12

Etliche Zeit später erreichten sie die von Unkraut und Gebüsch überwucherte Ruine, in der Abu Dun den von Vlad vorgeschlagenen Treffpunkt vermutete. Andrej war nicht einmal sicher, das es sich um den richtigen Ort handelte, als sie über die zusammengestürzten Mauerreste kletterten und nach einem Platz Ausschau hielten, von dem aus sie die Umgebung im Auge behalten konnten, ohne selbst gesehen zu werden. Die Mühle war nicht in diesem Krieg zerstört worden, sondern vor sichtbar langer Zeit. Gebüsch, wild wucherndes Unkraut und sogar einige kleinere Bäume hatten ihre Wurzeln in die Mauerritzen und den vermodernden Holzboden gekrallt.

»Das ist kein guter Treffpunkt.« Abu Dun fasste in Worte, was Andrej fühlte.

»Wenn sie anfangen, die Gegend nach Selics Kriegern zu durchsuchen, werden sie garantiert hierher kommen.«

»Falls es überhaupt der richtige Ort ist.« Andrej sah sich voller Unbehagen um.

»Warum hast du Vlad niedergeschlagen? Es wäre nicht nötig gewesen. Jedenfalls nicht so hart.«

»Er braucht ein Alibi, um seinem Herrn glaubhaft zu machen, das wir ihm auch wirklich entkommen sind«, antwortete Abu Dun.

»Und falls mein Misstrauen gerechtfertigt ist und er uns belügt, dann hat er es verdient.« Er blieb stehen und deutete nach links.

»Da scheint es nach unten zu gehen.« Nicht zum ersten Mal mußte Andrej Abu Duns scharfe Augen bewundern. Er selbst erkannte dort, wohin die Hand des Piraten deutete, nur einen schwarzen Schlagschatten. Doch als sie sich näherten, wurde er tatsächlich der beiden oberen Stufen einer hölzernen Treppe gewahr, die in die Tiefe hinabführte. Als Abu Dun den Fuß darauf setzte, ächzten sie hörbar unter seinem Gewicht.

»Worauf wartest du, Hexenmeister?«, fragte Abu Dun.

»Hast du Angst, das uns dort unten ein Vampyr erwartet?« Er lachte über seinen eigenen Scherz und verschwand dann mit schnellen Schritten in der Tiefe. Nach einem Augenblick ertönte ein Splittern, dann ein polterndes Krachen und im nächsten Moment hörte er Abu Dun in seiner Muttersprache fluchen.

»Bist du auf einen Vampyr getreten?«, rief Andrej belustigt.

»Oder war es nur ein Werwolf, den du aus seinem Winterschlaf geweckt hast?«

»Komm herunter, Hexenmeister, und ich zeige es dir!«, schrie Abu Dun zurück.

»Und ich werde dir nicht sagen, wo die zerbrochene Stufe ist!« Andrej grinste und stieg - mit gesenktem Kopf und sehr viel vorsichtiger als der Sklavenhändler vor ihm die steile Treppe hinab. Die Stufen ächzten, aber sie hielten. Als er beinahe unten angekommen war, stieß sein tastender Fuß ins Leere, aber da er darauf vorbereitet gewesen war, verlor er nicht das Gleichgewicht, sondern fing sich wieder. Er erreichte das Ende der Treppe, blieb gebückt stehen und glaubte einen massigen Schatten links neben sich wahrzunehmen. Es war sehr dunkel. Durch die rechteckige Öffnung am oberen Ende der Treppe und die Ritzen der Fußbodenbretter, die nun die Decke über ihnen bildeten, sickerte graues Licht, aber es reichte kaum aus, um die Hand vor Augen zu erkennen. Andrej richtete sich auf und fluchte, als er mit dem Kopf gegen die niedrige Decke stieß und Staub in dicken Schwaden auf ihn herabrieselte. Abu Dun lachte schadenfroh.

»Ach, was ich dir sagen wollte: Gib Acht, die Decke ist sehr niedrig.« Nach einer Weile begann der Pirat lautstark in der Dunkelheit herumzustolpern und zu hantieren.

»Decken«, sagte er plötzlich.

»Hier sind Decken. Wasser. Und etwas zu essen ... dein Freund hat gut vorgesorgt.« Andrej ging mit vorsichtigen kleinen Schritten in die Richtung, aus der Abu Duns Stimme kam. Trotzdem stolperte er unentwegt über Unrat und Trümmer, die den Boden bedeckten, und stieß sich noch zweimal den Kopf an den niedrigen Deckenbalken, bevor er Abu Dun erreichte. Im hinteren Teil des Kellers war ein kleiner Bereich des Bodens von Unrat und Trümmern freigeräumt worden. Seine Augen hatten sich mittlerweile an schwache Licht gewöhnt. Vlad hatte tatsächlich eine kleinen Stapel Decken sowie einen Beutel mit Lebens Mitteln hier deponiert, und dazu noch einen gefüllte! Wasserschlauch.

