Kapitel 29

In der Schule wurden Vorbereitungen für den Festtag getroffen.

„Mehr nach links, nach links!“, kommandierte Vizedirektor Kuschnerenko die beiden älteren Schüler, die ein Spruchband mit der Aufschrift „Unser Wissen für das Vaterland!“ gegenüber vom Haupteingang aufhängten. „So… hervorragend!“

Sie hatten noch viel Arbeit vor sich. Es wäre gut, wenn wir bis zum Abend fertig würden, dachte der Vizedirektor, wenn nicht, dann müssen wir auch noch nachts weiterarbeiten. Schließlich ist noch nicht einmal das Erdgeschoß fertig, dann noch drei Stockwerke und auch noch die Klassenzimmer und die Fassade der Schule…

Banow saß in seinem Büro und dachte angestrengt nach.

Da läutete das Telefon.

Ein Beamter vom Narkompros ließ ihn wissen, dass ein Bote mit einem „Fest-Attribut“ zur Schule unterwegs war. Er verabschiedete sich rasch und legte auf.

Banow verzog den Mund. Er wusste nicht, was unter einem „Attribut“ zu verstehen war, und vielleicht hatte er deshalb den Eindruck, als habe der Beamte am Telefon mit unverhohlener Herablassung mit ihm gesprochen.

Ohne anzuklopfen kam Vizedirektor Kuschnerenko ins Zimmer. Er sah Banow bekümmert an.

„Möglicherweise haben wir nicht genug Nägel!“, sagte er.

„Sie müssen reichen“, entgegnete der Schuldirektor nicht wenig erstaunt. „Sag mir am Nachmittag Bescheid, wenn wir wirklich zu wenig haben, dann fragen wir bei der Baustelle!“ Banow deutete mit dem Kopf zum Fenster, wo eine neue Ziegelmauer zu sehen war, die zu einem im Entstehen begriffenen Gebäude gehörte.

Kuschnerenko verließ das Zimmer.

Während Banow auf den Boten wartete, trommelte er mit den Fingern auf den Tisch. Auf dem Gang war Lärm zu hören. Er hatte Lust auf Tee.

Da klopfte es an der Tür.

Der Lehrer Moschajkin kam herein und hielt ein Porträt von Kalinin in der Hand. Er grüßte und tastete mit seinem Blick die Zimmerwände suchend ab.

Banow blickte ihn verwundert an.

„Genosse Direktor…“, sagte Moschajkin, „wir müssen es aufhängen. Es wurde angeordnet, dass es in der Direktion ein Porträt geben muss…“

Banow biss sich auf die Unterlippe und ließ seinen Blick ebenfalls über die Wände des Zimmers wandern: Es gab drei Wände, an der einen hing das Dserschinskij-Porträt, an der zweiten die Uhr und an der dritten stand ein Bücherregal.

Der Lehrer schwieg bedrückt und wartete auf die Entscheidung des Direktors.

Währenddessen überlegte Banow, was er tun sollte. Dserschinskij abnehmen und an seiner Stelle Kalinin aufhängen? Oder die Uhr von der anderen Wand nehmen und das Bild dorthin hängen? Wieder klopfte es an der Tür. Dreimal.

Ein Beamter des Narkompros vom Rang eines Oberleutnants kam herein. Er hatte eine ziemlich große, versiegelte Sperrholzkiste bei sich, die er auf den Tisch des Direktors stellte. Hierauf bat er Banow, eine Empfangsbestätigung zu unterschreiben. Dann salutierte er und ging.

Banow sah zuerst die versiegelte Kiste an, dann den Lehrer Moschajkin, und der Lehrer begriff.

„Entschuldigen Sie“, sagte er, „ich lasse das hier… Sie haben zu tun…“

Nachdem Moschajkin das Kalinin-Porträt ans Bücherregal gelehnt hatte, verließ auch er das Zimmer.

Nunmehr allein stellte Banow erst einmal den Teekessel auf den Petroleumkocher. Dann brach er das Siegel der Kiste. Er fand einen Karton mit der Aufschrift: „Abzeichen ‚Roter Spender‘ – 1000 Stück“ darin, daneben lagen als verschnürtes Päckchen mit derselben Aufschrift die Vergaberichtlinien sowie noch ein ähnliches Päckchen, das die Noten und den Text des neuen Liedes von Orlow-Nadeschin „Der jugendliche Spender“ enthielt.

Banows Gedanken kehrten zum Kalinin-Bild zurück. Er wollte dieses Problem so schnell wie möglich lösen, um dann in Ruhe eine Tasse Tee zu genießen. Und wenn ich ihn einfach neben Dserschinskij hänge?, überlegte Banow, und dieser Gedanke schien ihm ganz vernünftig. In der Tischlade fand er eine Schachtel mit Nägeln und einen kleinen Hammer. Dann stellte er sich auf den Stuhl und schlug einen Nagel in die Wand – genau auf der Höhe von Dserschinskijs Nase, nur etwas weiter rechts, einen halben Meter neben dem Porträt dieses Ritters der Revolution.

Nachdem Kalinin an der Wand hing, ging Banow zum Bücherregal und betrachtete von dort aus die beiden Porträts.

