Der Propeller des schmutziggrünen Bombenflugzeugs sang laut sein sinnloses Lied. Das Lied ließ die Maschine erbeben und mit ihr bebte auch alles, was sich in ihr befand, so auch der Pilot, der das Steuer mit sicherer Hand lenkte, und der Volkskontrolleur, der hinter ihm am Seitenfenster saß. Der mächtige Gesang ließ sogar Dobrynins Reisesack, der seine Axt und die Beweise für Kriwizkijs Verbrechen enthielt, mit einem dumpfen Klappern über den eisernen Fußboden wandern. Das aber störte Dobrynin nicht. Den zweiten Flug empfand der Volkskontrolleur bereits als etwas völlig Normales und Alltägliches, wie das Lesen eines guten Buches oder die Nahrungsaufnahme. Und daher war Pawel Aleksandrowitsch Dobrynin mehr mit seinen Gedanken beschäftigt als mit dem Flug.
Er dachte an die toten Kontrolleure, deren Körper sich noch immer im Eis des Flusses Omola befanden, er dachte an die guten Soldaten, die stets bereit waren, ihm zu helfen, und natürlich an seinen Retter – das Ein-Mann-Volk Dmitrij Waplachow. Es verwunderte Dobrynin, dass ein so einfacher, aber ehrlicher Mensch wie er selbst es geschafft hatte, an einem fremden Ort mit fremdem Klima eine gerechte Ordnung herzustellen. Zwar war er überzeugt davon, dass die von ihm geschaffene Gerechtigkeit bei weitem nicht vollkommen war, aber die Tatsache, dass es trotzdem Gerechtigkeit gab, freute ihn von Herzen.
Der Feind ist hinterhältig, dachte er, und zu allem bereit! Dieser Gedanke bestärkte während des Fluges das Bewusstsein des Volkskontrolleurs und er begann zu begreifen, welch ein schweres Leben vor ihm lag, besonders wenn es vom Anfang bis zum Ende dem Dienst an seinem großen Vaterland gewidmet sein würde.
Und während er über Dinge nachdachte, die nichts mit dem Flug zu tun hatten, sah Dobrynin aus dem Fenster, um einen Blick auf das heimatliche Sowjetland zu erhaschen.
Das Flugzeug flog über das Leben hinweg: über die Natur, die als Flecken von Wäldern und Quadrate von Feldern in die grenzenlose Weite hingestreut und von den Wasserbändern der Flüsse und den spiegelglatten Seen durchzogen war; über Städte, über Baustellen und über Straßen. Und Dobrynin hatte Gefallen daran, hinunterzuschauen und seinen Blick über die farbenprächtige Erdoberfläche gleiten zu lassen, ohne dabei den Kopf zu bewegen. In seinem Inneren brannte ein Gefühl, das so stark war wie ein Panzerwagen, ein Gefühl, das imstande war, nicht nur seinem Geist, sondern auch seinem Körper einen Befehl zu erteilen. Dieses Gefühl brachte ihm ein völlig neues Verständnis vom Sinn seines Lebens. Unten, dort, wohin das schmutziggrüne Bombenflugzeug flog, fuhr ein ungewöhnlicher Zug, der von zwei aneinandergekoppelten Lokomotiven gezogen wurde. Der Zug bestand aus grellroten, großen Tankwaggons, und es waren so viele, dass man sie gar nicht auf einmal zählen konnte. Da sich der Zug in dieselbe Richtung wie das Flugzeug bewegte, wenn auch langsamer, flog dieses eine Zeitlang genau über den Tankwaggons, was Dobrynin sehr interessant fand. Er schaute hinunter und freute sich in Gedanken über die sichtbare und zum Greifen nahe Industrialisierung des Vaterlandes. Als Dobrynin genug gesehen hatte, nahm er aus seinem Sack das vertraute Büchlein, das er im Kreml geschenkt bekommen hatte, schlug es am Anfang der dritten Erzählung auf, rieb sich zur besseren Konzentration die Hände und begann zu lesen.
Und plötzlich, ausgerechnet an der interessantesten Stelle, wurde das Flugzeug so heftig durchgeschüttelt, dass Dobrynin vom Sitz geschleudert wurde und er sich auf dem eisernen Fußboden wiederfand. Er bekam eine solche Angst, wie er sie noch nie zuvor verspürt hatte. Der Volkskontrolleur sah nach vorn, wo der Pilot saß, und erblickte hinter der hohen Lehne des Pilotensitzes dessen Kopf beziehungsweise seinen Helm. Als keine weiteren Stöße mehr folgten, richtete sich der Volkskontrolleur auf, tastete nach seinem Sitz und kletterte vorsichtig, als ob dieser vermint wäre, hinauf und drückte sich gleich wieder ans Fenster.
Unten erstreckte sich immer noch die Erde in ihrer Farbenpracht und es gab nichts Ungewöhnliches zu sehen, außer einem auf den Eisenbahnschienen quer zur Flugrichtung fahrenden Zug mit Tankwaggons, der von einer Doppellokomotive gezogen wurde und so lang war wie ein roter Regenwurm.
Dieser Zug, der das Grün und Braun der Erde als rote Linie durchschnitt, lenkte Dobrynins Aufmerksamkeit weg von dem merkwürdigen und unangenehmen Vorfall, und Dobrynin beobachtete wohlwollend diese auf der Erde fahrende Errungenschaft des menschlichen Verstandes, wobei er wegen der Bewegung des Flugzeugs seinen Kopf langsam drehen musste.
Da wurden sie wieder durchgeschüttelt, diesmal aber schwächer, und Pawel Aleksandrowitsch konnte sich auf seinem Sitz halten, indem er sich mit den Händen festkrallte. Das Flugzeug schwankte, so als ob der Pilot beschlossen hätte, dem Lokomotivführer mit den Flügeln ein Zeichen zu geben.
Nachdem Dobrynin sich von seinem Schrecken erholt hatte, wartete er ab, bis der rote Zug in der unbekannten Ferne verschwunden war. Dann trat er zum Piloten und fragte gerade heraus:
„Stimmt etwas mit dem Motor nicht?“
Der Pilot war mit dem Steuer beschäftigt und hörte seine Frage nicht gleich, da sein Helm darüber hinaus nicht allzu viele Geräusche durchließ. Als er aber Dobrynins Anwesenheit mit einem Seitenblick bemerkt hatte, nahm er den Helm vom Kopf und antwortete auf die von Dobrynin wiederholte Frage:
„Aber nein, alles in Ordnung, Genosse Dobrynin. Wir sind nur in einen Streifen von Meteoritenschauern geraten. Wir haben uns aber durchgeschwindelt. Man kann sagen, wir haben Glück gehabt!“
„Und was ist das für ein Schauer?“, wollte Pawel Aleksandrowitsch wissen.
„Er kommt aus dem Weltall“, antwortete der Pilot nachdenklich. „Die Wissenschaftler schreiben, dass es sich dabei um Stein- und Eisenstücke handelt, die irgendwann von Sternen und Planeten abgesplittert sind.“
„Leuchten diese Splitter? Wenn sie doch von den Sternen kommen?“
„Aber nein“, sagte der Pilot entschieden. „Sie sind bereits erloschen. Das ist das Gleiche wie ein Mensch, der sich von der Masse abgesondert hat. In der Masse strahlt er gemeinsam mit den anderen, errichtet etwas und baut es auf, aber ganz allein schafft er gar nichts und aus diesem Grund erlischt er. Ich liebe Gedichte, da findet man viel darüber.“
„Und was findet man dort darüber?“, wurde Dobrynin neugierig und begriff, dass er von Anfang an neben dem Piloten hätte sitzen sollen, um sich die Zeit gewinnbringend zu vertreiben, da dieser doch so klug war.
„Wehe dem Einzelnen“, zitierte der Pilot und seine Stimme klang vor dem sinnlosen Gesang des Propellers und des Metalls überzeugend und eindringlich. „Allein ist man ein Nichts; allein – und wär man von Bärenstärke – hebt man keinen Balken mittlern Gewichts. Na bitte!“
„Ja…“, stammelte Dobrynin.
Zum ersten Mal hatte ihn das Schicksal mit echten Soldaten zusammengeführt, und wie viele Gefühle und Gedanken sie in ihm hervorriefen! Einfach, ehrlich, mit Liebe und Achtung für Ordnung, immer gerüstet, jenen Teil des Vaterlandes zu verteidigen, der ihnen anvertraut war, hilfsbereit und außerdem gebildet und belesen! Dobrynins Gefühle überschlugen sich förmlich, es brodelte etwas in seiner Seele, aber er konnte es nicht in Worte fassen oder vielleicht war es ihm auch nur peinlich. Obgleich es im eben gehörten Gedicht geheißen hatte: „Allein ist man ein Nichts“, was bedeutete, dass auch Dobrynin selbst allein ein Nichts war, und obwohl das natürlich nicht sehr angenehm und rein rechnerisch nicht sehr logisch war, stimmte der Volkskontrolleur dem unbekannten Dichter bereitwillig zu. Er dachte nun auch, dass in Chulajba, wenn dort nur Soldaten leben würden, nichts Böses und Verbrecherisches vorgefallen wäre. Ja, und überhaupt, spann er seinen Gedanken weiter, man müsste diese Völker des Nordens zuerst einmal in die Armee aufnehmen, damit sie nach einer Ordnung zu leben lernten, und dann auch gleich in die Partei, und dann würde sicher die Zeit kommen, in der die Volkskontrolleure nichts mehr zu tun haben würden und nicht im Kampf gegen die Feinde sterben müssten, um dann für immer im Eis eingeschlossen zu sein.
Der Pilot, der Dobrynins gedankliches Gespräch nicht gehört hatte, setzte wieder seinen Helm auf und sah nach vorn in Flugrichtung.
Dobrynin verstand natürlich, dass man einen Piloten nicht so lange ablenken durfte, und er ging zurück und setzte sich an seinen Platz, hob das Büchlein vom Boden auf, suchte die Stelle, an der der Meteoritenschauer ihn unterbrochen hatte, und las die Erzählung fertig.
Das Flugzeug begann zu sinken. Die Erde kam näher, übersät von den Spuren menschlicher Tätigkeit. Dobrynin verschlang mit seinen Augen die russischen Wälder und Felder. Es wurde ihm warm ums Herz – unten war nichts zu sehen, was ihn an den Norden hätte erinnern können – weder Schnee, noch Eis, auch keine zugefrorenen Flüsse. Hier war alles anders, alles war menschlicher und vertrauter.
Zwischen den Dörfern, über die gelben Bänder der Straßen, bewegten sich langsam Menschen, klein wie Pünktchen. Kaum sichtbare hölzerne Masten, durch deren Leitungen elektrischer Strom in die Häuser und Fabriken floss, warfen kurze Schatten. Irgendwo zogen zwei Pferde ohne Eile ein Fuhrwerk. Und da – ein kleines Dorf, ein ganz normales russisches Dorf mit ungefähr fünfundvierzig Häusern, das nach jakutischen Maßstäben das dortige Moskau genannt worden wäre!
Das Lied des Propellers klang nun anders – es wurde ein wenig leiser, so als würde sich die Drehzahl verringern. Die Erde kam schnell und unaufhaltsam näher. Das Flugzeug visierte die Landebahn an, dahinter erhoben sich die Konturen des weißen, steinernen Herzens des Vaterlands und durchbrachen die diffuse Linie des Horizonts.
Endlich berührten die Räder des Flugzeugs die Erde und die Kampfmaschine rollte holpernd und ratternd über die Landebahn.
Dobrynin drückte sich wieder ans Fenster und stellte gleichzeitig den Fuß auf seinen Sack, damit dieser nicht von ihm fortwandern konnte.
Hinter dem Fensterglas war es sonnig und hell. Zu beiden Seiten der Landebahn wuchs dichtes grünes Gras und Löwenzahn war darin hineingestreut wie die Sterne am Himmel. Etwas weiter hinten standen streng aussehende, niedrige Ziegelbauten mit Antennen auf den Dächern.
Als das Flugzeug anhielt, erstarrte die Landschaft, während sie der Volkskontrolleur betrachtete – sie wurde zu einem Stillleben, das eine Augenweide war.
„Wir sind angekommen!“, vernahm Pawel Aleksandrowitsch die muntere Stimme des Piloten.
Beim Klang der Stimme erinnerte sich Dobrynin an den Satz „Allein ist man ein Nichts“. Er erhob sich von seinem Platz, nahm seinen Reisesack, ging zur Ausstiegsluke, die der Pilot schon geöffnet hatte, und sprang hinunter. Auf der Erde angekommen, hockte er sich zuallererst ins Gras. Vom langen Aufenthalt in der Luft drehte sich alles in ihm. Zu diesem Gefühl kam noch der Geruch des Grases hinzu, und Dobrynin fühlte sich ganz unwohl und gar nicht sicher auf den Beinen.
In seinen Ohren rauschte es, obgleich es um ihn herum still war, aber die Stille verdrängte allmählich den vergangenen Lärm aus der Erinnerung der Ohren. Dobrynin beruhigte sich und wurde sogar ein wenig fröhlich, was natürlich damit zu tun hatte, dass er gemeinsam mit dem Piloten alle Gefahren des Fluges hinter sich gebracht hatte und nun ohne besondere Schwierigkeiten in Moskau angekommen war.
