7

Sie brachen am nächsten Tag im Morgengrauen auf. Der Abschied war kurz und kühl. Der Wirt machte jetzt keinen Hehl mehr daraus, das er die drei Fremden lieber gehen als kommen sah, und mehrere Dorfbewohner hatten sich bereits am Tor versammelt; vermutlich, um nach Spuren zu suchen, wie es der Dunkelhaarige am vergangenen Abend vorgeschlagen hatte. Andrej behielt Frederic unauffällig im Auge, während sie an dem halben Dutzend Männer vorüberritten. Der Junge wirkte müde und er betrachtete die kleine Versammlung mit einer Mischung aus kindlicher Neugier und Verwirrung. Andrej hatte ihm nicht erzählt, was passiert war. Die Pferde waren tatsächlich nicht viel mehr als heruntergekommene Mähren, die reif für den Abdecker waren. Sie kamen nicht wesentlich schneller voran, als wären sie zu Fuß unterwegs, aber doch um einiges bequemer. Spät am Nachmittag erreichten sie Tandarei und fragten sich zum Besitzer des Stalles durch, dessen Namen ihnen der Wirt gegeben hatte. Sie bekamen neue Pferde, und als der Mann erfuhr, wer sie geschickt hatte, wies er ihnen auch den Weg zu einem einfachen Gasthaus, in dem Fremde willkommen waren und wo keine neugierigen Fragen gestellt wurden. Am nächsten Morgen ritten sie weiter.

Abu Dun hatte sich noch einmal genau nach dem Weg erkundigt und in Erfahrung gebracht, das sie von Tandarei aus am besten nach Buzau, dann ein Stück nach Westen bis Cimpina und schließlich nach Kronstadt ritten, um nach Siebenbürgen und damit zu den Drachenkriegern zu gelangen; ein Weg, der auch mit guten Pferden mindestens eine Woche in Anspruch nehmen würde. Aber er war sicherer als der direkte, denn auf diese Weise umgingen sie den größten Teil der Gebiete, in denen sie auf Sultan Selics Truppen stoßen konnten. Sechs Tage lang bewegten sie sich auf dem vorgegebenen Weg, wobei sie versuchten, Städte und Menschenansammlungen nach Möglichkeit zu meiden. Sie übernachteten in einfachen Gasthäusern auf dem Lande oder auf Gehöften, sofern sie einen Bauern fanden, der bereit war, sie in seiner Scheune oder auf dem Heuboden nächtigen zu lassen. Als Abu Dun nach einer Weile auffiel, das Andrej Frederic praktisch keine Sekunde aus den Augen ließ, machte er nicht eine Bemerkung in diese Richtung, aber sein Schweigen war sehr beredt. Ohnehin wurde Abu Dun immer mehr zu einem Problem, je weiter sie nach Westen kamen. Die Menschen fürchteten sich vor Muselmanen - viele wohl zu Recht, wie Andrej annahm - und fast alle begegneten ihnen mit Misstrauen, einige mit Hass. Es fiel Andrej immer schwerer, eine glaubhafte Erklärung für die Anwesenheit des schwarzen Riesen zu finden. Ein paar Mal war es wohl nur Abu Duns Schwert, dessen Anblick die Menschen davon abhielt, ihren wahren Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Und trotzdem war es Abu Dun, der ihnen am Abend des sechsten Tages vermutlich das Leben rettete. Sie waren früh aus der Nähe von Kronstadt Richtung Schäßburg aufgebrochen und Andrej rechnete damit, noch vor Sonnenuntergang Rettenbach zu erreichen, ihre letzte Zwischenstation auf dem Weg nach Petershausen, wo es nach Abu Duns Überzeugung - in der Nähe des Flusses Arges und des Poenari-Felsens einen Stützpunkt des ordo draconis geben sollte; der Ritter des Drachenordens.

