Es wurde Abend. In dem sich verdichtenden Blau des Himmels funkelten die ersten Sterne. Die siebente Nacht auf dem Weg ins Neue Gelobte Land würde bald hereinbrechen. Die Menschen, deren Zahl schon einige Hundert betrug, hatten das Tageslicht in einer Schlucht nicht weit von einem verborgenen Städtchen abgewartet. Nun sammelten sie ihre Habseligkeiten zusammen und fanden auf den Feldweg hinaus, um von dort wieder auf die Straße zu gelangen.
„Archipka! Wo ist Archipka?“, rief der Deserteur, während er zwischen den Leuten auf und ab ging. Er nannte sich nun Oberdeserteur, da die gewöhnlichen Deserteure unter den Reisenden mehr geworden waren.
„Hier, hier bin ich!“, antwortete ihm der entflohene Kolchosbauer, der sie alle zur Gerechtigkeit führte. Er hatte es bereits gründlich satt, allen zu sagen, dass er nicht Archipka, sondern Stepan hieß, und deshalb antwortete er jetzt auf den Namen jenes Sterns, dem sie folgten. Er tat dies gerne und fühlte sich überhaupt nicht gekränkt.
„Na, warum trödelst du?“, schimpfte der Oberdeserteur. „Das Volk sucht dich und fragt, ob du etwa weggelaufen bist?“
„Warum sollte ich weglaufen?!“ Archipka-Stepan zuckte mit den Achseln und erhob sich.
„Also los, wir machen uns jetzt auf den Weg! Und dieser Engel, weißt du, wo der ist?“, versetzte der Oberdeserteur.
„Er war dort beim Haselstrauch!“ Der entflohene Kolchosbauer wies mit dem Kinn in die genannte Richtung.
„Aha“, sagte der Oberdeserteur. „Also los, gehen wir!“
Der Engel schlummerte noch. Seine Laune war ausgezeichnet.
Die letzten vier Nächte unterwegs erinnerten an ein Märchen. Zu den Menschen auf dem Weg ins Neue Gelobte Land waren zufällig einsame Wanderer gestoßen, die weiß der Teufel vor wem oder was davongelaufen waren oder sich nachts versteckten. Dann waren sie an einen von Lagerfeuern hell erleuchteten Ort gekommen, wo in der nächtlichen Dunkelheit eine große Baustelle betrieben wurde. Sie waren alle ganz dicht an diese Baustelle herangekommen und hatten auch gar keine Angst gehabt, da sie annahmen, dass man nachts nur etwas Geheimes und vor der Sowjetmacht Verborgenes bauen würde. Es hatte sich herausgestellt, dass diese Stoßbrigade neue Kuhställe nach der Stachanow-Methode baute – also ohne Schlaf und Pause. Die Kuhställe waren schon fast fertig, als sich die höchst verblüfften Arbeiter mit ihren vom Schlafmangel geschwollenen Augen von verschiedenstem Volk umringt sahen, aus dem zwischendrin auch Pferde- und Kuhmäuler hervorlugten. Die Verblüffung hielt lange an; als die Bauarbeiter allerdings erfahren hatten, wer sie da umringte und wohin diese Leute unterwegs waren, wollten sie auch sofort ins Neue Gelobte Land ziehen. Damit aber alles seine Ordnung hatte, führten sie innerhalb der Stachanow-Brigade eine Abstimmung durch. Es stellte sich heraus, dass alle dafür waren, nur der Brigadier war anfangs dagegen. Als er jedoch sah, dass er der Einzige war, enthielt er sich der Stimme und tat dies sehr laut kund, obwohl niemand verstand, was „sich enthalten“ bedeuten sollte.
So schlossen sich ihnen also auch die Bauarbeiter an mitsamt all ihren Werkzeugen. Und auch der Brigadier kam mit und schleppte einen ganzen Koffer mit sich, voll gestopft mit verschiedenen Unterlagen, in denen verzeichnet war, wie man Kuhställe baute.
Die Bauarbeiter erwiesen sich als verträgliche und gutmütige Burschen, und sogar mit den Bauern freundeten sie sich rasch an, obwohl es einigen ehemaligen Kolchosbauern nicht gefiel, dass sie recht oft mit ihren Händen bei den Bauersfrauen zufällig anstreiften.
In der folgenden Nacht mussten die Reisenden einige Schrecken durchleben, als sie von einem berittenen Rotarmistentrupp eingeholt wurden. Schon weinten die Frauen und auch die Bauern, und selbst Archipka-Stepan bereitete sich auf das Schlimmste vor, als sich ein gar nicht feindseliges Gespräch mit den Rotarmisten entspann. Es stellte sich heraus, dass sie von einem Rotarmisten-Sondertrupp zur Ergreifung flüchtiger Dorflehrer eingeholt worden waren. Der Kommissar, der eine Liste mit den Flüchtlingen dieses Landkreises mit sich führte, wollte gerade alle Anwesenden überprüfen, als es zwischen den Bauern und den einfachen Rotarmisten, die ihrem Wesen und ihrer Herkunft nach selbst Bauern waren, bereits zu Unterhaltungen kam. Und als die Rotarmisten vom Neuen Gelobten Land hörten, wollten sie keine flüchtigen Lehrer mehr fangen. Sie dachten auch darüber nach, wie sie weiterhin leben wollten. Umsonst schrie der Kommissar, mahnte sie zur Wachsamkeit und Disziplin und fuchtelte mit dem großen Mausergewehr herum – die Rotarmisten dachten trotz allem lange über ihr Schicksal und ihr Leben nach. Und als der Kommissar bereits allen mit der Erschießung zu drohen begann, ging einer der Rotarmisten her und schoss ihm ins Bein, damit er nicht weiter schreien und sie beim Nachdenken über die Zukunft stören könne. Der Kommissar fiel vom Pferd und fluchte jämmerlich, doch niemand schenkte ihm mehr Beachtung. Hierauf versuchte er abermals mit dem Mausergewehr zu schießen, aber der Kolben war schwer und im Liegen zu schießen war recht unbequem für den Kommissar. Deshalb legte er das Mausergewehr zur Seite und brütete über dem Schmerz in seinem verletzten Bein.