Plötzlich durchbrach ein Geräusch die Stille, die inzwischen endgültig in Dobrynins Ohren eingekehrt war, und als der Volkskontrolleur seinen Kopf hob, erblickte er neben einem der schmucklosen Ziegelgebäude ein schwarzes Automobil und einen Mann, der ihm beharrlich zuwinkte. Der Volkskontrolleur stand unwillig auf und ging auf den Wagen zu.
Dort angekommen betrachtete Pawel Aleksandrowitsch das Gesicht des Mannes, der ihm zugewunken hatte, und dieses Gesicht kam Dobrynin sehr bekannt vor. Für alle Fälle winkte er zurück und lächelte aufrichtig, und als er ganz dicht herangetreten war, schüttelte er dem Mann auch die Hand.
„Herzlich willkommen, Pawel Aleksandrowitsch!“, sagte der Mann einigermaßen erfreut. „Sie haben sich überhaupt nicht verändert! Obwohl doch so viel Zeit vergangen ist!“
Wie viel Zeit?!, dachte Dobrynin, und da tauchte in seiner Erinnerung ein Bild aus der nicht allzu weit zurückliegenden Vergangenheit auf: seine Ankunft auf dem Moskauer Bahnhof, das Treffen mit den Korrespondenten und – ja, richtig – dieser Mann, der ihn dort abgeholt und mit dem Auto in die Dienstwohnung gebracht hatte. Aber wie hieß er nur?!
„Also, steigen Sie ein, steigen Sie ein, wir müssen los!“, sagte der Mann und hielt dann für einen Augenblick inne, da er den nachdenklichen Ausdruck im Gesicht des Volkskontrolleurs offenbar bemerkt hatte. Sodann setzte er noch munterer fort:
„Aber Sie werden sich doch an mich erinnern, ich bin’s, Viktor Stepanowitsch!“
„Ja, natürlich…“, nickte Dobrynin.
Sie nahmen im Wagen Platz. Viktor Stepanowitsch warf dem Fahrer einen Blick zu, woraufhin dieser den Motor startete.
„Und der Pilot… und das Flugzeug…?“, fragte Dobrynin besorgt.
„Keine Angst, wir wissen über alles Bescheid. Es hat alles seine Ordnung!“, antwortete darauf Viktor Stepanowitsch. „Warum ist eigentlich ihr Reisesack so vollgestopft? Sind Andenken aus dem Norden darin?!“
Die Frage verärgerte Dobrynin, aber er beschloss, seinen Ärger nicht zu zeigen – schließlich konnte dieser Mann nicht wissen, was dem Volkskontrolleur alles widerfahren war.
Sie fuhren auf die Straße hinaus. Auf der einen Seite des Automobils sauste eine schnurgerade Reihe von Pappeln mit spitzen Kronen vorbei, auf der anderen Seite Ahornbäume. Die Sonne blendete die Augen der Fahrenden, sobald ihre Strahlen zwischen den Bäumen durchschienen.
„Erinnern Sie sich an meine Krawatte?“, fragte Viktor Stepanowitsch plötzlich.
Dobrynin nickte. Natürlich erinnerte er sich daran.
„Was sich da für Schwierigkeiten für mich ergeben haben!“, beklagte sich Viktor Stepanowitsch. „Kaum zu glauben!“
„Warum?“, fragte Pawel Aleksandrowitsch zurückhaltend.
„Wie sich herausstellte, war sie wirklich gestohlen.“ Viktor Stepanowitsch seufzte tief. „Ich hätte fast alles verloren. Gut, dass das Politbüro ein gutes Wort für mich eingelegt hat. Na, und dieser Petrenko! Es ist wirklich erstaunlich, wie Menschen sich verändern können: 1905 hat er die Revolution mitorganisiert, und im dreiunddreißiger Jahr hat er dem Vizevorsitzenden des Rates der Volkskommissare die Krawatte gestohlen!“
„Ist er bestraft worden?“, fragte Dobrynin.
„Man hat ihn erschossen.“
Der Wagen raste durch einen Vorort von Moskau und erreichte eine breite Straße, an deren beiden Seiten Fabriksgebäude und Werkanlagen aufragten, die mit Bildern und Transparenten geschmückt waren.
Viktor Stepanowitsch schwieg. Dobrynin ebenfalls.
Plötzlich legte sich ein Schatten über das Auto und die ersten Regentropfen fielen auf die Windschutzscheibe. Der Fahrer verringerte die Geschwindigkeit. Es wurde dunkler und trüber.
„Es regnet schon den dritten Tag!“, klagte Viktor Stepanowitsch.
Die Scheibenwischer sausten hin und her und wischten die Tropfen von der Scheibe.
„Ich verstehe überhaupt nicht, warum in Mytischtschi die Sonne scheint, während es in der Hauptstadt regnet!“, meinte Viktor Stepanowitsch.
Dobrynin antwortete nicht. Er sah aus dem Fenster und betrachtete die großen grauen und schwarzen Häuser und die wenigen Fußgänger, die unter Schirmen ihrer Wege gingen. Und plötzlich blieb sein Blick an etwas hängen und er fuhr zusammen.
„Stehen bleiben!“, bat er stockend, ohne selbst den Grund dafür zu begreifen.
Der Fahrer trat auf die Bremse und das Auto kam auf der rutschigen Straße ein wenig ins Schleudern.
„Was ist los, geht es Ihnen nicht gut?“, sorgte sich Viktor Stepanowitsch.
„Doch“, schüttelte Dobrynin den Kopf. „Ich möchte da hinein…“
Viktor Stepanowitsch folgte dem Blick des Volkskontrolleurs und sah die weit geöffneten Türen des zentralen Feinkostladens. Die Vitrinen des Geschäfts leuchteten mit solcher Kraft, dass sie einen Teil der Straße heller beleuchteten als die Straßenlaternen.
„Na, dann kommen Sie, gehen wir!“, schlug Viktor Stepanowitsch vor.
Im Feinkostladen war es gemütlich und warm. Der große Saal, die strahlenden Kronleuchter, die Pyramiden unbekannter Waren, die hellen Farben – all das erinnerte Dobrynin an die Innenausstattung von Kirchen, und Pawel Aleksandrowitsch war erfüllt von Ehrfurcht. In den gläsernen Kassenhäuschen saßen hübsche Frauen ganz in Weiß, und Dobrynin hatte den Eindruck, als wären alle Blicke auf ihn und natürlich auf Viktor Stepanowitsch gerichtet. Das lag vermutlich daran, dass sie die einzigen Kunden waren.
„Na, gefällt Ihnen etwas?“, fragte Viktor Stepanowitsch.
Ohne zu antworten, trat Dobrynin näher an die hohe, saubere Theke heran, hinter der eine bezaubernde junge Frau mit kastanienbraunen Locken und rosigen Wangen stand und ihn freundlich anlächelte. Hinter der Frau hingen Regale an einer verspiegelten Wand, die mit Schachteln und farbenfrohen Dosen vollgestellt waren, und von dort hingen große und kleine Weißbrotkringel gebündelt herab, all das war außerdem noch mit Blumen geschmückt. Zwischen den Dosen erspähte Pawel Aleksandrowitsch eine Verpackung, die ihm bekannt vorkam. Er betrachtete sie genauer – es stimmte, auf der Verpackung war ein Rotarmist mit seiner Waffe abgebildet und darunter stand in schönen fetten Buchstaben die Bezeichnung „Auf dem Posten“. Das waren jene Kekse, die er im Norden gegessen hatte, wahrscheinlich im Haus des Komsomolzen Zybulnik.
„Bei uns ist alles ganz frisch!“, sagte die Verkäuferin mit angenehmer Stimme.
„Danke“, erwiderte Dobrynin aus irgendeinem Grund und sah die Frau dabei an. Dann fiel sein Blick wieder auf die Kekse. „Wie viel kosten die?“
„Was für welche?“, fragte die Verkäuferin.
„‚Auf dem Posten‘…“
„Vier Kopeken… an der Kassa, bitte.“
Dobrynin verließ die Theke und kramte automatisch in seinen Hosentaschen. Hierauf durchsuchte er die Taschen seiner Jacke und holte von dort anstelle von Geld seine Kontrolleursvollmacht hervor, woraufhin ihm auch wieder einfiel, dass er kein Geld hatte und es auch nicht brauchte. Er ging wieder zu der Frau zurück und zeigte ihr sein amtliches Dokument.
Nachdem die Frau es gelesen hatte, sah sie Dobrynin mit großem Respekt an.
„Und was möchten Sie überprüfen?“, fragte sie.
„Einen Kringel!“, fiel dem Volkskontrolleur schnell ein. „Und diese Schachtel, ‚Auf dem Posten‘…“
„Bitteschön!“ Die Frau verpackte Kringel und Keksschachtel gemeinsam und überreichte sie Dobrynin.
Nachdem Pawel Aleksandrowitsch seinen „Einkauf“ entgegengenommen hatte, fühlte er sich plötzlich unbehaglich im Geschäft, und obwohl er die unzähligen Regale voller Waren in den verschiedenen Abteilungen des Delikatessengeschäfts sehr gern genauer betrachtet hätte, trieb ihn dieses unbehagliche Gefühl hinaus in den Regen, wo das Auto auf ihn und Viktor Stepanowitsch wartete.
Viktor Stepanowitsch kam hinter ihm aus dem Geschäft und setzte sich gleich auf den Vordersitz des Wagens neben den Fahrer. Er hielt ein großes Bündel in seinen Händen.
„So“, sagte er und wandte sich zu Dobrynin um. „Ich habe Lebensmittel für das Abendessen gekauft, meine Frau ist auf Dienstreise gefahren.“
„Haben Sie auch eine Vollmacht?“, wollte der Volkskontrolleur wissen. „Also, damit sie einfach so etwas mitnehmen können… ohne Geld…“
„Nei-ein“, schüttelte Viktor Stepanowitsch den Kopf. „Ich muss für alles bezahlen. Ich bin doch nur ein einfacher Funktionär, wir haben solche Rechte nicht.“
Der Wagen fuhr durch das nächtliche Moskau. Vielleicht war es auch noch gar nicht spät, aber aufgrund des trüben, regnerischen Wetters dämmerte es bereits und die brennenden Straßenlaternen betonten den herannahenden Abend noch zusätzlich.
„Ich bringe Sie zu Ihrer Dienstwohnung“, sagte Viktor Stepanowitsch. „Morgen Früh hole ich Sie ab und dann geht es sofort in den Kreml.“
Kurze Zeit später bog der Wagen in eine Gasse ein und hielt an. Viktor Stepanowitsch und Dobrynin stiegen aus. Der Regen war nur noch ein leichtes Nieseln. Sie betraten ein mit zwei Arbeiterstatuen geschmücktes Haus, das Dobrynin bereits kannte. Viktor Stepanowitsch weckte den Hausmeister auf, der in seinem Zimmer vor sich hindöste, und dieser brachte sie in den zweiten Stock zur Wohnung Nummer drei, wobei er sich für das Schlafen im Dienst entschuldigte. Er sperrte die Tür auf, reichte Dobrynin den Schlüssel und ging über die Stiege wieder nach unten.
„Na, dann ruhen Sie sich aus“, sagte Viktor Stepanowitsch vor der Tür. „Marija Ignatjewna ist heute offenbar nicht da, also bestellen Sie sich telefonisch ein Abendessen. Morgen Früh hole ich Sie dann ab! Gute Nacht!“
„Auf Wiedersehen“, entgegnete Dobrynin trocken.
Er schloss die Tür hinter sich ab und ging, ohne die Schuhe auszuziehen, mit seinem Reisesack in der Hand in sein Arbeitszimmer. Dort schaltete er die Tischlampe ein und setzte sich in den Sessel.
Einerseits war ihm ein wenig traurig und einsam zumute, weil seine dienstliche Ehefrau Marija Ignatjewna nicht da war, andererseits beruhigte ihn dieser Umstand, da er sich nun in Ruhe mit seiner Lage auseinandersetzen konnte. Dobrynin machte sich daher daran, den Inhalt seines Reisesacks zu überprüfen. Er legte alles auf den Tisch, betrachtete noch einmal Kriwizkijs Porträt, warf einen Blick in die gelbe Aktentasche, holte aber die Unterlagen nicht heraus, da er fürchtete, dass sein Zorn auf die Feinde wieder aufleben und ihm die Laune verderben könnte. So blätterte er also in seinem geliebten Büchlein, doch im Moment stand ihm nicht der Sinn nach Lesen, deshalb zog er die Schuhe aus, fand direkt im Zimmer Hausschuhe, die noch von seinem letzten Besuch hier zurückgeblieben waren, und schlurfte in die Küche.
Dort herrschte, wie überhaupt in der ganzen Wohnung, vollkommene Ordnung, alles war aufgeräumt und sauber. Pawel Aleksandrowitsch füllte den Teekessel mit Wasser und stellte ihn auf den Herd. Dann ging er in das große Zimmer, schaltete das Licht ein, ging hierauf weiter in das Schlafzimmer und machte auch dort Licht. Er wollte sich für ein paar Minuten hinlegen, aber ein gerahmtes Foto, das auf dem Nachtkästchen neben einem Spiegel auf der anderen Seite des Bettes, auf der Seite von Marija Ignatjewna stand, erregte seine Aufmerksamkeit.
Pawel Aleksandrowitsch trat näher an das Nachtkästchen heran und betrachtete das Bild genauer: Ein schöner Mann in Uniform war darauf abgebildet.
