9

Fröstelnd rieb Darrag die Hände. Es hatte wieder angefangen zu schneien, und er stand nahe dem halbverfallenen Henkersturm auf Wache. Am späten Nachmittag, nachdem Lysandra aus der Stadt geflohen war, hatten die Orks es geschafft, den verlorenen Boden wiedergutzumachen. Die Schwarzröcke kontrollierten jetzt den östlichsten Teil der Stadt. Auch das Andergaster Tor war verloren, und es bestand die Gefahr, daß sie am nächsten Tag von der Garnison und dem Westteil Greifenfurts abgeschnitten würden. Darrag stampfte mit den Füßen und hauchte auf seine kalten Hände. Er hatte es nicht einmal geschafft, die Kinder und die Alten von hier fortzubringen. Weil die Orks schon in seinem Rücken waren, konnte er sie nicht ohne Begleitung zur Garnison schicken, doch hatte er viel zu wenig Krieger, um auch nur einen zu entbehren. Also hatte er alle zunächst einmal im Rondra-Tempel untergebracht. Dort würden sie einigermaßen sicher sein. Der Schmied blickte über die finsteren Ruinen, die sich rings umher gegen den Nachthimmel abzeichneten. Was war aus der Stadt geworden? Greifenfurt, einst größte und reichste Stadt der Markgrafschaft, war jetzt nur noch ein Trümmerhaufen.

Wie schön war das Leben hier unter dem Markgrafen Shazar dem Pflanzer gewesen. Die Dinge gingen in geordneten Bahnen, der Handel florierte, und daß es einmal einen Krieg gegeben hätte, daran konnten sich nicht einmal die Alten mehr erinnern.

Es war in dem ersten Frühling, in dem Shazar regierte, als Misira ihm die Hand zum Verlöbnis gereicht hatte. Darrag erinnerte sich noch gut, wie er bei ihrem Vater, dem Zunftmeister der Fleischhauer, vorgesprochen hatte. Er hatte ein Messer als Geschenk mitgebracht, und Misira hatte ihn später immer damit aufgezogen, daß er sie um den Preis eines guten Messers ihrem Vater abgehandelt hatte.

Darrag ging ein wenig auf und ab, um sich warmzuhalten. Dabei achtete er darauf, immer hinter Barrikaden oder Häuserruinen in Deckung zu bleiben. Die Vorposten der Orks waren nur wenige Schritt weit entfernt. Erst vor zwei Stunden war ein unvorsichtiger Botenjunge, der von der Garnison kam, durch einen Pfeil verletzt worden.

Wieder schweiften die Gedanken des Schmieds zurück zu der glücklichen Zeit, die er mit Misira verlebt hatte. Selbst die Besatzung der Orks und die Regierung von Sharraz Garthai waren noch vergleichsweise gut gewesen. Das wirkliche Unglück hatte mit dem Tag begonnen, an dem Marcian in Greifenfurt erschienen war. Viele dachten mittlerweile so, und würde ihnen der Orkgeneral noch einmal dasselbe großmütige Angebot zur Übergabe machen, dann würde Marcian Greifenfurt verlieren. Die Bürger waren es müde zu kämpfen; sie wollten sich endlich wieder einmal satt essen und nicht Tag für Tag um ihr Leben bangen.

Doch die Zeit für Verhandlungen schien vorbei zu sein. Fast jeder hatte in dieser Belagerung Menschen verloren, die er liebte, und viele glaubten mittlerweile, daß allein Praios ihnen noch helfen könnte. Täglich schlossen sich mehr Verrückte den Flagellanten um den alten Glombo Brohm an. Sie waren der Überzeugung, durch ihr asketisches Leben und das tägliche Geißeln würden sie die Gnade des Gottes gewinnen.

