Kapitel 15

Wann der Schneesturm aufgehört hatte, wusste Dobrynin nicht. Vielleicht, während er auf dem Boden neben dem heißen Ofen geschlafen hatte, vielleicht auch schon früher. Es hatte einfach ständig in seinen Ohren gedröhnt und geheult, und er hatte sich nicht nur daran gewöhnt, sondern war es einfach müde geworden, dem akustischen Teil des Lebens Beachtung zu schenken. Plötzlich wurde es still. Es war zwar bestimmt schon früher still geworden, aber genau in diesem Moment wurde es in Dobrynins Ohren still, und da er nicht verstand, wohin der Lärm verschwunden war, stand er auf, zündete die Petroleumlampe an und beugte sich zum dunklen Fenster. Nun löste Freude seine Besorgnis und sein Unverständnis – der Schneesturm war zu Ende und das bedeutete, dass Fjodor und der Pilot, die wahrscheinlich das Ende der Naturgewalt im Militärlager abgewartet hatten, nun bestimmt zurückkehren würden. Der Schneesturm war vorbei und das bedeutete, dass der Komsomolze Zybulnik ihn wie versprochen abholen kommen und in die Stadt bringen würde, wo sein Dienst für das Vaterland endlich beginnen konnte und wo er würde richtig arbeiten können, gewissenhaft und nach Herzenslust.

Pawel stellte den halb mit Wasser gefüllten Teekessel auf den Ofen. Das Petroleum im Kocher war ausgegangen, und wo er welches aus dem Flugzeug hernehmen sollte, wusste Dobrynin nicht. Aber vom Tee hatte er schon genug. Er wollte einfach nur heißes Wasser, oder zumindest warmes. Und der Ofen war gerade heiß.

Auf dem Tisch lag nach wie vor die nicht fertig gespielte „Dominoschlange“. Jetzt würden sie zu Ende spielen können. Das Wichtigste war, nicht zu vergessen, dass einer der Kameraden den Stein „fünf-zwei“ besaß. Da tauchte allerdings in Dobrynins Kopf ein nicht ganz ehrlicher Gedanke auf: Was wäre, wenn er, solange sie nicht da waren, nachsehen würde?

Natürlich wäre das nicht gut, mischte sich das Gewissen des Volkskontrolleurs ein.

Na und?, dachte der Kontrolleur selbst. Er hatte doch nicht vor, sie zu betrügen oder ihre Steine auszutauschen, er wollte einfach sichergehen, wer gewinnen würde, er oder derjenige, der die „fünf-zwei“ hatte. Und seine Hände streckten sich wie von selbst nach den Steinen des Piloten aus, die mit den schwarzen, geriffelten Rücken nach oben lagen. Der gesuchte Stein befand sich nicht darunter und Pawel verstand. Jetzt war klar, dass er und niemand anderer dieses Spiel gewinnen würde. Und das verlieh seiner Seele Freude und Ruhe.

Nachdem Pawel eine Tasse mit warmem Wasser getrunken hatte, ging er zur Tür, schob den gusseisernen Riegel zurück und blickte über die Schwelle. Die lange Polarnacht schien nun nicht mehr so dunkel. Sie wirkte jetzt bläulich und von unten beleuchtet, und etwas spiegelte sich im gleichmäßig wie eine Tischdecke ausgebreiteten Schnee wider. Dobrynin sah zum Himmel auf, der dieses fahle Licht verströmte, und öffnete vor Verblüffung den Mund. Am Himmel schillerten seltsame Bänder in mehreren Farben, die in vielen Reihen hingen wie Wäsche zum Trocknen. Verwirrt von dem wunderbaren Schauspiel, konnte Pawel nur mit großer Mühe seinen Blick von dem Leuchten losreißen, um die von Schnee bedeckte Weite zu überschauen. Trotz der Nacht war die Sicht ausgezeichnet, offenbar dank dieser strahlenden Bänder. Aber die wüstenähnliche Weite schimmerte weiß und leblos, und Dobrynin sah keine Bewegung darin. Er wusste nicht einmal, in welcher Richtung sich das Militärlager befand, und daher wusste er auch nicht, wohin er Ausschau halten und aus welcher Richtung er das Auftauchen seiner Genossen erwarten sollte.

