In der zweiten Nacht auf dem Weg ins Neue Gelobte Land begannen die Reisenden ans Essen zu denken, aber nur der Deserteur, der den anderen, auch den beiden Rotarmisten, als Erster vorgeschlagen hatte, vom Auto zu springen, fing laut und recht ernsthaft davon zu sprechen an.
„Wohin man auch gehen mag, zuallererst muss man sich den Bauch wenigstens mit irgendetwas vollschlagen!“, sagte er.
Alle stimmten dem zu, aber vom Zustimmen allein wurde man auch nicht satt. Und da legten die beiden Rotarmisten, inzwischen natürlich ehemalige oder anders gesagt flüchtige Rotarmisten, militärische Gewitztheit an den Tag. Sie boten an, sich zum nächstgelegenen Dorf aufzumachen und dort von Bauern auf die ihnen vertraute Weise Proviant zu organisieren.
Damit setzten sie ihre nächtliche Reise fort.
Oben leuchteten die Sterne, große und kleine, helle und matte, und alles an ihnen war so wie bei den Menschen. Möglicherweise hatten sie sogar unterschiedliche Typen und Nationalitäten und vielleicht unterschieden sie sich auch durch ihren Glauben und erstrahlten deshalb auf so vielfältige Art. Und mitten unter ihnen leuchtete ein nicht allzu heller Stern, der sich am Himmel nicht sonderlich hervortat, aber über eine enorme innere magnetische Kraft verfügte, ganz wie ein russischer Mensch, ein Stern mit dem Namen Archipka. Er leuchtete und rief auf diese Weise zu sich, damit jeder, der ihm folgte, sich auf halbem Weg zu dem Ort wiederfand, von dem alle Menschen auf der Erde nachts, aber auch im gewöhnlichen Leben träumen.
Und mitten unter diesen Sternenhaufen spazierte der Viertelmond auf und ab, wie ein berittener Milizionär inmitten von Straßenlärm und Unordnung. Und es war ganz so, als ob die Wanderer deutlich sehen könnten, wie die Sterne, in deren Nähe der Viertelmond erschien, gleichmäßiger und in gewisser Weise bereitwilliger zu leuchten begannen, als stünden sie unter der Aufsicht eines guten, aber strengen Himmelswächters. Das fiel auch dem Engel auf, der schweigend dahinging und in Gedanken ihre Ankunft am erwünschten Ort erwartete.
Manchmal flog ein Nachtvogel über sie hinweg und stieß rätselhafte und überirdische Laute aus. Auch andere Geräusche waren in der nächtlichen Natur zu vernehmen, aber sie klangen leise und harmlos.
„Dort ist ein Feuer!“, rief der entflohene Kolchosbauer, der voranging, plötzlich fröhlich aus. Alle schraken zusammen, da jeder insgeheim über etwas Persönliches nachdachte, aber keiner an den Weg, über den seine Füße schritten.
„Wo?“, fragte der Rotarmist mit der kaputten Waffe und blickte aufmerksam um sich, wo es überall gleich dunkel war.
„Na dort drüben!“, zeigte der entflohene Kolchosbauer mit der Hand. Der Rotarmist ließ seinen Augen etwas Zeit und erblickte wirklich ein schwaches Feuer, matter als ein kaum sichtbarer Stern.
Die Übrigen versammelten sich sogleich hinter dem Rotarmisten und sahen das Feuer ebenfalls.
„Wir müssen ein bisschen näher herankommen, dann können wir dort Proviant auftreiben!“, versprach der ehemalige Rotarmist.
Also bewegten sich alle auf dieses Feuer zu, und nun hing keiner mehr geheimen Gedanken nach, stattdessen besetzte das rein menschliche Bedürfnis nach Essen die Köpfe aller. Der Engel allerdings dachte nicht ans Essen, obwohl auch er hungrig war. Er dachte über etwas ganz anderes nach. Darüber, wie leicht ein Mensch den ihm auferlegten Weg aufgab, um an einen Ort zu gelangen, wo er in Gerechtigkeit leben konnte. Und er konnte nicht anders, als sich über diesen Gedanken zu freuen.
Bald ließen sich in der bläulichen Dunkelheit der Nacht die ersten Gartenzäune des schlafenden Dorfes unterscheiden. Vor diesen Zäunen blieben sie stehen, bis auf die zwei flüchtigen Rotarmisten, die sich auf den Weg ins Dorf hinein machten, um Proviant zu besorgen.
„Na, Engel“, flüsterte in der Stille der erste Deserteur, der das Hemd des Sarafans trug. „Erzähl uns doch etwas über das Paradies, ja? Wer weiß, vielleicht bist du gar nicht verrückt? Die Verrückten, die plappern ohne Pause irgendetwas dahin, aber du schweigst immerzu, als ob du wirklich etwas wissen würdest!“
Diese Worte erstaunten den Engel, aber er staunte schweigend.
„Was soll ich euch denn erzählen?“, fragte er, nachdem er kurz nachgedacht hatte.
„Na, zum Beispiel, was isst man dort?“, schlug der entflohene Kolchosbauer vor.