Sie waren wenigen Menschen begegnet, aber dafür hatten sich die Gerüchte gemehrt, das sich türkische Truppen in der Umgebung herumtreiben sollten. Sultan Selics Heer war noch mehrere Tagesreisen entfernt und Andrej glaubte nicht, das es überhaupt bis zu ihnen vordringen würde. Er interessierte sich nicht sonderlich für den Verlauf des Krieges. Es ging dabei um Dinge, die er nicht verstand und die ihn nichts angingen. Er war zu unbedeutend, um die Aufmerksamkeit der Mächtigen auf sich zu ziehen; und letztlich konnte es ihm egal sein, welches Herren Fahne über dem Land flatterte. Die einfachen Leute, mit deren Blut und Tränen dieser Krieg letzten Endes geführt wurde, würden unter osmanischer Herrschaft kaum schlechter leben als unter dem Banner der Walachen-Fürsten, die dafür bekannt waren, ein blutiges Regime zu führen. Trotzdem hatte er mitbekommen, das die Sache nicht gut für die Walachen stand, die drohten zwischen den Ungarn und den Türken wie zwischen zwei mächtigen Mahlsteinen zerrieben zu werden. Die heranstürmenden Osmanen schienen nicht aufzuhalten zu sein, auch wenn sie nicht jede Schlacht gewannen. Andrej bezweifelte dennoch, das sie hier auf sie stoßen würden. Die Stoßrichtung der Angreifer lag viel weiter westlich. Ihre Ziele waren Budapest und Wien und danach der Rest Europas, nicht Petershausen. Dennoch bestand die Gefahr, das sie auf einen versprengten Teil des türkischen Heers trafen oder vielleicht auch nur auf eine Patrouille, die Selic ausgeschickt hatte. Wäre das Land hier so eben gewesen wie weiter im Osten, wo ihre gemeinsame Reise begonnen hatte, so hätten sie eine gute Chance gehabt, eine Falle rechtzeitig zu erkennen und ihr auszuweichen. So aber bemerkten sie die Gefahr erst, als es zu spät war.

Sie hatten einen der steilen Hügel überquert, die für diesen Teil des Landes typisch waren, und ritten nebeneinander aus dem Wald heraus, da stießen sie auf ein Dutzend Reiter. Die Männer hatten abgesessen und waren offensichtlich damit beschäftigt, ein provisorisches Nachtlager aufzuschlagen. Einige hatten ihre Speere gegen Bäume gelehnt und die Schilde und Harnische abgeschnallt, und die meisten Pferde waren mit den Fesseln aneinander gebunden, damit sie nicht wegliefen. Andrej überschlug blitzschnell ihre Chancen, auf der Stelle herumzufahren und davonzugaloppieren. Sie standen vielleicht gar nicht schlecht. Die Männer waren mindestens ebenso überrascht wie sie, keiner von ihnen saß im Sattel und sie würden etliche Zeit brauchen, um die Verfolgung aufzunehmen. Aber Abu Dun hob so rasch die Hand, das er nicht einmal dazu kam, den Gedanken ganz zu Ende zu denken, und zischte:

»Rührt euch nicht und zeigt um Allahs willen keine Angst! Ich regele das.«

»Bist du verrückt?«, keuchte Frederic.

»Wir müssen weg!«

»Still!«, schnappte Abu Dun.

»Keinen Laut mehr, oder wir sind alle tot.« Frederic schien den Ernst der Situation zu begreifen, denn er schwieg tatsächlich. Abu Dun warf ihm einen letzten warnenden Blick zu und drehte sich dann wieder im Sattel nach vorne. Fast bedächtig hob er die Hand und sagte etwas in seiner Muttersprache, bekam aber keine Antwort. Die fremden Krieger hatten sich mittlerweile nicht nur von ihrer Überraschung erholt, sondern waren von einer Sekunde auf die andere kampfbereit. Mit gezückten Krummsäbeln kreisten sie Andrej und seine beiden Begleiter ein. Andrej hatte noch niemals zuvor einen der Krieger gesehen, die sich im Moment wie eine unaufhaltsame Flut vom Südwesten nach Europa ergossen, aber das mußte er auch nicht, um zu wissen, das er türkische Krieger vor sich hatte. Die meisten von ihnen waren nicht sehr groß; sie hatten dunkle, scharf geschnittene Gesichter mit schwarzen Haaren und noch schwärzeren Augen. Bewaffnet waren sie mit Krummsäbeln, Lanzen und glänzenden, runden Schilden. Manche trugen spitze Helme, die mit roten Tüchern verziert waren. Andrej sah nirgendwo das Symbol des gefürchteten Halbmondes. Seine Hand wollte zur Waffe greifen, aber er konnte den Impuls im letzten Moment unterdrücken. Es wäre wahrscheinlich der letzte seines Lebens gewesen. Abu Dun wiederholte seine Worte und begleitete sie mit einem rohen Lachen, und diesmal bekam er wenigstens eine Antwort. Andrej verstand die Worte nicht, aber die Tonart war alles andere als freundlich. Abu Dun lachte trotzdem noch einmal, deutete erst auf Andrej und dann auf Frederic und schwang sich dann aus dem Sattel.