Es war still. Nach jeder Berührung mit ihr klirrte die Stille gleichsam wie eine unter Spannung stehende Glasscheibe, ob es nun ein Schritt auf der vereisten Erde war oder das Schließen der Tür.

An jenem Teil des Horizonts, der Dobrynin am besten gefiel, weil es dort etwas heller war, tauchte ein kleiner, schwarzer Punkt auf und er bewegte sich ganz ohne Zweifel, er näherte sich. Als Dobrynin ihn erblickte, hielt er den Atem an und erwartete sein Eintreffen. Es war kalt, aber Pawel war abgehärtet von seinen Streifzügen ums Haus, als er Brennholz aus dem Flugzeug geholt hatte, und er beachtete das Spannen der Haut im Gesicht und auf den Händen gar nicht. Das Wichtigste war, dass er lebte, dass er den Schneesturm überlebt hatte und dass er das Schlimmste für dieses Mal hinter sich hatte.

Der Punkt kam näher. Vor den Augen des Volkskontrolleurs wuchs er zu einer merkwürdigen Konstruktion heran, die ein wenig an ein Flugzeug und an einen Lastwagen zugleich erinnerte.

Die Freude wärmte Dobrynin. Er vergaß sogar, dass gerade eben das letzte Brennholz im Ofen herunterbrannte, und wenn er nicht noch einmal in das Flugzeug kletterte – worin er bereits während des Schneesturms solche Fertigkeit erworben hatte, dass es in der Windstille keine Schwierigkeit mehr darstellen würde –, dann würde der Ofen verlöschen und man müsste das Feuer wieder neu entfachen. Gut, dass sich irgendwo in seinen Taschen eine Schachtel Zündhölzer fand, sie stammte noch von der Versammlung in der Kolchose.

Das vertraute Geräusch eines rotierenden Flugzeugpropellers drang an Dobrynins Ohren und fünf Minuten später hielt etwa zehn Meter von ihm entfernt ein Fahrzeug, das mindestens so groß wie ein Flugzeug war. Das Fahrzeug war seltsam, es hatte Kufen anstelle von Rädern und hinten, dort, wo sich bei einem Lastwagen der Laderaum befand, befand sich bei diesem Fahrzeug ein richtiger Flugzeugmotor, allerdings war er entgegengesetzt ausgerichtet – mit dem Propeller nach hinten.

Aus diesem Fahrzeug, genauer gesagt, aus einer schmalen, vorne befindlichen Kabine sprang ein großer, breitschultriger Mann zur Erde, in Pelzhosen, einer ebensolchen Jacke und mit einer riesigen Pelzmütze, deren lange Ohrenklappen wie ein Schal um den Hals geschlungen waren. Er ging auf Dobrynin zu und streckte ihm die Hand entgegen, ohne seine riesigen Handschuhe auszuziehen.

„Zybulnik!“, stellte er sich stolz vor.

„Dobrynin“, sagte der Kontrolleur und drückte mit seiner blau gewordenen, nackten Hand den Handschuh des Komsomolzen.

„Hat man Ihnen denn keine Handschuhe gegeben?“, fragte der Komsomolze erstaunt und unzufrieden.

Dobrynin lächelte glücklich und zuckte wegen der Handschuhe mit den Achseln. Das war ihm jetzt nicht wichtig.

Zybulnik lächelte ebenfalls.

„Herzlich willkommen!“, sagte er.

Der Propeller auf dem Fahrzeug hörte auf, sich zu drehen, und es herrschte mit einem Mal glasklare Stille.

„Und wo ist der Pilot? Wo ist Bedjuchin?“, fragte der Komsomolze.

„Bedjuchin?“, fragte Dobrynin nach. „Ist das etwa Fjodor?“

„Nun ja, Fjodor“, bestätigte Zybulnik.

„Sie sind im Schneesturm zum Lager um Proviant gegangen. Ich dachte, dass sie das sind, die da kommen, aber das waren Sie mit diesem…“

„Das ist ein Propellerschlitten“, nickte der Komsomolze zum Fahrzeug hin. „Ein ausgezeichnetes Fahrzeug. Ist es schon lange her, dass sie zum Lager aufgebrochen sind?“

„Ja, das ist schon lange her“, nickte Pawel.

„Dann fahren wir los, ihnen entgegen!“, schlug der Komsomolze vor.