Dummköpfe! Darrag hatte schon lange den Glauben an göttliche Gnade verloren. Warum hatte Rondra seine Frau nicht beschützt, wo sie doch so tapfer für die Göttin des Krieges gestritten hatte? Warum mußte sein Sohn am Wundfieber sterben? Marrad hatte nicht einmal Jünglingsalter erreicht. Alles, was ihm von seiner Familie noch geblieben war, war seine kleine Tochter Jorinde. Seit Marrads Tod hatte er viel Zeit mit ihr verbracht. Darrag hatte ihr eine Puppe gebastelt, obwohl er mit seinen groben Fingern kaum in der Lage war, Nadel und Faden zu halten, er hatte ihr Märchen erzählt und sie nachts in den Schlaf gewiegt. Sie sollte nicht auch noch denken, daß sie ihm gleichgültig sei.

Tagsüber, wenn er auf Wache war, kümmerte sich Cindira um das kleine Mädchen. Die dunkelhaarige Frau war so anders als Marcian. Was sie an diesem hartherzigen Mann nur finden konnte?

Jedenfalls wäre Darrag sehr zufrieden, sobald Marcian die Stadt verlassen hätte. Dann würde alles besser werden! Die Leute sagten, das Unglück würde an dem Kommandanten haften. Nun, zumindest was ihn selber anging, stimmte das, dachte Darrag grimmig. Marcian hatte Tod und Verderben nach Greifenfurt gebracht, und er selbst hatte dadurch Weib und Kind verloren.

Aber bald würde Brin mit einer Flotte den Fluß hinauf gesegelt kommen, und alles Leid hätte ein Ende. An dem Tag, an dem sein Sohn durch einen Pfeil verletzt worden war, hatten Nyrilla und Arthag diese Botschaft gebracht, und seitdem klangen täglich Hunderte Gebete zum Himmel, daß Praios und Rondra den Prinzen beschützen mochten und Efferd den Schiffen einen günstigen Wind schicke. Doch bisher war kein Segel am Horizont aufgetaucht.

Doch wenn Brin sich zu lange Zeit ließ, würde es keinen mehr geben, der nach den Schiffen Ausschau halten konnte. Die Lebensmittelrationen waren so knapp, daß selbst wenn man seine ganze Tagesration auf einmal aß, der Hunger nicht verging. In zwei Wochen würde das große Sterben beginnen. Schon jetzt war eine Verwundung das Todesurteil. Bei dem kärglichen Essen siechten die Verletzten dahin, ohne sich von ihren Wunden zu erholen. Die Therbuniten unterhielten mittlerweile sechs oder sieben Hospize in der Stadt. Seit Einbruch des Winters gab es immer mehr Kranke. Kinder und Alte starben an Unterernährung, viele hatte ein seltsames Fieber gepackt, das in der Stadt umging, und manche waren sogar an der blauen Seuche erkrankt.

Darrag schlug die Arme gegen den Leib. Jetzt ein Schluck Branntwein! Aber Branntwein oder Bier gab es auch schon lange nicht mehr.

Der Schmied hörte ein Geräusch hinter sich und drehte sich ruckartig um, das gezogene Schwert in der Hand. Doch statt eines Orks stand dort Jorinde, die ihn mit großen Augen anschaute.

»Was machst du denn hier, meine Kleine?« Darrag steckte die Waffe weg und beugte sich zu seiner Tochter herab, um sie auf den Arm zu nehmen.

»Ich kann nicht schlafen. Da sind so viele Fremde in dem Zimmer, die husten und machen komische Geräusche und ...« Das Mädchen trat verlegen von einem Fuß auf den anderen.

»Und was?« Darrag strich ihr über den Kopf und drückte sie ein wenig fester an sich. Das kleine Mädchen war so leicht, daß er es immer noch ohne Schwierigkeiten mit einem Arm halten konnte. »Na, sag schon, was los ist. Bestimmt kann ich dir helfen.«

»Ohne Tinka kann ich nicht schlafen.«

»Wo hast du denn die kleine Tinka? Hat sie dir irgendein Bengel weggenommen?« Darrag mußte lächeln. Wie sehr Jorinde an der kleinen Puppe mit den Zöpfen aus geflochtenem Stroh hing, die er ihr gemacht hatte.