In der Zwischenzeit erklärten die Bauarbeiter den Rotarmisten, wie man alles ordnungsgemäß abwickeln konnte, und diese führten ebenfalls eine Abstimmung durch, an der einzig der Kommissar nicht teilnahm. Und wieder waren alle „dafür“, und das bedeutete, dass sie sich den Wanderern sogleich als Nachhut anschlossen und so zu einer Art Wache für die ganze Prozession wurden. Nur ein Rotarmist blieb für einen Moment zurück – er sprang vom Pferd, verband dem Kommissar den Fuß, damit kein unnützes Blut fließe, und sprang wieder aufs Pferd, um die der Gerechtigkeit Entgegenziehenden einzuholen.
So geschah es, dass fast ein ganzes Volk ins Neue Gelobte Land zog: Bauern, Zimmerleute, die Rote Armee, ein Engel, eine Dorflehrerin – die hellblonde junge Frau, der der Engel half, den schweren Bücherstapel zu tragen –, der Oberdeserteur und natürlich Archipka-Stepan, dem alle so viel Achtung entgegenbrachten, dass er in dieser Zeit nicht nur Gewicht zulegte, sondern auch des Öfteren angeheitert war.
„He du, Engel, steh auf!“ Der Oberdeserteur rüttelte den Engel an der Schulter. „Es wird schon dunkel! Wir gehen los!“
Der Engel rieb sich die Augen, stützte sich auf den Ellbogen und sah sich um. Der grüne, mit Gras bewachsene Boden der Schlucht, den noch vor kurzem Menschen und ihr Vieh bedeckt hatten, war jetzt fast leer, mit Ausnahme von vielleicht zwei oder drei alten Weiblein, die soeben ihre Sachen in kleinen Bündeln zusammengeknüpft hatten.
„Wo sind denn die Menschen?“, fragte der Engel verschlafen.
„Schon oben. Los!“
Der Engel stand auf, richtete seine inzwischen sehr zerknitterte Militärkleidung zurecht und folgte dem Oberdeserteur. Dann blieb er plötzlich stehen, sah sich um und betrachtete aufmerksam die Stelle, wo er geschlafen hatte.
„Ist Katja auch dort?“, fragte er den Deserteur.
„Die Lehrerin? Ja, schon lange. Sie sitzt dort und liest ein Buch.“
Sie stiegen nach oben. Dort ertönten kräftige, männliche Stimmen, und die Menschen wurden auf dem Platz auf unverständliche Weise umgeordnet.
Der Oberdeserteur winkte einen Bauern zu sich heran, der neben ihm unter einem niedrigen Baum stand, und fragte ihn:
„Was ist hier los?“
„Die Rotarmisten lassen alle antreten, damit wir im Marsch gehen können. Das geht schneller, sagen sie“, antwortete der Bauer.
Der Deserteur besann sich einen Augenblick lang, dann drehte er sich zu dem Engel um und sagte:
„Das ist wahrscheinlich wahr. Militärisch geht es immer schneller…“
„Archipka! Wo ist Archipka?“, rief schon im Gehen der Bauer in der schmutzigen Wattejacke, der wieder neben ihnen aufgetaucht war.
„Da, da ist er!“, antwortete ihm jemand, und der Bauer eilte auf die Stimme zu.
„Achtung!“, übertönte eine weitere, ganz unbekannte Stimme den Lärm.
Die Menge stand still und wartete.
„Zu Archipka links rum!!!“, dröhnte die Stimme erneut und sogleich marschierten Hunderte von Füßen los und trampelten den Staub aus der Erde und den Saft aus dem Gras.
Nur der Oberdeserteur, der Engel und noch ein paar andere standen bewegungslos da und warteten darauf, die Marschrichtung zu sehen.
Die nach militärischem Plan angetretenen Menschen setzten sich in Bewegung. Sie gingen langsam und stießen dabei gegeneinander, sodass der Engel und der Oberdeserteur sie ohne Hast überholen und zu Archipka aufschließen konnten, neben dem noch einige Menschen dahinschritten, darunter auch ein kleinwüchsiger Buckliger, der woher auch immer aufgetaucht war.
Als der entflohene Kolchosbauer Archipka-Stepan seine Fluchtgenossen erblickte, nickte er ihnen zu, sagte jedoch kein Wort und sah sogleich wieder zurück zum Himmel, wo große und kleine Sterne in schwachem Schein flimmerten und jeder auf seine Art irgendwohin wies.