Dobrynin setzte sich neben Zybulnik in die Kabine und machte sich interessiert daran, das komplizierte Armaturenbrett zur Steuerung des Propellerschlittens zu studieren. Der Komsomolze drückte auf einen schwarzen Knopf und nach drei Minuten vibrierte der Propellerschlitten genau so wie das Flugzeug beim Anrollen.

„Jetzt werden wir sie ausfindig machen.“ Der Komsomolze nahm das Steuer in die Hand, das sich ebenso wenig von dem eines Flugzeugs unterschied, und bediente mit dem Fuß ein Pedal.

Der Propellerschlitten machte einen Ruck und fuhr geradeaus, dann wendete der Komsomolze ihn und schon rasten sie mit hoher Geschwindigkeit über die Schneewüste.

„Ist Ihnen nicht kalt?“, wollte Zybulnik wissen und sah den Passagier aus den Augenwinkeln an.

„Nicht besonders, es geht so“, log der Kontrolleur.

„Hier gibt es auch eine Heizung, ich werde sie gleich einschalten.“ Der Komsomolze drückte einen weiteren Knopf und sogleich kam warme Luft heraus.

„Wie war der Flug?“, fuhr Zybulnik fort, unzusammenhängende Fragen zu stellen.

„Gut“, sagte Dobrynin. „Nur sehr lange.“

„Nicht wahr?“, sagte der Komsomolze selbstzufrieden. „Das will ich meinen!“

Vor ihnen tauchte ein Schneehügel auf, und als sie sich ihm näherten, verringerte der Propellerschlitten die Geschwindigkeit. Als sie den Hügel wieder hinuntergefahren waren, hielt Zybulnik das Fahrzeug an.

„Zugeweht, oje!“, sagte er gedehnt und betrachtete von der Kabine aus die Oberfläche des von Schnee bedeckten Bodens. „Das macht nichts, wir graben es aus!“

Zybulnik zog unter dem Sitz eine Schaufel hervor, stieg aus der Kabine, ging einige Schritte durch den Schnee und sah aufmerksam auf seine Füße. Er machte noch einen Schritt und sogleich versank sein rechter Fuß im Schnee. Er konnte dabei das Gleichgewicht nicht halten, fiel hin und streckte die Hände nach vor. Dann rappelte er sich wieder auf, nahm die Schaufel, die ihm aus der Hand gefallen war, und begann zu graben.

Dobrynin, der sich in der Kabine wärmte, beobachtete die Aktivitäten des Komsomolzen. Schon fühlten die Füße des Kontrolleurs die angenehme, vergessene Wärme. Er hatte keine Lust, aufzustehen, geschweige denn aus der Kabine auszusteigen.

Zybulnik, der den Eingang zum Lager freigeschaufelt hatte, kam zum Propellerschlitten, winkte auffordernd mit dem Arm und rief Dobrynin zu sich.

Pawel begab sich lustlos in die Kälte. Gemeinsam gingen sie zum freigelegten Eingang. Vor ihnen befand sich eine schwere Eisentür.

„Allein schaffe ich das nicht“, erklärte der Komsomolze. „Man muss sie kräftig aufziehen. Sie müssen sich aber etwas um die Hände wickeln.“

Aus seiner Brusttasche zog Zybulnik ein großes Taschentuch, riss es in zwei Stücke und half Pawel, sich damit die Hände zu umwickeln.

„Packen wir’s an?!“, kommandierte der Komsomolze und fasste nach dem langen Eisengriff. „Also! Packen Sie mit an, und auf drei ziehen wir! Eins… zwei…drei!“

Mit vereinten Kräften zogen sie an der Tür, und sie gab nach.

Der Eingang in das Lager hatte Ähnlichkeit mit dem Eingang in einen gewöhnlichen Bunker, und überhaupt wunderte sich Dobrynin, dass das Lager so klein war. Selbst der Getreidespeicher seiner Kolchose war fünfmal so groß, was die Fläche betraf, von der Höhe ganz zu schweigen.

