Kapitel 21

Der Aprilregen prasselte tagelang auf die Stadt herab.

Mark hatte Kopfschmerzen. Anscheinend hatte es seine Nerven ordentlich zerrüttet, als er im Hotel in Kasan ein Eiltelegramm von der Regierung erhalten hatte mit dem Befehl, zusammen mit dem Vogel sofort in seine Dienstwohnung nach Moskau zurückzukehren und dort weitere Anordnungen abzuwarten.

Er fuhr nach Moskau. Genau eine halbe Stunde nach seiner Ankunft besuchten ihn Urluchow aus der Kulturabteilung des ZK und ein unbekannter Mann von etwa fünfundvierzig Jahren in einem dunklen Anzug. Sie brachten ein Päckchen mit Gedichtbänden mit. Urluchow erklärte ihm, dass er einen sehr verantwortungsvollen Auftritt vor sich habe, und fügte sogleich hinzu, dass Mark selbst fünf Gedichte über den Führer auswählen solle und zwar solche, für die man sich nicht zu schämen brauchte. Damit meinte er, dass Führergedichte von bäuerlichen Dichtern nicht für das Programm taugten. Dann sagte Urluchow noch, dass Mark zur Vorbereitung fünf Tage zur Verfügung habe, einen Tag für jedes Gedicht.

Mark saß in der Küche und umfasste seinen Kopf mit den Händen.

Warum wählten sie das Repertoire für ihn nicht selbst aus? Warum vertrauten sie es zum ersten Mal im Leben ihm an, das Programm für Kusma zusammenzustellen?!

Eine schlimme Vorahnung verstärkte seine Kopfschmerzen. Wo würde dieser Auftritt stattfinden?! Sicherlich direkt im Kreml!

Ein Schauer lief über Marks Rücken.

Wieder sah er aus dem Fenster – der violette Aprilabend schwamm immer noch im Regen.

„Wahrscheinlich ist auch der Luftdruck nicht normal“, dachte der Künstler und entschied für sich, dass das Wetter zumindest zum Teil für sein schlechtes Befinden verantwortlich zu machen war.

Als es dunkel geworden war, machte sich Mark daran, die Bücher zu lesen.

Im Licht der Tischlampe flimmerten Dutzende Namen bekannter und unbekannter Dichter, die in ihren Gedichten den großen Führer ehrten. Vor seinen Augen erzitterten die Zeilen und Strophen, voll des großen Namens, den einige Poeten manchmal sehr ungewöhnlich zu reimen verstanden, was in Mark gemischte Gefühle hervorrief – einerseits Stolz auf die fremde Kühnheit, andererseits Angst um seine Zukunft.

An diesem Abend ging er gar nicht zu Bett, und um sechs Uhr morgens, nachdem er eine Unmenge von Gedichten gelesen hatte, wählte er fünf davon aus, die für den Papagei nicht schwierig waren, gleichzeitig aber von hoher Qualität und Talent zeugten.

Die Arbeit begann.

Vor dem Hintergrundgeräusch des nicht enden wollenden Regens las Mark dem Papagei, der dort in seinem Käfig auf dem Tisch saß, Strophe für Strophe jedes Gedicht zwanzig bis dreißig Mal vor.

Der Papagei hörte zu und es blieb zu hoffen, dass er sich alles einprägte.


Die Tage, die zur Vorbereitung für den Auftritt bestimmt waren, vergingen.

Noch anderthalb Wochen waren es bis zum Beginn der Maifeiertage, dann würde man sich erholen können.

Am sechsten Tag erfolgte ein Anruf aus der Kulturabteilung des ZK.

Zu diesem Zeitpunkt trug Kusma bereits alle fünf Gedichte in einem Block vor, nur zwischen den Strophen machte er kurze Pausen. Nun musste Mark noch die Reihenfolge der Dichternamen lernen, da alle Gedichte nur einen einzigen Titel haben konnten: „Lenin“.

„Haben Sie sich vorbereitet?“, wollte die Stimme am Telefon von Mark wissen.

„Ja, es ist alles bereit, Genosse Urluchow“, antwortete Mark.

„Gut. Bleiben Sie zu Hause, wir schicken einen Wagen!“

Sie fuhren tatsächlich in den Kreml.

Mark, der sich um die Gesundheit des Papageis sorgte, bedeckte den Käfig mit einem wollenen Winterüberzug. Die ganze Fahrt über sah der Chauffeur immer wieder zu dem seltsamen Käfig hinüber.

Der Wagen hielt vor einem niedrigen Ziegelgebäude.

Mark öffnete die Tür, spannte den Schirm auf und stellte sich mit dem Käfig in der Hand darunter.