Ja…, dachte er und seufzte in Gedanken. Sie sehen ja aus wie Brüder! Sie sind einander doch sehr ähnlich!

Dann bemerkte er, dass das Dserschinskij-Porträt ein wenig höher hing als das Kalinin-Porträt, aber er unternahm nichts dagegen.


Die Zeit verging langsam. Die Herbstsonne, die manchmal hinter den Wolken hervorschien, malte das Quadrat des Fensters auf den Boden des Zimmers.

Schon schmückten im ersten Stock Spruchbänder den blitzblank geputzten Korridor. Vor der Tür der Direktion war es still geworden. Bevor Kuschnerenko mit dem zweiten Stock begann, schaute er bei Banow vorbei, um ihm mitzuteilen, dass die Nägel reichen würden.

Alles war gut.

Dem Direktor blieb nichts zu tun, und so las er die Vergaberichtlinien „Roter Spender“ und dann auch noch das Lied des Komponisten Orlow-Nadeschin.

Eine Richtlinie wie jede andere, dasselbe gilt auch für das Lied. Nicht besonders neu, dachte Banow.

Wieder klopfte es an der Tür.

Herein trat ein Mann in fortgeschrittenem Alter mit graumeliertem Haar. Er war sorgfältig und auffällig gekleidet und blieb in der Mitte des Zimmers stehen.

Banow blickte ihn fragend an und wartete darauf, dass er etwas sagen würde, aber der Mann sah Banow einfach nur an. Mit einem Mal kamen dem Schuldirektor die Augen des Mannes bekannt vor. Es waren müde, zusammengekniffene Augen.

„Sind Sie Genosse Banow?“, beendete der Mann das Schweigen.

„Ja“, antwortete der Direktor.

„Mein Name ist Karpowitsch“, sagte der Mann. „Wasilij Karpowitsch…“

Banow drehte den Kopf ein klein wenig zum Fenster und sah Karpowitsch aus den Augenwinkeln an, um ihn genauer betrachten zu können.

Karpowitsch, Karpowitsch…, wiederholte der Schuldirektor in Gedanken.

„Im neunzehner Jahr bei Jekaterinoslaw… Erinnern Sie sich, ich habe Ihnen Munition gebracht… zwei Kisten… auf den Glockenturm. Außerdem hat sich die Verriegelung Ihrer ‚Maxim‘ verklemmt.“

Diese Hinweise brachten Banow den Vorfall wieder deutlich in Erinnerung und auf seinem Gesicht erschien ein Lächeln.

„Setzen Sie sich!“, sagte er zu Karpowitsch. „Wollen wir Tee trinken?“

Karpowitsch lächelte erleichtert und nickte.

Der Schuldirektor holte zwei Tassen. Der Teekessel stand bereits auf dem Petroleumkocher am Fensterbrett, der nur noch etwas gerüttelt und angezündet werden musste.

„Vor kurzem las ich in der Zeitung von dieser Schule und plötzlich sehe ich – Schuldirektor W. Banow…“, erzählte Karpowitsch. „Also habe ich beschlossen, dich ausfindig zu machen und herauszufinden, ob das du bist. Entschuldige, dass ich gleich zum ‚Du‘ übergegangen bin, vielleicht…“

„Aber nein, hör auf!“, unterbrach ihn Banow. „Wir sind doch keine Wichtigtuer! Wo bist du eigentlich jetzt?“

„Hier, in Moskau. Irgendwie hat es bei mir beruflich nicht so geklappt nach dem Krieg… Ich arbeite als Hausmeister im Kreml…“

„Im Kreml?!“, wiederholte Banow. „Und du sagst, dass es nicht geklappt hat!“

„Naja…“, zuckte Karpowitsch die Achseln. „Hausmeister klingt nicht so besonders. Obwohl natürlich nicht jeder Dahergelaufene im Kreml als Hausmeister eingestellt wird… Ich kenne dort schließlich arbeitsbedingt verschiedenste Geheimnisse. Ich habe sogar im NKWD eine Verschwiegenheitserklärung abgeben müssen.“

„Da siehst du mal“, sagte Banow ernst. „Bei mir gibt es überhaupt keine Geheimnisse, musst du wissen, in der Schule geht es nur um Kinder und Lehrer, kurz gesagt um den Lehrbetrieb. Es ist oft entsetzlich langweilig. Oft sehne ich mich zurück auf den Glockenturm und…“

„Ja“, nickte Karpowitsch. „Das passiert mir auch… Da kehrt man so vor sich hin, und plötzlich kommt es einem einen Moment lang so vor, als hätte man keinen Besen in der Hand, sondern ein Gewehr…“

Karpowitsch seufzte und blickte auf den Teekessel. Dann sagte er:

„Das Wasser kocht!“

„Bist du verheiratet?“, fragte Banow.

„Nein. Das hat auch nicht geklappt… Als ich im Krieg war, hatte ich eine Frau… Und du?“

„Ich auch nicht“, antwortete der Schuldirektor nach einer kurzen Pause.