Das Städtchen lag bereits hinter ihnen. Sie gingen zwischen Feldern und Wald dahin. Dabei sprachen sie mit gedämpfter Stimme davon, dass dies nun die siebente Nacht war, und das bedeutete, dass sie heute am ersehnten Ziel ankommen würden. Einige nahmen die Tücher von den Kuhmäulern und so muhte von Zeit zu Zeit irgendeine Kuh schwermütig und beinahe menschlich.
Der Mond war noch nicht ganz voll, so als habe er eine leicht eingeschnittene Linie am Rand, und er stieg am Sternenhimmel empor und leuchtete in gelblichem Licht.
Die Pferde wieherten – der Rotarmisten-Sondertrupp zur Ergreifung flüchtiger Dorflehrer bildete den Abschluss der Prozession, und die Kavalleriepferde zeigten ihren Unmut – an eine solch niedrige Geschwindigkeit waren sie ganz offensichtlich nicht gewöhnt, ebenso wenig an die Abwesenheit von Verfolgungsjagden.
Der Engel blieb ein paar Mal zurück und suchte unter den Reisenden die Dorflehrerin Katja, um ihr den schweren Bücherstapel abzunehmen und ihn selbst zu tragen, aber die hellblonde Frau war nirgends zu sehen.
Und plötzlich dröhnte etwas wie Donner, und die Erde erbebte unter den Füßen des Engels und der anderen. Die Frauen kreischten. Der kleinwüchsige Bucklige sprang auf einen Baum und kletterte auf den untersten Ast, die Übrigen zerstreuten sich über den Erdboden: Die einen liefen ins Feld, die anderen in den Wald. Es war unverständlich, was vor sich ging, nur ein wiederholtes dumpfes Aufprallen war zu hören, und die Erde erschauderte davon, so als ob sie bei jedem Aufprall erschrak.
Auch der Engel lief wieder zurück und versuchte immer noch, in dem beginnenden Durcheinander die Lehrerin Katja zu erspähen, aber da rannte ihn jemand beinahe über den Haufen, dann noch einer, ebenfalls nicht mit Absicht, und dieser trat dem Engel auch noch vor Schreck auf den Fuß und der Engel hörte, wie ein Knöchelchen leise knackste.
Das Donnern ging weiter, und ganz in der Nähe stürmte eine toll gewordene Kuh vorüber, ohne einen Laut von sich zu geben.
Der Engel wollte aufstehen, aber der Schmerz im Fuß hielt ihn am Boden, und er legte sich wieder auf den Rücken.
Das Donnern hielt noch eine Weile an, aber nach einiger Zeit wurde alles ruhig, und es trat eine solche Stille ein, dass es dem Engel unheimlich wurde – schließlich wusste er, dass gleich neben ihm Hunderte von Menschen, Pferden und Kühen waren, und es war geradezu unglaublich, dass diese lebhafte Versammlung vor lauter Schreck so stillhalten konnte.
Es schien, als ob der Schmerz in seinem Fuß etwas nachgelassen hatte. Der Engel versuchte, das Bein abzubiegen, was ihm auch gelang. Nur zwischen dem Knie und dem Fußknöchel schmerzte es sehr stark.
Er stand auf und kehrte humpelnd, indem er versuchte, das Gewicht so schnell wie möglich vom rechten auf den linken Fuß zu verlagern, auf den Weg zurück, wo er sich nach allen Seiten umsah.
Das gelbliche Leuchten des Mondes war hell genug, um die nächtliche Landschaft zu erkennen: Überall lagen Menschen, die sich auf die Erde pressten, sich an sie drückten und sie umarmten. Auf dem Feld streiften Pferde und Kühe umher, und hinter diesen ragte etwas in die Höhe, das einem kleinen Berg ähnelte, etwas, das es vor dem Donner auf dem Feld nicht gegeben hatte.
Die Menschen begannen sich zu bewegen und aufzustehen. In der dunklen Stille war plötzlich Seufzen und Ächzen zu hören, und wie die Frauen leise zu Gott riefen. Die Männer gingen nach und nach auf den Weg hinaus, aber längst nicht alle erhoben sich von der Erde. Viele blieben liegen, und nachdem der Engel einige mühselige Schritte auf den nächsten am Boden liegenden Menschen zugemacht hatte, bückte er sich und berührte ihn an der Schulter. Doch der Liegende rührte sich nicht.
Irgendwo in der Nähe schrie plötzlich eine der Frauen auf, aber sogleich herrschte sie jemand an, und sie hielt sich wahrscheinlich selbst die Hand vor den Mund und heulte so weiter.
Der Mann, der vor dem Engel auf der Erde lag, war tot. Neben ihm lag ein runder, schwarzer Stein, fast ebenso groß wie sein Kopf. Offensichtlich hatte ihn dieser Stein erschlagen.
„Archipka! Archipka!“, rief jemand, der zwischen den Liegenden und Stehenden auf und ab ging.
„Was ist?“, ertönte die Stimme des entflohenen Kolchosbauern zur Antwort.
„Er lebt!!!“ Jemand stieß einen Freudenschrei aus, und dieser Schrei klang geradezu unheimlich vor dem Hintergrund von lauter werdendem Weinen.