»Niemand hat mir Tinka weggenommen ...« Jorinde setzte einen Schmollmund auf. »Die dumme Cindira hat sie vergessen, als wir heute morgen die Sachen gepackt haben. Jetzt ist Tinka ganz alleine. Bestimmt hat sie Angst im Dunkeln, wenn ich nicht bei ihr bin.« Plötzlich machte Jorinde ein bestürztes Gesicht und ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen. »Oder meinst du, die Orks haben sie? Glaubst du sie werden ihr was tun, Darra? Kannst du sie nicht holen?«

Der Schmied setzte sie wieder auf den Boden und blickte seiner Tochter nachdenklich ins Gesicht. Darra hatte sie ihn genannt, als sie gerade sprechen konnte. Seinen Namen hatte sie damals zuerst gelernt. Und jetzt stand sie da, mit ihren langen blonden Zöpfen und ihren wunderschönen Augen und fragte ihn, ob er wegen ihrer Puppe sein Leben riskieren würde.

»Ich werde eine neue Puppe für dich machen. Die wird noch viel schöner als Tinka.«

»Ich will keine neue Puppe!« Jorinde versuchte sich aus seiner Umarmung zu befreien. »Ich will Tinka. Dann geh ich sie eben selber holen.«

»Du wirst nicht da rausgehen.« Der Schmied packte sie mit beiden Händen und hob sie hoch, so daß sie über die Barrikade blicken konnte.

»Siehst du die Häuser dort drüben?« Darrag hatte sich Jorinde auf die Schultern gesetzt und wies mit ausgestrecktem Arm auf die niedrigen Fachwerkhäuser, die gegenüber seiner Schmiedewerkstatt lagen. »Da, wo noch vor ein paar Tagen Olmje, Riva, Prado und all die anderen Nachbarn gewohnt haben, sind jetzt die Orks. Und auch hier, direkt gegenüber auf der anderen Straßenseite, im Haus der Therbuniten haben sich gestern abend Schwarzpelze eingenistet. Sie warten nur darauf, daß sich jemand auf der Straße sehen läßt, um ihn mit ihren Pfeilen totzuschießen.«

Jorinde blickte ihn verwundert an. »Warum tun die das eigentlich? Ich hab doch keinem von den Orks etwas getan.«

Darrag atmete tief ein und seufzte. Was sollte er dem kleinen Mädchen darauf sagen? Eine Weile war nur noch das Brausen des Sturms zu hören. Der Schmied starrte zum Himmel, um nicht Jorindes fragendem Blick zu begegnen.

Das Madamal war in dieser Nacht hinter Wolken verschwunden, und das Schneetreiben wurde immer dichter.

Jorinde trug das handbestickte rote Kopftuch, das ihre Mutter ihr im letzten Frühjahr geschenkt hatte. Ihr Gesicht war immer noch rund und nicht ausgezehrt wie die Gesichter der anderen Kinder. Darrag gab ihr einen Teil seiner eigenen Ration ab, damit sie nicht schwach und krank wurde. Ihre Backen und ihre kleine Stupsnase waren rot vor Kälte. Um die Schultern hatte sie eine Decke geschlungen und ihre zarten Beinchen waren mit dicken Wickelgamaschen verhüllt.

»Wenn ich tot bin, seh ich dann Mama und Marrad wieder?«

Darrag zuckte mit den Schultern und brummte: »Das sagen die Geweihten...«

»Dann ist es doch gar nicht schlimm, wenn ich sterbe. Tut das weh? So wie damals, als ich die Kohlen im Ofen anfassen wollte? Feuer mag ich nicht ...«

Darrag mußte schlucken. Für einen Moment war er sprachlos. Worauf wollte sie hinaus? »Willst du mich alleine lassen? Mutter und Marrad sind tot. Wir haben nur noch uns.«

»Aber die Geweihten sagen doch ...«

»Hör auf, solchen Unsinn zu reden. Ich bring dich jetzt zu den anderen zurück. Mitten in der Nacht in der Kälte zu stehen, das ist nichts für dich.«

Jorinde fing an zu weinen. Sie schrie und schluchzte nicht, doch dicke Tränen liefen ihr über die roten Backen. Ohne ein Wort zu sagen, ließ sie sich von Darrag an der Hand nehmen.