„Weißt du was“, senkte Karpowitsch plötzlich die Stimme. „Ich werde dir als altem Kampfgenossen ein Geheimnis erzählen…“

Banow fühlte sich unbehaglich. Er bekam Angst um Karpowitsch, schließlich hatte dieser eine Erklärung abgegeben, und nun wollte er dagegen verstoßen. Allerdings weckte das Geheimnis, worum auch immer es gehen mochte, Banows Neugier. Er hatte die Langweiligkeit des Lebens satt.

„Naja, weißt du… er lebt!“ Karpowitsch flüsterte nun leise.

„Wer?“

„Na er, du weißt schon: Er lebte, er lebt, er wird leben… na der Kremlträumer… so nennt man ihn dort unten!“

„Unten?“ Banow bohrte nachdenklich in seinem Ohr, dann blickte er Karpowitsch fragend an. „Wo unten?“

Karpowitsch seufzte tief. Es war offensichtlich, dass er nicht vorgehabt hatte, mehr preiszugeben, als er bereits getan hatte, aber er beschloss, seinem verständnislosen Kampfgenossen entgegenzukommen, und flüsterte:

„Unter dem Kreml…“

„Lass uns Tee trinken, er hat bereits gekocht…“, stammelte der verblüffte Banow.

Nach alter Gewohnheit blies Karpowitsch vor jedem Schluck lange auf den Tee. Er nahm immer zwei Stück Zucker auf einmal und schluckte sie, wie Banow schien, ohne zu kauen.

Banow machte sich die Stille zunutze, um über das Geheimnis nachzudenken, das er soeben erfahren hatte. Kann es denn stimmen, dass er wirklich lebt?, dachte er. Aber wenn es stimmt, warum wird es dann vor allen geheim gehalten? Warum versteckt man ihn? Nein, irgendetwas stimmte hier nicht, und wie die Wahrheit hörte sich das nicht an…

Offenbar hatte Karpowitsch den Zweifel in Banows Gesicht bemerkt und sagte deshalb nach dem nächsten Schluck:

„Glaubst du mir etwa nicht?“

Banow schwieg.

„Ich habe ihn schon einige Male mit meinen eigenen Augen gesehen, so wie dich jetzt. Wenn der Bote beschäftigt oder krank ist, dann bringe ich an seiner Stelle die Post, die Briefe und Pakete…“

„Und wer schreibt ihm?“, wunderte sich Banow. „Es wissen doch alle, dass er gestorben ist!“

„Nicht alle“, erklärte Karpowitsch entschlossen. „Die Bauern schreiben, die Kinder, die Arbeiter… Sie schicken sogar Pakete… Weißt du, er liebt es so sehr, Briefe und Pakete zu bekommen…“

„Und was macht er dort? Sitzt er hinter Schloss und Riegel, damit ihn niemand sieht?“

„Wieso hinter Schloss und Riegel?! Er ist immer im Grünen, auf der Wiese… Er sitzt und träumt…“

„Im Grünen… im Kreml?“ Banow riss die Augen auf, bis sie so groß wie silberne Fünfzig-Kopeken-Stücke waren.

„Im unteren Bereich des Kreml, auf den unteren Kremlwiesen… natürlich kennst du das nicht…“ Da fiel Karpowitsch plötzlich ein, dass er möglicherweise zu viel erzählt hatte. „Erzähl nur ja niemandem davon, sonst geht es mit uns ab nach Sibirien…“

Banow nickte.

„Ich muss jetzt gehen“, sagte Karpowitsch nervös.

„Komm bald wieder! Du musst mich unbedingt wieder besuchen!“, bat Banow. „Abends bin ich hier ganz allein. Wir klettern auf das Dach und dann sitzen wir dort ein wenig, wir haben hier ein gutes Schrägdach…“

„Mhm“, brummte Karpowitsch. „Schreib für alle Fälle meine Telefonnummer auf, vielleicht brauchst du einmal Hilfe.“

In der Schule war es still. Draußen wurde es dunkel, oder vielleicht waren auch nur Wolken aufgezogen.

Banow schritt den Korridor im ersten Stock entlang – alles war, wie es sein sollte: Schriftbänder, Porträts, Blumentöpfe auf den weißen Fensterbänken.

Er stieg in den zweiten Stock hinauf – dasselbe Bild. Alles sah wunderbar aus.

Auch der dritte Stock war bereit für den Festtag.

Banow stieg wieder hinunter und schloss die Eingangstür ab.

Dann kletterte er auf das Dach.

Ein herbstlicher Abend war über der Hauptstadt hereingebrochen. Es gab Wolken, die gleich Regen bringen würden. Bald würde man nicht mehr auf dem Dach sitzen können, weil es zu gefährlich war. Erst wieder im Winter, wenn der Schnee nicht mehr ganz frisch war, sondern schon ein wenig hart. Aber das konnte noch eineinhalb oder zwei Monate dauern, vielleicht sogar drei.

Zwischen der Schule und dem Erlöserturm schien Licht aus den Fenstern des vor kurzem fertiggestellten Hochhauses. Der Lärm der Stadt klang ab. Nur wenige Autos fuhren durch die nahen Querstraßen der Sretenka-Straße und tasteten dabei mit ihren Scheinwerfern den Weg ab.

