihm stand ein bauchiger Weinkrug, daneben lag ein umgestürzter Trinkbecher, der ebenfalls aus Gold bestand und reich mit Edelsteinen und kunstvollen Ziselierungen bedeckt war. Roter Wein war ausgelaufen und bildete eine klebrige, dunkel glitzernde Lache. Abu Dun schien es mit den Suren des Korans nicht allzu genau zu nehmen, was die kleinen Annehmlichkeiten des Lebens anging. Er war allerdings nicht annähernd so betrunken, wie Andrej gehofft hatte.

Obwohl Andrej so gut wie keinen Laut verursachte, öffneten sich Abu Duns Lider mit einem Ruck. Er brauchte nur den Bruchteil eines Atemzuges, um die Situation zu erfassen und richtig zu reagieren. Sofort sprang er in die Höhe und griff nach dem Weinkrug auf dem Tisch neben sich, um ihn nach Andrej zu werfen. Andrej machte keinen Versuch, dem Wurfgeschoss auszuweichen, sondern brachte mit einer blitzartigen Bewegung das Schwert in die Höhe. Gleichzeitig trat er gegen den Tisch. Der Krug prallte mit solcher Wucht gegen das Schwert, das ihm die Waffe aus der Hand gerissen wurde, aber auch Andrejs Angriff zeigte Wirkung. Der Tisch kippte um. Die Kante aus hartem Eichenholz prallte gegen Abu Duns Knie und brachte ihn zu Fall. Der riesenhafte Pirat kippte mit einem Schmerzensschrei zur Seite und Andrej nutzte die winzige Chance, die sich ihm bot, und stürzte sich auf ihn. Eine Mischung aus Überraschung, Schrecken und Verachtung blitzte in Abu Duns Augen auf. Der Pirat war mehr als eine Handbreit größer als Andrej - und viel breitschultriger.

Jetzt, als Andrej ihn nahezu unbekleidet sah, wurde ihm erst bewusst, wie muskulös und durchtrainiert der Sklavenhändler war: ein Bär von einem Mann, gegen den er mit bloßen Händen nicht die Spur einer Chance hatte. Abu Dun schien seine Meinung zu teilen, denn er erwartete gelassen seinen Angriff. Andrej beging nicht den Fehler, sich nach dem Schwert zu bücken, das er fallen gelassen hatte, sondern rammte Abu Dun das Knie ins Gesicht. Der Pirat keuchte vor Schmerz und kippte nach hinten, umschlang Andrej aber trotzdem in der gleichen Bewegung mit beiden Armen und riss ihn mit sich. Andrej ächzte, als er spürte, das er den Piraten falsch eingeschätzt hatte: Er war viel stärker, als er geglaubt hatte. Andrej wurde in die Höhe gerissen und rang nach Luft. Seine Rippen knackten. Er spürte, wie zwei oder drei brachen. Der bittere Kupfergeschmack von Blut füllte seinen Mund und der Schmerz wurde für einen Moment so schlimm, das er das Bewusstsein zu verlieren drohte. Verzweifelt strampelte er mit den Beinen, schlug zwei-, dreimal mit der Faust in Abu Duns Gesicht und versuchte schließlich, ihm die Finger in die Augen zu bohren. Abu Dun drehte mit einem wütenden Knurren den Kopf zur Seite und drückte mit noch größerer Kraft zu. Andrejs Rippen brachen wie trockene Zweige. Dann erscholl ein lautes, trockenes Knacken. Jegliches Gefühl wich aus Andrejs unterer Körperhälfte. Er erschlaffte in Abu Duns Armen. Auch der Schmerz war nicht mehr zu spüren. Abu Dun sprang in die Höhe, wirbelte ihn herum und warf ihn quer durch den Raum an die gegenüberliegende Wand. Andrej fiel hilflos zu Boden, schlug mit dem Kopf gegen die eisenbeschlagene Kante einer großen Holzkiste und verlor für einen Augenblick das Bewusstsein. Er kam zu sich, als Abu Duns riesige Hand sich in sein Haar grub und seinen Kopf mit einem brutalen Ruck herumriss. Die andere Hand des Piraten war zur Faust geballt und zum Schlag erhoben.


»Nein«, sagte Abu Dun. »So leicht mache ich es dir nicht.«

Er ließ Andrejs Haar los, richtete sich auf und versetzte ihm einen Tritt, der Andrej weitere Rippen gebrochen hätte, hätte Abu Dun Stiefel oder nur Schuhe getragen. So jagte nur ein dumpfer Schmerz durch Andrejs Körper, der ihn gequält aufstöhnen ließ. Abu Dun lachte.