»Wenn du nach Waffen suchst, muss ich dich enttäuschen«, sagte Abu Dun.

»So weit geht sein Vertrauen anscheinend nicht.« Er setzte sich und nach einem kurzen Augenblick ließ sich auch Andrej mit angezogenen Knien gegen die Wand neben ihm sinken. Sie bestand aus Lehn und war feucht und von fingerdünnen Wurzelsträngen durchzogen, die ihren Weg bis hier hinunter gefunden hatten.

»Wunderbar«, höhnte Abu Dun.

»Was für ein Rattenloch. Es geht abwärts mit uns beiden, Hexenmeister.«

»Worüber beschwerst du dich?«, fragte Andrej, »Vor nicht allzu langer Zeit wärst du fast auf der, Grunde der Donau gelandet. Hier ist es wenigstens trocken.«

»Und wir sind auf die Gnade eines Verräters angewiesen«, knurrte Abu Dun.

»Wir sitzen in einer fauligen Loch unter der Erde, ein wahnsinniger Foltermeister und Tyrann setzt vermutlich in diese Moment ein Vermögen als Preis für unsere Köpfe au und ... oh ja, dort oben gibt es vermutlich im Umkreis von fünfzig Meilen niemanden, der nicht jedem arabischen Gesicht die Kehle aufschlitzen würde. Hab ich noch irgendetwas vergessen?«

»Du befindest dich in der Gesellschaft eines Vampyrs«, sagte Andrej böse.

»Und ich hatte schon ziemlich lange kein frisches Blut mehr.«

»Fang dir eine Ratte«, riet ihm Abu Dun.

»Du meinst, weil ihr Blut ohnehin besser wäre als deines?« Abu Dun lachte, aber es klang nicht echt und auch Andrej gemahnte sich zur Disziplin und zog es vor, das Gespräch nicht fortzusetzen. Sie waren beide unruhig und gereizt. Ein einziges falsches Wort mochte genügen, um die Situation außer Kontrolle geraten zu lassen.

»Und was tun wir jetzt?«, fragte Abu Dun nach einer Weile. »Ich meine: Warten wir hier auf deinen Freund, den Zigeuner?«

»Was sonst?«

»Die Nacht ist noch lang«, antwortete Abu Dun. »Bis es hell wird, könnten wir schon viele Meilen weit weg sein.«.

»Unsinn«, sagte Andrej.

»Wohin willst du gehen? Ich spreche gar nicht von mir, sondern von dir. Selbst wenn du Tepeschs Leuten entkommst ... und dann?«

»Ich bin hierher gekommen, ich komme auch zurück«, sagte Abu Dun.

»Ich traue diesem Vlad nicht. Und das solltest du auch nicht.«

»Wer sagt, das ich das tue?« Darüber schien Abu Dun eine Weile nachdenken zu müssen, bevor er weitersprach.

»Ich habe gesehen, wie diese beiden Krieger gekämpft haben. Sie waren schlimmer als die Teufel. Bist du auch in der Lage, so ... so zu kämpfen?« Andrej hatte den Eindruck, das er eigentlich etwas anderes hatte fragen wollen. Er antwortete ganz offen:

»Nein.« Selbst er hatte bisher nicht einmal gewusst, das es überhaupt möglich war. Auch er war schon oft verwundet worden und hatte sich wieder davon erholt, aber niemals so unglaublich schnell. Einer der beiden war von gleich zwei Pfeilen getroffen worden, und es hatte ihn nicht einmal behindert!

»Und trotzdem hast du einen der ihren getötet«, fuhr Abu Dun in nachdenklichem Ton fort.

»Sag, Hexenmeister: War es ein fairer Kampf?«

»Das dachte ich bis jetzt«, sagte Andrej. Das Thema war ihm unangenehm. Nach dem, was er während der Schlacht gesehen hatte, war er nicht mehr sicher.

»Mittlerweile denke ich fast, es war nur Glück.«

»Glück.« Abu Dun lachte hart.

»So etwas wie Glück gibt es nicht, Hexenmeister.«

»Dann hatte er vielleicht einen schlechten Tag«, schnappte Andrej. »Ich will nicht darüber reden.«

»Aber das solltest du.« Abu Dun sah ihn durchdringend an. Es war zu dunkel, als das Andrej sein Gesicht erkennen konnte, aber er spürte seinen Blick.