Banow verspürte eine innere Ruhe und dachte an den Kremlträumer. Was Karpowitsch ihm erzählt hatte, klang wie ein Märchen, aber aus irgendeinem Grund glaubte Banow allmählich, dass das, was er gehört hatte, der Wahrheit entsprach. Vielleicht deshalb, weil er Karpowitsch als altem Kampfgenossen vom ersten Moment an vertraut hatte, obwohl sie in jenen Kriegsjahren keine engen Freunde gewesen waren. Aber nichtsdestotrotz: Wenn Karpowitsch damals bei Jekaterinoslaw nicht gewesen wäre und die beiden Kisten mit Munitionsgurten für die „Maxim“ nicht gebrachte hätte, wer weiß, wie der Kampf ausgegangen wäre. Und was für ein prächtiger Glockenturm das gewesen war! Bestimmt höher als dieses Dach, mit Sicherheit sogar!

Während Banow sich an den Glockenturm erinnerte, schnalzte er mit der Zunge. Und er sah mit einem gewissen Hochmut nach unten – zwischen ihm und dem Asphalt lagen vielleicht fünfzehn Meter. War das etwa hoch?!

* * *

Diese Nacht verbrachte der Schuldirektor in seinem Büro. Er schlief gleich im Sitzen am Tisch ein, wobei er unter seinen Kopf das weiche Lederkissen vom Sitz des Besucherstuhls gelegt hatte.

Er erwachte früh. Die Uhr an der Wand zeigte halb sechs.

Er trank Tee.

Um halb sieben kam ein Anruf aus dem Narkompros. Man wollte wissen, ob alles für den Festtag vorbereitet sei, woraufhin er antwortete: „Alles bereit.“

Dann fuhr ein Ambulanzwagen vor – die Spendebrigade.

Banow begrüßte sie, half beim Ausladen und dann gingen alle gemeinsam in das extra für die Brigade bereitgestellte Klassenzimmer. Dort wurde ausgepackt und allerlei Nadeln und Eisenkästchen mit glänzenden medizinischen Instrumenten aus Chrom kamen zum Vorschein, deren Anblick bei Banow ein gemischtes Gefühl aus Respekt und Furcht hervorrief. In einer Ecke wurden sechs große Behälter in speziellen Holzgerüsten aufgestellt.

„Na dann…“ Banow breitete die Arme aus. „Es ist also alles bereit.“

„Danke“, nickte der Leiter der Brigade, ein hagerer und ziemlich junger Mann mit einer spitzen Nase.

Die vier jungen Frauen, die mit ihm gekommen waren, zogen bereits weiße Kittel über ihre Alltagskleidung.

Über der Tür des Klassenzimmers hing das Spruchband „Unser Blut für das Vaterland!“. Als Banow es gelesen hatte, fiel sein Blick auf einen jungen Pionier, der bei der Tür stand.

„Was machst denn du so früh schon hier?“, fragte ihn Banow.

„Ich möchte der Erste sein!“, sagte der Junge ent-schlossen.

„Ein guter Junge!“ Banow lächelte und tätschelte den Kopf des Pioniers.

Dann ging er zurück in sein Zimmer.

Die Schule füllte sich mit Leben. Vor seiner Tür schwirrten bereits Kinderstimmen. Das Fußgetrappel auf dem Parkett des Korridors hallte als dumpfes Echo nach.

Vizedirektor Kuschnerenko trat herein, um zu berichten, dass kein Schüler fehle.

„Gut“, sagte Banow. „Den feierlichen Appell werden wir nach der Blutspende abhalten, ich unterrichte die Lehrer davon!“

Vor der Tür zum Klassenzimmer, in dem die Spendebrigade untergebracht war, stellte sich die Klasse 10A auf. Es war beschlossen worden, mit den älteren Klassen zu beginnen, denn die waren erfahrungsgemäß am ungeduldigsten.

Banow holte die Anordnung des Narkompros aus dem Tresor, die den Ablauf des landesweiten Tags der Spende betraf, um die Normwerte für die Blutabnahme an Schülern durchzusehen.

„Klassen 8–10 – 350 Milliliter

Klassen 5–7 – 250 Milliliter

Klassen 3–4 – 200 Milliliter

Klassen 1–2 – 125 Milliliter“

Nach der Durchsicht schnaubte Banow verächtlich. Die Schüler der zehnten Klasse betrachtete er immerhin als erwachsene Menschen, und Erwachsene mussten achthundert spenden.

Die Spendebrigade war gut eingespielt. Es gab keinen Augenblick des Stillstands. Die Frauen blickten nicht einmal in die Gesichter der Spender – dafür blieb keine Zeit.

Klasse für Klasse spendete Blut, kehrte dann in Reih und Glied in ihr Klassenzimmer zurück und verteilte sich auf die Schulbänke. Dann wurden die Schüler verköstigt – vor jedem standen eine Blechtasse mit Tomatensaft und ein mit Creme gefüllter Kuchen.

Banow trat auf den Korridor hinaus, um nachzusehen, wie die Sache voranging.

Vor der Tür, hinter der die Spendebrigade arbeitete, stellte sich gerade die Klasse 6B auf.

In der Schule herrschte Stille.