„Was soll’s“, dachte Dobrynin. „Ich bin schließlich nicht ihr wirklicher Mann, also macht das nichts…“
Der Volkskontrolleur wollte gar nicht weiter über diesen Mann nachdenken, umso mehr, als der Mann ein Soldat war, ein Offizier, was für Dobrynin sehr viel bedeutete. Das Einzige, was er dabei empfand, war Einverständnis mit Marija Ignatjewnas Wahl.
Es läutete an der Tür. Sogleich vergaß Dobrynin das Foto und ging in den Flur.
Der Hausmeister war gekommen. Er stand an der Türschwelle und wollte wissen, ob er nicht etwas zum Essen aus der Küche im Keller bringen solle.
„Ja, bring etwas!“, sagte Dobrynin freundlich zu ihm, und der Hausmeister machte bereitwillig kehrt und eilte die Treppe hinunter – offensichtlich machte er sich gerne für andere Menschen nützlich.
Dobrynin ließ die Tür einen Spalt offen, kehrte in die Küche zurück und nahm den Kessel mit dem kochenden Teewasser vom Herd. Er schüttete ein halbes Päckchen Tee hinein, das er im Küchenschrank gefunden hatte. Dann setzte er sich an den Tisch.
In die Stille der Dienstwohnung hinein tickte leise die Uhr, die an der Küchenwand hing, und der Volkskontrolleur hielt den Atem an, um darauf zu horchen.
Draußen breitete sich die Dunkelheit aus. Während Dobrynin auf das Abendessen wartete, erwachte in ihm ein Hungergefühl, das er während des Fluges unterdrückt hatte, und als er über seinen Hunger nachdachte, erinnerte er sich an seine Familie daheim, an das Dorf Kroschkino, an seinen Hund Mitka und an den Sternenhimmel, von dem sich manchmal nutzlose Sterne losrissen, hinabfielen und unterwegs erloschen.
„Hallo? Darf ich hereinkommen?“, erklang es leise aus dem Vorzimmer.
„Komm hierher!“, rief der Volkskontrolleur zurück.
Der Hausmeister trat ein und stellte ein mehrteiliges Gedeck auf den Tisch, das zum Transport von Essen mit Blechklammern zusammengehalten wurde. Mit geschickten Händen nahm er die Garnitur auseinander und stellte drei Töpfe und Schüsseln in der richtigen Reihenfolge vor Dobrynin auf. Dann legte er auch noch Essbesteck auf den Tisch aus, ganz wie es sich gehörte.
„Und du?“, fragte der Volkskontrolleur und sah den Hausmeister an. „Isst du auch etwas?“
„Danke…“ Der Hausmeister lächelte und zeigte dabei seine vom Rauchen ganz gelben Zähne. „Ich mag einfaches Essen, von so etwas bekomme ich Blähungen…“
„Na, setz’ dich trotzdem dazu“, bat Dobrynin. „Allein ist es langweilig.“
Und er zog die Suppenschüssel zu sich heran und begann zu essen. Nach dem zweiten Löffel Suppe erschien auf Dobrynins Gesicht ein Ausdruck des Erstaunens. Er sah den Hausmeister fragend an, schluckte das, was er gerade im Mund hatte, und fragte:
„Ist das eine russische Suppe? Oder vielleicht irgendeine Nationalsuppe?“
„Nationale Suppen werden hier nicht gekocht. Also muss es eine russische sein…“, antwortete der Hausmeister.
Dobrynin schob die Schüssel mit Entschiedenheit von sich und wandte sich der Hauptspeise zu, die ganz anständig aussah – gebratenes Fleisch und ein paar Kartoffeln.
Der Hausmeister saß da und sah dem Volkskontrolleur mit Anteilnahme beim Essen zu. Und als Dobrynin auch die Hauptspeise wegschob, ohne sie aufgegessen zu haben, bot der Hausmeister an:
„Soll ich vielleicht etwas Speck bringen? Ja?“
Pawel Aleksandrowitsch, der noch immer ein unzufriedenes Gesicht machte, gefiel der Vorschlag des Hausmeisters, und er nickte diesem guten Menschen zu.
„Wie heißt du?“, fragte Dobrynin den Hausmeister, als dieser mit einem großen Stück Speck und einer Flasche Wodka zurückgekehrt war.
„Wasja heiße ich“, stellte sich der Hausmeister bereitwillig vor.
„Und ich bin Pawel.“
Nachdem sie einige dicke Scheiben Brot abgeschnitten und es mit appetitlichen Stücken echten Bauernspecks belegt hatten, der von feinen Fleischfasern durchzogen war, mussten der Hausmeister und der Volkskontrolleur gleichzeitig grinsen und sie seufzten beide erleichtert auf. Wasja holte Gläser aus dem Küchenschrank und schenkte Wodka ein.
„Sagen Sie nur ja niemandem, dass wir hier…“, und der Hausmeister beendete seine Bitte, indem er mit dem Zeigefinger auf den Speck und die Flasche zeigte. „Sonst jagt man mich zum Teufel.“
„Ich sage sicher nichts!“, beruhigte ihn Dobrynin und dachte dabei, dass man, sollte dies eine ernstliche Verletzung der Vorschriften sein, auch ihn dafür hinauswerfen könnte.
„Dann also auf Ihre Rückkehr!“ Wasja hob das Glas.
Sie stießen an und tranken. Dann bissen sie von ihren dicken Speckbroten ab.
„Arbeitest du schon lange hier?“, fragte Dobrynin.
„Vier Jahre sind es jetzt“, erzählte der Hausmeister. „Man hat mich auf Empfehlung der Kolchose hergeschickt. Ich kann nämlich nicht so gut sehen. Obwohl ich natürlich alle Bewohner des Hauses schon von weitem am Gesicht erkenne, aber es wohnen jetzt auch nur mehr vier Personen hier. Ihre Frau, Marija Ignatjewna, dann jemand im ersten Stock, der Staatsanwalt Loschkarew, dann noch Feldmann aus dem Theater der Sowjetarmee – er wohnt im dritten Stock –, und der Deutsche Schlosse oder Flosse im vierten. Die übrigen Wohnungen sind leer…“
Pawel Aleksandrowitsch wollte sich zwar tatsächlich gern unterhalten, aber doch irgendwie klug, mit einem Nutzen für sich selbst oder zumindest für seinen Gesprächspartner, und deshalb unterbrach er Wasjas Erzählung über die Bewohner des Hauses.
„Lass uns lieber von etwas anderem reden!“, wandte er sich an den Hausmeister. „Liest du gerne?“
Der Hausmeister stutzte und blickte Dobrynin erschrocken an.
„Und warum?“, fragte er.
„Ja also, einfach so… Ich wollte dir eine Geschichte erzählen, die ich in einem Buch gelesen habe. Es gab da so einen Mann – Lenin, kennst du ihn?“
„Aber natürlich kenne ich ihn, sicher…!“, antwortete Wasja immer noch auf der Hut.
„Also, in dieser Geschichte geht es um ihn und um eine Suppe…“
Und der Volkskontrolleur erzählte die erste Geschichte aus dem Buch, die von der Nationalsuppe handelte, die nicht schmeckte.
Mit offenem Mund hörte der Hausmeister ihn bis zum Schluss an. Als Dobrynin geendet hatte, schenkte Wasja Wodka nach und fragte leise, fast flüsternd:
„Ist das denn alles wahr?“
„Ja!“, bestätigte Dobrynin, der sich über den Zweifel des Hausmeisters wunderte.
„Das hätte ich nicht gekonnt!“, schüttelte der Hausmeister den Kopf. „Ich hätte sofort Blähungen bekommen, und ich hätte… das gleich gar nicht…“
„Ich glaube, ich hätte es gekonnt“, sagte Pawel Aleksandrowitsch. „Aber ich weiß es nicht genau… Das ist schließlich eine russische Suppe“, Dobrynin zeigte mit dem Blick auf die Schüssel vor sich. „Die hätte ich nicht gegessen, auch wenn sie eine Nationalsuppe gewesen wäre. Aber vielleicht hätte ich sie doch gegessen. Wer weiß? Schließlich habe ich im Norden eine Sülze gegessen, die aus einem gewissen Organ des Rentiers gemacht wird, du weißt schon…“
„Ach was!“, rief der Hausmeister aus. „So etwas isst man dort?!“
„Ja“, nickte Dobrynin. „Aber da es ein Nationalgericht ist, muss man es auf jeden Fall essen, ganz gleich, ob man es mag oder nicht…“
Dobrynin verstummte, ohne den Satz zu beenden, da er in seinen Gedanken etwas durcheinandergekommen war und nun begriff, dass Lenin, wäre er jetzt hier an seiner Stelle, auch diese Suppe gegessen hätte und vielleicht sogar noch darum gebeten, sich nachnehmen zu dürfen, nur damit die Hausfrau oder die Person, die den Fraß gekocht hatte, sich nicht kränken möge. Und der Volkskontrolleur wurde traurig darüber und zugleich wütend auf sich und seine Schwäche.
„Lass uns trinken, ja?“, bat der Hausmeister, der sein bis zum Rand gefülltes Glas lange genug in der Hand gehalten hatte.
„In Ordnung!“ Dobrynin war einverstanden und zog mit der linken Hand die vorher abgelehnte Suppe mit Entschiedenheit zu sich. „Auf das Vaterland!“, sprach Pawel Aleksandrowitsch, und in seiner Stimme schwang die Wut auf sich selbst mit.
Nachdem er sein Glas ausgetrunken hatte, gab er sich einen Ruck und nach wenigen Minuten war in der Schüssel keine Suppe mehr übrig.
Der Hausmeister sah ihn erstaunt an. Er hatte etwas sagen wollen, aber das Wort war ihm im Hals stecken geblieben. Also räusperte sich Wasja nur leise und schwieg. Als aber Dobrynin nun auch noch die inzwischen kalte Hauptspeise, die er vorhin gleichfalls abgelehnt hatte, zu sich heranzog, stand der Hausmeister auf, murmelte eine Entschuldigung und ging.
Vielleicht war es besser so – offenbar hatte er fühlen können, wie in Dobrynins Innerem die Wut angewachsen war –, aber er wusste ja nicht, dass der Volkskontrolleur nur auf sich selbst wütend war und also keinerlei Gefahr für seine Umwelt darstellte.
Nachdem der Hausmeister sich aus der Wohnung davongemacht hatte, trank Dobrynin den Wodka aus, und sodann auch den süßen Fruchtsaft, der Teil des Abendessens war. Hierauf ging er in sein Arbeitszimmer, in dem das sanfte Licht der Tischlampe durch den grünen Lampenschirm schien.
Der Volkskontrolleur setzte sich an den Tisch, schlug das geliebte Buch auf und versuchte erneut, die nächste Erzählung zu lesen, aber auch jetzt kam nichts dabei heraus. Die Wörter waren leicht zu lesen, aber in Dobrynins Kopf wollte nichts hängen bleiben, und so sah sich der Volkskontrolleur gezwungen, das Buch zuzuklappen und, nachdem er das Licht ausgeschaltet hatte, ins Schlafzimmer zu gehen.
Das breite Bett kam ihm dieses Mal zu groß und ungemütlich vor, und Dobrynin wälzte sich trotz seiner Müdigkeit noch zwei Stunden lang hin und her, bevor er endlich einschlafen konnte.
Am Morgen weckte ihn ein beharrliches Klingeln an der Tür. Mit Mühe stand Dobrynin aus dem Bett auf, ging in den Flur, entriegelte das Schloss und entdeckte auf dem Stiegenabsatz Viktor Stepanowitsch, der auch noch verschlafen, aber fest auf den Beinen stand.
„Entschuldigen Sie, dass ich so früh gekommen bin“, sagte Viktor Stepanowitsch. „Man hat es so angeordnet, Pawel Aleksandrowitsch. Genosse Kalinin erwartet uns.“
Dobrynin nickte und ging, um sich anzuziehen.
Nach etwa drei Minuten verließ er angekleidet und mit dem Reisesack in der Hand die Wohnung.
„Aber lassen Sie den doch hier“, sagte Viktor Stepanowitsch, als er den Sack sah. „Sie kommen nach dem Kreml doch hierher zurück!“
„Da ist etwas für Genosse Kalinin drin“, entgegnete der Volkskontrolleur, ohne ins Detail zu gehen.
Das Wetter war immer noch trübe. Eisregen klebte an den Fensterscheiben des Wagens fest. Die unermüdlichen Scheibenwischer ermöglichten dem Fahrer und den übrigen Insassen zwar die freie Sicht nach vorn, durch die Seitenscheiben aber konnte man außer diffuser Dunkelheit nichts erkennen. Die Straßenlaternen brannten noch immer und bemühten sich, die verspätete Morgendämmerung zu beschleunigen.
Von Zeit zu Zeit gähnte der Fahrer. Jedes Mal, wenn er gähnte, musste auch der neben ihm sitzende Viktor Stepanowitsch gähnen. Pawel Aleksandrowitsch hingegen, der hinter dem Fahrer saß, fühlte sich trotz des Wetters und obwohl er so unerwartet früh geweckt worden war, schon ziemlich munter.