Als sie in die Dunkelheit des Lagers eintauchten, gebückt, um sich nicht den Kopf an der niedrigen Decke zu stoßen, holte der Komsomolze eine Taschenlampe hervor. Der Strahl beleuchtete einen grauen Gang und eine Tür, die halb offen stand. Dorthin gingen sie. Sie stiegen Betonstufen hinab und fanden sich in einem ziemlich weitläufigen Raum wieder, vollgestellt mit einer großen Zahl von Holz- und Eisenkisten mit verschiedenen schematischen Zeichen, die mit violetter Farbe aufgemalt worden waren. Mehr als ein Dutzend offener Kisten stand einfach auf dem Betonboden. Zybulnik ging zur nächstbesten Kiste, hob den nicht ganz abgerissenen Deckel und leuchtete hinein. Dann spuckte er unzufrieden aus. Zu Dobrynin sagte er nichts. Er ging zur nächsten, schaute hinein und lächelte zufrieden. Mit dem Fuß stieß er die Kiste ein wenig von den anderen weg auf die Seite.

„Die nehmen wir im Propellerschlitten mit!“, sagte er geschäftig.

Noch einmal leuchtete er langsam an den Mauern des Lagers entlang. Im Schein der Taschenlampe erschien auf dem grauen Beton eine Aufschrift in einer seltsamen, nicht-russischen Sprache.

„Was ist das?“, platzte der Kontrolleur heraus.

„Das?“, wiederholte der Komsomolze. „Das haben die beiden Soldaten geschrieben, die hier erfroren sind. Anscheinend Usbekisch… Ich weiß nicht, was es bedeutet…“

Nach der Besichtigung des Hauptlagerraums zogen Zybulnik und Dobrynin die Kiste, so groß und lang wie ein Mensch, zum Ausgang und kehrten zurück, um noch einen Blick in die drei kleinen Räume zu werfen. Aber auch dort war niemand, und es war nicht einmal klar, ob der Pilot und Fjodor bis zum Lager gekommen waren.

Zybulnik war gelassen, er schien an Pawels Kameraden gar nicht zu denken.

Als sie die Kiste auf den Propellerschlitten geladen hatten und der Komsomolze den Motor startete, fragte ihn Dobrynin:

„Also, was ist mit ihnen? Wo könnten sie sein?“

Erst auf diese Frage hin, auf die der Komsomolze nur mit den Schultern zuckte, wurde sein Gesicht finster.

„Wir werden sehen“, sagte er mit gedämpfter Stimme.

Und wieder flog der Propellerschlitten wie ein Pfeil über die Schneewüste. Hin und wieder hielt Zybulnik kurz an und überblickte aufmerksam die weißen Felder, aber nirgends hob sich etwas aus dem Weiß hervor. Und wieder schwoll der Lärm des Propellers an und zerschnitt mit seinen Blättern die kristallklare, frostige Luft.

Pawel verlor völlig die Orientierung, denn es gab eigentlich nur zwei Anhaltspunkte: das Lager und die Hütte am Flugplatz. Er blickte sich ebenfalls nach allen Seiten um, konnte sich dabei aber nicht so recht vorstellen, was er entdecken sollte. Freilich, am schönsten wäre es gewesen, seine beiden sich über den Schnee schleppenden Kameraden zu sehen, aber in dieser Ebene wären Menschen auch aus der Ferne sichtbar gewesen, und der Umstand, dass Zybulnik den weißen Schnee so aufmerksam betrachtete, und es dort doch gar nichts gab, bestürzte den Volkskontrolleur und bereitete ihm Kummer.

Plötzlich machte der Komsomolze eine heftige Bewegung, drosselte die Geschwindigkeit, wendete den Propellerschlitten und ließ ihn ganz mechanisch wieder zwanzig oder dreißig Meter zurückfahren.

Dobrynin begriff nicht, was da vor sich ging, und sah Zybulnik fragend an.

„Dort war etwas…“, antwortete der Komsomolze auf den fragenden Blick seines Fahrgastes.

Sie stiegen aus der Kabine, und nun schritt Zybulnik auf die Kufenspuren im Schnee zu, die ihr Fahrzeug soeben hinterlassen hatte. Pawel folgte ihm.

Bei der doppelgleisigen Spur angekommen, folgte ihr der Komsomolze, schritt vorsichtig voran und verlagerte dabei sein Körpergewicht immer auf das gerade nicht angehobene Standbein.

Zybulnik hatte nicht mehr als zwanzig Schritte getan, da hielt er an und ging in die Hocke. Dann drehte er sich um und winkte Pawel mit der Hand, der etwas entfernt stand.