Nach ein paar Schritten blieb der Schmied stehen. Er ging in die Knie und nahm das Mädchen in seine Arme. »Ich will dich nicht ärgern, hörst du. Ich will nur nicht, daß dir etwas passiert draußen.«

»Nie bist du da«, stieß Jorinde stockend hervor. »Immer bin ich allein oder bei anderen Leuten. Und jetzt bringst du mich wieder weg. Du magst mich nicht haben ... am liebsten wäre ich tot.«

»Bitte mein Kleines, versteh mich doch. Ich mache mir Sorgen. Ich muß auf Wache stehen, kommandiere mehr als hundert Bürger und muß ...«

Darrag brach mitten im Satz ab. Wie sollte sie das verstehen. Sie brauchte ihn und mußte laufend erleben, wie er für andere mehr da zu sein schien als für sie. Und dann war auch noch diese verfluchte Puppe weg, die er ihr gemacht hatte.

»Hör mir mal gut zu. Ich bring dich jetzt zu den anderen, und du bleibst brav da. Und wenn du ganz lieb bist, dann werde ich versuchen, ob ich Tinka nicht aus den Händen der Orks befreien kann.«

»Das machst du wirklich?«

Darrag nickte. »Aber nur wenn du jetzt tust, was ich dir sage.«


Darrag drückte sich mit dem Rücken gegen die Mauer und lauschte. Was er hier tat, war vollkommen töricht. Er setzte sein Leben für eine Kinderpuppe aufs Spiel.

Wenigstens war das Wetter günstig. Der Schnee fiel so dicht, daß man kaum sehen konnte, und ein scharfer Wind trieb die eisigen Flocken vor sich her. Bei dem Wetter würden keine Orks unterwegs sein. Sie haben sich bestimmt Feuer gemacht und in den eroberten Häusern verkrochen. Und selbst wenn Wachen ihre Runden drehen sollten, so konnten sie in dieser Finsternis dicht an ihm vorbeigehen, ohne ihn zu sehen.

Darrag drückte sich weiter an der Rückwand seines Hauses vorbei. Er war nahe beim Rondra-Tempel über die Barrikaden geklettert. Von dort aus waren es nur ein paar Schritt bis zu seiner Schmiede. Vorsichtig bog er um die Hausecke und tastete sich bis zu dem Schuppen vor, in dem er Kohle und Brennholz gelagert hatte. Dann bog er noch einmal ab und stand in dem kleinen Hof vor seinem Haus. Wie oft hatte er hier in den Sommern zusammen mit Misira gesessen und den Kindern beim Spielen zugesehen. Der Schmied schüttelte sich. Er durfte sich nicht von sentimentalen Gedanken beherrschen lassen. Angespannt lauschte er, ob irgendwelche Geräusche aus dem Haus zu hören waren. Doch alles schien ruhig.

Tastend suchte er den Riegel und schob dann die mit Eisenbeschlägen versehene Tür auf. Zum Einzug des Herbstes hatte er seine Werkstatt, die er den Sommer über immer offen ließ, mit Holzwänden verkleidet, so daß das Feuer der Esse ihn und seine Gehilfen wärmte.

Vorsichtig schlich er durch den dunklen Raum in die Küche, die hinter der Werkstatt lag. Früher hatte es hier immer nach Eintopfgerichten, gebratenem Fleisch oder süßen Honigkuchen gerochen, doch jetzt war es nur noch kalt. Darrag hatte sich nie die Mühe gemacht zu kochen, nachdem Misira gestorben war. Er war seinen Kindern wohl ein ziemlich schlechter Vater gewesen ...

Der Schmied biß die Zähne aufeinander und brummte.

Dann griff er nach der Leiter, die hinauf unters Dach zu ihren Schlaf räumen führte.

Seit Misira und Marrad tot waren, hatte er Jorinde nachts immer bei sich im großen Bett schlafen lassen. Vermutlich war die Puppe dort oben geblieben.