»Irgendetwas stimmt hier nämlich nicht, weißt du?«

»Ja. Du redest zu viel.« Abu Dun sagte nichts mehr. Aber es war auch nicht nötig. Er hatte schon deutlich mehr gesagt, als Andrej hören wollte. Sie waren übereingekommen, bis zur Dämmerung zu warten und sich dann auf eigene Faust auf den Weg zu machen, sollte Vlad bis dahin nicht aufgetaucht sein. Aber sie mussten nicht so lange warten. Andrej schätzte, das es auf Mitternacht zuging, als sie Schritte über sich hörten. Die altersschwachen Bodendielen knirschten. Staub rieselte zwischen ihnen hervor und markierte den Weg, den der Mann über ihnen nahm. Abu Dun spannte sich und wollte aufstehen, aber Andrej legte ihm rasch die Hand auf den Unterarm und drückte ihn zurück.

»Das ist Vlad.«

»Wieso bist du da so sicher?«

»Weil er allein kommt«, antwortete Andrej.

»Außerdem spüre ich es.« Die Schritte näherten sich der Treppe und wurden langsamer. Dann kam der Mann herunter. Er übersprang die untere, zerbrochene Stufe, was bedeutete, das er nicht zum ersten Mal hier unten war, und kam geduckt und mit schnellen Schritten näher.

»Ihr seid da«, begann Vlad.

»Gut. Ich war nicht sicher, das ihr es schafft.« Er ließ sich zwischen Andrej und Abu Dun in die Hocke sinken und legte die Unterarme auf die Knie.

»Was ist mit deinem Gesicht passiert?«, fragte Abu Dun.

»War ich das?« Der Roma hob die linke Hand und tastete mit spitzen Fingern über seine linke Wange. Sie war unförmig angeschwollen, seine Lippen aufgeplatzt und blutig verschorft. Sein linkes Auge würde spätestens morgen früh komplett zugeschwollen sein. Trotzdem lachte er.

»So hart schlägst du nicht zu, Mohr«, sagte er.

»Das ist die Belohnung meines Herrn, das ihr mir entkommen seid.«

»Da fragt man sich doch, warum du noch lebst«, sagte Abu Dun langsam.

»Dracul war guter Dinge«, antwortete Vlad.

»Er hat eine Schlacht gewonnen. Außerdem gibt es eine Menge Gefangener, um die er sich kümmern muss. Und ihr seid auch nicht mehr wichtig für ihn.«

»Was meinst du damit?«

»Er hätte euch so oder so töten lassen«, antwortete Vlad.

»Er braucht dich nicht mehr, jetzt, wo er die beiden goldenen Ritter hat.« Er sah Andrej durchdringend an.

»Die beiden sind Vampyre wie du, habe ich Recht? Aber sie sind trotzdem anders als du. Ich weiß nicht wie, aber sie sind anders. Böse.«

»Worauf willst du hinaus?«, fragte Andrej.

»Ihr seid hier nicht sicher«, sagte Vlad.

»Ich kann euch in die Burg bringen. Ihre Keller sind tief - und sie sind der letzte Ort, an dem Dracul nach euch suchen würde.« Andrej wollte antworten, aber Abu Dun kam ihm zuvor.

»Warum tust du das für uns, Vlad? Warum sollten wir dir trauen?«

»Ich brauche eure Hilfe«, antwortete Vlad. »Ich verstecke euch. Ich sorge dafür, das ihr lebt, und ich helfe euch, den jungen zu befreien. Dafür müsst ihr Tepesch töten. Bevor er so wird wie du, Andrej.«

»So wie ...?«

»Ein Vampyr«, sagte Vlad. »Unsterblich und unverwundbar. Er ist schon jetzt ein Ungeheuer, vor dem das Land zittert. Was glaubst du, würde geschehen, wenn er sich in ein Wesen verwandelt, das nicht zu verletzen ist und das den Tod nicht mehr zu fürchten braucht?« Das war eine Vorstellung, die zu entsetzlich war, als das Andrej dem Gedanken auch nur gestattet hätte, Gestalt anzunehmen. Trotzdem schüttelte er überzeugt den Kopf.

»Das ist vollkommen unmöglich, Vlad«, sagte er. »Wenn es das ist, was er will, dann lass ihn. Er würde nur den Tod dabei finden.«

»Die Alten sagen etwas anderes«, erwiderte Vlad.

