6

Sie waren nach einer Weile auf eine Straße gestoßen, die grob in westliche Richtung führte, aber der Tag neigte sich bereits dem Ende zu, bis sie auf die ersten Menschen trafen. Was Andrej in der Ferne gesehen hatte, war tatsächlich der Rauch von Kaminfeuer gewesen; eine kleine Stadt. Aber sie war viel weiter entfernt, als er geschätzt hatte, und die Straße führte keineswegs in gerader Linie darauf zu, sondern schlängelte sich in Windungen. Obwohl sie breit ausgebaut und in gutem Zustand war, begegnete ihnen den ganzen Tag über kein Mensch. Als sie sich der Ortschaft näherten, sah Andrej, das es sich eher um eine kleine Festung als um ein Dorf zu handeln schien. Eine mehr als zwei Meter hohe, hölzerne Palisadenwand umgab die guten zwei Dutzend einfacher Gebäude, von denen einige in grober Fachwerkbauweise, die meisten aber aus Felsgestein und Lehm errichtet waren. Es gab auch einen hölzernen Wachturm, von dessen gut acht Meter hoher Plattform aus man das Land in weitem Umkreis überblicken konnte und ein zwar weit offen stehendes, aber sehr massiv wirkendes Tor. Die ganze Verteidigungsanlage war alt und an zahllosen Stellen geflickt und ausgebessert worden, aber in tadellosem Zustand. Die Dorfbewohner begegneten ihnen mit dem natürlichen Misstrauen einfacher Leute, aber trotzdem freundlich. Es gelang Andrej, für einen überraschend geringen Preis ein Nachtquartier für Frederic, Abu Dun und sich zu erstehen und für die kleinste Münze aus Abu Duns Beutel ein Abendessen. Es gab gebratenen Hasen. Obwohl der Ort klein war, hatte er einen überraschend großen Gasthof mit gleich mehreren Zimmern, dessen Schankraum sich rasch zu füllen begann, kaum das die Sonne untergegangen war. Frederic der als einziger mit wirklichem Appetit zugegriffen hatte, als er den gedünsteten Hasen erblickte - hatte sich direkt nach dem Essen zurückgezogen, aber Andrej und Abu Dun waren noch geblieben. Auch Andrej hätte nichts lieber getan, als nach oben zu gehen und sich in einem bequemen Lager auszustrecken.

Seit einiger Zeit hatte er nur auf nacktem Boden geschlafen, allenfalls mit seinem Sattel als Kopfkissen, und die Vorstellung, sich in einem richtigen Bett ausstrecken zu können - selbst wenn es nur aus einem strohgefüllten Sack bestand -, erschien ihm geradezu paradiesisch. Doch sie brauchten Informationen. Sie mussten wissen, wo genau sie sich befanden, wer in diesem Teil des Landes herrschte, welche größeren Städte es in der Umgebung gab und welche davon sie besser mieden ... tausend Fragen, von denen vielleicht jede einzelne über Leben und Tod entscheiden konnte. Und sie brauchten Pferde. Andrej wußte, das sie diese Fragen nicht unvermittelt stellen konnten. Die Menschen in dieser einsamen Gegend waren begierig auf Neuigkeiten, aber sie hassten es, wenn jemand selbst zu viele neugierige Fragen stellte. Und allein die wehrhafte Palisadenwand, die den ganzen Ort umgab, machte deutlich, das sie einen Grund hatten, Fremden gegenüber misstrauisch zu sein.

