Kapitel 3

Nachdem das Fuhrwerk das Dorf hinter sich gelassen hatte und sich zu beiden Seiten des Weges Kolchosfelder ausdehnten, drehte sich der Kutscher zu Pawel um, durchbohrte ihn mit einem kritischen Blick und fragte:

„Bist du etwa der, der der Gerechteste wird?“

Die Frage erstaunte Pawel, und er zuckte die Achseln.

„Dann sagst du eben nichts, wenn du nicht magst“, sagte der alte Kutscher nach einem Augenblick, ohne die Antwort abzuwarten, und wandte sich wieder der Straße zu. „Wenn du es wirst, dann erfahre ich es sowieso. Der Ruhm eines Gerechten eilt in kürzester Zeit durch das ganze Land. Nenn mir wenigstens deinen Nachnamen, damit ich dann weiß, ob es der war, den ich gefahren habe, oder nicht.“

„Dobrynin“, sagte Pawel leise.

„Ein guter Name“, nickte der Kutscher, ohne sich umzudrehen. „Ein Name für einen Helden. Ich habe bei eurem Kolchosbrigadier übernachtet, er hat mir am Abend von dir erzählt. Ehrlich seist du, bis zur Dummheit, sagte er. Aber ich habe seine Worte nicht gutgeheißen. Ich sagte zu ihm: Ehrlichkeit hat nichts mit Dummheit zu tun, sondern mit dem Gewissen. Wenn ein Mensch Fremdes nicht braucht, und es ihm um das Eigene nicht leid ist. Genau das hab ich ihm gesagt. Aber er war nicht einverstanden. Da dachte ich darüber nach, warum das wohl so ist in unserem Land, dass so wenige Leute die Ehrlichkeit an sich selbst schätzen? Na?“

„Ich weiß es nicht“, gab Pawel zu.

„Siehst du, ich auch nicht. Ich gehöre ja auch zu diesen Leuten, ich schätze die Ehrlichkeit an mir selbst auch nicht so sehr. An den anderen schon, an mir selbst nicht besonders. Und gestern Abend… Na, dieser Brigadier und ich haben miteinander getrunken, und er zeigte mir so ein kleines Büchlein. Lenin selbst, sagt er, hat es geschrieben. Ich riss die Augen auf – von Lenin habe ich ja schon gehört. Und als nun der Brigadier in den Keller ging, um Salzgurken zu holen, nahm ich das Büchlein und steckte es unters Hemd. Gestohlen hab ich’s. Und warum? Schließlich kann ich gar nicht lesen. Und meine Alte auch nicht. Jetzt fahre ich also und quäle mich. Obwohl, so sehr auch wieder nicht, wenn ich ehrlich bin…“

„Das ist nicht gut“, seufzte Pawel.

„Das weiß ich ja“, seufzte seinerseits der Alte. „Aber was kann man jetzt machen?“

„Gibt es bei euch im Bezirk eine Schule?“, fragte Pawel.

„Natürlich.“

„Dann nimm es und schenke es der Schule, damit die Kinder es lesen können. Dort wird es von Nutzen sein“, sagte Dobrynin besonnen. „ Sogar noch mehr als im Haus des Brigadiers.“

„Oooh…“, machte der Kutscher nachdenklich. „Das ist wirklich weise… und gerecht… So mache ich es. Zuerst bring ich dich ans Ziel, und dann fahre ich sofort zur Schule. Ich kenne die, die Lesen und Schreiben unterrichtet. Ihr gebe ich es.“

Sie fuhren noch lange. Der Gaul war alt und brachte kaum ein Bein vor das andere. Das Fuhrwerk bedeutete für ihn das Gleiche wie zwanzig Waggons für eine schwache Dampflok. Mal schwieg der Alte, mal redete er über irgendetwas, aber nicht mehr über die Ehrlichkeit, sondern über so allerlei aus dem Alltag. In den Minuten der Stille dachte Pawel in gespannter Erwartung über seine Zukunft nach, und in den übrigen Minuten hörte er dem Alten zu, der sich nicht mehr nach ihm umdrehte, sondern immer nach vorne auf den Weg sah, während er erzählte. So erreichten sie nach einiger Zeit die ersten Hütten des Bezirksdorfes. Der Alte erzählte Pawel, dass es vor der Revolution mehr als hundert Bauernwirtschaften in seinem Dorf gegeben habe und dass er nicht wüsste, wie viele es jetzt seien. Die Kolchoswirtschaft dort sei zwar groß, aber schwerfällig.