Der diensthabende Milizionär saß mit dem Gesicht zur Tür hinter einem Tisch, auf dem zwei Telefonapparate standen. Er las gerade, sah aber gleich von den Zeilen auf.

„Zu wem wollen Sie?“, fragte er in sehr höflichem Ton.

„Ich weiß es nicht…“, sagte Mark ratlos. „Ich soll auftreten…“

Und als Beweis für seine Worte hob er den mit Stoff verhüllten kegelförmigen Käfig hoch.

Der Milizionär überlegte kurz, schlug das vor ihm auf dem Tisch liegende Heft auf und blätterte darin.

„Sind Sie vielleicht Iwanow?“

„Ja, ja, Mark Iwanow“, freute sich der Künstler.

„Einen Moment, Genosse Iwanow!“ Der Milizionär verschwand in der Tiefe des Korridors, der hinter seinem Rücken begann.

Bald kam er in Begleitung zurück.

„Guten Tag“, der ihn begleitende hagere Mann mittleren Alters streckte Mark die Hand entgegen. „Oberleutnant Woltschanow. Kommen Sie!“

Sie gingen in ein Zimmer, in dem es beinahe keine Möbel gab. Ein einziger Tisch und einige Stühle standen darin.

„Unterschreiben Sie bitte hier!“ Woltschanow legte einige bedruckte Blätter vor Mark auf den Tisch.

„Was ist das?“, fragte Iwanow. „Sind das Finanzunterlagen?“

„Nein“, antwortete der Oberleutnant. „Das ist Ihre Verpflichtungserklärung, dass Sie alles, was Sie heute sehen werden, unter keinen Umständen weitererzählen. Es wäre für Sie überhaupt das Beste, nach dem heutigen Abend alles über diesen Auftritt zu vergessen. Verstanden?“

Der Künstler nickte. Er tauchte die Feder in das Tintenfass und setzte seine Unterschrift auf alle Papiere, die ihm zugeschoben wurden.

„Kommen Sie jetzt mit.“ Woltschanow erhob sich. „Einen Moment, gehört der Ihnen?“

Er hielt Mark zurück, der schon loseilen wollte, und zeigte auf den kegelförmigen Käfig, der neben dem Tisch auf dem Fußboden stand.

„Ach, ja!“ Mark fuhr herum und nahm den Käfig. Dann verließen sie das Zimmer.

Sie gingen lange und folgten dabei Korridoren, die sie nach unten führten.

Einige Male bekam es Mark mit der Angst zu tun – schließlich stiegen sie tief unter die Erde hinab, und darin lag etwas Bedrohliches.

Nach einer halben Stunde betraten sie einen mit elektrischem Licht hell erleuchteten Saal.

Dort standen zwei Soldaten, die ihnen zunickten, ohne ein Wort zu sagen.

Sie gingen zur Tür. Aus irgendeinem Grund lächelte Woltschanow, während er stehen blieb, dann stieß er die Tür heftig auf.

Mark wurde geblendet. Er hob beide Hände vor sein Gesicht, um seine Augen zu bedecken. Dabei schlug er mit dem Käfig gegen sein Kinn.

„Jetzt hören Sie aber auf!“, schnaubte der Oberleutnant verächtlich. „Haben Sie etwa noch nie die Sonne gesehen?!“

Allmählich gewöhnte sich Mark an den Sonnenschein. Er ließ die Hände wieder sinken und sah sich um: Vor ihm lag eine märchenhafte, umwerfend schöne und doch ganz normale russische Welt mit Wäldern, Hügeln, Feldern und Sträuchern. Verschiedene Wege führten wie in einem Fächer ausgebreitet weg von der Schwelle, auf der er stand.

Er sah Woltschanow an, da er nach einer wissenschaftlichen Erklärung für dieses Wunder suchte. Schließlich hatte es noch vor vierzig Minuten oben geregnet und hier unten herrschte ein klangvoller russischer Sommer, sogar Vögel waren zu hören!

Aber Woltschanow schwieg und lächelte.

„Kusma kann sich aufwärmen!“, dachte Mark plötzlich.

Er nahm den Wollüberzug vom Käfig und steckte ihn in seine Manteltasche.

„Kommen Sie!“ Endlich vernahm er Woltschanows Stimme. „Folgen Sie mir!“

Unter ihren Füßen verlief einer der Wege und schlängelte sich dahin wie ein Frühlingsbach.

Links von ihnen gab es Haselsträucher, rechts Tannen und vor ihnen lag der Abstieg in eine kleine Schlucht.