Abu Dun erwies sich jedoch als überraschend geschickt darin, ein Gespräch in Gang zu bringen. Am Anfang waren sie noch allein. Zweifellos erfüllte schon der Anblick alles Fremden die Menschen mit Furcht, aber Abu Dun lachte laut und viel, gab dem Wirt Anweisung, an jeden Tisch einen Krug Bier auf seine Kosten zu bringen, und schließlich siegte die Neugier. Nach einer Weile hatten sich fast ein Dutzend Männer an ihrem Tisch versammelt, die auf ihre Kosten tranken, den Geschichten lauschten, die Abu Dun zum Besten gab - und die zweifellos alle ausgedacht, aber sehr kurzweilig waren - und ihnen dabei nach und nach alle Informationen gaben, die sie brauchten. Andrej hielt sich die meiste Zeit zurück, aber er kam nicht umhin, Abu Duns Geschick im Umgang mit Worten mehr und mehr zu bewundern. Der Muselman verstand es ausgezeichnet, das Misstrauen der Dörfler nicht nur zu zerstreuen, sondern auch eine Stimmung zu erzeugen, in der sie mehr von sich aus zu erzählen begannen. Geraume Zeit nachdem Frederic sich zurückgezogen hatte, hätte man meinen können, eine Runde guter alter Freunde säße zusammen und lausche den Erzählungen eines der ihren, der von einer langen, abenteuerlichen Reise zurückgekehrt war. Es mußte auf Mitternacht zugehen, als draußen auf der Straße Lärm aufkam. Andrej glaubte einen Schrei zu hören, aufgeregte Rufe und Schritte. Er sah irritiert zur Tür und auch einige der anderen blickten in die gleiche Richtung. Zwei Männer standen auf und verließen das Gasthaus und auch Andrej wollte schon aufstehen, ließ sich aber dann sofort wieder zurücksinken, als er einen warnenden Blick aus Abu Duns nachtschwarzen Augen auffing; und ein kaum sichtbares, angedeutetes Kopfschütteln. Natürlich hatte der Muselman recht: Was immer dort draußen geschah, ging sie nichts an. Abu Dun hob seinen Becher und winkte dem Wirt damit zu, der eine neue Runde brachte, und es gelang ihm tatsächlich, das für einen Moment ins Stocken geratene Gespräch noch einmal in Gang zu bringen, wenn die Stimmung auch nicht mehr ganz so gelöst war wie zuvor. Die Männer, die bei ihnen am Tisch saßen, blickten immer wieder unruhig zur Tür, hin- und hergerissen zwischen dem Verlangen, Abu Duns faszinierenden Geschichten zu lauschen, und der Neugier, zu erfahren, was sich dort draußen abspielte. Zumindest war es kein überraschender Angriff der Türken, dachte Andrej in dem vergeblichen Versuch, sich selbst zu beruhigen. Der Lärm war fast ganz verstummt. Weit entfernt glaubte er eine Frau weinen zu hören, aber nicht einmal dessen war er sich ganz sicher. Die Tür flog auf und einer der Zecher kam zurück, ein großer, ausgemergelter Mann mit schulterlangem schwarzem Haar, der gerade noch am Tisch gesessen und besonders ausgiebig und lang über Abu Duns Anekdoten gelacht hatte. Jetzt war er leichenblass. Seine Hände zitterten und in seinen Augen stand ein Flackern, als wäre er dem Leibhaftigen selbst begegnet.

»Was ist passiert?«, fragte einer der Männer am Tisch.

»Miroslav«, antwortete der Dunkelhaarige. Auch seine Stimme bebte.

»Sie haben ... Miroslavs Tochter gefunden.« Er schloss die Tür hinter sich, kam mit unsicheren Schritten näher und griff nach dem erstbesten Becher auf dem Tisch, um ihn mit einem einzigen Zug zu leeren. Bier lief an seinem Kinn herab und tropfte auf sein Hemd, aber er schien es nicht einmal zu merken.

»Was ist mit ihr? Erzähle!« Der Mann stellte den Becher zurück und sah sich auf eine Art um, als hätte er Mühe, die Gesichter der Anwesenden einzuordnen. Ganz besonders lang starrte er Abu Dun an, wie es Andrej vorkam.

»Tot«, sagte er schließlich.

»Sie ist tot.« Einen Atemzug lang war es vollkommen still, doch dann brach ein regelrechter Tumult los. Die Männer schrien durcheinander und sprangen von ihren Stühlen hoch. Einige rannten aus dem Haus und alle redeten gleichzeitig, bis der Mann, der den Dunkelhaarigen schon vorhin angesprochen hatte, mit einem scharfen Ruf für Ruhe sorgte.

»Erzähl!« sagte er, während er dem Dunkelhaarigen einen zweiten Becher Bier reichte, den dieser zwar entgegennahm, aber nicht trank.

»Da gibt es nicht viel zu erzählen«, sagte er nervös.

»Sie haben sie gerade gefunden, vorne beim Tor. Sie muss hinausgegangen sein, ich weiß nicht warum.« Er schüttelte sich.

»Ich habe sie gesehen. Es war grauenhaft. Jemand hat ihr die Augen ausgestochen und ...« Er sprach nicht weiter, aber der Ausdruck in seinen Augen machte deutlich, das dies längst nicht das Einzige war, was man dem Kind angetan hatte. Womöglich nicht einmal das Schlimmste. Er trank einen Schluck Bier.