Sie hielten vor einer Hütte mit roter Fahne auf dem Dach. Aus dem in den Himmel ragenden Schornstein, an dem die Fahnenstange befestigt war, stiegen dichte und flockige Rauchschwaden, so als ob feuchte Kohle verbrannt würde. Der Rauch stieg empor und hob den roten Fahnenstoff mit sich hoch, was von unten so aussah, als ob die Fahne schwarz-rot wäre.

„Da sind wir“, sagte der Alte, nachdem er vom Wagen gesprungen war. „Geh hinein und frag nach dem Sekretär Kowalenkow. Und ich fahre zur Schule! Viel Glück!“

Pawel erklomm die Schwelle der Hütte des Sekretärs und blickte zurück. Der Alte stand vor dem Pferd, streichelte es und sah dabei dem Tier streng in die Augen. In der Hütte roch es nach Hund. Gleich in der Diele war ein langes Brett mit nach oben gebogenen Nägeln an der Wand befestigt. An einem Nagel hing ein Mantel, an einem anderen eine mit Lehm verschmierte Wattejacke.

Pawel ging zu einer angelehnten Tür und klopfte an.

„Wer ist da?“, ertönte es von drinnen.

Er trat ein und befand sich in einer geräumigen Stube, die in ein Dienstzimmer verwandelt worden war. Anstelle einer Ikone hing in der roten Ecke ein auf ein Stück Karton geklebtes Bild von Lenin. Pawel kannte das Bild, aus irgendeinem wichtigen Anlass war es in den Zeitungen gewesen.

„ Guten Tag!“ Der Mann hinter dem Tisch lenkte die Aufmerksamkeit des Besuchers auf sich. „Wollen Sie zu mir?“

„Ich… Man hat mich zum Kontrolleur gewählt…“

„Ach ja, man hat mich bereits angerufen. Pawel Aleksandrowitsch Dobrynin, nicht wahr?“

Pawel nickte. Der Mann stand unvermutet auf und streckte Pawel seine breite, schwielige Hand entgegen.

„Sehr erfreut, Sie kennenzulernen“, sagte er.

Pawel drückte die Hand des Sekretärs. Dann setzte er sich an den Tisch.

„So.“ Kowalenkow setzte sich ebenfalls an seinen Platz. „Mir wurde aufgetragen, Ihre Einschulung durchzuführen. Sozusagen zur Vorbereitung, da ja schließlich die gesamte Verantwortung auf Ihren Schultern liegt und die Instruktionen, um zurechtzukommen, möglicherweise nicht ausreichen. Es ist nämlich schwierig, müssen Sie wissen, alle Situationen, die vorfallen können, in Betracht zu ziehen… Aber machen Sie sich keine Sorgen. Lernen Sie zuallererst einmal das hier!“

Und Kowalenkow reichte Pawel eine dünne Broschüre. Es war der Artikel „Arbeitskontrolle“ von Lenin. Pawel schlug sie auf und entdeckte auf der zweiten Seite eine nicht zu entziffernde Unterschrift.

„Hat er hier selbst unterschrieben?“, fragte er den Sekretär.

„Nein, das war der Gebietssekretär Pawljuk. Für Sie zum Andenken.“

„Danke“, sagte Pawel.

„Eine Kleinigkeit. Wenn Sie wüssten, Genosse Dobrynin, wie ich Sie beneide…“ Der Sekretär Kowalenkow wiegte den Kopf und blickte gutmütig auf Pawel. „Ich wäre selbst gern Kontrolleur geworden, ich liebe ja die Verantwortung! Aber ich bin nicht mehr im richtigen Alter. Ja, und meine Kräfte lassen nach… Sie haben doch nichts dagegen, bei mir zu übernachten? Der Wagen holt Sie ja erst morgen Früh ab.“

Pawel war einverstanden. Das Haus des Sekretärs war geräumig. Weil der Holzboden so sauber war, zog Pawel die Stiefel aus, wickelte die Fußlappen von den Füßen und ging barfuß in die Stube.