Die Luft roch irgendwie besonders, nach Nadelbäumen. Irgendwo zirpte eine Hausgrille, wie in der Kindheit – im weißrussischen Dorf hinter dem Ofen in der Hütte der Großmutter.

Und dann der Bach, über den eine Holzbrücke führte. Und wieder verlief der Weg den Hügel hinauf nach oben.

Sie gingen lange.

„Halt!“, befahl Woltschanow. „Sind Sie bereit?“

„Ja“, nickte Mark.

„Also, dann…“ Der Oberleutnant beendete seinen Satz nicht und ging auch nicht weiter, sondern verließ den Weg und setzte dabei die Sohlen seiner Stiefel ganz sacht auf und hielt sogar den Atem an. Dann blieb er abermals stehen.

„Schauen Sie!“ Er trat ein wenig zur Seite und winkte den Künstler mit dem Finger zu sich. „Schauen Sie dorthin!“

Iwanow, der ebenfalls den Atem angehalten hatte, schaute in die angezeigte Richtung. Und da sah er zwischen den Zweigen und Ästen eine Hütte und einen alten Mann, der mit dem Rücken zu ihnen saß. Er trug braune Hosen und eine Weste und unter der Weste lugte ein blaues Hemd hervor.

„Gehen Sie hin, treten Sie vor ihm auf und kommen Sie gleich wieder zurück!“, flüsterte der Oberleutnant mit Bestimmtheit.

Mark nickte, wechselte den Käfig mit Kusma von der linken in die rechte Hand und machte sich auf den Weg.

Als die dünnen Zweige unter Iwanows Füßen knackten, drehte sich der Alte um.

Etwa sechs Meter trennten sie noch voneinander.

Als Mark das Gesicht des Alten sah, blieb er fassungslos stehen. Seine Hand verkrampfte sich um den Käfigring.

Der Alte lächelte verschmitzt.

„Na, mein Lieber, treten Sie näher!“, sagte er mit einer warmen Honigstimme.

Mark näherte sich vorsichtig. Er blieb zwei Meter vor dem Alten stehen.

„Was ist der Grund für Ihren Besuch?“, fragte der Alte und steckte geschäftig die Daumen beider Hände in die Westentaschen.

Aaah!, begann Mark zu erraten. Heute ist ja der zweiundzwanzigste April… Aber er ist doch am vierundzwanzigsten gestorben?!

„Na, warum schweigen Sie denn, mein Lieber? Sind Sie bei Ihrer Frau auch so schweigsam? Bei Ihren Eltern? Ihren Freunden?“

Mit zitternden Fingern öffnete Mark die Käfigtür, steckte seine Hand hinein, holte Kusma nicht besonders vorsichtig heraus und setzte ihn sogleich auf seine linke Schulter. Aber der Vogel kletterte über Marks Kopf auf die rechte Schulter, wobei seine Krallen fest zupackten.

„Kusma, trag vor!“, kommandierte Mark ohne das sonstige Wohlwollen in seiner Stimme.

Kusma spürte die Kälte seines Herrn.

Er drehte den Schnabel, suchte das Mikrofon, aber hier gab es keines.

„Unsere Erde ist kalt wie Eis“, ertönte Kusmas Stimme. „Ihr sind nicht viele warme Tage gegönnt…“

Mark atmete erleichtert auf. Während der Vogel vortrug, konnte er den Alten besser betrachten. War er das wirklich?! Tatsächlich?

Die Vögel, die in den Kronen der Kiefern direkt über ihnen mit den Flügeln schlugen, störten den Vortrag.

„Die Partei befiehlt – und das Glück stellt sich ein,

Die Partei sieht dich an – und die Morgenröte glüht…

Lenin, unser Volk dankt deiner Partei.“

Ich wäre am liebsten schnell wieder oben und dann ab nach Hause, dachte Mark, nachdem er mit der Betrachtung des Alten fertig war. Vielleicht lassen sie mich an den Maifeiertagen wirklich in Ruhe. Das wäre schön.

„Die Kindheit, rötlich wie ein Morgen…“

Der Vogel trug schon das nächste Gedicht vor.

„…für ihn so völlig ohne Sorgen.