»Grauenhaft«, murmelte er.

»Sie wurde regelrecht geschlachtet.« Andrej mußte sich mit aller Kraft beherrschen, um nicht erschrocken zusammenzufahren. Er versuchte, einen Blick mit Abu Dun zu tauschen, aber der Pirat sah den Dunkelhaarigen an und schien voll und ganz auf das konzentriert zu sein, was er sagte. Sein Gesicht war ausdruckslos, seine Miene wie erstarrt. Andrej spürte den Blick eines der anderen auf sich ruhen. Er ignorierte ihn einen Moment lang, drehte sich aber dann betont langsam zu dem Mann herum und sah ihm fest in die Augen. Der Ausdruck, den er darin erblickte, gefiel ihm nicht..

»Das ist schrecklich, nicht wahr?« fragte er. Der Mann nickte.

»Ja. Zumal so etwas noch nie vorgekommen ist. Jedenfalls bis heute nicht.«

»Was willst du damit sagen?«, fragte Andrej.

»Nur das, was ich sage«, antwortete der andere.

»Wir leben hier in Frieden. Es gibt keine Mörder hier. Jedenfalls bis jetzt nicht.«

»Bevor wir gekommen sind, meinst du?«, mischte sich Abu Dun ein. Andrej fragte sich, ob er den Verstand verloren hatte.

»Zum Beispiel.«

»Sei kein Narr, Usked«, sagte der Dunkelhaarige.

»Sie waren die ganze Zeit hier. Außerdem kann es kein Mensch gewesen sein.«

»Wieso nicht?«

»Weil kein Mensch zu solch einer Grausamkeit fähig wäre«, antwortete der Dunkelhaarige schaudernd.

»Sie wurde regelrecht in Stücke gerissen, ihr Blut ...« Er rang einen Moment nach Worten, dann schüttelte er noch einmal entschieden den Kopf.

»Nein. Es muss ein Tier gewesen sein. Auch wenn ich mir kein Tier vorstellen kann, das zu so etwas fähig wäre.«

»Vielleicht war es ja auch ein Zauberer«, sagte der Mann stur.

»Jetzt reicht es aber«, mischte sich der Wirt ein. Er war um seine Theke herumgekommen und hatte sich zu ihnen gesellt. In der rechten Hand hielt er einen gefüllten Bierkrug, aber es sah nicht so aus, als wolle er daraus ausschenken, sondern eher, als überlege er, auf welchen Schädel er ihn schlagen sollte.

»Zauberei! Was für ein Unsinn! Es ist ein Kind zu Tode gekommen. Da geziemt es sich nicht, solch gotteslästerlichen Unsinn zu reden!« Er hob den Krug.

»Das ist die letzte Runde, danach geht ihr nach Hause.«

»Er hat Recht«, sagte der Dunkelhaarige.

»Es ist spät. Wir sollten schlafen gehen. Wenn es hell ist, finden wir vielleicht Spuren und können die Bestie jagen, die das getan hat.« Keiner der Männer verspürte noch Durst auf die letzte Runde, die der Wirt angeboten hatte. Sie gingen, und als Letzter verließ auch Usked die Gaststätte, wenn auch nicht, ohne Andrej und insbesondere Abu Dun einen langen, misstrauischen Blick zugeworfen zu haben. Der Wirt sah ihm kopfschüttelnd nach.

»Ich muss für sie um Verzeihung bitten, die Herren«, sagte er.

»Sie sind ...«

»Das ist schon gut«, unterbrach ihn Andrej.

»So etwas ist furchtbar. Ich nehme es ihnen nicht übel. Kanntest du das Kind?«

»Hier kennt jeder jeden«, sagte der Wirt.

»Also sind die einzigen Fremden auch ganz selbstverständlich sofort verdächtig«, fügte Abu Dun hinzu.

»Nur gut, das wir die ganze Zeit hier gesessen und getrunken haben. Sonst ginge es uns jetzt vielleicht an den Kragen.«

»Ja«, sagte der Wirt.

»Aber ihr wart ja hier.« Abu Dun schien der Ton, in dem er dies sagte, nicht zu gefallen, denn er fragte:

»Du glaubst doch diesen Unsinn nicht, das wir Zauberer oder gar Hexenmeister sind?« Der Wirt zögerte eine Winzigkeit zu lange, bevor er antwortete.