»Steigt ab«, sagte er.

»Benehmt euch ganz normal. Es ist alles in Ordnung.« Das bezweifelte Andrej. Die türkischen Krieger betrachteten sie alles andere als freundlich. Viele hatten ihre Waffen gesenkt, aber längst nicht alle und Andrej war noch nicht ganz aus dem Sattel gestiegen, da trat einer der Krieger hinter ihn und zog das Schwert aus dem Gürtel. »Was bedeutet das?«, fragte Frederic.

»Sei still!« Abu Dun warf ihm einen zornigen Blick zu und hob die Hand, als wolle er ihn schlagen, ließ die Hand aber dann im letzten Moment wieder sinken. Dann wandte er sich wieder an die muslimischen Krieger und lachte roh.

»Er hat Recht«, stieß Andrej gepresst hervor.

»Sei still Frederic, ich bitte dich! Er wird es schon regeln.«

»Regeln?« Frederics Stimme wurde schrill.

»Bist du blind? Er hat uns in die Falle gelockt! Sie werden uns die Kehlen durchschneiden!«. Andrej kam nicht dazu, zu antworten, denn Frederic und er wurden ein paar Schritte weggeführt und grob zu Boden gestoßen. Andrej rechnete damit, das sie gefesselt würden, aber die Türken verzichteten darauf. Zwei von ihnen bedrohten sie jedoch mit ihren Speeren und auch etliche andere blieben mit den Waffen in der Hand in der Nähe.

»Ich hab ihm von Anfang an nicht getraut«, fauchte Frederic.

»Du wirst sehen, was du von deiner Gutgläubigkeit hast.« Andrej sagte gar nichts dazu - und er hätte sich gewünscht, das auch Frederic den Mund hielt. Das Abu Dun türkisch oder irgendeine andere morgenländische Sprache mit den schwarzäugigen Kriegern sprach, bedeutete nicht, das die Männer ihre Sprache nicht beherrschten. Während Abu Dun weiter mit dem Mann debattierte, den auch Andrej mittlerweile für den Anführer der Patrouille hielt, nutzte Andrej die Gelegenheit, die fremdländischen Krieger unauffällig etwas genauer in Augenschein zu nehmen. Er mußte seine etwas vorschnell gefasste Meinung über die Männer revidieren. Es waren fast zwei Dutzend und sie waren in nicht annähernd so schlechtem Zustand, wie er zuerst geglaubt hatte. Sie waren nicht ausgemergelt, sondern einfach von kleinerem und schlankerem Wuchs, wirkten dabei aber erschreckend zäh. Ihre Kleider waren zerschlissen und an zahlreichen Stellen geflickt, doch ihre Waffen befanden sich in tadellosem Zustand. Einige von ihnen trugen frische Verbände. Andrej nahm an, das sie erst vor kurzer Zeit in einen Kampf verwickelt gewesen waren. Eine kleine Ewigkeit schien zu vergehen, bis Abu Dun zu ihnen zurückkehrte. Er grinste, aber Andrej hatte längst begriffen, das das bei dem Sklavenhändler ebenso gut alles wie auch nichts bedeuten konnte.

»Nun?«, fragte er.

»Es ist alles in Ordnung«, sagte Abu Dun.

»Macht euch keine Sorgen.«

»Um uns oder um dich?«

»Es ist alles in Ordnung«, sagte Abu Dun noch einmal.

»Er glaubt mir. Die Hauptsache ist, das ihr mitspielt. Wir bleiben bei dem, was wir besprochen haben. Ihr seid meine Sklaven. Wir sind auf dem Wege zu Selics Heer, weil ich mich als Kundschafter und Dolmetscher anschließen will.«

»Und das haben sie dir geglaubt?« Frederic machte ein abfälliges Geräusch.

»Komisch, das ich dir nicht glaube.« Abu Dun ignorierte ihn.

»Aber wir haben ein Problem«, fuhr er fort.

»Die Männer sind auf dem Weg zum Heer des Sultans. Es lagert keine zwei Tagesmärsche von hier.«

»Und sie haben vorgeschlagen, das wir sie begleiten«, vermutete Andrej.

»Vorgeschlagen.« Abu Dun wackelte mit dem Kopf.

»Nun ja. So kann man es auch nennen.«

»So viel dazu, das sie dir trauen«, sagte Andrej.

»Das spielt jetzt keine Rolle«, sagte Abu Dun.

»Im Moment jedenfalls sind sie nicht unsere Feinde. Alles andere wird sich zeigen.«

»Wir müssen fliehen«, zischte Frederic.