»Ich kenne die Legenden. Ich weiß, was man über euch sagt. Es heißt, das ein Mensch zum Vampyr wird, wenn sich ihr Blut vermischt.«

»Ich sagte doch: Das ist vollkommen unmöglich«, beharrte Andrej. Aber war es das wirklich? Er mußte daran denken, wie es gewesen war, als er Malthus getötet hatte. Die Transformation. Es war seine erste Transformation gewesen, ein Erlebnis, das so grauenhaft und erschreckend gewesen war, das er sich geschworen hatte, es nicht wieder zu erleben, auch wenn sich seine Lebensspanne damit auf die eines normalen, sterblichen Menschen reduzierte. Er hatte Malthus’ Blut getrunken, aber das war nur ein Symbol gewesen; Teil eines Rituals, das so alt war wie seine Rasse und dessen Ablauf er beherrschte, ohne es jemals zuvor kennen gelernt zu haben. Aber für einen Moment war Malthus ... in ihm gewesen. Er hatte ihn gespürt, jenen körperlosen, brennenden Funken, den die Menschen Seele nannten, und für einen noch kürzeren Moment wäre es beinahe Malthus gewesen, der ihn übermannte. Er hatte die abgrundtiefe Bosheit seiner Seele gefühlt, die Kraft der zahllosen Leben, die er genommen hatte, und im allerletzten Moment etwas, dessen wahre Bedeutung er vielleicht erst jetzt wirklich begriff: Überraschung. Überraschung, Schrecken und einen Funken von Furcht, dem keine Zeit mehr blieb, zu einer Flamme zu werden. Was, dachte er, wenn er diesen Kampf verloren hätte? Hätte Malthus dann Gewalt über seine Seele erlangt? Wäre er zu Malthus geworden? Er wollte die Antwort auf diese Frage nicht wissen. Es spielte keine Rolle. Er würde nie wieder Blut trinken, weder das eines Menschen, noch das eines anderen Vampyrs. Sollte sein Leben nach fünfzig oder sechzig Jahren enden. Er hatte nicht um diese Art von Unsterblichkeit gebeten.

»Nun?«, fragte Vlad. Er hatte lange Zeit geschwiegen und Andrej nur angesehen, auch diesmal ganz so, als hätte er geahnt, was hinter Andrejs Stirn vorging, und als wollte er ihm ausreichend Zeit geben, eine Entscheidung zu treffen. Vermutlich war es im Moment nicht sonderlich schwer, in seinem Gesicht zu lesen.

»Du solltest dich mit Abu Dun zusammentun, Vlad«, sagte Andrej finster.

»Das heißt, du nimmst an«, sagte Vlad. Er stand auf.

»Du tötest Tepesch. Was du mit den beiden Goldenen machst, ist mir gleich, aber du tötest Dracul. Dafür bringe ich dich und den jungen hier weg.«

»Ja«, sagte Andrej. Ihm war nicht wohl dabei. Er konnte nicht sagen, warum, aber er hatte das Gefühl, einen wirklich schlechten Handel abgeschlossen zu haben. Trotzdem erhob er sich ebenfalls und streckte die Hand aus, um ihren Pakt zu besiegeln. Abu Dun fuhr mit einer schnellen Bewegung dazwischen.

»Nicht so rasch«, sagte er. Vlad fuhr mit einem ärgerlichen Zischen herum.

»Was mischst du dich ein, Heide?« Abu Dun schluckte die Beleidigung ohne irgendein äußeres Zeichen von Ärger herunter.

»Immerhin geht es auch um meinen Hals«, sagte er ruhig.

»Woher sollen wir wissen, das du Wort hältst?«

»Vielleicht allein deshalb, weil du diese Frage stellen kannst, Heide«, sagte Vlad verächtlich.

»Ich habe mein Leben riskiert, um die euren zu retten! Wenn du wissen willst, was Tepesch mit Verrätern macht, dann frag deinen Freund.«

»Und wie willst du uns von hier fortbringen?« Abu Dun wirkte keineswegs überzeugt.

»Ich bin vielleicht der letzte meiner Sippe, aber nicht der letzte meines Volkes«, antwortete Vlad.

»Es sind andere Roma in der Nähe. Jetzt, wo Selics Heer zerschlagen ist, werden sie nach Petershausen kommen. Ihr könnt euch ohne Probleme unter sie mischen und mit ihnen weiterziehen. Nicht einmal du würdest unter ihnen auffallen, Mohr.«

»Und sie würden uns aufnehmen?«

»Wenn ich sie darum bitte, ja«, antwortete Vlad. Er drehte sich wieder zu Andrej um.

»Dann sind wir uns einig?« Diesmal hielt Abu Dun ihn nicht mehr zurück, als er Vlads ausgestreckte Hand ergriff.

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