Darrag schob seinen massigen Körper durch die große Bodenluke und schaute sich in dem kargen Zimmer um, das er einmal mit Misira geteilt hatte. Die Decken und Felle waren aus dem Bett verschwunden. Cindira hatte gründliche Arbeit geleistet. Außer dem hölzernen Bettgestell, einer leeren Truhe und einem Waffenständer war nichts mehr im Zimmer. Auch keine Puppe!

Darrag ging zu der kleinen Dachkammer wo die Schlafplätze der Kinder gewesen waren. Doch auch dort war nichts zu finden.

Leise fluchte der Schmied vor sich hin. Hatte er das alles für nichts riskiert? Was sollte er Jorinde morgen sagen, wenn sie die Puppe von ihm forderte? Darrag war in das leere Schlafzimmer zurückgekehrt und hockte sich auf den Bettkasten. Er dachte an den Streit, den er mit Marcian gehabt hatte, als der Ritter zum ersten Mal in seine Schmiede gekommen war. Damals hatte der Inquisitor versucht, ihn einzuschüchtern.

Marcian hatte vorgegeben, Darrags Frau und seine Kinder seien in den Händen der Orks und ihnen würde Übles widerfahren, wenn er nicht verraten würde, wo er die Waffen versteckt hielt, die er geschmiedet hatte, bevor die Stadt erobert wurde. Marcian hatte ihn damals nur auf die Probe stellen wollen und ihm hinterher verraten, daß er in Wirklichkeit in Diensten der Inquisition und der KGIA stand.

Aber auf wie schreckliche Weise waren die Lügen des Inquisitors doch noch wahr geworden. Marcian hatte einen Krieg um Greifenfurt entfesselt, der ohne ihn sicherlich nie stattgefunden hätte. Und diesem Krieg waren Misira und Marrad zum Opfer gefallen. Gestorben durch die Hände der Orks, ganz so, wie Marcian an jenem Frühlingstag in seinem makabren Spiel gedroht hatte.

Darrag vergrub leise schluchzend sein Gesicht in den Händen. Es war Marcian! Er war eigentlich dafür verantwortlich, was hier geschah. Er hatte diesen hundertfachen Tod entfesselt ...

Darrag stöhnte. Begann er jetzt wahnsinnig zu werden? Was dachte er da? Das war ein tragischer Zufall und nicht mehr!

Der Schmied richtete sich auf und lauschte in die Nacht. Hatte er etwas gehört oder spielte ihm seine Einbildung einen Streich?

Jemand war durch die Werkstatt in die Küche geschlichen und dort an einen Stuhl gestoßen. Der Schmied zückte seinen Dolch und beugte sich über die Falltür, durch die die Leiter in die Küche führte.

»Vater?«

»Jorinde?« Darrag reckte sich noch weiter vor. Tatsächlich es war seine kleine Tochter. »Was machst du hier?« Hastig kletterte er in die Küche hinab.

»Ich wollte dir sagen, wo du suchen mußt. Ich glaube, Tinka liegt unter dem Bett.«

Beinahe hätte Darrag angefangen, hysterisch zu lachen. Das war grotesk!

»Du hattest mir doch versprochen bei den anderen im Tempel zu bleiben!«

Jorinde wich verlegen seinem Blick aus. »Ich wollte dir nur helfen ...«

Darrag bückte sich und nahm das kleine Mädchen auf den Arm. »Ist ja gut, hörst du? Aber du mußt mir versprechen, solchen Unsinn nicht noch einmal zu machen. Ich will dich doch nicht ärgern, wenn ich dir verbiete, mit mir hierher zu kommen. Ich mache mir nur Sorgen, daß dir etwas passieren könnte.«

Jorinde drückte sich ganz eng an ihn. »Ja, Darra.«

Darrag konnte ihr einfach nicht böse sein.

»Holen wir jetzt Tinka?«

»Ja.«

Der Schmied setzte Jorinde wieder auf den Boden und sah ihr zu, wie sie flink die Leiter hinaufkletterte. Kurz darauf hörte er sie rufen: »Ich hab sie! Sie lag unter dem Bett, wie ich gesagt habe.«

In der Schmiedewerkstatt fiel etwas polternd zu Boden.