„Fjodor Palytsch“, wandte sich eine Schwester an den Arzt, den Brigadeleiter. „Wir wissen nicht, ob es sich hier um die Blutgruppe A oder 0 handelt…“

„Geben Sie es zur Gruppe 0!“, antwortete Fjodor Palytsch kurz, ohne von der Vene des jugendlichen Spenders hochzusehen, den er gerade vor sich hatte.

Es war kurz vor Mittag. Der Schuldirektor blickte ungeduldig auf die Uhr. Er hatte bereits dreimal Tee getrunken. Er wollte diesen feierlichen Appell so rasch wie möglich abhalten und dann alle nach Hause entlassen.

Wieder trat er auf den Korridor hinaus und erblickte beim Fenster einen kleinen Oktobristen, der weinte.

Er ging hin und beugte sich zu ihm hinab.

„Was hast du denn?“, fragte der Direktor und dämpfte dabei die Lautstärke seiner Stimme.

„Sie nehmen mir kein Blut ab!“, heulte der Junge unter Tränen.

Banow kauerte sich nieder und sah dem Oktobristen in die Augen.

„Nicht weinen, du bist doch ein Mann!“, sagte der Schuldirektor. „Und warum nicht?“

„Sie wollen nicht“, klagte der Junge.

„Na komm, wir werden das klären!“ Banow stand auf, nahm den Jungen an der Hand und führte ihn in das Klassenzimmer, in dem die Spendebrigade arbeitete.

Vor der Tür des Zimmers wartete die Klasse 1B.

Entschlossen trat Banow ein, indem er den Oktobristen hinter sich herzog, der mit dem Schuldirektor kaum Schritt halten konnte.

„Wie können Sie nur!“, wandte er sich mit aller Strenge an den hageren Brigadeleiter. „Warum nehmen Sie ihm kein Blut ab?“

„Na, sehen Sie sich ihn einmal selbst an!“, stammelte Fjodor Palytsch. „Er ist doch ganz blau, also zyanotisch! Wie können wir ihm da auch noch Blut abnehmen?“

„Sind Sie ein Kommunist?“, fragte Banow mit finsterem Blick.

„Ich bin Arzt und Kommunist“, antwortete der Brigadeleiter.

„Sagen Sie mir, was Sie in erster Linie sind, Arzt oder Kommunist? Was ist für Sie wichtiger?“

Der Arzt kaute auf seiner Lippe herum. Nach einer Minute seufzte er und sagte:

„Kommunist…“

„Also, dann nehmen Sie ihm wenigstens hundert Gramm ab!“, entgegnete der Schuldirektor und seine Stimme klang schon sanfter, denn er fand keinen Gefallen daran, so grob zu sein.

„Vera!“, drehte sich Fjodor Palytsch zu einer der Schwestern um. „Nehmen Sie ihm hundert Gramm in einen eigenen Behälter ab!“

„Geh zu Tante Vera!“, beugte sich Banow zu dem Jungen hinab, der bereits zu weinen aufgehört hatte. „Geh nur, sie nimmt dir Blut ab!“

Nachdem er in sein Zimmer zurückgekehrt war, sah er wieder auf die Uhr.

Fünfzehn Minuten nach eins.

Nur noch zwei erste Klassen, dann konnte er den Appell abhalten. Er musste jedoch auch den letzten noch zehn Minuten Zeit lassen für ihre Feiertagsjause.

Der zuvor noch in Tränen aufgelöste Oktobrist verließ nun die Spendebrigade mit einem glücklichen Lächeln auf dem Gesichtchen, während er sich die rechte Armbeuge hielt. Er ging wieder zum Fenster, blickte zum Himmel und musste gleich darauf die Augen zusammenkneifen, da ganz unerwartet ein Sonnenstrahl durch die Wolken gedrungen war.


Bald war die Blutabnahme beendet. Die Spendebrigade packte die Nadeln gemeinsam mit den anderen Instrumenten ein. Fjodor Palytsch verschloss mit desinfizierten Gummipfropfen die großen Behälter, die das gespendete Blut enthielten, da bemerkte er plötzlich ein Gefäß auf dem Tisch, das nur zur Hälfte mit Blut gefüllt war.

„Welche Blutgruppe?“, fragte er die Schwestern. „Wer hat vergessen, das dazuzuleeren?“

„Das ist von dem Zyanotiker!“, antwortete Vera. „Sie haben doch selbst gesagt, in einen eigenen Behälter.“

„Aha!“, nickte Fjodor Palytsch, ergriff das Gefäß und leerte das Blut in einen Blumentopf mit einer Aloe, der auf dem Fensterbrett stand.

Eine der Schwestern holte ein Wurstbrot aus ihrer Tasche, nachdem sie ihren Kittel ausgezogen hatte, und machte sich daran, es hinunterzuschlingen.

Fjodor Palytsch sah sie an und runzelte die Stirn, sagte aber nichts. Auch er war müde und hungrig.

Die Schüler stellten sich im ersten Stock auf und warteten auf den Beginn des Appells.

Alle waren ordentlich gekleidet und frisiert. Alles war wie immer, nur die Gesichter einiger Schüler und Schülerinnen waren etwas blass. Die Oktobristen gähnten.