Was war das?, dachte der Engel, der er über den Toten gebeugt stand.
„Na, wie geht es dir?“, fragte der Oberdeserteur, der an den Engel herangetreten war. „Hm?“
„Ich lebe“, antwortete der Engel.
„Fedka ist tot“, teilte der Deserteur schmerzerfüllt mit.
„Wer?!“
„Na der, der mit uns vom Auto gesprungen ist und sein Gewehr beschädigt hat…“, erinnerte ihn der Deserteur.
Das Bein schmerzte den Engel wieder heftiger und er setzte sich auf den Boden.
„Was ist mit dir?“, fragte der Deserteur. „Hat’s dich auch erwischt?!“
Der Engel nickte.
„Na, dann ruh dich mal aus, ich werde dort nach dem Rechten sehen“, murmelte der Oberdeserteur. „Wir müssen ja weiter, sonst schaffen wir es nicht.“
Wieder blieb der Engel allein zurück. Die vom hellen Mondschein erleuchtete Nacht verbarg nicht, was vor sich ging. Der Engel sah, wie die Menschen die am Boden Liegenden emporhoben und sie an einem Ort zusammenbrachten, wie die Stachanow-Bauarbeiter gleich neben der Straße eine große Grube auszuheben begannen und wie ein Bauernweib sich auf einen der auf der Erde Liegenden warf und nicht zuließ, dass zwei Rotarmisten ihn aufhoben, um ihn zu den anderen zu tragen. Das alles sah der Engel, aber er vermochte den Grund für das Unglück, das über sie hereingebrochen war, nicht zu begreifen. Es konnte nicht die strafende Hand Gottes sein, da der Herr gnädig war. Es konnte aber auch nicht der Teufel sein, denn der suchte sich seine Opfer aus. Nein, der Engel konnte es nicht begreifen: woher dieser Steinregen gekommen war, der ihre Reise aufhielt, so als ob ihr Einzug ins Neue Gelobte Land nachdrücklich unerwünscht wäre.
Währenddessen trat die Nacht ihren Rückzug an. Aus der Tiefe des Himmels kamen die ersten Strahlen zum Vorschein. Und die Sterne verblassten, sie vergingen, als ob der Himmel sie aufgenommen hätte in seinen blauen Stoff, und nichts blieb stattdessen zurück.
Ein Windhauch strich über die Baumkronen des Waldes und raschelte in den Blättern. Die Vögel sangen. Beinahe schon lautlos weinten die Frauen und Greisinnen, die neben den Toten auf der Erde saßen. Erschöpft waren die am Leben Gebliebenen am Waldrand eingeschlafen, unter ihnen auch Archipka-Stepan.
Alles auf der Erde war gut und vom Standpunkt der Natur aus schön. Zwischen den Feldern ragte ein schwarzer Fels empor, dessen Seiten abgesplittert waren – ein Eindringling aus jenseitigen, unbegreiflichen Welten. Vielleicht ein Splitter eines erloschenen und erstarrten Sterns, vielleicht auch etwas anderes. Und wie große Hagelkörner lagen um ihn herum Hunderte ebenso schwarzer runder Steinchen, deren Größen von einer Kinderfaust bis zu einem Bärenkopf reichten.
Die Sonne ging auf und ihre Strahlen senkten sich auf die Hagelkörner aus Stein herab und ließen neue Schatten in recht unbedeutendem Ausmaß entstehen. Nur der Schatten des Felsens breitete sich ausladend über den Erdboden aus, und bis zu zwanzig Menschen hätten darin Platz gefunden, hätte man sie dort in einer oder vielleicht zwei Reihen hingelegt.
Der Engel schlief, aber der Schmerz des verstauchten Fußes drang bis in seinen Traum vor und so träumte er, dass er ein Ziehen in seinem Fuß verspürt und dass er, während er versucht irgendwohin zu gehen – wahrscheinlich in eben dieses Neue Gelobte Land –, sich quält und jeden Schritt, den er in die gewünschte Richtung tut, mit schrecklichen Schmerzen bezahlt. Und wegen dieser Schmerzen sieht er nichts und niemanden um sich herum, denkt nur an eines, das ihm Sorge macht: nicht hinter den anderen zurückzubleiben, nicht den Anschluss zu verlieren. Und er geht tatsächlich in völliger Einsamkeit dahin und sein einziger Begleiter ist der Schmerz, der schrecklich ist und quälend, aber der Engel kann ihn nicht loswerden.
Inzwischen stieg die Sonne immer höher und die Schatten wurden kürzer. Nach und nach erwachten einer nach dem anderen die, die am Leben geblieben waren: die Rotarmisten, die Bauern und die Bauarbeiter. Sie suchten die Zusammenkunft, um über das tragische Geschehen zu sprechen, sie versuchten, einen Grund dafür zu finden oder auf andere Art den Tod der Gefährten zu erklären. Aber sie konnten keine Erklärung finden, mit der alle einverstanden waren.
Der Engel schlief immer noch. Er lag im Schatten einer hohen Tanne verborgen, den die Sonne noch nicht zurückgedrängt hatte.
„Archipka! Wo ist Archipka?“, fragte einer der Männer laut, der eine schmutzige, mit getrocknetem Lehm verschmierte Wattejacke trug.