Bevor der Wagen durch das Erlösertor des Kreml fuhr, hielt er einen Augenblick an. Auf der Seite von Viktor Stepanowitsch wurde die Tür geöffnet und es erschien das höfliche, aber reservierte Gesicht des wachhabenden Milizionärs. Nachdem er mit einem Blick alle überprüft hatte, nickte er Richtung Fahrer und schlug die Tür ohne ein Wort wieder zu.
Sie fuhren in den Kreml hinein und blieben nach einigen Abzweigungen stehen.
Auf dem Kremlgelände regnete es stärker. Die Tropfen trommelten mit einer solchen Macht auf das Auto, dass es sich wie Hagel anhörte.
Dobrynin und Viktor Stepanowitsch stiegen aus dem Wagen und liefen hastig durch den Regen zum Diensteingang an der Stirnseite des bereits bekannten Gebäudes. Sie wurden aber trotzdem nass, und der Milizionär, der dort Wache stand, blickte sie mit aufrichtigem Mitleid an.
Ein unangenehmes Gefühl, das vom Wasser kam, das Viktor Stepanowitsch in den Kragen lief, ließ diesen aufstöhnen, während er dem Milizionär seinen Ausweis zeigte. Dobrynin griff zu seiner Volkskontrolleursvollmacht und streckte sie dem Wache stehenden Mann ebenfalls hin. Als der Milizionär die Vollmacht gelesen hatte, blickte er auf den Reisesack in Dobrynins Händen.
„Was ist denn da drin?“, fragte er.
„Unterlagen für den Genossen Kalinin“, antwortete der Volkskontrolleur.
„Treten Sie ein“, nickte der Milizionär.
Viktor Stepanowitsch und Dobrynin stiegen eine schmale Marmortreppe hinauf, die von einem ehemals roten, von tausenden, vielleicht sogar Millionen Stiefeln abgetretenen Läufer bedeckt war.
Dobrynin lächelte innerlich, da der Milizionär dieses Mal seinen Sack nicht durchsucht hatte, in dem außer der Aktentasche mit den Unterlagen auch noch die Axt und das Kriwizkij-Porträt lagen. Seine Freude war einfach und auf bäuerliche Art unschuldig.
Sie durchschritten einen langen Korridor und blieben vor einer Tür stehen.
Es war dasselbe bescheidene Zimmer, in dem sich kaum Möbel befanden – nur der große Arbeitstisch voller Papier und Aktenmappen und der kleine Beistelltisch mit den drei Stühlen sowie noch das Bücherregal an der gegenüberliegenden Wand.
„Ah!“, freute sich Genosse Kalinin, als er Dobrynin erblickte. „Pascha! Herzlich willkommen! Wir haben uns lang nicht gesehen!“
Dobrynin wurde ganz verlegen und grüßte nicht einmal gleich – er hätte sich nicht gedacht, dass Genosse Kalinin sich so gut an ihn erinnern würde.
„Aber warum stehst du denn in der Tür!“, empörte sich Genosse Kalinin im Scherz. „Komm doch herein, du bist mir ein teurer Gast!“ Dann drehte er sich gleich zu Viktor Stepanowitsch um und sagte mit ganz veränderter Stimme:
„Und du, Stepanytsch, geh bitte und sag, dass man Tee bringen soll. Dann kannst du dich ausruhen!“
Dobrynin trat ein und setzte sich auf einen der Stühle am Beistelltisch. Die Tasche stellte er auf den Boden zu seinen Füßen. Kalinin setzte sich ihm gegenüber und fixierte mit einem durchdringenden Blick die Augen des Volkskontrolleurs. Und der Kontrolleur sah den Genossen Kalinin an und wunderte sich. Dieser hatte sich überhaupt nicht verändert, nur auf dem Aufschlag seines Rocks, der immer noch derselbe war, war ein Orden hinzugekommen und außerdem noch zwei auffällige Flicken, die so grob aufgenäht waren, dass Dobrynin annahm, dass Kalinin selbst es getan haben musste. Ein Flicken lugte unter der linken Achsel hervor, der zweite befand sich rechts über der Tasche.
„Also, wie ist die Arbeit dort?“, fragte Genosse Kalinin mit Interesse.
Dobrynin seufzte bedauernd. Ihm war klar, dass, sobald er seine Erzählung beginnen würde, er dem Genossen Kalinin auch die Stimmung verderben müsste, aber es war notwendig zu sagen, denn schließlich war er aus ebendiesem Grund in einem Bombenflugzeug durch nahezu das ganze Land geflogen und hierhergekommen.
„Ganz unterschiedlich…“, begann Dobrynin unentschlossen.
„Nur keine Angst, erzähl alles, so wie es ist!“, sagte Genosse Kalinin nun mit ernster Stimme.
„Also dann: Schlimm geht es dort zu“, räumte der Volkskontrolleur durch Kalinins Worte ermutigt ein.
Und Dobrynin erzählte vom Tod des Pferdes, vom Piloten und von Fjodor, von den Ungeheuerlichkeiten, die Kriwizkij in Chulajba verursacht hatte, von Kriwizkijs Hinrichtung und natürlich von der geheimen Geschichte von der Übergabe von Parteibeiträgen an die Japaner. Mit großer Trauer erzählte Dobrynin von den im Eis erfrorenen Kontrolleuren und davon, wie er beinahe selbst ihr Schicksal geteilt hätte.
Genosse Kalinin hörte den Erzählungen des Volkskontrolleurs aufmerksam zu und unterbrach ihn kein einziges Mal. Gegen Ende bemerkte Pawel Aleksandrowitsch in Kalinins Blick gerechten Zorn.
Da klopfte jemand an die Zimmertür. Ein Rotarmist brachte einen Teekessel, zwei Gläser in Glashaltern und eine Blechdose mit Würfelzucker. Er stellte alles auf den Tisch, salutierte und ging wieder hinaus.
„Ja“, brachte Kalinin traurig hervor. „Trinken wir Tee. Leider hab ich nichts zum Tee dazu… Die Zeiten sind schwer bei uns.“
„Ich habe Kekse dabei“, erwiderte Dobrynin und beugte sich zu seinem Reisesack hinunter, um die Schachtel „Auf dem Posten“ hervorzuholen.
Er legte die Kekse auf den Tisch und schenkte dann Tee in die Gläser.
„Die Kekse sind gut!“, bemerkte Kalinin. „Hast du sie im Norden gekauft?“
„Nein, hier in Moskau, in einem Geschäft im Zentrum.“
„Na, dann steht es noch nicht ganz schlecht. Ich weiß selbst nicht genau, wie es dort außerhalb der Kremlmauern zugeht. Ich hab nicht einmal Zeit zum Schlafen, geschweige denn, um in die Stadt zu gehen! Na, und die Aktentasche, von der du gesprochen hast, hast du sie dabei?“
„Ja, hier.“ Dobrynin beugte sich wieder über seine Tasche und holte die gelbe Aktentasche und das Pelzporträt von Kriwizkij heraus.
„Was für ein Unmensch!“ Kalinin schüttelte den Kopf, als er das Porträt an sich genommen hatte. „Wie hat man nur so jemanden aussuchen können?! Damit wird man sich ernsthaft auseinandersetzen müssen! Ich übergebe das dem Zuständigen und du, Pascha, mach dir keine Sorgen. Wir werden die Kontrolleure rächen!“
Schweigend tranken sie Tee und kauten Zucker und Kekse dazu.
Dobrynin erinnerte sich an den Urku-Jemzen.
„Genosse Kalinin“, unterbrach er das Schweigen. „Wie kann ich diesen Einheimischen, der mich gerettet hat, zu meinem Gehilfen machen? Sodass er mit mir unterwegs sein kann…“
„Vertraust du ihm voll und ganz?“, fragte Kalinin streng.
„Ja.“
„Na, dann ist alles in Ordnung. Wir stellen ihm eine Vollmacht aus. Wie heißt er?“
„Dmitrij Waplachow.“
„Und sein Vatername?“
„Den kenne ich nicht“, gestand Dobrynin.
„Na, dann nehmen wir Iwanowitsch!“, murmelte Genosse Kalinin, während er alles auf einem Blatt Papier notierte.
„Einverstanden“, stimmte der Volkskontrolleur ihm zu.
Sobald die notwendige Mitschrift verfasst war, legte Kalinin das Papier auf seinen Arbeitstisch und blickte wieder Dobrynin an.
„Pascha“, sagte er. „Ich wollte dich um deinen Rat fragen…“
„Wirklich?!“ Dobrynin war aufrichtig verwundert.
„Ja. Du bist doch so etwas wie ein Vertreter des Volkes. Man hat mir vom Obersten Sowjet ein Schreiben von den Bewohnern der Stadt Twer geschickt, das ist so eine Stadt nicht weit von hier… Nun, sie bitten mich also, dass ich zu Ehren ihrer Stadt meinen Namen ändere…“
„Wie ist das gemeint?“ Dobrynin verstand nicht.
„Nun, sie bitten mich, den Nachnamen Twerin anzunehmen… Es ist eine gute Stadt, der Fünfjahresplan wurde zwei Jahre früher erfüllt, aber ich weiß es einfach nicht…“
„Also, wenn es eine gute Stadt ist, warum nicht?“ Nachdem Dobrynin ein wenig über das Problem nachgedacht hatte, begann er bereits überzeugter zu sprechen: „Ja, und es klingt auch gut, sehr russisch: Twerin! Das ist immerhin nicht Brodskij! Und auch nicht Kriwizkij!“
„Ja?!“, entgegnete Kalinin nachdenklich. „Na, vielleicht hast du recht… Also gut. Lass mir die Aktentasche und das Porträt hier und ich werde gleich den Befehl geben, die Angelegenheit zu untersuchen. Man wird dich jetzt nach Hause bringen, und du bleib bitte in der Wohnung. Wenn irgendetwas ist, dann wirst du abgeholt. Weißt du, solche Angelegenheiten sind nicht meine Stärke, aber bei uns gibt es Tschekisten, die sind gut in all diesen Sachen. Es kann sein, dass du ihnen alles noch einmal erzählen musst. In Ordnung?“
„Natürlich“, antwortete Dobrynin und stand vom Tisch auf.
„Entschuldige mich, ich muss arbeiten.“ Kalinin stand ebenfalls auf. „Aber wir werden bald wieder gemeinsam Tee trinken!“
Genosse Kalinin führte den Volkskontrolleur auf den Korridor hinaus und rief einen Rotarmisten herbei, der in der Nähe Wache stand, damit er Dobrynin aus dem Gebäude begleite.
Draußen war das Wetter etwas besser geworden, aber die Sonne schien immer noch nicht. Anstelle der schwarzen Regenwolken hingen nun bläuliche Wolken am Himmel. Der Regen hatte aufgehört, aber es war ziemlich windig.
Dobrynin bestieg den Wagen, der auf ihn gewartet hatte, und fuhr zu seiner Dienstwohnung.
Zu Hause war herrschte Stille, und in dieser Stille war das leise Ticken der Uhr zu hören, die in der Küche hing. Draußen war es immer noch Tag, aber in Dobrynins Innerem wurde es bereits Abend. Er war nach dem Gespräch mit dem Genossen Kalinin ziemlich erschöpft. Obgleich er sich erleichtert fühlte, da er Kalinin die Aktentasche mit den Unterlagen und das Porträt des Feindes übergeben und ihm auch alles Vorgefallene erzählt hatte, wollte er sich dennoch ein wenig hinlegen und dösen. Nachdem er die Stiefel von den Füßen gezogen und sie im Gang abgestellt hatte, ging Pawel Aleksandrowitsch ins Schlafzimmer und legte sich, ohne sich auszukleiden, auf das breite Bett.
Nach einiger Zeit weckte ihn das Geräusch der Eingangstür, die aufgesperrt wurde. Er öffnete die Augen einen Spalt breit, wodurch er seltsamerweise besser hören konnte. Zwei Stimmen drangen an sein Ohr: eine weibliche, und eine andere, die militärisch klang. Das Gespräch der beiden Stimmen dauerte nur kurz, dann gingen zwei Paar Füße leise über den Flur, hierauf knarrte eine Zimmertür und zwei Mal war ein Geräusch zu hören, als ob Salzsäcke auf den Boden fielen. Wieder schritten Füße über den Flur, aber dieses Mal bereits in Richtung Ausgang. Daraufhin schnappte das Schloss der Eingangstür auch schon zu und es wurde wieder still.
Dobrynin stand auf und warf einen Blick aus dem Schlafzimmer.
Am Ende des Flurs, der wie ein kleiner Bach in das große Zimmer mündete, huschte ein leichter Schatten vorbei.
Dobrynin überlegte, rieb sich kurz die Augen und machte sich immer noch verschlafen auf, den Schatten zu treffen.
Im großen Zimmer entdeckte er seine dienstliche Ehefrau Marija Ignatjewna. Sie saß entspannt auf dem Sofa und ruhte sich offensichtlich aus. Als sie Dobrynin erblickte, sprang sie auf die Beine, schlug die Hände zusammen und hauchte zärtlich: „Pawluschka!“ Dann lief sie auf den Volkskontrolleur zu und umarmte ihn. Pawel Aleksandrowitsch umfasste ihre Schultern ebenfalls.