»Wir müssen vor allem die Nerven behalten«, sagte Abu Dun.

»Und vorsichtig sein. Ich bin nicht sicher, ob nicht doch einer von ihnen eure Sprache versteht.«

»Aber er hat Recht«, sagte Andrej.

»Wir dürfen auf keinen Fall ...«

»Das weiß ich selbst«, unterbrach ihn Abu Dun.

»Wir werden Selics Heer frühestens in zwei Tagen erreichen. Das ist eine lange Zeit. Also tut nichts Unbedachtes. Sie glauben mir, aber das heißt nicht, das sie mir vorbehaltlos vertrauen. Wir müssen auf eine günstige Gelegenheit warten.«

»Und warum sollten wir dir trauen?«, fragte Frederic böse. Abu Dun sah ihn fast traurig an und wandte sich dann mit einem Blick an Andrej, der deutlich machte, das er eine ganz bestimmte Reaktion von ihm erwartete. Aber Andrej schwieg. So elend er sich selbst bei diesem Gedanken fühlte Frederic hatte Recht. In den Tagen, die sie zusammen unterwegs gewesen waren, hatte er fast vergessen, wer Abu Dun wirklich war: nämlich ein Pirat und Sklavenhändler und vor allem ein Muselman. Bei Selics Heer war er so gut wie bei seinen Leuten, zumindest aber in Sicherheit.

»Ich verstehe«, sagte Abu Dun nach einer Weile. Er klang ein wenig verletzt. Dann erschien wieder das gewohnte breite Grinsen auf seinem Gesicht, bei dem seine Zähne fast unnatürlich weiß blitzten. »Nun, eigentlich kann ich dich verstehen. Ich an deiner Stelle würde wohl nicht anders reagieren. Kann ich mich darauf verlassen, das wir bei dem bleiben, was wir besprochen haben? Du bist mein Diener und Leibwächter - ich mußte mir etwas einfallen lassen um zu erklären, warum du ein Schwert trägst.« Welche Wahl hatte er schon? Andrej nickte.

»Und ich?«, fragte Frederic. Abu Dun sah ihn nachdenklich an.

»Mein Lustknabe?«, schlug er schließlich vor. Frederics Gesicht verdüsterte sich vor Zorn und Andrej sagte rasch:

»Er ist mein Sohn. Wir bleiben bei der Geschichte. Wir haben einige Übung darin.«

»Wenn er dein Sohn ist, möchte ich seine Mutter nicht kennen lernen«, seufzte Abu Dun.

»Aber gut. Bitte bewahrt einen kühlen Kopf. Wir haben viel Zeit.« Er gab den Männern, die Andrej und Frederic bewachten, einen Wink. Andrej entging zwar nicht, das sie einen fragenden Blick zu ihrem Anführer hin warfen und auf sein zustimmendes Kopfnicken warteten, aber schließlich senkten sie ihre Waffen und nach einem weiteren Augenblick wagte es Andrej auch, langsam aufzustehen. Niemand versuchte ihn daran zu hindern, aber die beiden Krieger, die ihn bisher bewacht hatten, folgten ihm in zwei Schritten Abstand, als er Abu Dun begleitete. Der Mann, mit dem Abu Dun gesprochen hatte, sah ihm aufmerksam und noch immer ein wenig misstrauisch entgegen. Obwohl sein Gesicht einen undurchdringlichen Ausdruck hatte, wirkte es doch zugleich auch offen. Er sah Andrej gerade lange genug durchdringend an, um seinen Blick unbehaglich werden zu lassen, dann wandte er sich mit einer Frage an Abu Dun und machte eine komplizierte Handbewegung. Abu Dun antwortete und wandte sich dann an Andrej.

»Er sagt, du siehst nicht aus, als wärst du mein Leibwächter«, sagte Abu Dun. Andrej verzog nur flüchtig die Lippen. Er konnte den Mann verstehen: Abu Dun war ein gutes Stück größer als er und sein schwarzes Gesicht ließ ihn noch bedrohlicher erscheinen. Wenn man sie nebeneinander sah, konnte man höchstens annehmen, das Abu Dun sein Leibwächter war.

»Und?«, fragte er schließlich.

»Er will, das du es beweist«, sagte Abu Dun.

»Beweisen? Wie soll das gehen?« Die Aufforderung beunruhigte Andrej mehr als nur ein bisschen: Bevor Abu Dun antworten konnte, reichte ihm der türkische Kommandant sein Schwert, zog mit der anderen Hand seine eigene Waffe und machte eine auffordernde Kopfbewegung.