Zu zweit befreiten sie einen Hundeschlitten aus dem Schnee, der vom Propellerschlitten beschädigt worden war. Daneben war ein Stück Plane im Schnee sichtbar. Es gehörte zu einem großen Sack, in dem einmal Ladegüter mit Fallschirmen abgeworfen worden waren. Darin lag eine einzige Büchse mit gewürztem Schweinefleisch, die auf einer Seite eingedrückt war.

„Also“, sagte der Komsomolze langsam, „sie waren also im Lager. Lass uns von dieser Stelle aus im Kreis gehen, aber tritt vorsichtig auf!“

Pawel verstand nicht ganz, wie man von einer Stelle aus im Kreis gehen konnte, und der Komsomolze musste es ihm vorzeigen. So spulten also der Komsomolze und Pawel einen Knäuel von Spuren im Schnee ab, die eine neben der anderen dicht beieinanderlagen, und zogen dabei einen immer größer werdenden Kreis, beide mit düsterer Miene und in unangenehmer, ein Frösteln erzeugender Erwartung.

„Halt!“, rief plötzlich Zybulnik und war selbst stehen geblieben. „Komm her!“

Gemeinsam gruben sie Fjodor aus dem Schnee aus. Fjodor lag mit seitlich ausgebreiteten Armen auf dem Rücken. Sein ungewöhnlich rot-gelbes Gesicht war in einem seltsam verkniffenen Ausdruck erstarrt, mit vielen Falten um die Augen.

Sie hoben den erfrorenen Kameraden hoch, trugen ihn in die Mitte des Kreises zum Schlitten, drehten dann um und fuhren mit dem Umkreisen fort.

Während er kleine Schritte machte und einen Fuß vor den anderen setzte, dachte Pawel über diesen entsetzlich sinnlosen Tod nach und darüber, dass sich der Pilot und Fjodor ausgerechnet wegen des Pferdes auf den Weg gemacht hatten. Und jetzt, als klar war, dass seine Gefährten umgekommen waren und das Pferd Grigorij weggelaufen war und diesen schrecklichen Schneesturm mit hoher Wahrscheinlichkeit ebenfalls nicht überlebt hatte, war es Dobrynin, als hätte jemand mit einem scharfen Messer den langen Weg seines Lebens durchgeschnitten, auf dem er seit seiner Kindheit in die Zukunft schritt, genauer gesagt, als hätte jemand aus diesem Weg ein Stückchen herausgeschnitten. Und es schien, als wäre dieser Weg, der Weg der Vergangenheit, in jener Stunde durchschnitten worden, als Walerij Palytsch und Fjodor zum Lager aufgebrochen waren, und das neue Stück, ein völlig anderes und eher dem Beginn eines fremden Weges ähnlich – dem Weg eines anderen –, würde irgendwann später einmal auftauchen. Aber das, was jetzt mit ihm geschah, in dieser Schneewüste, das kam ihm wie eine Verwechslung vor oder sogar wie ein Fehler. Deshalb befand er sich auch keineswegs dort, wo er sich hätte befinden müssen, und tat auch keineswegs das Richtige. Und wenn man es ganz genau nahm – dann tat er überhaupt nichts, verschwendete nur seine Kräfte an einen vollkommen nutzlosen Kampf mit den Elementen, an einen Kampf, in dem bereits zwei seiner Kameraden umgekommen waren.

Plötzlich fühlte Pawel, wie sein Fuß auf eine Unebenheit trat. Er rief den Komsomolzen, und nachdem sie den Schnee mit den Händen weggefegt hatten, zerrten sie den Körper von Walerij Palytsch heraus. Schweigend zogen sie den Piloten ebenfalls in die Mitte des Kreises.

„Ich werfe den Propellerschlitten an“, sagte Zybulnik und ging zu dem in der Nähe abgestellten Fahrzeug.

„Wir müssen sie doch auf menschliche Art begraben“, sagte Pawel mit Tränen erstickter Stimme und blickte auf Zybulniks Rücken.

Zybulnik antwortete nicht.

Als der Propellerschlitten neben dem zerstampften Kreis stehen blieb, bat der Komsomolze Pawel, ihm zu helfen, die große Kiste auszuladen, die sie vom Lager mitgenommen hatten. In der Kiste befanden sich quadratische Konservendosen aus ölverschmiertem Blech. Sie verstauten sie in der Kabine hinter den Sitzen – dort gab es viel Platz – und die leere Kiste warfen sie in den Schnee.