„Du bist zurückgekommen! Endlich!“, schluchzte Marija Ignatjewna und vergrub ihr Gesicht in Dobrynins Brust. „Mein heiß Ersehnter…“
Pawel Aleksandrowitsch geriet in Verlegenheit, als er ihr Schluchzen hörte. Wie kam er plötzlich dazu, ihr „heiß Ersehnter“ zu sein, wenn sie dort auf dem Nachtkästchen das Bild eines ganz anderen Mannes stehen hatte? Oder war das vielleicht so vorgeschrieben? Möglicherweise war jede dienstliche Ehefrau dazu verpflichtet, ihren dienstlichen Ehemann genau so willkommen zu heißen. Dobrynin versank in Gedanken, und dabei wurden seine Sinne von dem süßen Parfümduft benebelt, den ihr kastanienbraunes Haar verströmte. Und seine Hände strebten mit aller Macht danach, über die violette Seide ihres Kleides nach unten zu gleiten.
Schließlich löste sich seine Frau aus der Umarmung – offenbar waren ihre Arme müde geworden –, sah dem Volkskontrolleur mit einem warmherzigen Blick in die Augen und lächelte das strahlende Lächeln eines glücklichen Menschen.
Dobrynin ließ sie bereitwillig los, machte einen halben Schritt zurück, um Marija Ignatjewna betrachten zu können, und bemerkte eine Veränderung an ihr. Seine dienstliche Frau war noch attraktiver geworden. Ihr Gesicht war ein bisschen runder und ihre rosigen Wangen strahlten Frische aus. Auch hatte sie ein wenig zugenommen, was sie aber nur noch anziehender machte.
„Wann bist du zurückgekommen, Pawluschka?“, fragte sie mit samtig weicher Stimme.
Dobrynin schluckte und sagte gepresst:
„Schon gestern.“
„Setz dich doch!“ Sie zeigte mit der Hand auf das Sofa. „Wir haben uns so lange nicht gesehen!“
Dobrynin setzte sich. Seine dienstliche Frau nahm neben ihm Platz und rückte dicht an ihn heran, sodass der Volkskontrolleur den Körper seiner Frau an seiner Seite spürte.
„Bitte erzähl: Wo warst du, was hast du gemacht?“, bat Marija Ignatjewna und legte ihren Kopf auf seine Schulter.
Dobrynin überlegte, während er die in ihm aufsteigende Erregung zu unterdrücken versuchte. Er hatte wenig Lust, seiner dienstlichen Frau alles zu erzählen, was ihm geschehen war. Aber wieder kamen Zweifel in ihm auf: Vielleicht war es so vorgeschrieben und jeder dienstliche Ehemann war verpflichtet, seiner dienstlichen Ehefrau alles zu erzählen?! Nachdem er ein paar Minuten hin und her überlegt hatte, entschloss sich der Volkskontrolleur dazu, vorsichtig nachzufragen:
„Nun, wie soll ich erzählen: der Reihe nach oder nur das Wichtigste?“
„Das Wichtigste“, nickte seine Frau und ihr Gesicht nahm in Erwartung der Erzählung einen ernsten Ausdruck an.
Dobrynin berichtete ihr ohne große Lust von den wichtigsten üblen Vorfällen, vom Tod des weißen Pferdes und der beiden Genossen während des Schneesturms, vom rätselhaften Verschwinden eines ganzen Volkes und von den verlässlichen Soldaten.
Seine Frau hörte ihm mit unverhohlenem Interesse zu. Während Dobrynin erzählte, zeigte ihr Gesicht einen so bewegten Ausdruck, dass Dobrynin daraus schloss, dass sie sich stark zurückhielt, ihren Mann nicht über Einzelheiten auszufragen. Aber sie unterbrach Dobrynin kein einziges Mal, und am Ende seiner Erzählung hob sie den Kopf von seiner Schulter und küsste den Volkskontrolleur auf die Schläfe.
„Du bist ein Held für mich!“, sagte sie mit zärtlicher, warmer Stimme.
Dobrynin wusste mit den Zärtlichkeiten seiner dienstlichen Ehefrau nichts anzufangen, und von dem Kuss auf seine Schläfe krampfte sich in ihm sogar alles zusammen und er spannte die Muskeln an, um das unerwünschte Verlangen zu unterdrücken. Aber die Worte dieser Frau, genauer gesagt das Wort „Held“, erwärmten Pawel Aleksandrowitsch das Herz und taten ihm wohl. Sogleich war er ihr gegenüber milder gestimmt. Er überwand seine verlegene Wortkargheit und fragte:
„Und du, Marija Ignatjewna, wo warst du?“
„Ich war auf Dienstreise“, antwortete seine dienstliche Ehefrau ruhig. „Ich habe den Soldaten geholfen…“
Als Dobrynin das hörte, wunderte er sich und begriff, dass er über seine dienstliche Frau überhaupt nichts wusste.
„Und zu welcher Einheit ging die Reise?“, brachte er noch eine Frage hervor.
„Ich bin schließlich Vorsitzende der Frauenkommission des Obersten Sowjet für Mutterschaft und glückliches Familienleben…“
Bei diesen Worten fühlte Dobrynin sich unwohl, ihm wurde schwindlig und er stand auf.
„Was ist mit dir, Pawluschka?!“, fragte Marija Ignatjewna besorgt.
„Mein Kopf…“
„Du bist wahrscheinlich erschöpft. Du hast so viel durchgemacht! Möchtest du vielleicht einen Wodka?“, flötete seine Frau erstaunlich zärtlich.
Pawel Aleksandrowitsch nickte.
„Setz dich, setz dich, Pawluschka, ich bin gleich wieder da!“ Und Marija Ignatjewna sprang auf und ging in die Küche.
Dobrynin setzte sich wieder auf das Sofa. In seinem Kopf herrschte ein Durcheinander.
Ins Zimmer zurückgekehrt reichte Marija Ignatjewna ihrem Mann ein Gläschen Wodka und eine kleine Salzgurke. Pawel Aleksandrowitsch trank den Wodka aus und aß die Gurke dazu. Danach fühlte er sich ein wenig besser.
„Ich kann dir von meiner Dienstreise erzählen!“, schlug die dienstliche Ehefrau vor und begann sogleich, ohne Dobrynins Zustimmung abzuwarten: „Ich war in Weißrussland und habe Militäreinheiten besucht. Auch bei der Grenzwache war ich. Achtzigtausend Liter Blut habe ich gesammelt…“
„Was?“, fragte ihr Mann erschrocken.
„Blut“, wiederholte Marija Ignatjewna und sah Dobrynin aufmerksam in die Augen. „Und du… kann es sein, dass du gar nichts davon weißt?! Du warst doch an einem Ort, an dem es weder Radio noch Zeitungen gibt… Natürlich weißt du nichts davon!“
„Wovon weiß ich nichts?“
„Na… von der landesweiten Blutspendeaktion.“
„Und wofür braucht man das Blut?“, fragte der Volkskontrolleur immer noch erstaunt.
„Für den Fall eines Krieges“, antwortete Marija Ignatjewna. „Die internationale Lage ist äußerst angespannt. Also hat sich das sowjetische Volk verpflichtet, dem Vaterland zehn Millionen Liter Blut zu spenden. Es spenden natürlich in erster Linie Personen des Militärs und Kommunisten. Mit ihnen gibt es keine Probleme. Aber die Kolchosbauern…“ Marija Ignatjewna schüttelte missbilligend den Kopf. „Sie verstehen es nicht… Sie haben das Besitzdenken noch nicht überwunden.“
„Und wie kann man einem Menschen Blut abnehmen?“, dachte der Volkskontrolleur laut nach. „Das ist doch schwierig…“
„Daran ist überhaupt nichts Schwieriges!“, überzeugte ihn seine dienstliche Frau. „Es ist sogar sehr leicht, es wird in einem medizinischen Verfahren aus der Vene entnommen. Eine spezielle, fünfzigtausend Mann starke Gruppe von Arzthelfern wurde dafür ausgebildet. Sie nennen sich die Fünfzigtausender. Und du, Pawluschka, hast wahrscheinlich noch kein Blut gespendet, wo du doch nichts davon wusstest?“
Dobrynin fühlte, wie seine Füße kalt wurden. Er hatte wirklich noch kein Blut gespendet, aber es verlangte ihn auch nicht besonders danach. Er musste jedoch auf die Frage seiner Frau antworten und zwar so, dass sie nichts Schlechtes von ihm dachte.
„Noch nicht…“, stammelte Pawel Aleksandrowitsch. „Ich wusste nichts davon…“
Das klang nicht sehr überzeugend, Dobrynin bemerkte selbst den feigen Unterton in seiner Stimme und presste die Lippen zusammen. Und auf einmal, vielleicht kam das von dem Gedanken daran, schmeckte er auf seiner Zunge Blut.
„Das macht nichts, keine Angst!“, beruhigte ihn Marija Ignatjewna. „Man kann noch fünf Monate lang Blut spenden!“
„Aha“, sagte Dobrynin. „Gut…“
„Pawluschka, möchtest du etwas essen? Hast du heute schon zu Mittag gegessen?“
„Nein“, erwiderte der Volkskontrolleur. „Aber ich bin nicht hungrig…“
„So darf man nicht mit seiner Gesundheit umgehen!“, meinte seine dienstliche Ehefrau streng. „Du gehörst dir schließlich nicht selbst! Du gehörst dem Vaterland, das heißt, jede Krankheit deines Organismus ist Sabotage! Verstehst du?“
Dobrynin nickte.
Marija Ignatjewna ging ins Zimmer, um über das Telefon das Mittagessen zu bestellen.
Der Volkskontrolleur blieb sich selbst überlassen zurück und fühlte, wie seine Gedanken unangenehm in Bewegung geraten waren, von denen alle oder beinahe alle mit einem Fragezeichen endeten. Was sollte er tun? Wie sollte er sich seiner dienstlichen Ehefrau gegenüber verhalten, vor allem wenn man berücksichtigte, dass sie die Vorsitzende der Frauenratskommission des Obersten Sowjets war. Musste er ihr über die Arbeit, die er geleistet hatte, berichten? Musste er ihre Umarmung denn erwidern, wenn sie ihn zuerst umarmte? Dutzende Fragen, von den allereinfachsten und dümmsten bishin zu ganz unbegreiflichen, geisterten durch das erschöpfte und deshalb getrübte Bewusstsein des Volkskontrolleurs. Der Kopf begann ihm davon schon richtig weh zu tun.
„Es wird gleich gebracht!“, teilte Marija Ignatjewna fröhlich mit, als sie wieder im großen Zimmer erschien. „Ich gehe in die Küche und wische den Tisch ab.“
Dobrynin folgte seiner dienstlichen Frau mit dem Blick und blieb zu seiner Freude kurz wieder allein zurück.
Im Arbeitszimmer klingelte das Telefon.
Der Volkskontrolleur vermutete, dass seine Frau es hören und hinlaufen würde, um den Hörer abzunehmen. Es war doch sicherlich für sie. Schließlich lebte sie ständig hier. Marija Ignatjewna ging aber nicht zum Telefon und so läutete es immer weiter. Pawel Aleksandrowitsch musste schließlich selbst aufstehen und zu dem monoton schrillenden Apparat gehen. Er betrat das Arbeitszimmer, ging zum Tisch und nahm den Hörer ab.
„Hallo! Hallo! Ist das die Wohnung des Genossen Dobrynin?“, kam eine schroffe männliche Stimme aus dem Hörer.
„Ja“, antwortete Pawel Aleksandrowitsch.
„Und wer ist am Apparat?“, fragte die Stimme.
„Ich… Dobrynin…“
„Ah, guten Tag! Ein Wagen ist zu Ihnen unterwegs, halten Sie sich bereit! Warten Sie in fünf Minuten beim Hauseingang.“
„In Ordnung.“ Dobrynin zeigte sich einverstanden und freute sich insgeheim über die Gelegenheit, dem „Familienessen“ zu entfliehen.
Aus dem Hörer klang nur noch ein schnelles Tuten, aber Dobrynin hielt ihn immer noch in der Hand, während er seinen Gedanken nachhing, die ihm vertraut wie die Vergangenheit waren.
„Pawluschka!“ Aus der Tiefe der Wohnung drang die Stimme seiner Frau an sein Ohr.
Der Volkskontrolleur legte den Hörer auf das Telefon, ging in den Flur hinaus, zog Stiefel an und blickte in die Küche.
„Ich habe… ich kann nicht zu Mittag essen… Ein Wagen kommt mich abholen… Marija Ignatjewna, Sie haben…“
„Was ist mit dir, Pawluschka?!“, war die dienstliche Ehefrau ehrlich erstaunt. „Wieso sprichst du so mit mir, als wäre ich eine fremde Person für dich?“
„Entschuldige…“, seufzte Dobrynin. „Ich muss nach unten gehen. Man hat einen Wagen geschickt.“
„Aber das macht doch nichts, ich werde veranlassen, dass man dein Abendessen auf dem Herd warmhalten soll, bis du zurückkommst!“, versprach Marija Ignatjewna. Sie kam leichtfüßig auf ihn zu und küsste ihn wieder auf die Schläfe.
„Ich gehe dann!“, sagte der Volkskontrolleur nun schon entschiedener und verließ schnell die Wohnung. Dabei schlug er die Tür fest hinter sich zu, damit das Sicherheitsschloss automatisch zuschnappen konnte.
Auf der Stiege kam ihm der Hausmeister Wasilij entgegen. Als er Dobrynin sah, lächelte er erfreut. Dann stutzte er plötzlich und fragte:
„Aber wo wollen Sie denn hin, Genosse Dobrynin, ich bringe doch das Mittagessen…“
„Ich muss dringend in den Kreml, Wasilij. Man hat mich rufen lassen“, erklärte der Volkskontrolleur mit völlig veränderter, mutigerer Stimme.