»Was soll das?«, fragte Andrej.

»Er will, das du mit ihm kämpfst«, sagte Abu Dun.

»Du musst ihm beweisen, das du wirklich mein Leibwächter bist.«

»Ich kämpfe nicht zum Spaß«, antwortete Andrej.

»Das habe ich noch nie getan.«

»Dann wird es Zeit, das du damit anfängst«, sagte Abu Dun. »Denn wenn du es nicht tust, wirst du ernsthaft kämpfen müssen. Möglicherweise gegen alle.«

Andrej schwieg. Abu Dun hatte natürlich Recht. Es wäre närrisch zu glauben, das ein Mann wie der Kommandant der türkischen Patrouille jedem Fremden, den er zufällig traf, sofort vertraute - mitten im Feindesland und noch dazu in Begleitung zweier Feinde. Aber er konnte es sich im Grunde gar nicht leisten, mit diesem Mann zu kämpfen. Andrej zweifelte nicht daran, das er ihn besiegen würde; er war bisher nur auf sehr wenige Männer getroffen, die ihm im Kampf mit dem Schwert ebenbürtig oder gar überlegen gewesen wären. Das Problem war ein ganz anderes: Weder durfte er den Mann schwer verletzen, noch das Risiko eingehen, selbst verwundet zu werden. Er durfte nicht einmal einen Kratzer abbekommen. Wenn die Menschen in dem Dorf, in dem sie vor : einer Woche gewesen waren, schon nicht an Zauberei glaubten: diese heidnischen Krieger taten es bestimmt. Wenn sie sahen, das sich seine Verletzungen in Sekundenschnelle wieder schlossen, dann würden sie alle zu ihren Waffen greifen und ausprobieren, wie weit seine Unverwundbarkeit wirklich reichte.

»Also gut«, sagte er schweren Herzens. Er trat einen Schritt zurück und hob sein Schwert.

»Aber ich will ihn nicht verletzen. Der Kampf endet, sobald einer von uns entwaffnet ist.« Abu Dun verstand, was er meinte. Er übersetzte Andrejs Worte und der Türke erklärte sich mit einem Nicken einverstanden. Auch er hob sein Krummschwert und machte gleichzeitig eine befehlende Geste mit der freien Hand, woraufhin seine Krieger einen vielleicht fünf Meter durchmessenden Kreis rings um sie herum bildeten. Dann griff er ohne weitere Verzögerung an. Andrej spürte sofort, das er es mit einem ernst zu nehmenden Gegner zu tun hatte. Der Mann war gut. Nicht so gut wie er, aber gut, und vor allem: Er war entschlossen, vor seinen Männern nicht das Gesicht zu verlieren. Andrej parierte seine ersten Angriffe mit vorgetäuschter Mühe, um sich ein Bild von der Kraft und Schnelligkeit seines Gegners zu machen, dann löste er sich von ihm, griff an und legte alle Kraft in einen einzigen Hieb. Der Türke war stärker, als er geglaubt hatte. Es gelang Andrej nicht, ihm das Schwert aus der Hand zu schlagen. Aber er wußte, wie schmerzhaft ein solcher Schlag war. Der Mann taumelte mit schmerzverzerrtem Gesicht zurück und Andrej setzte ihm blitzartig nach, trat ihm wuchtig vor das linke Knie und brachte ihn damit endgültig aus dem Gleichgewicht. Der türkische Krieger stürzte und Andrej war mit einem einzigen Schritt über ihm. Sein Schwert senkte sich auf die Hand, die das Schwert hielt, verletzte sie aber nicht. Der Krieger erstarrte. Seine Augen weiteten sich in einer Mischung aus Unglauben und Entsetzen.

»Er sollte die Waffe loslassen«, sagte Andrej.