Mit einem Schritt war Darrag an der Tür und preßte sich dicht neben dem Eingang zur Küche an die Wand.

»Ich komm jetzt«, tönte es von oben.

Es scharrte an der Leiter, und Jorinde kam herunter. Im selben Augenblick trat ein Ork durch die Küchentür. Er hatte seinen Bogen halb gespannt und trug einen schneebedeckten Wolfspelz über den Schultern.

Langsam zog er die Sehne weiter zurück und zielte auf das Mädchen auf der Leiter. Jorinde konnte ihn nicht sehen und plapperte noch immer fröhlich weiter. Lautstark schimpfte sie mit der Puppe, die so dumm gewesen war, keinen Ton von sich zu geben, als Cindira aufgeräumt hatte. Krachend traf Darrags Faust den Krieger im Nacken. Der Ork taumelte nach vorne. Jorinde drehte sich vom Lärm aufgeschreckt um und begann lauthals zu schreien, als sie den Ork sah.

Der Schmied setzte dem überrumpelten Krieger mit einem Satz nach. Wie ein silberner Blitz schnitt sein Messer durch die Luft. Immer wieder trieb er dem Ork die Klinge in die Brust. Erst das Schluchzen Jorindes brachte ihn wieder zu Verstand.

Das Mädchen war in den kalten Kamin gekrochen und hatte sich dort zusammengekauert.

Darrag ließ das Messer fallen.

»Ist schon gut, meine Kleine. Jetzt ist alles vorbei. Er muß dich gesehen haben, als du hierher gekommen bist.«

Jorinde hatte die Puppe mit dem Strohhaar ganz fest an ihre Brust gepreßt. Wie gebannt starrte sie auf den toten Ork. »Sieh nur ...« Zitternd streckte sie ihre Hand aus.

Darrag drehte sich um und folgte ihrem Blick. Der Pelzumhang des Kriegers war zurückgeschlagen und jetzt konnte man ganz deutlich einen Skalp mit langen, blonden Zöpfen sehen, der von seinem Gürtel hing. Bunte Bändchen, wie sie Kinder trugen, hielten die geflochtenen Zöpfe zusammen.

»Hilga ...«, flüsterte Jorinde. Dann fing sie wieder an zu weinen. Darrag hob sie sanft aus ihrem Versteck und drückte sie fest an sich. Hilga, die Tochter eines Tuchmachers aus der Webergasse, hatten sie heute morgen nicht finden können, als die Orks begannen, diesen Teil der Stadt zu stürmen. Schließlich hatten sie geglaubt, das Mädchen sei alleine bis zur Garnison gelaufen.

Hilga hatte lange, blonde Zöpfe, wie Jorinde und war nur ein paar Wochen älter gewesen. Oft hatten die beiden hier in der Küche gesessen und mit Puppen gespielt oder Misira beim Kochen zugeschaut.

Darrag wurde übel. Wann würde dieser elende Krieg zu Ende gehen? Dieses Gemetzel an Kindern, Kranken und Alten. Hatte die Welt sie denn vergessen?

Noch vor Ende des Sommers ist der Prinz hier, hatte es geheißen. Und jetzt erzählte man ihnen von einer Versorgungsflotte, die den Fluß hinaufkommen sollte. Waren das vielleicht alles Märchen? In ihrer Verzweiflung würden sie beinahe alles glauben? Sollten sie von Marcian nur hingehalten werden, damit sie möglichst lange Widerstand leisteten und die Orks hier nahe der Nordgrenze aufhielten. So würde verhindert, daß die Schwarzpelze sich noch einmal wie im letzten Winter zu einem Marsch ins Herz des Reiches sammelten?

Vielleicht war der Tod von Kindern hier in dieser Stadt Bestandteil einer herzlosen Strategie, die die Offiziere des kaiserlichen Generalstabs ausgebrütet hatten? Man opferte Greifenfurt, um dem Rest des Reiches von den Greueln zu berichten, die hier geschehen waren. So ließe sich vielleicht noch einmal der Kampfeswille von Bauern und Leibeigenen aufrichten, die nach einem Bürgerkrieg und zwei Jahren des Kampfes gegen die Orks müde geworden sein mochten, ihren adligen Lehnsherren in immer neue Schlachten zu folgen.