Wasilij schüttelte den Kopf, um Dobrynin zugleich sein Mitleid und seinen Respekt zu bezeigen.
„Schade“, sagte er. „So eine gute Suppe, ganz russisch, mit Kohl. Als Hauptspeise Blutwurst mit Buchweizengrütze, und Sie müssen in den Kreml. Die Blutwurst ist so gut, dass man sich alle zehn Finger abschleckt, ich habe sie gerade erst beim Koch probiert…“
Bei der Erwähnung der Blutwurst spürte Dobrynin wieder den Geschmack von Blut auf der Zunge. Er ärgerte sich darüber, spuckte unfein aus und lief, ohne ein weiteres Wort an den Hausmeister zu richten, über die Treppe nach unten.
Genau in diesem Moment fuhr ein Wagen vor dem Hauseingang vor. Dobrynin nahm auf dem Vordersitz neben dem Fahrer Platz und murmelte: „Los!“
Es war immer noch hell. Auf den Gehsteigen waren viele Fußgänger unterwegs. Auf den Kreuzungen standen Wachposten ganz in Weiß und gaben den Autofahrern Zeichen mit speziellen Stäben. Aber immer wenn der Wagen, in dem Dobrynin saß, zur nächsten Kreuzung kam, nahm der Milizionär Haltung an, hielt den Verkehr an und salutierte, während er sie passieren ließ. Doch ärgerte das Dobrynin diesmal, er regte sich richtig darüber auf, und das alles nur wegen des beharrlichen Blutgeschmacks auf der Zunge.
Sie fuhren durch ein anderes Tor als gewohnt in den Kreml, und als der Wagen auch noch vor einem ganz anderen Gebäude anhielt, begriff der Volkskontrolleur, dass er dieses Mal nicht zu Genosse Kalinin gebracht wurde, sondern an einen anderen Ort.
Als Pawel Aleksandrowitsch aus dem Auto gestiegen war, kam auch schon ein sympathischer, untersetzter Soldat auf ihn zu, salutierte und bat ihn, mitzukommen.
Sie betraten ein kleines zweigeschoßiges Gebäude und stiegen gleich über eine Treppe nach unten. Es ging drei Stockwerke hinunter, was den Volkskontrolleur vollkommen verwirrte. Sie waren schließlich im Erdgeschoß hereingekommen! Wie war es dann möglich, dass man vom Erdgeschoß aus drei Stockwerke nach unten ging?! Dobrynin begriff allerdings, dass er selbst nicht verrückt war und auch nichts durcheinandergebracht haben konnte. Das bedeutete also, dass es hier ein Geheimnis technischer Natur geben musste.
Sie blieben vor einer massiven, schwarzen Tür stehen. Der Soldat drückte einen Klingelknopf, der sich neben der Tür an der Wand befand. Die Tür öffnete sich.
Pawel Aleksandrowitsch trat ein, während der Soldat im Flur zurückblieb.
„Guten Tag, Genosse Dobrynin!“, sagte ein kleiner, hagerer Mann in Militäruniform zum Volkskontrolleur. Das Gesicht dieses Mannes trug einen so ernsten Ausdruck, dass Pawel Aleksandrowitsch ganz unsicher wurde.
„Kommen Sie herein, setzen Sie sich!“, lud ihn der Mann ein und zeigte mit der rechten Hand auf einen Hocker, der an einem kleinen Schreibtisch stand, an dem dieser Mann anscheinend arbeitete.
Dobrynin setzte sich auf den Hocker. Der Mann setzte sich an den Tisch und starrte Dobrynin an, ohne zu blinzeln oder seinen Gesichtsausdruck zu verändern.
Dobrynin konnte sein Starren nicht ertragen und blickte zur Seite. Was er dort sah, machte ihm innerlich wieder Mut, da er auf dem Tresorschrank, der in der linken Ecke stand, die gelbe Aktentasche und das an die Wand gelehnte Kriwizkij-Porträt bemerkte.
„Genosse Kalinin hat mir kurz darüber berichtet, was dort bei Ihnen passiert ist. Aber ich muss das alles unbedingt noch einmal von Ihnen hören. Verstehen Sie, wie wichtig das ist?!“
„Ja“, sagte Dobrynin.
„Gut“, entgegnete der Uniformierte. „Ich heiße Genosse Woltschanow, Sie können aber auch Genosse Oberleutnant zu mir sagen. Entschuldigen Sie bitte, ich fühle mich nicht besonders gut – unsere Abteilung hat heute Blut gespendet. Also schreiben Sie am besten alles auf, hier haben Sie Papier und einen Stift. Ich lese es mir dann durch, und danach fahren wir fort.“
Dobrynin nahm wie geheißen den Stift, beugte sich über den Tisch und machte sich daran, in seiner rundlichen, unregelmäßigen Schrift die Worte zu formen, aus denen seine Erzählung über die Ereignisse im hohen Norden bestand.
„Ich mache inzwischen Tee für Sie!“, sagte Oberleutnant Woltschanow und ging aus dem Zimmer.
Dobrynin fiel das Schreiben schwer. Seine Finger, die den Stift fest umklammert hielten, wurden taub. Die Feder zerkratzte von Zeit zu Zeit das Papier. Pawel Aleksandrowitsch war nicht gerade ein Meister im Schreiben, aber er hatte dennoch ein Gefühl dafür, dass er sich in seiner Erzählung bereits so viele Male vertan hatte, dass sie nicht für jeden Leser verständlich sein würde. Allmählich ging die Sache jedoch voran. Mit Tinte geschrieben füllten die Wörter Zeile um Zeile, und die weißen Papierblätter wurden voll. In der Stille des Zimmers war nur das Geräusch der Feder zu hören.
Oberleutnant Woltschanow kehrte zurück. Er öffnete die Zimmertür mit dem Fuß, da er ein Blechtablett in den Händen trug. Auf diesem standen wie in einem Märchen zwei Gläser mit dampfendem, wohlriechendem Tee, ein Teller mit aufgeschnittenen Brot- und Wurstscheiben sowie ein weiterer Teller mit köstlich aussehenden Keksen in Form von kleinen fünfzackigen Sternen. Woltschanow stellte es auf seiner Tischhälfte ab, um Dobrynin nicht zu stören. Der Volkskontrolleur schob jedoch die bereits vollgeschriebenen Seiten von sich und gab damit zu verstehen, dass er seine Arbeit beendet hatte.
Der Oberleutnant schob alle Papiere, darunter auch jene, die Dobrynin gerade erst beschrieben hatte, an den Rand des Tisches und rückte das Tablett in die Mitte.
„Stärken Sie sich!“, forderte ihn Woltschanow mit müder Stimme auf.
Der Volkskontrolleur legte zwei Scheiben Schweinswurst auf eine Scheibe Brot, nahm einen Schluck Tee dazu, der sehr stark und köstlich war und auch schon gezuckert, dann erst seufzte er erleichtert.
Nachdem auch Woltschanow ein wenig Tee getrunken hatte, nahm er Dobrynins schriftliche Erzählung zur Hand und begann zu lesen, wobei er aus Gewohnheit die Lippen lautlos bewegte.
Während Woltschanow las, gelang es dem Volkskontrolleur, drei belegte Brote und einige der Sternenkekse zu essen. Die Kekse waren so süß, dass sie im Mund zergingen. Dobrynin fragte sich, ob seine Kinder im fernen Dorf Kroschkino solche Kekse wohl schon gekostet hatten.
„Jaa“, sagte der Oberleutnant nachdenklich, während er die Blätter beiseitelegte. „Anscheinend sind Sie direkt bis ins Lager des Feindes vorgestoßen!“
Woltschanow runzelte die Stirn und zupfte mit der Hand am obersten Knopf seines Rocks. Man konnte sehen, dass er in diesem Moment über sehr wichtige Dinge nachdachte.
„Genosse Dobrynin, wie stehen Sie zur sowjetischen Wissenschaft?“, fragte der Oberleutnant.
„Nun… gut, natürlich…“
„Das heißt, Sie haben vollstes Vertrauen in die Wissenschaft?“
„Ja…“
„Das ist sehr wichtig“, meinte Woltschanow, während er immer noch gedankenverloren an seinem Jackenknopf zupfte. „Es geht um Folgendes… Wir haben hier eine Spezialvorrichtung, die bereits breitflächig erprobt ist. Sie dient einem doppelten Zweck. Erstens zur Stärkung und Überprüfung der Willenskraft und zweitens zur kurzfristigen Verbesserung des Gedächtnisses. Ist das verständlich?“
„Nein“, gestand Dobrynin.
„Nun, ich werde noch etwas Tee nachschenken, und dann gehen wir zwei Stockwerke tiefer. Dort zeige ich es Ihnen…“
Und Woltschanow machte sich ein Wurstbrot und begann es bedächtig zu essen. Dazu trank er Tee.
„Sie müssen verstehen, worum es hier geht, Genosse Dobrynin“, fuhr er fort, während er sein Brot kaute. „Sie haben hier sehr viel Wichtiges aufgeschrieben. Aber nicht alles. Und nicht, weil Sie nicht alles aufschreiben wollten, sondern aus einem anderen Grund. Sie haben ganz einfach viele wichtige Einzelheiten vergessen. Und dafür gibt es eine spezielle Methode, die von einem sowjetischen Wissenschaftler erfunden wurde. Damit sich ein Mensch an etwas erinnert, benötigt er im Allgemeinen einen unerwarteten Schock oder ganz gewöhnliche Schmerzgefühle. Nun, kommen Sie, ich habe schon ausgetrunken.“
Woltschanow stand auf. Zu zweit verließen sie das Zimmer, gingen etwa fünfzehn Schritte über den dunklen Korridor und stiegen dann eine Treppe hinab.
Wieder empfand Dobrynin Verwunderung, da er sich erinnerte, dass er das Gebäude im Erdgeschoß betreten hatte, und jetzt ging es immer noch weiter nach unten, so als würde ihn der Teufel in die Unterwelt führen.
„Was nun diese Methode betrifft“, fuhr der Oberleutnant fort, „so kann man sagen, dass sie sehr unangenehm oder sogar noch schlimmer ist. Aber da führt kein Weg daran vorbei, alle Mitglieder des ZK und des Politbüros durchlaufen sie einmal alle zwei Jahre. Aber bei ihnen und auch bei uns wird die Willenskraft überprüft, und das ist, so würde ich sagen, noch schmerzhafter.“
Nachdem Dobrynin und Woltschanow zwei Stockwerke nach unten gestiegen waren, gingen sie wieder einen Korridor entlang. Im Halbdunkel saß ein wachhabender Milizionär auf einem Hocker, er sprang auf und erschreckte dabei den Volkskontrolleur. Er salutierte und Woltschanow nickte ihm zu.
„Kommen Sie hier herein!“ Der Oberleutnant öffnete eine schwere Eisentür.
Dobrynin trat ein und blickte um sich. Das Zimmer war geräumig und sehr hell. Fenster gab es selbstverständlich keine, aber dafür hingen gleich vier starke Lampen von der weißen Zimmerdecke. Vor einer Wand standen zwei merkwürdige Stühle und in einer Ecke befand sich eine Apparatur, die aus verschiedenen Röhren, Drähten und einfachen Eisenteilen bestand, deren Zweck nicht zu erkennen war, die aber alle zum selben Mechanismus gehörten. An der anderen Wand, vor der ein Schreibtisch mit einer Druckmaschine stand, hing ein Bild des Führers. Der restliche Raum war vollkommen leer.
„Nun, hier ist sozusagen unser Reich“, erklärte Woltschanow, der hinter dem Volkskontrolleur hereintrat. „Ich werde Ihnen nun das Wie und Was genauer erklären.“
Dobrynin glaubte, dass er schon zu verstehen begann, wovon der Oberleutnant sprach. Er erinnerte sich daran, dass er als Kind die Angewohnheit besessen hatte, sich selbst kräftig gegen die Stirn zu schlagen, um sich etwas Vergessenes in Erinnerung zu rufen. Und es hatte dann tatsächlich geholfen! Obgleich ihm damals die Schläge auf die Stirn selbstverständlich keinen Schmerz bereitet hatten.
„Setzen Sie sich dahin!“, forderte ihn Woltschanow auf und zeigte auf einen der seltsamen Stühle. Dobrynin setzte sich. Der Stuhl erwies sich als ziemlich bequem, er hatte sogar einen weichen Polstersitz.
„So, nun haben Sie sich hingesetzt“, sagte der Oberleutnant, „und jetzt stimmen Sie sich ein… denken Sie an die verstorbenen Genossen, an die Feinde. Denken Sie ganz fest an sie!“
Pawel Aleksandrowitsch presste die Hände zu Fäusten zusammen und begann nachzudenken.
„Nun?!“, fragte Woltschanow nach einigen Minuten. „Bereit?“
Dobrynin nickte.
Der Oberleutnant kam näher, überprüfte, ob der Volkskontrolleur gut saß, machte dann zwei Schritte auf den merkwürdigen Apparat zu, drehte dort an einer Kurbel und Dobrynin kam es so vor, als würde ein Pfeil, spitz wie eine Nadel, durch seinen Körper hindurchschießen. Ein heftiger Schmerz hob ihn ein Stück weit aus dem Stuhl, er plumpste jedoch gleich darauf entkräftet und schlapp wieder zurück. Seine Augen trübten sich und es gellte in seinen Ohren. Ihm blieb die Luft weg.