Nachdem Vizedirektor Kuschnerenko dem Direktor berichtet hatte, dass alle bereit waren, verließen sie gemeinsam das Zimmer. Der Vizedirektor trug die Schachtel mit den Abzeichen.

Banow blieb in der Mitte stehen, erklärte den feierlichen Appell für eröffnet und beglückwünschte alle Schüler zum landesweiten Tag der Spende.

Hierauf traten die Klassenältesten der Reihe nach vor und meldeten:

„Genosse Direktor! Klasse 10A hat Blut gespendet!“

„Genosse Direktor! Klasse 10B hat Blut gespendet!“

Das dauerte zehn Minuten. Danach begann der wichtigste Teil als Abschluss des Festtags. Jeder Lehrer las die Liste der Schüler seiner Klasse laut vor, woraufhin jeder, sobald er aufgerufen wurde, zum Direktor ging und von ihm das Abzeichen „Roter Spender“ erhielt.

Den Karton mit den Abzeichen hielt der Vizedirektor Kuschnerenko in der Hand, und alle paar Sekunden tastete Banow ohne hinzusehen nach dem nächsten Abzeichen. Schon waren seine Finger von den Nadeln ganz zerstochen, mit denen die Abzeichen befestigt wurden. Wenn das Ganze nur so schnell wie möglich zu Ende geht!, dachte der Schuldirektor.

„Zymbaljuk Viktor!“, las der nächste Lehrer.

„Zyganok Pjotr!“

„Robert Rojd!“

Als Banow den vertrauten Namen hörte, hob er den Kopf und blickte den Schüler an, der auf ihn zusteuerte. Robert ging leichtfüßig und lächelte über das ganze Gesicht. Keinerlei Blässe, ein gesunder Bursche, dachte der Schuldirektor und lächelte ebenfalls. Seine rechte Hand griff wieder in die Schachtel und seine kribbelnden, zerstochenen Finger zogen diesmal zwei Abzeichen hervor.

Der Junge schaute Banow verwundert in die Augen, aber dieser nickte nur zur Bestätigung, dass alles seine Richtigkeit hatte. Dann drückte er kräftig Roberts Hand.

Banow war wieder bei Laune und voller Schwung. Nun teilte er die Abzeichen ohne düstere Gedanken aus und vergaß seine zerstochenen Finger, seine Müdigkeit und den bevorstehenden Herbstregen.


Bald nachdem die Ernte eingebracht war, fiel im Neuen Gelobten Land Schnee. Wie sich das für den ersten Schnee gehörte, schneite es in der Nacht, und am Morgen liefen alle menschlichen Bewohner der Ställe hinaus auf den Hof und ließen ihrer Freude freien Lauf. Der Schnee knirschte unter ihren Füßen. Das Bild der im Schnee umhertollenden Kinder und Erwachsenen ließ im Engel ein Gefühl reiner Freude aufkommen. Unter den tobenden und fröhlich lachenden Siedlern entdeckte der ehemalige Himmelsbewohner auch den Buckligen, den Ofensetzer Sachar und alle Kinder, acht an der Zahl. Auch ihn selbst drängte es, sich ihnen anzuschließen und sich mit ihnen zu vergnügen. Der Engel machte einen Schritt und dann noch einen. Dabei lauschte er dem zauberhaften, geheimnisvollen Knirschen des Schnees. In diesem Geräusch lag etwas erstaunlich Reines, ja fast Paradiesisches. In dieser Reinheit wiederum lag etwas Göttliches, und der Engel wunderte sich: Warum fiel im Paradies kein Schnee? Doch gleich darauf fand er eine Erklärung, die ihn befriedigte. Der Schnee war doch ein Zeichen von Kälte, und im Paradies war es schließlich immer warm. Es wurde nur leichte Kleidung getragen, immerzu blühten die Blumen und ringsum grünte alles. Nicht so wie hier, wo über Nacht der zwar schöne, aber todesähnliche Winter eingefallen war.

„He, Engel!“, rief einer von denen, die herumtobten. „Komm zu uns!“

Der Engel lächelte, lief zu den fröhlichen Menschen und suchte unter ihnen Katja.

Er fand sie und eilte zu ihr.

„Ah, Engelchen!“, lächelte sie. „Glückwunsch zum ersten Schnee!“

Und mit ihren roten Lippen, die ganz kalt waren, gab ihm die Lehrerin einen Schmatz auf die Wange.

Der Engel erstarrte. Katja aber entdeckte plötzlich Arbeiter, die an Seilen eine Reihe von Holzschlitten vom Schuppen herüberzogen, sie lief zu ihnen und rief:

„Lasst mich als Erste! Ich will die Erste sein!“

Als die Siedler des Neuen Gelobten Landes vom Herumtollen genug hatten, stellten sie sich in einer Reihe auf, setzten sich auf die Schlitten und rutschten mit fröhlichem „Oh!“ und „Ah!“ den Hügel hinab. Die Lehrerin Katja sauste tatsächlich als Erste auf ihrem Schlitten hinunter und lachte unter ausgelassenem Rufen.