»Bevor ich sie ihm aus der Hand nehme. Sag ihm das.« Abu Dun übersetzte getreulich (wenigstens hoffte Andrej das) und der Türke zögerte noch einen Herzschlag lang - und ließ dann zu Andrejs unendlicher Erleichterung das Schwert los. Andrej trat rasch einen Schritt zurück, schob sein Schwert in den Gürtel und streckte dann die Hand aus, um dem gefallenen Krieger auf die Füße zu helfen. Der Türke blickte seine ausgestreckte Rechte einen Moment lang an, als wüsste er nichts damit anzufangen, aber dann griff er danach und ließ sich von ihm aufhelfen. Seine Mundwinkel zuckten, als er das verletzte Bein belastete, aber der Ausdruck in seinen Augen hatte sich vollkommen gewandelt. Er sagte etwas zu Andrej und lachte, und aus dem Wald hinter ihnen zischte ein Armbrustbolzen heran und traf ihn mitten in die Stirn. Dann brach die Hölle los. Noch während Andrej blitzschnell herumfuhr und das Schwert wieder aus dem Gürtel riss, zischten weitere Bolzen und Pfeile heran. Gleichzeitig stürmte eine Anzahl dunkel gekleideter Gestalten aus dem Unterholz, die die vollkommen überraschten Türken mit Speeren, Schwertern und Äxten angriffen. Fast die Hälfte der muselmanischen Krieger fiel unter dem ersten Angriff, bevor es dem Rest gelang, seine Waffen zu ergreifen und eine Verteidigung zu organisieren. Andrej stand volle zwei Sekunden lang reglos mit dem Schwert in der Hand da, ohne das irgendjemand auch nur Notiz von ihm zu nehmen schien, dann aber attackierten ihn gleich zwei der feindlichen Krieger. Andrej wehrte den Angriff des ersten mit einer reflexartigen Bewegung ab, die den Mann zurücktaumeln ließ, ohne ihn zu verletzen, dem zweiten versetzte er eine tiefe Stichwunde in den Unterarm, die ihn seine Waffe fallen ließ. Dann war plötzlich alles voller kämpfender Männer, Schreie, blitzender Waffen, und es blieb ihm keine Zeit mehr, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Er wehrte ab, parierte, wich aus, konterte und griff seinerseits an, alles in einer einzigen, rasend schnellen Bewegung und ohne genau zu wissen, gegen wen er kämpfte oder warum eigentlich. Abu Dun war dicht neben ihm und er kämpfte mindestens so hart wie er, wenn nicht härter, denn er wurde nicht nur von den überraschend aufgetauchten Gegnern attackiert, sondern auch von den Türken, die ihn offensichtlich für einen Verräter hielten. Es stand nicht gut um ihn. Er schlug sich wacker, aber er hatte es gleich mit drei Gegnern zu tun; eine Übermacht, gegen die er auf Dauer nicht bestehen würde. Er blutete bereits aus einer tiefen Schnittwunde im Oberarm. Andrej hackte und schlug sich rücksichtslos zu ihm durch und erreichte ihn im buchstäblich allerletzten Moment. Irgendwie war es Abu Dun gelungen, zwei seiner Gegner mit einem einzigen Hieb des gewaltigen Krummschwertes zurückzutreiben, aber er konnte sich dabei gegen den dritten nicht mehr verteidigen. Der nutzte diese Schwäche, um einen tödlichen Stich nach Abu Duns Herzen zu führen. Andrej schmetterte die Klinge so knapp beiseite, das sie in der Abwärtsbewegung Abu Duns Gewand zerfetzte. Dann schleuderte er den Mann mit einem Tritt zurück und stellte sich hinter den Piraten. Sie kämpften Rücken an Rücken. Aber es war aussichtslos. Andrej begriff mit entsetzlicher Klarheit, das sie verlieren würden. Ganz gleich, welche Seite siegte, Abu Dun und er gehörten zu ihren Feinden. Er war noch nicht einmal sicher, wer den Sieg davontragen würde. Die Angreifer waren zahlenmäßig hoffnungslos überlegen. Der überraschende Angriff hatte den Türken schreckliche Verluste zugefügt - aber im Gegensatz zu den zerlumpten und schlecht ausgebildeten Bauern und Milizionären waren sie geübte Krieger, die ihr Handwerk verstanden und es leicht mit jeweils zwei oder auch drei Gegnern aufnahmen. Wer immer diesen Überfall geplant hatte, war dabei nicht sehr geschickt vorgegangen. Dann geschah etwas, das alles änderte. Andrej sah, wie einer der türkischen Krieger mit zerschmettertem Schädel zurücktaumelte und zusammenbrach. Hinter ihm trat eine riesenhafte Gestalt in einer blutfarbenen Rüstung aus dem Wald, die über und über mit Stacheln und eisernen Dornen gespickt war. In der Rechten hielt sie einen Morgenstern mit drei Kugeln; vielleicht nicht die wirkungsvollste, aber mit Sicherheit die furchteinflößendste Waffe, die Andrej kannte. Er starrte das Visier der blutroten Rüstung an. Es war der Drachenritter. Der Mann, der Abu Duns Schiff versenkt und seine gesamte Familie ausgelöscht hatte.