„Schön ist es hier“, lobte er die Einrichtung.

„Ja, ich liebe Ordnung in allem“, nickte der Hausherr. Der Sekretär ließ Pawel am Tisch Platz nehmen und weckte seine Frau, die, wie sich herausstellte, ein Schläfchen im anderen Zimmer gehalten hatte. Sie begrüßte den Gast und huschte in den Hof, um frisches Gemüse zu holen.

„Sie ist eben erst von der Arbeit heimgekommen“, entschuldigte sich der Sekretär für sie. „Sie ist Melkerin, sie steht in aller Herrgottsfrüh auf; da ist sie natürlich müde.“

Der Abend kam schnell. Es verstand sich von selbst, dass Pawel und der Sekretär tranken, aber nicht schweigsam und griesgrämig, so wie die Leute früher vor der Revolution getrunken hatten, sondern lebhaft und im Gespräch, damit es der menschlichen Weiterentwicklung zugute käme. Kowalenkows Frau zeichnete sich durch ein gutes Wesen und durch Gehorsam aus, aber als das Gespräch auf die Viehwirtschaft kam, brachte sie dennoch ihre Meinung ein, was Pawel sehr gefiel. Sie sagte, dass er als Kontrolleur bei der Überprüfung der Viehbetriebe unbedingt auf die Sauberkeit der Arbeitsplätze der Melkerinnen achten müsse und besonders auf die Reinheit ihrer Hände, da einige von ihnen ihre Hände erst nach der Arbeit waschen, die Euter der Kühe aber mit schmutzigen Händen anfassen würden; da Kühe jedoch ebenfalls Sauberkeit liebten, würden sie sich weigern, bei diesen Melkerinnen Milch zu geben.

Da Pawel nicht zu trinken gewohnt war, brummte ihm am Morgen etwas der Schädel, aber der fürsorgliche Sekretär brachte ihm ein Glas mit starkem Salzwasser, und die Sinne seines Gastes wurden wieder klarer.

Er zog sich an und blickte auf die Straße hinaus, wo die Sonne strahlte und die Natur noch immer in ihrer Kraft geblieben war, obwohl die kalte Zeit bevorstand. Gleich hinter dem Tor stand ein blitzsauberes, schwarzes Automobil. Der Fahrer, der eine braune Lederjacke trug, döste hinter dem Steuer.

„Das ist für Sie!“, ertönte hinter seinem Rücken die Stimme Kowalenkows. „In aller Früh schon holt man Sie ab. Der arme Chauffeur konnte sich gar nicht ausschlafen.“

„Na, dann soll er noch eine Weile schlafen…“, sagte Pawel, der das gastfreundliche Haus nicht so recht verlassen wollte; außerdem war er besorgt darüber, dass er seinen Heimatort und seine Familie auf unbestimmte Zeit nicht wiedersehen würde. Obgleich er die Notwendigkeit dessen, was geschah, einsah, gab es in seinem Inneren doch einen kleinen Mann, für den das Gefühl von Verantwortung fremd war, der seine Frau Manjascha mehr als die Heimat liebte, weswegen dieser von Pawel in Gedanken sehr oft, um nicht zu sagen beinahe täglich, gescholten wurde. Und auch jetzt beschimpfte Pawel dieses Männchen in ihm mit einem Wort, das er noch nie laut ausgesprochen hatte. Und das Männchen verstummte und verkroch sich beleidigt.

Auf der Straße strahlte die Sonne. Das Wetter war grenzenlos optimistisch, ganz im Einklang mit der Zeit. Dobrynin ging hinaus in den Hof, direkt auf den Wagen zu.

„Viel Glück!“, rief ihm der Sekretär hinterher, der auf der Schwelle seines Hauses stand.

Pawel blickte zurück und winkte zum Abschied. Der Fahrer selbst öffnete den Wagenschlag und nachdem sein Passagier Platz genommen hatte, startete er den Motor.

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