„Man isst weißes Weizenbrot und trinkt Milch dazu“, erinnerte sich der Engel.
„Frisch gemolkene Milch?“, wollte der Deserteur genauer wissen.
„Sicher.“
„Und Fleisch?“
„Fleisch? Nein, Fleisch isst man nicht“, sagte der Engel.
Da verloren der Deserteur und der Kolchosbauer ihr Interesse am Essen im Paradies. Sie schwiegen und begannen, auf die Rotarmisten und den im Dorf ergatterten Proviant zu warten.
Da störte Hundegebell die Stille und sogleich fielen alle Hunde im Dorf in den laut tönenden Chor ein.
Erschrocken kauerten sich der Engel, der Deserteur und der entflohene Kolchosbauer nieder und horchten beunruhigt auf das Bellen.
In den Fenstern der nächstgelegenen Hütte ging ein Licht an.
Gebannt starrte der Deserteur auf dieses Licht und bewegte sich nicht.
Plötzlich hörte man, wie irgendwo eine Tür zugeschlagen wurde. Dann drang ein Lichtschein durch die Zweige der Bäume irgendeines Gartens, und wieder schlug eine Tür, dann knarrte ein eingerosteter Riegel, mit dem man normalerweise ein Tor absperrt. Der Deserteur und der Kolchosbauer standen auf und blickten besorgt auf das Dorf, das vor ihren Augen zu erwachen schien oder sich auch nur im Schlaf wälzte, wie ein Mensch von enormer Größe, und schnarchte und ächzte.
„Ach, wenn das nur gut geht!“ Der Deserteur wurde nervös. „Lieber Spreu essen, als im Konvoi marschieren zu müssen…“
„Pssst!“, zischte ihm der entflohene Kolchosbauer zu.
Alle drei horchten auf die im Schwinden begriffene Stille, die sich gleichsam über das Dorf erhoben hatte und die Geräusche der Nacht so gut sie konnte abdämpfte. Wie ein riesenhafter Mensch murmelte das Dorf im Schlaf und atmete die Zugluft, die Fenster und Türen bewegte. Immer mehr Lichter wurden in den Hütten unter dem Gebell des Hundechors angezündet. Und da jaulte auch schon einer der Hofköter ganz jämmerlich auf, als ob ihn sein Herr mit dem Stiefel getreten hätte. Und wie schon zuvor in das Gebell, so stimmten nun einige Hunde in das Gejaule ein und die Stille hob sich noch ein Stück weiter über das Dorf empor und ließ dabei das Hundejaulen zu den Sternen durch.
„Hier stimmt was nicht“, flüsterte der entflohene Kolchosbauer. „Das geht nicht gut…“
Der Engel und der Deserteur antworteten nicht.
Wieder verging etwas Zeit, und der Viertelmond schaffte es, zwischen zwei Sternen hindurchzuwandern.
Irgendjemandes Schritte waren zu hören und die drei Wartenden erstarrten vor Schreck, da sie nicht wussten, wer da kam.
„He!“ Ein Flüstern ertönte, das allen dreien bekannt vorkam.
„Wer ist das?“, fragte der Deserteur den Unsichtbaren und flüsterte dabei ebenfalls.
„Ich bin’s, Trofim… dort schaut es so aus… die wollen uns Proviant geben, aber sie sagen, dass wir sie mitnehmen sollen in dieses Gelobte Land…“
Der entflohene Kolchosbauer kratzte sich im Nacken.
„Und wie viele sind das, die mitkommen wollen?“, fragte er.
„Ja, stell dir vor, das ganze Dorf, außer dem Kolchosvorsitzenden und zwei Parteimitgliedern, die schlafen und deshalb nichts davon wissen“, antwortete der ehemalige Rotarmist Trofim.
Der Kolchosbauer schwieg und dachte gründlich und angestrengt nach.
„Nehmen sie denn viel Proviant mit?“, wollte der Deserteur wissen.
„Ja, ihr gesamtes Vieh, es gehört jetzt schließlich niemandem mehr, das von der Kolchose…“
„Na, hör mal, lass sie doch mitkommen! Dann wird es lustiger!“, wandte sich der Deserteur an den immer noch grübelnden entflohenen Kolchosbauern.
„Was soll ich nun sagen?! Sollen sie doch mitkommen“, sagte der entflohene Kolchosbauer mit müder Stimme.
„Na, dann geh ich gleich los und sag es Fedka und den anderen“, sagte Trofim und wieder waren seine Schritte zu hören.
„Sie sollen dort aber leise sein!“, rief der entflohene Kolchosbauer dem ehemaligen Rotarmisten mit gedämpfter Stimme hinterher.
Der Engel stand auf und schaute auf das Dorf. Es kam ihm vor, als ob mittlerweile in allen Hütten Licht brannte.
Verlassen denn wirklich alle einfach so ihre Häuser, dachte er, und gehen gemeinsam mit uns an den Ort der ewigen Gerechtigkeit? Kann denn so etwas wirklich in einem Land passieren, dessen Bewohner nach dem Tod nicht ins Paradies kommen?