„Was ist?“, antwortete Archipka-Stepan mit heiserer Stimme, offensichtlich hatte er sich nachts eine Erkältung auf dem kühl gewordenen Erdboden geholt, auf dem er geschlafen hatte.
„Gehen wir!“, sagte der Mann. „Du wirst gebraucht. Du musst entscheiden, wie wir die Unsrigen hier begraben und was wir weiter tun sollen.“
Archipka-Stepan ging mit.
„Da ist er, lasst Archipka durch!“, übertönte der kleinwüchsige Bucklige die sich streitenden Menschen mit lauter Stimme. „Er soll entscheiden!“
Man ließ Archipka in die Mitte durch und schon wurde er dort mit Fragen überhäuft, aber es herrschte ein derartiges Stimmengewirr, dass der entflohene Kolchosbauer, der den Weg ins Neue Gelobte Land kannte, durcheinandergeriet und kein Wort sagte.
„Einer nach dem anderen!“, bat er, als der Chor verstummte.
„Wie sollen wir sie beerdigen? Mit einer Gewehrsalve oder sollen wir einen Popen suchen für den letzten Segen?“, brachte einer der Rotarmisten rasch vor.
Archipka-Stepan dachte lange nach. Dann sagte er:
„Sowohl eine Salve als auch den Segen, damit es ehrenvoll ist.“
„Und begraben? Alle auf einmal oder sollen wir hier einen Friedhof errichten?“, ertönte die nächste Frage.
Archipka-Stepan begriff, dass es keine leichte Sache war, die Wertschätzung seiner Mitbürger zu genießen. Wäre er jetzt einfach nur ein entflohener Kolchosbauer, dann würde ihm niemand so schwierige Fragen stellen und vor allem keine verbindlichen Antworten verlangen.
„Lasst mich ihm helfen!“, schlug plötzlich der kleinwüchsige Bucklige der Menge vor und drängte sich näher zu Archipka hin.
„Wer bist du denn? Sein Bruder etwa?!“, fragte einer der Stachanow-Arbeiter unfreundlich.
„Ich war Buchhalter“, antwortete der Bucklige mit unverhohlenem Stolz auf seine Vergangenheit.
„Archipka soll entscheiden, ob er dich als Gehilfen haben will!“, meinte einer der Rotarmisten schon etwas versöhnlicher.
„Ja, er soll mein Gehilfe sein!“, antwortete Archipka-Stepan erfreut.
„Na dann los, hilf mal schnell!“, sagten sie zu dem buckligen Buchhalter.
„Also, wie war die Frage noch einmal? Wie man sie begraben soll?“, fragte der Bucklige nach. „Also, ich denke Folgendes: Wir müssen die Verstorbenen für drei Gruben vorsortieren, die Rotarmisten zu den Rotarmisten, die Bauarbeiter zu den Bauarbeitern und die Kolchosbauern zu den Kolchosbauern. Dann machen wir eine Bestandsaufnahme und graben sie gemeinsam ein, damit wir wissen, wer wo liegt.“
„Die Sache kann sich sehen lassen!“, stimmte einer der Kolchosbauern ihm bei.
„Und die Frauen?“, fragte einer. „Wo graben wir die Frauen ein? Es sind doch alles Bäuerinnen…“
„Aber es gibt ja gar keine Frauen dort!“, gab ein anderer zur Antwort.
„Was heißt, es gibt keine? Wurde denn keine einzige getötet?!“, wunderte sich ein Dritter laut.
Ein Rotarmist stieg zu den Toten hinunter, schaute nach und bestätigte, als er zurückkam: „Ja, es gibt keine Frauen, nur Männer.“
Die Leute zuckten vor Verwunderung mit den Achseln.
„Also was ist, graben wir?!“, tat der bucklige Buchhalter einen Appell.
Die Bauarbeiter nahmen die Schaufeln zur Hand und machten sich wie gewohnt an die Arbeit, so als würden sie die Grube für ein Fundament ausschaufeln.
Die Grube wurde zusehends tiefer. Die Erde war weich und nachgiebig und auch erstaunlich leicht, woraus die Bauarbeiter schlossen, dass es bis zum Neuen Gelobten Land gar nicht mehr weit sein konnte.
Der Engel erwachte und stand auf. Er blickte um sich, und als er die Bauarbeiter bei der Arbeit sah, ging er zu ihnen.
„Wo warst du denn?“, rief ihm der Oberdeserteur zu, der das Entstehen der Gemeinschaftsgräber gleichfalls verfolgte.
„Ich habe geschlafen“, antwortete der Engel.
„Jetzt gibt es die Beerdigung. Wir begraben sie, dann können wir noch schlafen, bis es dunkel wird, und in der Nacht kommen wir bestimmt schon an Ort und Stelle an. Was denkst du?“
„Wir werden ankommen!“, antwortete der Engel überzeugt, denn er selbst glaubte fest daran, das Neue Gelobte Land zu erreichen.
Die Gruben waren schnell ausgehoben, und alle machten sich gemeinsam daran, die Toten auseinanderzusortieren.