»Tut das weh? Nein, es tut nicht weh. Es ist nichts gegen das, was dich noch erwartet.« Die Tür wurde aufgerissen und zwei mit Schwertern bewaffnete Männer stürmten, vermutlich angelockt vom Lärm des Kampfes, herein. Abu Dun fuhr mit einer schlangengleichen Bewegung herum, funkelte sie an und sagte einige wenige Worte in seiner Muttersprache. Andrej verstand nicht, was er sagte, aber der Ausdruck auf den Gesichtern der beiden Männer war nicht schwer zu deuten. Abu Dun war nicht begeistert, das es einem bewaffneten Attentäter gelungen war, bis in sein Schlafgemach vorzudringen. Er würde die beiden Männer bestrafen; und Andrej war ziemlich sicher, das er es nicht bei ein paar Peitschenhieben belassen würde. Abu Dun verwies die beiden Männer mit einer zornigen Handbewegung des Raumes, warf Andrej noch einen verächtlichen Blick zu und verschwand dann aus seinem Gesichtsfeld. Andrej versuchte, sich zu bewegen, aber es ging nicht. Von seinem Rücken ging ein stechender Schmerz aus. Er konnte Arme und Hände bewegen, aber es kostete ihn unendliche Mühe und es war mehr ein Zittern als eine wirkliche Bewegung. Der Pirat hantierte irgendwo außerhalb seines Blickfeldes. Andrej hörte ein Klappern, dann das Rascheln von grobem Stoff. Erneut versuchte er sich zu bewegen und diesmal gelang es ihm wenigstens, den rechten Arm ein kleines Stück auszustrecken, wenn auch nicht besonders weit und in keine Richtung, die ihm einen Vorteil eingebracht hätte. Abu Dun mußte die Bewegung wohl gehört haben, denn er lachte roh und sagte:

»Gib dir keine Mühe, Hexenmeister. Ich habe dir das Kreuz gebrochen. Deine Zaubertricks nutzen dir nichts mehr.« Immerhin schloss Andrej aus diesen Worten eines: Das es nicht das erste Mal war, das Abu Dun einen Gegner auf diese Weise ausgeschaltet hatte. Wie er selbst vertraute der Pirat weniger auf seine Waffen als auf seine körperlichen Fähigkeiten. Der Kerl war so stark wie ein Bär. Andrej biss die Zähne zusammen, als ein neuerlicher Schmerz durch seinen Rücken schoss. Seine Beine begannen zu kribbeln. Abu Dun kam auf ihn zu. Er trug jetzt einen grauen Kaftan und darüber einen blütenweißen, weiten Mantel, aber noch keinen Turban.

»Ich bin noch nicht sicher«, sagte er nachdenklich, »ob ich meine Männer bestrafen oder dir Respekt zollen soll, das es dir gelungen ist, so weit zu kommen. Das ist vor dir noch keinem geglückt. Allah hat sie entweder mit Blindheit geschlagen, oder du bist gefährlich wie eine Schlange.« Seine Augen wurden schmal.

»Der Inquisitor hat mich vor dir gewarnt. Er hat gesagt, du wärst mit dem Teufel im Bunde. Ich gestehe, dass ich ihm nicht geglaubt habe. Sie reden einen solchen Unsinn, diese selbst ernannten heiligen Männer ... aber in diesem Fall hat er wohl die Wahrheit gesagt.« Er hob seufzend die Schultern.

»Ich werde meine Männer wohl nicht bestrafen. Oder ich werde sie auspeitschen und dich dann ihrem Zorn überlassen, was meinst du?« Andrej antwortete nicht, sondern biss stattdessen die Zähne so fest aufeinander, das sie knirschten. Abu Dun mochte das für einen Ausdruck von Qual halten, und damit hatte er Recht: Andrejs Rücken fühlte sich an, als würde er ganz langsam in Stücke gerissen, obwohl das genaue Gegenteil der Fall war. Das Leben kehrte in seine Beine und seinen Leib zurück, aber es war ein qualvoller, unendlich schmerzhafter Prozess. Der Pirat beugte sich vor und schnüffelte.

»Du stinkst, Giaur«, benutzte er das arabische Wort für Ungläubiger. Andrej antwortete nicht darauf. Es gelang ihm jetzt kaum noch, einen Schrei zu unterdrücken, und er mußte all seine Willenskraft aufbieten, um die Beine still zu halten. Die Regeneration war fast abgeschlossen. Wenn Abu Dun jetzt begriff, das er nicht so hilflos war, wie es den Anschein hatte, dann war es um ihn geschehen.

»Bist du allein gekommen oder hat Bathory dir eine Abteilung seiner Spielzeugsoldaten mitgegeben?«, fragte Abu Dun, beantwortete seine eigene Frage aber gleich selbst, indem er den Kopf schüttelte und fortfuhr:

»Nein. Hättest du Hilfe, wärst du das Risiko nicht eingegangen, dich hier einzuschleichen ... aber was ist mit dem Jungen? Ist dieser Teufelsbengel auch bei dir? Man hat mir gesagt, er wäre tot, aber dasselbe habe ich auch über dich gehört. Ich denke, er ist auch irgendwo in der Nähe. Es ist wohl besser, wenn ich ein paar dieser unfähigen Narren ans Ufer schicke, um nach ihm zu suchen.« Diesmal hatte Andrej sich nicht mehr gut genug unter Kontrolle, um Abu Dun nicht sehen zu lassen, wie nahe er der Wahrheit gekommen war. Frederic war tatsächlich am Ufer zurückgeblieben und wartete auf ihn. Natürlich würde der junge sehen, das nicht er es war, der zurückkam, sondern Abu Duns Männer, aber das beruhigte Andrej nicht. Frederic war ein Kind, das dazu neigte, schreckliche Risiken einzugehen, wie es Kindern eigen ist. Und er vertraute viel zu sehr auf seine vermeintliche Unverwundbarkeit. Abu Dun lachte.

»Dann wirst du deinen jungen Freund ja bald wieder sehen«, sagte er. »Ihr werdet zusammen sterben.« Er wandte sich um.

»Lauf nicht weg«, sagte er höhnisch, während er hinausging.

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