»Du!«, schnappte Andrej. Und dann schrie er, noch einmal und mit kreischender, fast überkippender Stimme:

»Du !!!« Nichts anderes mehr zählte. Die Schlacht und die Krieger ringsum wurden bedeutungslos. Es gab nur noch den Drachenritter, den Mörder seiner Familie den er sterben sehen wollte. »Du!« brüllte Andrej noch einmal.

»Du gehörst mir! Stell dich!« Der Kopf des Drachenritters ruckte mit einer schlangengleichen Bewegung herum. Ein türkischer Krieger attackierte ihn. Der Ritter schlug ihn mit ,ernenn dornenbesetzten Handschuh zu Boden, hob ,einen schrecklichen Morgenstern und machte eine spöttische, winkende Bewegung, mit der er die Herausforderung annahm. Andrej stürmte los. Niemand versuchte ihn aufzuhalten. Vielleicht hatten die Männer trotz des tobenden Kampfes bemerkt, was zwischen ihm und dem Drachenritter vorging, aber vielleicht war da auch etwas in seinem Gesicht und seinen Augen, was die Männer erschreckte. Der Drachenritter hob seinen Morgenstern höher und Andrej führte einen zornigen Hieb gegen seinen Arm aus, um ihn zu entwaffnen. Er hatte seinen Gegner unterschätzt. Der Drachenritter ignorierte seinen Angriff und verließ sich zu Recht darauf, das seine Rüstung dem Schwerthieb Stand halten würde. Gleichzeitig schlug er mit seinem stachelbewehrten linken Handschuh zu. Trotzdem mußte Andrejs Schwerthieb den Arm des Drachenritters gelähmt haben, denn er ließ den Morgenstern fallen und taumelte zurück, aber auch sein Hieb traf und die Wirkung war verheerend. Andrej sank in die Knie. Ein grausamer Schmerz, explodierte in seinem Leib, als die zehn Zentimeter langen Dornen in sein Fleisch bissen, und er spürte, wie schlagartig alle Kraft aus seinem Körper wich. Er ließ das Schwert fallen, kippte nach vorne und erbrach würgend Blut und Schleim. Aus den Augenwinkeln salz er, wie der Drachenritter mit einem raschen Schritt sein Gleichgewicht fand und sich nach seiner Waffe bückte. Dann sah er etwas anderes, was ihn selbst den Drachenritter für den Moment vergessen ließ. Auch Frederic hatte sich mit einem Schwert bewaffnet, das er wohl einem toten Krieger abgenommen hatte. Er stürmte heran, tauchte unter einem Speer hindurch, mit dem ein türkischer Krieger nach ihm stocherte und versetzte dem Mann aus der gleichen Bewegung heraus einen tiefen Stich in die Wade. Der Mann brüllte vor Schmerz und Wut, fuhr herum und schlug Frederic den Speer quer über den Rücken. Frederic stürzte mit weit nach vorne gestreckten Ar men zu Boden und ließ das Schwert fallen. Der Türke führte seine Bewegung zu Ende, drehte den Speer herum und stieß ihm die Spitze zwischen die Schulterblätter. Andrej schrie auf, als hätte ihn selbst die tödliche Speerspitze getroffen, sprang in die Höhe und warf sich auf den Krieger. Mit einem einzigen Hielt schleuderte er ihn zu Boden, riss den Speer aus Frederics Rücken und tötete den Mann mit seiner eigenen Waffe. Dann ließ er sich neben Frederic auf die Knie fallen und drehte ihn herum. Frederic war bei Bewusstsein, hatte aber große Schmerzen. Er weinte. Die Wunde in seiner Brust hatte sich noch nicht ganz geschlossen, hörte aber bereits auf zu bluten. Der Stich hatte sein Herr verfehlt. Die Wunde war nicht tödlich. Entspanne dich sagte er.