In der Zwischenzeit entschied der entflohene Kolchosbauer, dass sie sich vom ersten Zaun ein Stück entfernen und die, die sich ihnen anschließen würden, außerhalb des Dorfes warten sollten. Das taten sie dann auch. Sie erklommen den nächsten Hügel, ließen sich dort im Gras nieder und warteten darauf, ihren Weg fortzusetzen.
Bald näherte sich vom Dorf her ein deutlich vernehmbarer Lärm, und bald konnte auch das Auge etwas großes Graues erfassen, das langsam in ihre Richtung kroch.
Der Engel erschrak geradezu, er dachte, dass es wohl ohne den Teufel nicht ging. Aber es waren nur die Menschen mit ihren Habseligkeiten, mit ihren Haustieren, deren Hufe und Mäuler mit Tüchern umwickelt waren, um Lärm zu vermeiden. Die Gesichter der Menschen waren schwer zu erkennen, und weder der Engel, noch der Deserteur, noch der entflohene Kolchosbauer, der den Weg weisenden Stern kannte, machten einen solchen Versuch. Rasch aßen sie etwas Brot mit Butter, das ihnen die beiden Rotarmisten Fedka und Trofim gegeben hatten, und dann setzten sich auch schon alle dem Stern folgend in Bewegung.
Sie gingen lange, fast bis zum Sonnenaufgang. Manchmal blickte sich der Engel mitten auf dem Feld um, damit er sehen konnte, wie viele Menschen hinter ihm hergingen, und er sah, dass es viele waren. Sie gingen alle schweigend, und nur manchmal schimpfte einer der neu Hinzugekommenen halblaut mit seinem Vieh, das plötzlich bockte, und zog ihm eins über mit etwas, das in der Dunkelheit nicht erkennbar war, mit einer Peitsche oder einfach mit einem nackten Zweig.
„Halt!“, befahl der entflohene Kolchosbauer, als der Himmel sich von einer Seite her mit dem Tag angehörenden Farben zu erhellen begann. „Hier machen wir Rast!“
Sie waren in einem Wald. Alle setzten sich auf die Erde, knüpften ihre Reisesäcke und Bündel auf, rasteten und nahmen einen Imbiss zu sich. Die alten Weiblein und die Frauen streckten die Hände nach den Kühen aus – man hatte Lust nach Milch. Und schon wurde gemolken. Einer der Männer zog den Selbstgebrannten heraus und durchschritt die Reihen der Sitzenden mit der Frage, wer das sei, der sie alle ins Neue Gelobte Land führen würde. So gelangte er bis zum Deserteur, der mit dem Finger auf den entflohenen Kolchosbauern zeigte und sagte:
„Der dort, unser Archipka, der führt uns.“
Da setzte sich der Mann neben ihn.
„Dann lass uns auf die Reise trinken, Archipka!“, sagte er.
„Ich bin nicht Archipka, sondern Stepan!“, erklärte der entflohene Kolchosbauer, nahm jedoch sogleich die Flasche entgegen und trank einige Schlucke aus dem erstaunlich breiten Flaschenhals.
„Mir ist egal, ob du Archipka oder Stepan bist“, sagte da der Mann, presste die Flasche fest an sich und nahm kleine Schlucke daraus. „Mir ist wichtig, dass es einen Menschen gibt, der uns alle von hier wegführen kann!“
Der Engel saß in der Nähe und vernahm das Gespräch mit halbem Ohr.
Es wurde hell. Die Sterne erloschen, wurden vom noch helleren Sonnenlicht überblendet. Die Natur zwitscherte mit unterschiedlichen Vogelstimmen. Und auf seltsame Art gingen auch die menschlichen Stimmen in den Geräuschen der Natur auf, und die Sprache verlor ihre Deutlichkeit und Verständlichkeit und verwandelte sich in Laute, deren Bedeutung sich vor allem durch die Intonation unterschied, und nicht aus unterschiedlichen, einzeln ausgesprochenen Wörtern und Buchstaben bestand.
Plötzlich bemerkte der Engel nicht weit von sich eine junge Frau mit hellem Haar, die mit einer für Dorfbewohner ungewöhnlichen Sache beschäftigt war – sie sah verschiedene Bücher durch und legte sie ohne irgendeine Unterlage direkt auf das Gras. Offenbar sah er sie so an, dass sie seinen Blick spürte und ihn erwiderte. Dann lächelte sie verlegen und wandte sich wieder ihren Büchern zu, die sie sogleich auf den Stapel legte und einige Male mit einer Schnur umwickelte.
Die Luft erwärmte sich in der Sonne und man konnte fühlen, wie von der Erde her die Feuchtigkeit der Nacht verdunstete. Einige besonders mutige Waldvögel sangen erst gar nicht mehr, sondern schmetterten ihr Lied, und die Menschen, die sich nach der nächtlichen Wanderung im Wald erholten, sprachen im hellen Sonnenlicht nun viel lauter, so als würden sie recht weit voneinander entfernt stehen.