„Na? Na?!“, drang aus weiter Ferne Woltschanows Stimme an sein Ohr. „Geht es?“
Einige Minuten vergingen, bevor Dobrynin den Oberleutnant wieder sehen konnte.
„Sie verstehen, dass das sein muss?“, fragte Woltschanow. „Wenn Ihnen jetzt nicht noch etwas Wichtiges einfällt, dann können wir die uns auferlegte Aufgabe nicht vollständig erfüllen.“
Der Volkskontrolleur nickte. In seinem Kopf erschien ein Bild nach dem anderen aus dem Norden, Wortfetzen von Menschen, die er dort getroffen hatte.
„Sprechen Sie! Sagen Sie, was Ihnen in den Sinn kommt!“
„Die Japaner… Die Japaner sind nachts gekommen, um die Parteibeiträge abzuholen…“
„Nein“, schüttelte der Oberleutnant den Kopf. „Das haben Sie schon aufgeschrieben! Etwas anderes…“
Dobrynin strengte sich noch mehr an, aber alles, was ihm in den Sinn kam, hatte er bereits aufgeschrieben.
„Machen wir es noch einmal!“, bat der Volkskontrolleur und zeigte mit schwerer Hand in die Ecke des Zimmers, in welcher der Apparat mit all seinen Röhren und Drähten stand.
Woltschanow seufzte, nickte dann und ging zu dem merkwürdigen Mechanismus. Wieder drehte er an der Kurbel. Wieder drang ein spitzer Pfeil von unten nach oben durch den Körper des Volkskontrolleurs hindurch und bohrte sich ihm von innen her in seine Schädeldecke. Dieses Mal durchlief ihn der Schmerz wie eine immer stärker werdende Welle und explodierte direkt in Dobrynins Ohren. Durch diese Explosion verlor er für einen Augenblick die Besinnung, und als er wieder zu sich kam, brauchte er fünf Minuten, um zu verstehen, wo er sich befand.
„Also?“, fragte Woltschanow, der sich über den Volkskontrolleur beugte.
Dobrynin strengte sich an, und irgendwoher aus den Tiefen seines Gedächtnisses stiegen deutlichere Teile von Gesprächen auf, die er geführt hatte.
„Und nimm mir von dort Birkenholz mit – ein Geschenk von meinem Freund im Kreml…“, sagte der Volkskontrolleur mit mechanischer Stimme.
„Ah!“, schrie der Oberleutnant erfreut auf. „Wer? Wer hat das gesagt?“
Dobrynin tauchte tiefer und tiefer in sein Gedächtnis ein, das wie kochendes Wasser seinen ganzen Körper verbrühte. Wie ein Seil aus einem Brunnen zog Pawel Aleksandrowitsch die bereits bekannten Worte über das Birkenholz und den Kremlfreund aus dem Gedächtnis, und er musste die Worte noch einmal wiederholen, aber schließlich ertönte in seinem Ohr die Stimme, die diese Worte ursprünglich gesagt hatte, und diese Stimme konnte nur einem einzigen Menschen gehören.
„Kriwizkij! Kriwizkij hat das gesagt!“, rief Dobrynin aus.
„Ausgezeichnet!“ Woltschanow strahlte nur so vor gesundem, sportlichem Eifer. Er trat näher und klopfte dem Volkskontrolleur kameradschaftlich auf die Schulter. Dann fragte er:
„Möchtest du es noch weiter versuchen?“
Dobrynin nickte entschlossen. Was war schon dieser Schmerz, wenn er ihm doch dazu verhalf, sich tatsächlich an so viel Nützliches und Notwendiges zu erinnern!
Wieder schoss der unsichtbare Pfeil durch seinen Körper, aber dieses Mal war der Schmerz schwächer. Vielleicht begann sich der Volkskontrolleur daran zu gewöhnen, wie an etwas Unausweichliches, aber Sinnvolles.
„Abunaj-gin urke bimi nelesken niwren!“, sprach Dobrynin, nachdem er in sein Gedächtnis eingetaucht war.
„Und wer hat das gesagt?!“, fragte Woltschanow nun etwas zurückhaltender.
So sehr Dobrynin auch versuchte, sich zu erinnern, er konnte es nicht sagen.
„Und was heißt das?“, fragte der Oberleutnant.
Auch auf diese Frage vermochte der Volkskontrolleur nicht zu antworten und er wurde deshalb traurig.
Als Woltschanow Dobrynins Stimmung bemerkte, bekümmerte ihn das sehr. Der Oberleutnant mochte es nicht, wenn Menschen traurig waren.
„Das macht doch nichts“, versuchte er den Volkskontrolleur aufzumuntern. „An das Wichtigste hast du dich erinnert! Jetzt können wir ohne Probleme seinen Komplizen im Kreml ausforschen! Wir müssen nur überprüfen, wer Birkenholz bestellt hat!“
Aber nicht einmal das konnte dem Volkskontrolleur ein zufriedenes Lächeln entlocken.
„Wenn du willst, dann zeige ich dir einen Trick!“, schlug der Oberleutnant vor. „Nun, genauer gesagt ist es weniger ein Trick als eine wissenschaftliche Erkenntnis. Dank dieses Mechanismus kannst du dich an etwas erinnern, das du vorher gar nicht gewusst hast!“
„Wie geht das?“, starrte Dobrynin Woltschanow verwirrt an.
„Es ist beinahe die gleiche Prozedur. Möchtest du es versuchen?“
„Ja!“
Der Oberleutnant ging zum Apparat und berührte wieder die Kurbel.
„Hier die Frage: Wie viele Panzer befinden sich am Standort der militärischen Einheit Nr. 6432-D in der Siedlung Sosnowka im Bezirk Ust-Ilnizkij? Ich starte den Mechanismus!“
Wieder fuhr der unsichtbare, spitze Pfeil durch den Körper des Volkskontrolleurs, aber auch jetzt kam er Dobrynin wieder schwächer vor. Er ertrug ihn, ohne das Bewusstsein zu verlieren, und unmittelbar darauf leuchtete als Ergebnis eines geheimnisvollen Arbeitsprozesses des Gehirns in seinem Kopf die Zahl „2“ auf.
„Zwei!“, sagte Pawel Aleksandrowitsch überzeugt.
„Richtig!“, freute sich der Oberleutnant. „Möchtest du vielleicht mich irgendetwas fragen?“
Dobrynin war einverstanden. Woltschanow und er tauschten Plätze. Der Oberleutnant erklärte dem Volkskontrolleur, welche Kurbel er drehen musste. Und Dobrynin überlegte sich eine Frage.
„Gleich kommt meine Frage!“, warnte der Volkskontrolleur Woltschanow vor. „Wie heißt mein Hund?“ Und er drehte die Kurbel am Apparat.
Den Oberleutnant hob es ein wenig vom Stuhl. Er landete ziemlich unsanft und zertrümmerte mit seinem Hinterteil die Armlehne. Er beruhigte sich aber schnell wieder, kniff die Augen zusammen, erinnerte sich an etwas, das er nicht wissen konnte, und stieß im selben Atemzug hervor:
„Dmitrij!“
„Richtig!“, bestätigte Dobrynin verblüfft.
„Stell noch eine andere Frage, etwas Schwierigeres!“, bat Woltschanow.
Wieder begann der Volkskontrolleur nachzudenken. Und da tauchte ausgelöst durch den beunruhigenden Mechanismus aus seinem Gedächtnis eine Frage auf, die er nicht verstand, jedoch war sie klar und deutlich da und deshalb sprach Dobrynin sie aus:
„Wie kann die Arbeiter- und Bauerninspektion neu organisiert werden?“ Und schon drehte er die Kurbel des Apparats.
Vor den Augen des Volkskontrolleurs leuchtete es auf, als wäre ein Blitz durch Woltschanow gefahren. Den Oberleutnant hob es wieder aus dem Stuhl, dann fiel er auf den Sitz zurück und ließ den Kopf auf die Schulter sinken.
Einen Moment lang erschrak Dobrynin, er dachte, das Herz des Oberleutnants habe die wissenschaftlichen Errungenschaften nicht aushalten können. Aber nach ein paar Minuten begannen Woltschanows Wimpern zu zucken und gaben somit ein Lebenszeichen. Nachdem noch weitere Zeit vergangen war, öffnete er die Augen, und obgleich sein Blick vernebelt und trübe war, gab er Dobrynin berechtigte Hoffnung auf eine Antwort.
„Man muss die Schlaumeier erschießen“, sagte Woltschanow plötzlich mit heiserer Stimme.
Dobrynin versuchte, die Frage mit der Antwort in Verbindung zu bringen, und obwohl das schwierig schien, gelangte der Volkskontrolleur dennoch nach einigem Überlegen zu dem Schluss, dass Woltschanows Worte Sinn haben könnten.
Während Dobrynin noch über Lenins seltsame und unverständliche Frage nachdachte und über die im Gegensatz dazu völlig klare Antwort von Woltschanow, war der Oberleutnant wieder ganz zu sich gekommen und sah den Volkskontrolleur mit inzwischen klarem Blick an.
„Und?“, fragte er, und aus seiner Stimme war Stolz herauszuhören, entweder auf sich selbst oder auf die sowjetische Wissenschaft.
„Ja, ja…“ Dobrynin zeigte sich mit seinem Stolz einverstanden und dachte über Woltschanow: Wie stark er doch ist! Aus diesem Anlass kamen ihm zum wiederholten Mal Zweifel an den Worten des Dichters: „Allein ist man ein Nichts!“ Wie konnte der Mensch ein Nichts sein, wenn er so leicht jegliche Entbehrung und sogar Schmerzen ertragen konnte, und das alles aus Liebe zum Vaterland?
„Wie heißt du mit Vornamen?“, fragte der Oberleutnant wie ein richtiger Kamerad.
„Pascha.“
„Und ich heiße Timofej, kurz gesagt Timocha!“, sagte Woltschanow und reichte Dobrynin die Hand.
Der Händedruck war kräftig und aufrichtig.
„Du bist ein Prachtkerl, Pawel“, meinte Timofej. „Einer von uns! Komm, lass uns noch Tee trinken und von Mann zu Mann reden!“
Dobrynin und Woltschanow verließen den Raum und gingen wieder an dem eingenickten Milizionär auf Wache vorbei, aber diesmal schlummerte er so fest, dass er gar nicht aufwachte.
„Das wird noch böse enden!“, schüttelte Timofej den Kopf. „Aber er ist schließlich auch einer von uns. Wenn auch dem Schlaf sehr zugeneigt!“
Sie stiegen zwei Stockwerke hinauf und betraten das Büro des Oberleutnants. Dieser holte noch mehr Tee, Wurstbrote und Kekse.
„Ich fühle mich so dreckig nach dieser überplanmäßigen Blutspende“, beklagte sich Woltschanow, der bereits das zweite belegte Brot aß. „Die Norm ist achthundert Gramm, beinahe ein Liter, aber die erhöhte Menge ist ein Liter und zweihundert Gramm! Sie hätten uns Zucker dazu verabreichen müssen, um unsere Gesundheit wiederherzustellen, aber es gab keinen… Aber das macht nichts, wir halten es aus!“
Dobrynin blieb mit der Anzahl seiner Brote nicht hinter Timofej zurück. Von Zeit zu Zeit durchliefen die Nachwirkungen des Schmerzes ihre Körper, aber Pawel schenkte ihnen keine besondere Aufmerksamkeit. Sein Körper zuckte hin und wieder etwas, aber das war Dobrynin nicht wichtig.
„Ach übrigens…“ Der Volkskontrolleur erinnerte sich plötzlich an Woltschanows anfängliche Worte über die Überprüfung der Willenskraft. „Wie überprüft man denn dort den Willen? Etwa genau so?“
„Ah, sprichst du von ÜT und ÜW?“
„Was?“, fragte Dobrynin nach.
„Na, die Überprüfung der Treue und die Überprüfung der Willenskraft, also die wissenschaftlichen Überprüfungen des Menschen, so heißt das richtig. Das ist eine ernsthaftere Sache als das, was wir gemacht haben. Ich habe schon gesagt, dass die Mitglieder des ZK und des Politbüros diese Prüfung einmal alle zwei Jahre durchlaufen müssen…“
„Haben auch sie Schmerzen dabei?“, fragte Dobrynin und dachte besorgt an den Genossen Kalinin.
„Wie soll ich sagen… Ein echter Kommunist fühlt doch keinen Schmerz, er muss schließlich hart wie Stein sein. Das hat Lenin gesagt. Und ein Stein fühlt ja nichts. Wenn er zertrümmert wird, dann fliegen nur die Splitter! Nun, menschlich betrachtet tut es natürlich weh. Aber denkst du etwa, dass nur sie die ÜT und die ÜW durchlaufen? Wir machen das zweimal im Jahr… Hier, schau!“
Und Woltschanow hob die Uniformjacke hoch und zeigte an der Seite und auf seiner Brust violette Narben.
„Das ist von der ÜW, die ÜT hinterlässt keine Spuren.“
Dobrynin schüttelte betroffen den Kopf.
„Magst du Gedichte?“, fragte Timofej plötzlich.