»Du darfst nicht dagegen ankämpfen! Lass deinen Körper die Arbeit tun!« Er wußte nicht, ob Frederic ihn überhaupt hörte, und ihm blieb auch keine Zeit, sich weiter um ihn zu kümmern Doch auch wenn der Drachenritter die Gelegenheit nicht nutzte, um zu Ende zu bringen, was er angefangen hatte, war der Kampf noch nicht vorüber, und er wurde sofort wieder attackiert. Ein weiterer türkischer Krieger drang auf ihn ein. Andrej war im Moment waffenlos. Er ließ sich zur Seite fallen, hörte ein Schwert über sich hinwegzischen und schlug instinktiv die Arme vors Gesicht, als der Krieger mit seinem Schild nach ihm stieß. Die Abwehrbewegung kam zu spät. Andrej wurde hart getroffen und fiel nach hinten, griff aber auch im gleichen Moment zu und packte mit beiden Händen den Schild. Mit einem kräftigen Ruck brachte er den Mann aus dem Gleichgewicht, schleuderte ihn über sich hinweg und nutzte den Schwung seiner eigenen Bewegung, um mit einer Rolle wieder auf die Füße zu kommen. Noch bevor der Krieger vollends zu Boden gestutzt war, war Andrej über ihm, entriss ihm seine Waffe und stieß ihm die Klinge ins Herz. Ein harter Schlag traf seinen Rücken. Er stolperte nach vorne, fand mit einem raschen Ausfallschritt seilte Balance wieder und wirbelte herum. Ein weiterer Krieger hatte ihn angegriffen. Blut lief über seinen Rücken, aber die Wunde war nicht tief. Andrej griff den Mann sofort und mit kompromissloser Wucht an. Der völlig verblüffte Krieger parierte seinen Hieb zwar wurde aber zurückgetrieben, stolperte über irgendetwas und stürzte mit hilflos rudernden Armen nach hinten. Als er zu Boden fiel, stürzte sich Frederic auf ihn.

Es ging zu schnell, als das Andrej es verhindern konnte. Er hätte ohnehin nichts mehr tun können, um Frederic zurückzuhalten. Der Junge warf sich auf den gestürzten Krieger, presste ihn durch die schiere Wucht seines Angriffs zu Boden und grub die Zähne in seine Kehle. Der Türke brüllte vor Schmerz und bäumte sich auf, aber es war aussichtslos: Frederics Zähne zerfetzten seinen Kehlkopf und seine Halsschlagader in Sekundenschnelle. Aus seinem Schrei wurde ein schreckliches, nasses Gurgeln und seine Arme und Beine begannen unkontrolliert zu zucken. Aber Frederic hörte nicht auf. Sein Gesicht wühlte sich weiter in die Kehle des sterbenden Mannes und seine zu Krallen gewordenen Finger tasteten nach seinen Augen. Er begann das Blut des Mannes zu trinken. Endlich löste Andrej sich aus seiner Erstarrung. Er ließ das erbeutete Schwert fallen, stürzte vor und riss Frederic von seinem Opfer fort. Der Junge wehrte sich wie von Sinnen, schrie und schlug nach ihm. Er bot einen furchtbaren Anblick. Sein Mund war blutverschmiert, die Zähne rot vom Lebenssaft seines Opfers, den er getrunken hatte. In seinen Augen loderte etwas, das schlimmer war als Wahnsinn. Andrej schüttelte ihn, so fest er konnte.

»Frederick« schrie er.

»Hör auf! Um Gottes willen, hör auf!« Frederic hörte nicht auf, sondern wehrte sich nur mit umso größerer Kraft, sodass es Andrej kaum noch möglich war, ihn zu halten. Schließlich sah er keine andere Wahl mehr: Er holte aus und versetzte Frederic einen Fausthieb ins Gesicht, der dem Jungen auf der Stelle das Bewusstsein raubte. Frederic erschlaffte in ,einen Armen. Andrej ließ ihn sanft zu Boden sinken und richtete sich auf. Die Schlacht war nahezu vorbei. Hier und da wurde noch gekämpft, aber die Angreifer hatten gesiegt. Die wenigen türkischen Krieger, die noch am Leben und nicht zu schwer verletzt waren, versuchten sich von ihren Gegner zu lösen und zu fliehen. Der Drachenritter selbst beteiligte sich nicht mehr am Kampf. Er stand in einiger Entfernung da und starrte ihn an. Andrej wurde klar, das er auch die unheimliche Szene mit Frederic beobachtet haben mußte. Er nahm sein Schwert, trat dem unheimlichen Ritter einen Schritt entgegen und machte eine auffordernde Geste. Da war noch etwas zwischen ihnen, was darauf wartete zu Ende gebracht zu werden. Der Drachenritter nickte. Doch er nahm Andrejs Herausforderung damit nicht an. Hatte er wirklich geglaubt, das dieser Mann fair kämpfte? Andrej registrierte ein Geräusch hinter sich, aber er kam nicht einmal mehr dazu, sich umzudrehen. Ein harter Schlag traf seinen Hinterkopf und löschte sein Bewußtsein aus.

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