»Ich weiß nicht, was ich glauben soll«, sagte er.

»Vielleicht gibt es Zauberei, vielleicht nicht. Ich weiß nur, das ihr hier wart und es genug Zeugen dafür gibt.« Er machte einen Schritt, um zur Theke zurückzugehen, und blieb dann wieder stehen.

»Aber wenn ich euch einen Rat geben darf ...«.

»Nur zu« sagte Andrej aufmunternd.

»Ihr habt die Leute hier erlebt«, sagte der Wirt. Die Worte bereiteten ihm sichtliches Unbehagen.

»Sie sind sehr erschrocken und zornig, und es sind einfache Leute. Sie werden einen Schuldigen suchen.«

»Du meinst, es wäre besser, wenn wir gleich morgen verschwinden«, sagte Andrej.

»Ihr habt nach Pferden gefragt«, sagte der Wirt, statt direkt zu antworten.

»Ich habe drei Tiere, die ich euch überlassen kann. Sie sind alt und nicht besonders gut zum Reiten geeignet, aber sie können euch nach Tandarei bringen, einen Tagesritt von hier entfernt. Ich gebe euch den Namen meines Bruders. Er hat einen Stall dort. Bei ihm könnt ihr gute Pferde kaufen. Er wird euch einen fairen Preis machen, wenn er hört, das ich euch schicke.«

»Du vertraust uns einfach so drei Pferde an?«, fragte Abu Dun. »Das ist ziemlich leichtsinnig.«

»Es sind alte Klepper«, antwortete der Wirt. »Ihr könnt froh sein, wenn sie bis Tandarei durchhalten. Zahlt mir dasselbe, was mir der Schlachter geben würde. Mein Bruder wird euch den Betrag anrechnen.«

»Das ist ein faires Angebot, meine ich.« Abu Dun stand auf.

»Es sei denn, bei euch werden alte Klepper in Gold aufgewogen.« Der Wirt blieb ernst.

»Gute Nacht, die Herren«, sagte er. Andrej wartete, bis er verschwunden war, dann trank er noch einen letzten Schluck Bier und stand ebenfalls auf.

»Er kann uns gar nicht schnell genug loswerden, wie?«

»Ich glaube, er meint es ernst«, antwortete Abu Dun.

»Denkst du an dasselbe wie ich?«

»Das weiß ich nicht«, log Andrej.

»Woran denkst du denn?«

»An den Hasen.«

»Das mag Zufall sein«, sagte Andrej.

»Vielleicht wirklich ein Raubtier, das sein Unwesen hier treibt.« Er hob die Schultern.

»Wer weiß, vielleicht tragen wir wirklich einen Teil der Schuld, weißt du? Vielleicht haben wir das Raubtier ohne Absicht hierher geführt.«

»Vielleicht ist es ja bei uns«, sagte Abu Dun.

»Was willst du damit sagen?«, fragte Andrej scharf.

»Nichts«, antwortete Abu Dun.

»Es war ... nur so eine Idee. Eine dumme Idee. Verzeih.« Er machte eine Kopfbewegung zur Treppe.

»Geh nach oben und leg dich schlafen.«

»Und du?«

»Ich schlafe bei den Pferden. Auf diese Weise kann ich sie mir auch gleich ansehen und mich überzeugen, ob die Klepper in der Lage sind, uns bis nach Tandarei zu bringen.« Er verließ ohne ein weiteres Wort den Raum. Andrej ging nach oben und betrat das Zimmer, das er für Frederic und sich - und eigentlich auch Abu Dun gemietet hatte. Es war dunkel. Das einzige schmale Fenster war geschlossen aber es war überraschend kalt. Andrej schloss die Tür hinter sich, so leise er konnte und blieb stehen, damit sich seine Augen an die herrschende Dunkelheit gewöhnen konnten. Das Zimmer war groß, aber bis auf die drei schmalen Betten und eine grob gezimmerte Truhe vollkommen leer. Frederic lag komplett angezogen auf dem mittleren dieser drei Betten und schlief. Aber schlief er wirklich? Andrej sah noch einmal zum Fenster und trat dann lautlos an Frederics Bett heran. Der Junge hatte sich auf die Seite gerollt. Seine Augen waren fest geschlossen und seine Atemzüge waren flach und gleichmäßig. Andrej streckte die Hand nach ihm aus, zog sie dann aber wieder zurück, ohne ihn zu berühren. Frederic schlief zweifellos.

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