Dobrynin sah den Oberleutnant aufmerksam an. Kann es denn sein, dachte er, dass beim Militär alle Gedichte mögen?
„Hm, grundsätzlich ja…“
„Also, ein Dichter hat einmal über uns gesagt: ‚Wer aus solchen Kerlen Nägel herstellt, der hätte die stärksten Nägel der Welt!‘“ Woltschanow machte eine Pause und wartete, damit der Sinn des Gedichtes tief in das Bewusstsein des Volkskontrolleurs einsickern könne. „Das trifft es genau!“
Die Verse gefielen Dobrynin tatsächlich. Nachdem der Volkskontrolleur sie einige Male in Gedanken wiederholt hatte, um sie sich einzuprägen, trank er seinen Tee aus und nahm den letzten Sternenkeks vom Teller.
Woltschanow sah auf seine Kommandantenuhr und schüttelte plötzlich den Kopf.
„Wie die Zeit vergeht“, murmelte er nachdenklich. „So bemerkt man gar nicht, dass man sich plötzlich in der Zukunft befindet! Ja, ja…“ Er machte eine heftige Bewegung mit dem Kopf, als wolle er eine süße, aber nutzlose Vision verjagen, und fuhr dann mit einer ganz anderen Stimme fort, die militärisch und streng klang:
„Es ist an der Zeit zu gehen, Genosse Dobrynin. Auch Genosse Kalinin erwartet dich heute noch.“
Dem Volkskontrolleur kam der Weg, der über die Stufen nach oben führte, sehr lang vor. Und wieder musste er staunen, als er durch eine der Türen nach draußen schritt und sich auf den gleichmäßigen Pflastersteinen des Kremlgeländes wiederfand.
Woltschanow rief den neben einer Blautanne stehenden Rotarmisten heran, befahl ihm, den Volkskontrolleur zum Genossen Kalinin zu führen, und drückte dann Dobrynins Hand so heftig zum Abschied, dass vor dessen Augen Sterne tanzten.
„Also, Pawel, vergiss unsere Leute nicht!“, sagte er ernst. „Bis bald!“
„Bis bald!“, entgegnete der Volkskontrolleur und ging neben dem Rotarmisten über die Pflastersteine des Kreml, die so gleichmäßig wie der Himmel waren.
Auf dem langen und breiten Gang herrschte ein Lärmpegel wie auf einem Bahnhof. Ausgerechnet vor der Zimmertür des Genossen Kalinin drängte sich eine Gruppe Menschen. Dobrynin blieb ratlos stehen. Wenn Genosse Kalinin dermaßen beschäftigt war, dann, so dachte er, würde es ihm wohl kaum gelingen, sich heute mit ihm zu treffen. Der Rotarmist jedoch, ein sommersprossiger junger Bursche, sah dem Volkskontrolleur übermütig in die Augen, zwinkerte ihm zu und sagte dann ganz unmilitärisch:
„Da drängen wir uns durch.“ Dann machte er einen entschlossenen Schritt vorwärts.
Nachdem er Dobrynin einen Durchgang durch die Menge gebahnt hatte, hielt der Rotarmist direkt an der Türschwelle. Hinter ihm blieb der Volkskontrolleur stehen. Daneben knipsten irgendwelche Menschen, offenbar Journalisten, mit ihren Fotoapparaten. Sie fotografierten den Genossen Kalinin und zwei Ärzte in weißen Kitteln, die ihm Blut abnahmen.
„Na, na!“, sagte eine der beiden, während sie Kalinin den rechten Arm massierte. „Reißen Sie sich doch ein wenig zusammen. Das ist doch peinlich, schließlich sind Sie ja ein Vorbild für das ganze Land!“
Wahrscheinlich dachte die Ärztin, dass sie flüsterte, aber ihre tiefe Stimme war im ganzen Raum zu hören und drang natürlich bis zu den Journalisten vor.
Kalinin wirkte kleinlaut. Und da fiel sein Blick auf den Volkskontrolleur und er klammerte sich an ihn wie an einen Rettungsring. Er lächelte Dobrynin mit dem Lächeln eines erschöpften, kranken Mannes zu und deutete mit dem Kopf auf die Ärztin und auf den Gehilfen, der entweder ein Arzt oder ein Arzthelfer war. Dobrynin verstand seine Geste. Sie war leicht zu verstehen, denn schließlich war klar, was Kalinin sagen wollte: Siehst du, wie es mir geht, ja?! Und Dobrynin nickte teilnahmsvoll zurück.
Endlich zog die Ärztin die Nadel mitsamt dem Röhrchen aus der Vene. Sie legte eine Mullbinde auf die Stelle und beugte energisch Kalinins Arm. Die Fotoapparate blitzten noch ein paar Mal. Die beiden in Weiß trugen einen großen Behälter mit Blut aus dem Zimmer.
Kalinin winkte Dobrynin mit der linken Hand zu sich, um ihn hereinzubitten.
Der Volkskontrolleur schloss die Tür hinter sich, lauschte dem sich entfernenden Fußgetrappel und ging dann zum Besuchertisch. Er setzte sich und blickte Kalinin freundschaftlich in die Augen.
„Siehst du, wie ich arbeite!“, sagte Genosse Kalinin zu Dobrynin und wies mit dem Kopf auf seinen abgewinkelten rechten Arm. „Aber was soll man machen?! Es ist schließlich wahr – nur als gutes Vorbild kann man etwas erreichen. Und was ist mit dir? Warst du bei Woltschanow?“
Dobrynin nickte.
„Woltschanow ist ein guter Mann“, meinte Kalinin. „Er hat nur eine Schwäche für gutes Essen. Aber das ist noch eine alte, vorrevolutionäre Gewohnheit. Möchtest du Tee?“
Der Volkskontrolleur wollte eigentlich keinen Tee mehr, aber er wollte den Genossen Kalinin auch nicht durch sein Ablehnen kränken. Kalinin jedoch war ein scharfsinniger Mensch und hatte bereits begriffen.
„Hast du dort schon genug Tee getrunken?“, fragte er.
„Ja“, gestand der Volkskontrolleur.
„Na gut, dann reden wir über die Arbeit. Ich möchte dir meinen Dank für deine Arbeit aussprechen.“ Genosse Kalinin griff in die Tischlade, zog daraus einen Revolver hervor und legte ihn auf den Tisch. „Hier, er soll dir persönlich gehören!“
Dobrynin stand verwirrt auf. Er wollte Danke sagen, aber dieses Wort klang zu wenig feierlich für einen solchen Moment.
„Setz dich, setz dich!“ Kalinin winkte mit der linken Hand ab. „Das ist noch nicht alles. Du bekommst auch zwei neue Vollmachten. Eine gehört dir – jetzt hast du nicht nur das Recht, Überprüfungen durchzuführen, sondern auch Ermittlungen, außerdem darfst du die Schuldigen bis zur Erschießung bestrafen. Das Vaterland vertraut dir vollkommen. Und die zweite Vollmacht ist für deinen Gehilfen Dmitrij Iwanowitsch Waplachow, der jetzt dasselbe tun darf, allerdings nur unter deiner Führung. Na, bist du zufrieden?“
Dobrynin fehlten die Worte, um sein Glück beschreiben zu können. Aber an dem strahlenden Lächeln, das nahezu das ganze Gesicht des Volkskontrolleurs einnahm, konnte Genosse Kalinin erkennen, dass dieser unermesslich glücklich und dankbar war und nun dem Vaterland noch treuer ergeben sein würde, als es bisher schon der Fall war.
„Und da ist noch etwas, weißt du?“ Kalinin wurde plötzlich ernst. „Ich habe eine Bitte an dich, genauer gesagt, einen Befehl… Es gibt jetzt viele Feinde hier in Moskau. Erst heute Morgen wollte ich in das Geschäft gehen, von dem du gesprochen hast, dort, wo es die Kekse ‚Auf dem Posten‘ gibt. Ich dachte mir, ich spaziere dorthin, kaufe ein paar Schachteln und gehe dann zurück in den Kreml. Und da bringt man mir einen Nachrichtenbericht, in dem ich lese, dass der Ordensträger Podbelskij grausam ermordet wurde und zwar direkt auf dem Roten Platz. Die Tschekisten haben sich die Füße wundgelaufen – konnten aber nicht herausfinden, woher die Kugel stammte. Da hat ein mächtiger Feind zugeschlagen. Es war ein glatter Durchschuss, die Kugel hat den Leninorden durchschlagen, exakt an der Stelle des Führerkopfs! Ich denke, du musst zurückfliegen! Wir können solche Menschen wie dich nicht aufs Spiel setzen und dürfen sie den Kugeln der Feinde nicht ausliefern!“
Während er sprach, wurde Kalinin immer nervöser. Offenbar machte er sich um Dobrynin wirklich große Sorgen. Er vergaß sogar seinen gebeugten Ellbogen, begann zu gestikulieren und über seinen rechten Arm liefen rote Blutstropfen. Als er sie bemerkte, rieb er sich mit der linken Hand über die Haut und krempelte hierauf einfach die Ärmel des grünen Wollhemdes herab. Jetzt konnten ganze Bäche hinunterfließen und niemand würde es sehen!
„Gut“, nickte der Volkskontrolleur. „Ich werde gleich heute…“
„Aber warum denn heute? Es ist doch schon Abend! Morgen Früh wird dich ein Wagen abholen. Diese Nacht solltest du dich ausschlafen und gründlich erholen. Marija Ignatjewna wird sich bestimmt gut um dich kümmern!“ Genosse Kalinin zwinkerte ihm zu. „Ach ja, fast hätte ich es vergessen. Bei den Deinen in Kroschkino ist alles in Ordnung. Nur der Hund ist eingegangen. Aber ich habe angeordnet, dass deine Frau einen neuen bekommt, einen reinrassigen, gleich von hier aus der Hundezucht im Kreml.“
Mitka ist gestorben, dachte Dobrynin und seine gute Stimmung, die sich infolge der Auszeichnungen und der herzlichen Behandlung durch Kalinin in solcher Höhe befand, stürzte in den Keller hinab und zersprang dort in Scherben. Gleichzeitig trübte sich sein Blick und seine Hände begannen zu zittern.
„Na, na“, beruhigte Genosse Kalinin den Volkskontrolleur. „Nicht doch. Du bist doch ein Russe! Jetzt hör schon auf!“
Pawel rieb sich die Tränen aus den Augen, um sie daran zu hindern, weiterhin herunterzurollen. Er nickte Kalinin zu, um ihm zu zeigen, dass er sich schon beruhigt hatte. Dann erhob er sich vom Beistelltisch.
„Weißt du was, Sanytsch“, bemerkte Genosse Kalinin mit munterer Stimme. „Ich habe doch auf dich gehört. Wegen der Änderung meines Nachnamens. Ich habe mein Einverständnis gegeben, also nenn mich ab übermorgen – Genosse Twerin!“
Obwohl es ihm schwerfiel, zwang sich Dobrynin zu einem freundlichen Lächeln.
Plötzlich drang vom Korridor her klar und deutlich Hufgeklapper an sein Ohr. Dieses Geräusch stellte sich so unerwartet ein, dass Dobrynin seinen Kopf augenblicklich nach der Tür zum Korridor drehte, dann zu Genosse Kalinin.
„Ach!“, winkte dieser ab. „Achte gar nicht darauf! Das ist nur Marschall Luganskij auf dem Weg zur Rauchpause. Auf seinem Lieblingspferd. Was kann man machen, er hat sich dieses Recht ehrlich verdient. Also gut, bis bald!“
Dobrynin schüttelte Kalinins rechte Hand und spürte, wie dabei etwas auf sein Handgelenk tropfte. Er sah hinunter: Es war Blut!
„Geben Sie auf sich Acht!“, sagte er dem Genossen Kalinin zum Abschied. „Jetzt weiß ich ja, wie es Ihnen ergeht… Woltschanow hat es mir erzählt…“
„Ja…“, sagte Kalinin gedehnt und mit einem schweren Seufzer. „Na dann also! Viel Erfolg!“
Als der Volkskontrolleur auf den Korridor hinaustrat, sah er die Kruppe eines Pferdes, das gemächlich in ein Zimmer hineintrabte. Auf dem Flur blieb ein Geruch zurück, der ihm von klein auf vertraut war. Niemand war zu sehen, aber Dobrynin wusste bereits, wie er aus dem Gebäude hinauskam. Er ging den Korridor entlang bis zur Stiege. Dabei wäre er fast in Pferdeäpfel getreten. Augenblicklich blieb er stehen und schob sie mit dem Stiefel zur Wand. Dann ging er weiter.
Der Pferdegeruch, der nun den Korridor des Kreml erfüllte, rief Kindheitserinnerungen hervor, und da tauchte aus seiner jüngeren Vergangenheit das Bellen seines geliebten Hundes Mitka auf, und in seinem Herzen wurde es wehmütig und leer. Aber der Volkskontrolleur wusste, dass all diese Gefühle eine Frage der Zeit waren und dass man sich ihnen nicht hingeben durfte. Man musste sie überwinden und sich dazu zwingen, etwas Gutes zu fühlen und nur an dieses Gute zu denken, an die Zukunft, an die sowjetische Wissenschaft, an die vielen guten Menschen, die im Vaterland lebten, und an die Menschen, aus denen man nach den Worten des Dichters die härtesten Nägel der Welt machen konnte.