Die Zimmermänner unter den Bauarbeitern hatten viele Schlitten gezimmert, ungefähr zwanzig Stück, aber natürlich nicht genug für alle. Die Siedler warteten geduldig am höchsten Punkt des Hügels, bis sie an der Reihe waren, um durch den Schnee zu gleiten.

Auch der Engel wartete, bis er drankam, und zum ersten Mal in seinem Leben rutschte er den von Kufen glattgefahrenen Hang hinunter.

Plötzlich erklang in der frostigen Luft das bekannte Signal und alle sahen zum Hauptstall hinüber. Dort stand die Köchin Klawa und hielt den schweren Hammer in der Hand:

„Das Frühstück wird kalt!“, rief sie, als der Klang der Eisenschiene verstummt war.

Im Hauptstall wurden alle drei Öfen geheizt. Es war warm, aber düster, denn die Petroleumlampen beleuchteten mehr sich selbst als die gedeckten Holztische, die in der Mitte standen.

Jeder setzte sich mit seiner Tonschüssel zu Tisch. Es wurde heißer Hirsebrei ausgegeben. Das Eingangstor öffnete sich und im Stall verbreitete sich ein angenehmer Duft nach geräuchertem Fleisch. Sachar und zwei Rotarmisten brachten ein im Ganzen geräuchertes Schwein herein, das sie auf eine Bank legten und sogleich zu zerteilen begannen. Die abgeschnittenen Stücke verteilten sie an den Tischen.

Der Engel saß neben Archipka-Stepan und dem Buckligen.

Archipka-Stepan schien bedrückt. Er saß unbeweglich da und starrte in seine Schüssel voll Brei.

„He, Buchhalter“, drehte sich einer der Rotarmisten zum Buckligen um. „Deine wird bald ihr Kind bekommen, oder?“

„Mhm“, bestätigte der Bucklige, während er sein Fleisch kaute.

„Meine auch“, sagte der Rotarmist und strahlte über das ganze Gesicht.

Der Engel seufzte tief.

Archipka-Stepan schaute ihn durchdringend an und blickte dann wieder auf seinen Brei hinunter.

Nach dem Frühstück zerstreuten sich die Siedler in verschiedene Richtungen. Der größte Teil von ihnen ging wieder auf den verschneiten Hof hinaus.


So vollzog sich also der erste Wintereinbruch im Neuen Gelobten Land, aber niemand fürchtete den bevorstehenden Frost und die Kälte. Speicher und Keller waren bereits voll mit Vorräten. Im Herbst, als der Fluss noch nicht zugefroren war, hatten sie in der Nähe des Räucherofens eine Blockhütte aufgestellt. Sachar lebte und arbeitete nun dort und räucherte Fleisch, Fisch und Geflügel für alle, die ihn darum baten. Auch die Bauern aus der nahen Kolchose kamen zu ihm, und von drei für sie geräucherten Hühnern überließen sie eines dem Räuchermeister, ebenso wie sie von jedem Ferkel für Sachar eine Keule abschnitten. Auf diese Weise vermehrten sich rasch die Fleischvorräte im Neuen Gelobten Land, da der Räuchermeister alles Erhaltene der Gemeinschaft zur Verfügung stellte, selbstverständlich abzüglich jenes Anteils, mit dem er den eigenen Hunger stillte. Oft klopften auch trinkfreudige Siedler an seine Tür, gewöhnlich in Begleitung des Brigadiers. Sie hatten das verständliche Verlangen nach einigen Happen dazu, und aus Dankbarkeit füllten sie bereitwillig auch Sachars Krug ein- oder zweimal mit Selbstgebranntem. Sachar trank diesen zwar nicht, nahm ihn aber an und füllte ihn in eine große Flasche, die er unter seiner Bank für alle Fälle aufbewahrte.

Wieder knirschte der Schnee unter den Füßen des Engels – er ging hinunter zum Feld. Er verspürte das Bedürfnis nach Rückzug, um aus der Ferne auf die Siedlung am Hügel zu blicken, deren Bewohner er nun war. Er wollte mit sich allein sein und über die Menschen nachdenken, bei denen er jetzt lebte. Mit jedem Atemzug, den der Engel in der frostigen Luft machte, erfüllte er seinen Körper und seine Gedanken mit frischem Mut.

Da ertönte plötzlich ein dumpfes Signal oben über dem Feld, und der Engel drehte sich um und sah, wie die Schlittenfahrer hinauf zum Hauptstall eilten. Der Engel befürchtete, dass ein Unglück geschehen war, und rannte ebenfalls los.

Der Schnee knirschte und die eisige Luft schmerzte auf seinen Wangen.

Als der Engel beim Stall angelangt war, stürzte er durch die offene Tür und blieb dort stehen, rot im Gesicht und ganz atemlos.

Vor ihm stand eine Menschenmenge im Kreis um den Ofen herum. Der Engel trat näher heran.

„Was gibt es denn dort?“, fragte er einen hinkenden Rotarmisten, der angestrengt über die Köpfe der anderen hinweg nach vorn sah.

„Ich kann nichts sehen“, antwortete der ärgerlich.

Und da hörte man von dort aus der Mitte des Menschenkreises ein Stöhnen.