„Da legen wir sie hinein und die Kiste verschließen wir“, sagte Zybulnik.

„Und begraben wir sie?“, fragte Pawel.

„Ja“, nickte der Komsomolze.

Zuerst, beschlossen sie, sollte Fjodor auf den Boden der Kiste gelegt werden, aber mit seinem dicken Rentiermantel und noch dazu mit seitlich ausgestreckten Armen, die sich unmöglich anlegen ließen, passte er nicht in die Kiste hinein. Sie mussten sich abplagen, den Mantel von ihm herunterzuzerren, der buchstäblich an den dunkelgrünen Strickpullover angefroren war.

Schließlich legten sie ihn hinein, und dann, als sie auch Walerij Palytsch den Mantel ausgezogen hatten, legten sie den Piloten obendrauf. Der Deckel der Kiste ließ sich nicht vollständig abnehmen, weil an zwei Stellen quer über den Brettern Blechstreifen angebracht waren. Deshalb hatten sie ihn anfangs einfach zurückgeschlagen, und dann, als die Kiste zum Sarg geworden war, klappten sie den Deckel wieder herunter. Zybulnik verschnürte die Kiste für alle Fälle noch mit gelbem Draht aus der Kabine. Mit großer Anstrengung stellten sie die Kiste zwischen Kabine und Motor und befestigten sie dort.

„Wir fahren los“, sagte der Komsomolze und kletterte auf seinen Platz hinter das Lenkrad.

Zurück blieben ein in den Schnee gestampfter Kreis, ein kaputter Schlitten, ein Planensack mit einer Büchse gewürztem Schweinefleisch und zwei Rentiermäntel. Der Propellerschlitten aber raste dahin, und da Pawel nicht wusste, wohin sie jetzt fuhren, blickte er dem Komsomolzen ins Gesicht und wollte ihn schon danach fragen, aber da begriff er, dass es nun auch Zybulnik schwer ums Herz war, und er schwieg. Wozu ihn fragen – dass er nun einmal irgendwohin fuhr, bedeutete, er wusste wohin.

Der Propellerschlitten hielt in der Nähe des Eingangs zum Militärlager, wo sie schon gewesen waren und von wo sie ihre Suche nach den vermissten und inzwischen gefundenen Kameraden begonnen hatten. Sie zerrten die Kiste hinunter, schleppten sie mit Verschnaufpausen den grauen Korridor entlang, dann ließen sie sie die Betonstiegen hinabrutschen, indem sie von unten gegenhielten, und erst im Hauptraum des Lagers kamen sie wieder zu Atem.

„Und was dann? Wird man sie später von hier abholen?“, fragte Pawel, der nun spürte, dass ihn die letzten Stunden sehr erschöpft hatten und seine frierenden Hände zitterten.

„Vielleicht werden sie ja abgeholt…“, antwortete Zybulnik und lenkte den Lichtkegel der Taschenlampe über die linke Wand, vor der Kisten derselben Art übereinandergestapelt standen. „Lass sie uns dorthin stellen, siehst du, dort in der Ecke ist nur eine“, sagte er und zeigte mit dem Lichtstrahl auf die Stelle.

Das taten sie.

„Und was dann?“, fragte Pawel etwas zögerlich.

Statt einer Antwort richtete Zybulnik den Lichtkegel auf die Kisten, die daneben standen, und Pawel sah, was auf jeder Kiste in unregelmäßigen, fetten Buchstaben geschrieben stand: „Gemeiner Soldat Urusbekow Machmud, Gemeiner Soldat Karatscharow I. S., Sergeant Goloborodko W. I.“

Die seltsame Stimmung, die sich Pawels bemächtigt hatte, erlaubte ihm keine weiteren Fragen, die natürlich sofort aufgetaucht waren und angespannt in den Gedanken festhingen.

„Hier kann man keine Gräber ausheben… Frostboden…“, sagte Zybulnik und ging zur Betonstiege, über die sie heruntergekommen waren.

Zurück in der Kabine setzte er sich schweigend hinter das Steuer und drückte einen blauen Knopf, und der Propeller begann sich lärmend zu drehen.

„Das Wichtigste ist nun, dass der Treibstoff bis zur Stadt vorhält“, sagte Zybulnik und beobachtete, wie sich die Zeiger der Armaturen zu bewegen begannen.