Augen wie ein Jakute sie hätte,

und Iljitsch sein Name von des Vaters Seite.“

Plötzlich bekam Mark Hunger. Ihm fiel ein, dass er an diesem Tag noch nichts gegessen hatte und dass es in seiner Dienstwohnung nichts zu essen gab. Er hielt sich dort selten auf, und er lebte allein, ohne Frau. Seine schönsten Träume von Essen waren mit der drei Häuser entfernt gelegenen Kantine der Moskauer Wasserleitungsarbeiter verbunden. Er war dort gern gesehen, denn man wusste, dass Mark Künstler war. Er bemerkte sogar jedes Mal, dass eine junge Frau an der Essensausgabe ihm viel größere Portionen zuteilte als den Wasserleitungsarbeitern. Vielleicht gefiel er ihr? Dieser Gedanke wärmte Mark auf angenehme Weise und lenkte ihn ein wenig davon ab, dass sein Bauch unfreiwillig leer geblieben war. Währenddessen trug Kusma vor und der Alte hörte ihm aufmerksam zu. Er schien verblüfft und ergriffen, jedenfalls glänzten in seinen Augen Tränen.

„Wenn sie alle gegangen sind,

das menschliche Feuerwerk erlischt,

werde ich hier alleine sein,

werde ich bei dir sein, Iljitsch…“

Wieder schmerzte Marks rechte Schulter. Aber er war guter Dinge.

Kusma spulte das Programm fehlerlos und ohne Pausen ab.

Noch eines und das war’s…

Dann würde er wieder zurück müssen, dort hinter die Tannen. Da stand Oberleutnant Woltschanow und wartete.

Mark sah zu den Tannen hinüber und begegnete Woltschanows Blick – zwischen zwei Tannenzweigen waren Augen, Nase und dessen halbe Stirn zu sehen.

„…Der Falbe schielt

und scharrt mit den Hufen.

Dass er im Gefängnis sitzt,

macht Uljanow nicht zu schaffen…“

„Das letzte!“, flüsterte Mark Iwanow sich voll Freude zu.

Der Alte schüttelte verwundert den Kopf und wischte sich mit den Fingern die Tränen unter seinen schmalen Augen weg. Offenbar war er zufrieden.

Der Papagei schwieg, ohne die letzte Strophe zu Ende gebracht zu haben.

Mark begriff, dass es keine Fortsetzung geben würde, aber er war Kusma nicht böse. Er blickte in Woltschanows Richtung und nahm durch den Tannenwald hindurch die auffordernde Geste wahr, die von dessen Hand ausging.

Der Alte schwieg. Es lohnte sich nicht, auf seinen Beifall zu warten. Aber man konnte sehen, dass er sehr ergriffen war.

„Alles Gute zum Geburtstag!“, flüsterte Mark, während er sich verbeugte.

Der Papagei verbeugte sich ebenfalls wie trainiert.

Ein gutmütiges Lächeln erschien auf dem Gesicht des Alten. Er begann, die vielen Taschen seiner braunen Weste zu durchwühlen. Offenbar suchte er etwas, vielleicht wollte er Mark etwas schenken.

Aber Woltschanows Hand rief ihn gebieterisch zu sich, und nachdem er einen Augenblick lang gezögert hatte, verneigte sich Mark ein weiteres Mal und ging auf den Tannenwald zu.

Er ging, ohne sich umzusehen.

Er wollte den Oberleutnant fragen, ob das wirklich er war.

„Wer ist das?“, sprach Mark die ihn quälende Frage flüsternd aus, als er endlich hinter den Tannen angekommen war.

Woltschanow antwortete nicht.

Sie waren bereits auf dem Rückweg.

Mark begriff überhaupt nichts mehr. Abgesehen von dem, was offensichtlich irritierend war, verwirrte ihn noch etwas anderes, aber erst als sie an der Brücke angekommen waren, begriff Mark, was es war. Auf seiner rechten Schulter saß immer noch der Papagei und in der linken Hand trug Mark den leeren Käfig.

Er blieb stehen. Er ergriff den Vogel nicht gerade sanft an den Füßen und steckte ihn mit dem Kopf voran durch die geöffnete Käfigtür.

Das Gehen fiel ihm nun leichter, aber die unbeantwortete Frage quälte den Künstler nach wie vor.

Er versuchte, Woltschanow einzuholen und sah ihn gutmütig und bittend an.

Als der Oberleutnant Marks Seitenblick auffing, drehte er sich, ohne langsamer zu werden, zu ihm um und sagte ziemlich grob und sogar mit drohendem Unterton:

„Vergessen Sie alles, sonst wird es Ihnen schlecht ergehen! Sie haben eine Verschwiegenheitserklärung unterschrieben, vergessen Sie das nicht!“

Nach diesen Worten blieb Mark etwas zurück und ging nun hinter Woltschanow her. Dabei versuchte er, die quälende Neugier zu vertreiben.

Kusma murmelte etwas.

Mark hob den Käfig und horchte dem Vogel zu.

Wie sich herausstellte, war diesem nun die letzte Strophe eingefallen, die er im letzten Gedicht des Programms ausgelassen hatte.

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