Und da stellte sich noch etwas heraus, das alle in großes Erstaunen versetzte – unter den Toten befand sich kein einziger Kolchosbauer. Das gefiel den Rotarmisten und Bauarbeitern nicht besonders; sie sahen die Bauern mit schiefem Blick an, aus dem deutlich der Unmut sprach.
„Vielleicht haben sie die ihrigen in der Nacht begraben, so wie es sich gehört?“, mutmaßte plötzlich der Rotarmist Trofim, der stark unter dem Tod seines Kameraden Fedka litt.
„Aber nein, wir haben niemanden beerdigt…“, gab einer der Bauern zur Antwort.
„Und weswegen haben dann eure Frauen die ganze Nacht so geheult?“, versetzte ein anderer Rotarmist sogleich, so als ob er jenen an die Wand stellen wollte.
„Na, wegen euren Toten!“, antwortete der Bauer. „Ihr seid doch ohne eure Frauen gekommen, eure Toten haben niemanden, der um sie trauert, also haben sie es getan!“
Diesen Worten wurde offenbar Glauben geschenkt und über dem Feld hing eine beklemmende Stille, wie sie bisweilen auf herbstlichen Friedhöfen entstehen konnte.
In dieser Stille trug man die Toten aufgeteilt zu den beiden Gruben und es stellte sich heraus, dass elf Rotarmisten umgekommen waren und acht Bauarbeiter, und unter diesen acht war auch der Brigadier, der die schriftlich niedergelegten Geheimnisse der Bauweise von Kuhställen und Wohnhäusern gekannt hatte.
„Wir müssen eine Kundgebung abhalten, wie es sich gehört…“, sagte der Rotarmist Trofim unsicher, aber in bestimmtem Ton. „Um unseren Schmerz auszusprechen.“
Verhalten bekundeten die Rotarmisten ihre Zustimmung. Die Bauern schwiegen, da ihnen der Charakter einer Kundgebung nicht klar war. Versammlungen kannten sie, aber Kundgebungen wurden in Kolchosen noch nicht abgehalten.
„Na, dann will ich beginnen!“, verkündete der Rotarmist Trofim, der Mut gefasst hatte, und sogleich rückten die Menschen von ihm ab und formten einen Kreis, in dessen Mitte der Rotarmist stand.
„Ich bin kein Meister im Sprechen… Mir fällt das Sprechen schwer, aber ich trauere sehr um meinen Genossen Fedka, der letzte Nacht für die gerechte Sache gestorben ist… Und obwohl wir nicht wissen, wer unsere Genossen umgebracht hat, schwöre ich im Namen der Roten Armee vor dem Volk, dass ich den Feind, der diese schmutzige Sache getan hat, finden und mich an ihm rächen werde.“
Nachdem Trofim geendet hatte, verließ er die Mitte des Kreises von Menschen, welcher nun leer blieb. Die Menschen trauerten schweigend und gedachten der Verstorbenen.
„Einer der Bauarbeiter soll etwas sagen!“, sagte ein junger Rotarmist leise, auf dessen Uniformjacke ein Orden glänzte.
Ein älterer Arbeiter trat langsam in die Mitte des Menschenkreises.
„Ich… ich habe nie gelernt, schön zu sprechen… Aber mir kommen die Tränen, wenn ich an meine Genossen denke, und deshalb möchte ich ihre Namen aufsagen, damit alle wissen, wen wir heute beerdigen: Das sind Prochorow Stepan, Kirill Putilzew, Safronow Pawel, Ryschkow Iwan, Bogoduchow Iwan, Strelzow Grigorij, Kusnezow Maksim, Brigadier Schubin Boris… Wir schließen uns natürlich den Worten des Rotarmisten an, und da wir nur Bauarbeiter sind, bitten wir die Rote Armee, sich auch für unsere Genossen, die unverdient gestorben sind, am Feind zu rächen. Und wir selbst versprechen, dass wir, sobald wir das Neue Gelobte Land erreicht haben, ein Denkmal für unsere Genossen errichten werden, für die Bauarbeiter und die Rotarmisten, ein Denkmal, das Jahrhunderte dort stehen soll, und wir werden die Namen aller Genossen, die wir heute hier begraben, darin einmeißeln…“
Nachdem er zu Ende gesprochen hatte, kehrte der Bauarbeiter an seinen Platz zurück, und wieder blieb die Mitte des Kreises leer und die Menschen standen stumm da und fühlten, wie die Trauer in der Welt rings um sie anschwoll und wie der Wind verstummte, um den menschlichen Kummer nicht durch das Rascheln der Blätter und Grashalme zu stören.
„Ach, hätten wir doch einen Popen, dann könnt er sie segnen!“, seufzte einer der Bauern laut.
„Und ein Engel, geht auch ein Engel?“, fragte der Oberdeserteur. „Einen Engel haben wir ja hier unter uns!“
Da begannen sich alle erstaunt umzudrehen. Schließlich hatten sie nicht gewusst, dass sich ein Engel unter ihnen befand.
Und der Oberdeserteur trat an den Engel heran, drängte ihn in die Mitte des Kreises und sagte:
„Na los, sag irgendetwas!“
Da stand der Engel und sah die Leute an, die ihn umgaben. Er dachte kurz nach. Dann beschloss er zu sprechen, und er hoffte dabei auf die Verständigkeit seiner Zuhörer und auf ihr Streben nach Gerechtigkeit.