„Und zum Flugplatz?“, fragte Dobrynin. „Ich habe noch meine Sachen dort…“

„Zum Flugplatz“, wiederholte der Komsomolze. „Gut.“

Der Propellerschlitten beschleunigte.

Pawel schloss die Augen, die ihn schmerzten, entweder vor Erschöpfung oder von dem dichten Weiß, das die Welt ringsum umgab.

„Oh! Was ist das denn?“, murmelte der Komsomolze ziemlich laut, und Dobrynin bemerkte, wie sich die Geschwindigkeit des Propellerschlittens verringerte.

Als das Fahrzeug anhielt, öffnete Pawel die Augen und folgte Zybulniks Blick.

Ganz in der Nähe, etwa fünf Meter vom Propellerschlitten entfernt, ragte etwas Spitzes aus dem Schnee hervor.

Zybulnik stieg aus der Kabine, Pawel folgte ihm. Sie gingen näher heran.

Vor ihnen lag das Skelett eines großen Tieres.

Der Komsomolze griff nach den Rippen des Skeletts, zog es näher zu sich heran, und da sah Pawel das aus dem Schnee herausragende Maul des Pferdes Grigorij.

„Wie kommt denn das hierher?“, fragte sich Zybulnik.

„Das ist mein Pferd“, sagte Pawel. „Ein Geschenk von Genosse Kalinin…“

„Aha“, sagte der Komsomolze nickend. „Aber schau, sie haben es nicht ganz aufgefressen…“

Und er wies mit dem Handschuh auf den eingefrorenen Schweif und auf ein gewisses Organ, das an einer Sehne hing.

„Das müssen wir mitnehmen… Kriwizkij liebt diese Dinger“, sagte Zybulnik ruhig, holte ein Messer aus seiner Jackentasche, durchschnitt die Sehne, nahm das Organ und steckte es zusammen mit dem Messer in die Tasche.

„Und wofür braucht es Kriwizkij?“, wunderte sich der Volkskontrolleur.

„Solche Organe von Rentieren ergeben eine gute Sülze, und außerdem kann man auch Stroganina daraus zubereiten. Dazu hält man es, wenn es gefroren ist, an einem Ende, setzt das Messer an und dreht das Organ langsam mit der anderen Hand. Auf diese Weise entsteht daraus ein langer, spiralförmiger Streifen. Das schmeckt sehr gut und man braucht es gar nicht zu kochen.“

„Wie, das isst man roh?“ Dobrynin wunderte sich noch mehr.

„Ja sicher, gefroren. So schmeckt es besser“, beendete der Komsomolze seine Erklärungen.

„Gib mir das Messer!“, bat der Kontrolleur plötzlich.

„Wozu?“, fragte Zybulnik, aber er fuhr bereits mit der Hand in die Jackentasche.

„Der Pilot wollte an der Haustür ein Hufeisen anbringen… als Glücksbringer…“

„Aha, na ich mach’s gleich selbst, ich komm besser ran.“ Der Komsomolze beugte sich über das Skelett, drehte die abgenagten Knochen eines Beines zu sich, fuhr mit dem Messer unter das Hufeisen und riss es ächzend ab.

„Nimm es!“ Er reichte es Dobrynin.

Bald erreichten sie die Hütte am Flugplatz, wo sie sich nicht lange aufhielten. Sie schlugen das Hufeisen an die Tür. Pawel packte seine Sachen zusammen, gemeinsam mit dem Buch und den beiden angebissenen Zwiebackstücken. Traurig betrachtete er die noch immer aufgelegten Dominosteine und ging zur Tür.

Zybulnik nahm das „Heft zur Dokumentation von Funkmeldungen“ mit sich.

Wieder heulte der Motor des Propellerschlittens auf. Nun war das Holzhaus von Kälte erfüllt, das Leben hatte es verlassen und ob es jemals wieder dahin zurückkehren würde, war unklar.

Die blaue Polarnacht, die von den buntfarbenen Himmelsbändern erleuchtet wurde, dauerte an und der Propellerschlitten flog durch sie hindurch. Der Komsomolze Zybulnik fröstelte und ermahnte sich selbst zur Munterkeit, dabei sah er von Zeit zu Zeit auf das Armaturenbrett. Und auf dem Sitz daneben döste der Volkskontrolleur Pawel Aleksandrowitsch Dobrynin.

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