Jorinde hatte aufgehört zu weinen, und Darrag schob ihr Kopftuch zurück, um über ihr Haar zu streicheln.

»Du mußt jetzt ganz leise sein. Wir werden nun zurück zum Rondra-Tempel schleichen.« Jorinde nickte stumm.

Darrag stieg über den toten Ork hinweg, um in die Werkstatt zu gelangen, dort spähte er durch die Tür, die der Krieger offen gelassen hatte. Zum Glück schneite es noch immer.

Der Schmied stieß die Tür nun vollends auf und begann zu laufen. Der Schnee knirschte leise unter seinen Füßen und dämpfte das Geräusch seiner genagelten Soldatenstiefel. Schnaufend bog er um den Schuppen, als irgendwo rechts von ihm ein Signalhorn erklang. Wie konnten die Wachen ihn nur bei diesem Schneetreiben gesehen haben?

Ohne zu zögern, rannte Darrag weiter, umrundete sein Haus und hatte schon fast die schneebedeckte Barrikade erreicht, als neben ihm ein Pfeil in den Boden schlug.

»Rondra, sei uns gnädig«, stieß er verzweifelt hervor. »Laß uns nicht wegen einer Puppe sterben!«

Jorinde hatte wieder angefangen zu weinen.

Als sie endlich die Barrikade erreichten, schob Darrag das Mädchen mit einem groben Stoß über die Hindernisse hinweg. Auf der anderen Seite konnte er aufgeregte Stimmen hören. Jorinde war in Sicherheit!

Dann versuchte Darrag Halt zu finden und über die Barrikade zu klettern. Ein umgestürzter Leiterwagen blockierte die Straße. Der Schmied umklammerte einen runden Balken und versuchte sich daran hochzuziehen, doch rutschte er wieder ab. Sie hatten Wasser über die Straßensperren gegossen, und jetzt war alles glatt und mit einem Panzer von Eis überzogen. Zwei Pfeile zischten über ihn hinweg.

»Danke, Rondra«, stammelte der Schmied atemlos. Wäre er nicht abgerutscht, hätten ihn die Geschosse genau in den Rücken getroffen.

»Versuch’s noch einmal, Darrag, ich helf dir«, ertönte eine Stimme hinter der Barrikade.

Vorsichtig richtete der Schmied sich auf. Jemand streckte ihm die Hand entgegen und packte ihn schließlich am Arm.

Ein ganzes Stück neben Darrag schlug dumpf ein Pfeil ein. Der Schmied spannte die Muskeln an und taumelte schließlich über das Hindernis hinweg.

Den Mann, der ihm geholfen hatte, riß er mit sich zu Boden.

»Da habt ihr zwei aber Glück gehabt!« Der graubärtige Gordonius rappelte sich auf und klopfte sich den Schnee von den Kleidern. Einen Moment lang blickte er Darrag scharf an, fragte dann aber nicht, was er mit dem Kind auf der anderen Seite der Barrikade gesucht hatte. Statt dessen setzte Gordonius ein freundliches Lächeln auf und zog ihn aus dem Schnee hoch.

»Wenn du nicht vorhast, hier auf der Straße zu überwintern, würde ich vorschlagen, daß du deine Tochter auf den Arm nimmst und mit mir kommst. Im Hof vor dem Rondra-Tempel steht ein großer Kessel mit Suppe auf dem Feuer. Eine delikate Kreation aus Rattenfleisch, Sägemehl, Haferflocken und sehr viel Wasser ... Aber immerhin ist es heiß, ich bin sicher, ihr werdet begeistert sein.«

Darrag lachte verlegen und blickte zu seiner Tochter. »Ich glaube, wir zwei haben im Moment nichts Besseres vor.« Dann nahm er Jorinde bei der Hand und folgte dem alten Therbuniten.

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