„Ich freue mich, bei euch zu sein“, sagte er mit halblauter Stimme, aber da es still geworden war, konnten ihn alle gut hören. „Denn dort im Himmel hält man dieses Land für schrecklich sündig… Man kann dort nicht verstehen, warum die Menschen aus diesem Land nach dem Tod nicht ins Paradies kommen. Ich verstehe das auch nicht. Ich sehe doch, wie ihr euch um ein gerechtes Leben bemüht, wie ihr auf diesem dornenreichen Weg eure Brüder verliert… Ich bin sicher, dass ich diesen schwierigen Weg mit euch gemeinsam bis zum Ende gehen werde, und gemeinsam werden wir nach einem Leben in Gerechtigkeit und ohne Sünde an das Tor des Paradieses gelangen, und dann wird mir vergeben dafür, dass ich von dort weggegangen bin, und ihr werdet aufgenommen werden als die am meisten geschätzten neuen Himmelsbewohner…“
Als er seine Worte beendet hatte, blickte sich der Engel um und sah Tränen in den Augen vieler Männer und Frauen und ein verlegenes, fast freudiges Lächeln auf ihren Gesichtern, das den Traum vom Paradies widerspiegelte, der so bald Wirklichkeit werden konnte. Und er erblickte die Lehrerin Katja, deren Gesicht etwas strenger war als das der übrigen, aber als sich ihre Blicke trafen, schien es dem Engel, als ob ihr Gesichtsausdruck milder würde und gütiger.
Er verließ die Mitte des Kreises und damit endete die Trauerkundgebung. Die Rotarmisten schlichteten die ihrigen auf dem Boden des Gemeinschaftsgrabes, und die Bauarbeiter taten dasselbe. Sie schütteten Erde darüber und formten Hügel über den beiden Gräbern. Auf dem einen befestigten sie eine Budjonny-Mütze, die sie mit einer Schnur an den gefällten Stamm eines jungen Ahorns banden. Auf dem anderen pflanzten sie eine Birke, die sie gleich in der Nähe im Wald ausgegraben hatten.
Zum Zeichen des letzten Grußes gaben die Rotarmisten Gewehrsalven ab. Danach ließen sie sich im Wald zu einem Mahl nieder. Die Frauen reichten Krüge mit Milch herum: Sie hatten die auseinandergelaufenen, über die Felder verstreuten Kühe selbst eingefangen. Von den Pferden kehrten nur zwei zu den Rotarmisten zurück, die anderen hatte der Schreck offenbar so weit fortgejagt, dass sie nicht zurückkamen.
Archipka-Stepan, der Engel, der Oberdeserteur, Trofim und der bucklige Buchhalter aßen gemeinsam.
Ein kleiner Mann in einer schmutzigen Wattejacke ging von einer Gruppe zur nächsten. In der Hand hielt er eine große Flasche mit Selbstgebranntem und er schenkte allen ein, die etwas zum Einschenken hatten, und sagte dazu: „Im Gedenken an die unsrigen…“
Noch schien die Sonne, aber die Schatten wurden schon länger und der Abend rückte näher. Die Erde bereitete sich auf ihren nächtlichen Schlaf vor.
Der Rotarmist Trofim dachte immer wieder an seinen Gefährten. Er lag abseits im Gras und weinte. Man ließ ihn in Ruhe und nur von Zeit zu Zeit warf man mitleidige Blicke in seine Richtung.
Auf dem immer noch hellblauen Himmel funkelten einige Sterne und im Osten zeigte sich der Mond, rund wie das paradiesische Weizenbrot und von derselben goldenen Farbe.
Der Engel betrachtete ihn, während er das grobe Schwarzbrot aus den bäuerlichen Vorräten kaute, das zäh und hart war und so gebacken, dass man es zwei Wochen lang essen konnte. Dabei dachte er über das Glück nach und versuchte eine betörende und unbescheidene Vorstellung zu verdrängen, ein sehnsüchtiges Bild seiner Fantasie, das zeigte, wie er mit der Lehrerin Katja in die Paradiespforten eintrat. Er drängte dieses Bild jedoch immer weiter zurück und verjagte es schließlich gänzlich, da ihm zugleich einfiel, dass diese betörende Vorstellung für Katja nichts Gutes bedeuten würde. Denn damit sie so schön, wie sie jetzt war, mit ihm die Paradiespforten durchschritt, müsste dieses hellblonde Mädchen jung sterben und könnte das Ausmaß eines ganzen Erdenlebens nicht erfahren. Und als er das begriffen hatte, erschrak der Engel vor seinen Gedanken, wünschte Katja ein langes Leben und versank in Gedanken über die vor kurzem stattgefundene Kundgebung, auf der er gesprochen hatte, über die ausgehobene und teilweise leer gebliebene Grube, weil der himmlische Steinregen wählerisch gewesen war und nur Bauarbeiter und Rotarmisten getötet hatte.
Der Abend senkte sich immer tiefer herab und machte dem bereits dunklen Himmel mit einem Haufen von Sternen Platz, die aus ihrem Tagesschlaf geweckt worden waren.