„Oh Gott!“, flüsterte eine Bäuerin, die in der Nähe stand. „Hoffentlich muss sie sich nicht zu sehr quälen…“

„Stirbt jemand?“, fragte der Engel.

„Nein“, antwortete sie, ohne sich umzudrehen. „Die Frau vom Buckligen kriegt ihr Kind…“

„Da schau mal einer an!“, lächelte der hinkende Rotarmist verschmitzt, als er hörte, was dort vor sich ging, und er begann, sich nach vorne zu drängen.

Der Engel folgte ihm nach und wie durch ein Wunder schaffte er es, bis in die erste Reihe zu gelangen, wo die Siedler des Neuen Gelobten Landes in einem dichten Menschenring um die Bank herum standen, auf der die allen bekannte junge Frau mit dem rundlichen Gesicht lag. Sie lag auf dem Rücken und hielt ihren Bauch mit den Händen fest, so als hätte sie Angst, dass es ihn gleich zerreißen würde.

Neben der Bank machten sich zwei Frauen zu schaffen, aber was sie genau taten, war schwer zu begreifen. Eine der beiden legte ein graues Leintuch auf der Bank unter den Beinen der Gebärenden bereit.

Die Gebärende zuckte zusammen, packte ihren Bauch noch fester mit ihren Händen und stöhnte so laut auf, dass der Kreis von Menschen für einen Augenblick erschrocken einen Schritt zurückwich.

Der Engel entdeckte den Buckligen, der beim Ofen stand.

Inzwischen stöhnte die Gebärende noch lauter, und beide Frauen eilten zum Kopfende, beugten sich über sie, flüsterten ihr etwas zu, nahmen dann ihre Hände und pressten ihre Handflächen auf ihren Bauch.

„Pressen, pressen!“, sagte eine der beiden.

Die Gebärende versuchte es, sank aber gleich wieder mit einem Schrei auf die Bank zurück.

Da begannen die Frauen, mit den Händen den Bauch zu bearbeiten, wobei sie hin und wieder die mit weit aufgerissenen Augen an die Decke starrende Gebärende ansahen.

Der Engel fühlte plötzlich, wie ihm die Knie zu zitterten begannen, und er wandte seinen Blick von der Bank ab. Ihm wurde ganz schwindlig. Als er die Menschen betrachtete, die um die Bank herum standen, entdeckte er darunter auch Archipka-Stepan. All diese Menschen sahen so feierlich und stolz aus, dass auch der Engel von diesem ihm unbekannten Gefühl erfasst wurde. Er erstarrte und vergaß auf das Zittern in seinen Knien.

Da schrie die Gebärende auf. Wieder pressten die Frauen die Hände auf den Bauch und in diesem Augenblick rutschte ein kleines, runzliges, rotes Etwas aus dem Schoß der Gebärenden auf das graue Leintuch, und die rundherum versammelten Siedler drängten sich näher heran, um sich über das Neugeborene zu beugen und es zu betrachten.

„Wo ist das Messer?“, fragte eine der beiden Hebammen mit dünner Stimme. „Die Nabelschnur muss durchgeschnitten werden… Wir brauchen ein Messer!“

Aber niemand hörte sie. Die Menschen starrten unverwandt auf die Bank.

„Wo ist das Messer?“, rief die Frau bereits weinerlich.

Der Engel begriff, worum es ging, drängte sich durch die dichte Menge der Siedler und rannte zum Tisch hinter dem Ofen, aber dort fand er kein Messer. Er lief an den Bänken entlang, aber auch dort gab es kein Messer, und so rannte er aus dem Stall hinaus und stürzte so schnell er konnte zur Winterküche, die vor kurzem fertiggestellt worden war.

Er ergriff ein großes Handbeil, das am Tisch lag, und lief zurück. Er drängte sich zur Bank durch, wobei er die immer noch wie versteinert dastehenden Menschen aufschreckte, und reichte der Frau das Beil.

„Wir brauchen es nicht mehr…“, winkte sie ab und deutete auf den Buckligen, der am Rand der Bank saß und mit einem Finger in seinen Zähnen herumstocherte.

Der Engel blickte den Buchhalter erstaunt an.

„Ich hab sie einfach durchgebissen, sie braucht sich doch nicht zu quälen…“, sagte dieser, ohne den dicken Zeigefinger aus dem Mund zu nehmen.

So trat der Engel mit dem Beil in der Hand wieder zurück in die Menge und stellte sich in die erste Reihe.

Inzwischen sagten die Frauen dem Neugeborenen die Zukunft voraus, banden die Nabelschnur zu einem Knoten und beugten sich immer wieder hinunter zu einem Eimer mit Wasser, um ihre Hände darin zu waschen.

Der Engel seufzte und wandte die Augen ab. Da entdeckte er Katja. Auch die Lehrerin hatte ihren Blick auf den Säugling geheftet. Aber offenbar spürte sie den Blick des Engels auf sich und wandte sich um. Erschrocken sah sie den Engel an, errötete und trat zurück. Ein langer Rotarmist mit gekrümmtem Rücken, aus dessen Augen eine freudige und ein wenig spitzbübische Neugier leuchtete, rückte an ihren Platz.

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