„Aufstehen! Aufstehen!“, brüllte plötzlich Archipka-Stepan, der sich erhoben hatte und mit dem Zeigefinger nach oben wies. „Man kann ihn schon sehen! Aufstehen!“
Die Menschen begannen sich zu regen, sammelten ihre Sachen zusammen und machten sich zum Aufbruch bereit. Einige aßen noch eilig zu Ende.
Allmählich waren die Menschen reisefertig, traten auf den Weg hinaus, der zwischen den Feldern und dem Wald lag, warfen zum Abschied einen Blick auf die beiden frischen Gemeinschaftsgräber, verbeugten sich vor ihnen, und nachdem sich Archipka-Stepan an die Spitze der schlecht organisierten Kolonne begeben hatte, setzten sie sich in Bewegung.
Neben Archipka-Stepan schritten der Oberdeserteur und der bucklige Buchhalter dahin und etwas abseits davon ging Trofim mit müdem Schritt. Der Engel, der sich in die Mitte der Kolonne gedrängt hatte, half Katja, ihre Bücher zu tragen, wobei er nicht mit ihr sprach und nicht einmal ihre seitlichen Blicke erwiderte, die voller Neugier waren. Sie selbst unternahm freilich den Versuch, mit ihm ins Gespräch zu kommen, das heißt, sie stellte dem Engel eine Frage:
„Du glaubst also, dass es Gott gibt?“
Selbstverständlich musste dem Engel diese Frage seltsam vorkommen, und er schwieg. Neue Fragen folgten jedoch nicht, und so gingen sie schweigend dahin unter den nächtlichen Sternen und hörten der dumpfen Musik der unbefestigten Straße zu, über die Hunderte trotziger Schuhsohlen stampften.
Der Mond, voll und rund wie das paradiesische Weizenbrot, zog gemächlich über den Himmel. Die achte Nacht der Reise dauerte fort. Die Kräfte ließen nach, und nur der unermessliche menschliche Traum und der Glaube an ein baldiges Ende des Weges ließen die Menschen ihre von der langen Reise schwer gewordenen Beine weiterbewegen.
Plötzlich blieb Archipka stehen, und auch die Menschen hinter ihm hielten an. Die Hinteren stießen an die Rücken der Vorderen und die Kolonne geriet in Verwirrung, da niemand verstand, warum sie stehen geblieben waren.
Archipka-Stepan stand da und versuchte etwas zu sagen, aber seine Zunge gehorchte ihm nicht, wie es nötig gewesen wäre, und so zeigt er nur mit dem Finger der rechten Hand nach oben in den dunkelblauen Himmel. Und jene, die neben und hinter ihm stehen, schauen in den Himmel und sehen zu ihrem Schrecken, wie ein winziger Stern die Himmelskuppel hinab zieht, vor ihren Augen seinen Glanz verliert, sich daraufhin losreißt und nach unten fliegt. Es kommt ihnen zunächst so vor, als ob er direkt auf sie zuflöge, aber knapp über der Erde erlischt der Stern, und da entringt sich der Brust des entflohenen Kolchosbauern ein lauter Klageruf: „Archipka-a-a!“ Und alle beginnen zu verstehen, was in dieser achten Nacht auf dem riesigen wolkenlosen Himmel passiert ist. Und Tränen steigen in den Augen Vieler auf, und die Frauen flennen wieder, aber dieses Mal weinen sie nicht mehr um die Toten, sondern um die am Leben Gebliebenen, die zurückgeblieben sind.
„Was ist, was hast du?“, fragt der Oberdeserteur mit bebender Stimme den benommenen Archipka-Stepan.
„Abgestürzt…“, stammelt der entflohene Kolchosbauer klagend.
„Ja und?“, fragt der Oberdeserteur. „Hast du gesehen, woher er abgestürzt ist?“
„Ja“, nickt Archipka-Stepan.
„Auch ich hab es gesehen!“, sagt der bucklige Rechnungsführer.
„Ich auch! Ich auch!“, lärmen von hinten Stimmen von Männern und Frauen.
„Na dann gehen wir dorthin! Klar?“, fragt der Oberdeserteur.
Archipka-Stepan nickt.
„Na dann, geh los!“, befiehlt der Deserteur. „Sonst meutern die Leute! Wofür sind denn ihre Genossen gestorben?“
Und die schlecht organisierte Kolonne setzt sich aufs Neue langsam in Bewegung; verschiedenstes Schuhwerk sowie die Hufe der Kühe stampfen auf dem Weg, und die beiden Pferde, die von selbst zu den Menschen zurückgekehrt waren, gehen gehorsam ohne Reiter am Rand des Feldes entlang.
Nach einiger Zeit führt die unbefestigte Landstraße nach links, die Menschen gehen jedoch weiter geradeaus, und nun haben sie bereits das Feld unter ihren Füßen, weich und nachgiebig, und vor ihnen liegen waldbedeckte Hügel. Und entschlossen führt sie der entflohene Kolchosbauer zum Ziel, ohne seinen Blick von jener Stelle am Himmel, von jener verwaisten schwarzen Lücke zu wenden, die noch vor kurzem der Stern Archipka ausgefüllt hat. Er führt sie und ist immer verbissener und stärker überzeugt davon, dass er sie auch ohne Stern ins Neue Gelobte Land führen wird, wo sie für immer bleiben werden. Und wenn sie von dort überhaupt wieder weggehen, dann nur ins Paradies.