15

Lysandra keuchte erschöpft. Vor ihr lag eine zerklüftete Eislandschaft. Sie hatte das Ufer des zugefrorenen Neunaugensees erreicht. Seit Sonnenaufgang war sie durch das Sumpfgebiet am Ostufer des großen Sees geirrt. Die verschneiten, hohen Schilfbündel hatten ihr dabei Deckung vor ihren Verfolgern geboten. Doch jetzt war sie fast eingekreist. Überall hinter ihr tauchten die Schatten der Orkreiter zwischen dem Schilf auf. Nur der Fluchtweg auf den See war noch offen. Doch wie weit mochte das Eis sie tragen? Nein, sie würde den Schwarzpelzen Xarvlesh nicht überlassen. Eher wollte sie die Waffe in den bodenlosen Tiefen des Sees versenken. Vielleicht würden die Orks es ja auch nicht wagen, ihr auf dieses verfluchte Gewässer zu folgen.

Lysandra begann wieder zu laufen.

»Steh!« erklang hinter ihr eine Stimme.

Im Laufen drehte sich die Amazone um. Ein hochgewachsener Ork auf einem schwarzen Pony hatte das Ufer erreicht. Ein Amulett blinkte golden auf seiner Brust.

»Komm zurück!«

Der Krieger hatte seine Faust um das Amulett gelegt. Seine Worte waren seltsam eindringlich. Nur mühsam gelang es Lysandra, ihren Blick von ihm zu lösen. Jeder Schritt fiel ihr schwerer. Es schien, als hielte sie eine fremde Macht gefangen und wollte sie dazu zwingen, ans Ufer zurückzukehren.

»Komm!« ertönte wieder die befehlsgewohnte, rauhe Stimme.

»Gib auf«, wisperte auch der unselige Geist, der immer um sie gewesen war, seitdem sie ihre Gefährten erschlagen hatte. »Du hast verloren, wie ich es dir gesagt habe. Gib auf und wähle einen leichten Tod.«

Lysandra faßte Xarvlesh fester. Der dunkle Streitkolben mit seinen langen, roten Dornen, die wie von innen zu glühen schienen, verlieh ihr neue Kraft. Sie brauchte ihn nur anzuschauen, und alle Müdigkeit wich von ihr. In den letzten zwei Tagen hatte sie nicht eine Stunde geschlafen. Doch wann immer sie das Glühen der Dornen betrachtete, fühlte sie sich erfrischt. Sogar die Stimme des Geistes verschwand dann. Sie würde es den elenden Schwarzpelzen schon zeigen. Sie würde nach Yeshinna gehen, und wenn ihre Gefährtinnen erst einmal Tairach folgten, dann würde es nicht lange dauern, bis die Orks vom Antlitz Deres getilgt waren.

Lysandra erschrak. Was hatte sie da gedacht? Sie wollte die Amazonen auf Burg Yeshinna zu Tairach bekehren? Das mußte die Schwäche sein. Sie verwirrte ihre Sinne. Sie würde Xarvlesh in den Rondra-Tempel von Yeshinna bringen. Dort wäre die verfluchte Waffe für immer vor den Orks sicher.

Lysandra stolperte und stürzte auf das Eis. Ein Pfeil zischte über sie hinweg.

Die Amazone lächelte und drehte sich um. Rondra beschützte sie! Der große Orkkrieger war mittlerweile von seinem Pony gestiegen und versuchte sie mit seinem Bogen niederzustrecken. Mehr als ein Dutzend weiterer Orks standen schon am Ufer, doch keiner wagte sich auf das Eis des Sees.

Wieder hatte der Anführer einen Pfeil auf sie abgeschossen. Ohne daß sie etwas dazu tat, zuckte ihr Arm hoch, und die Keule schlug mit einer blitzschnellen Bewegung das Geschoß aus der Luft.

Für einen Moment starrte Lysandra sprachlos auf die Waffe.

»Xarvlesh verteidigt dich. Der Fleischreißer schützt dein Leben. Du sollst seine neue Dienerin werden. Du trägst die Waffe schon zu lange. Nun ruht das Auge Tairachs auf dir. Gib Rrul’ghargop die Keule, oder du wirst auf immer verdammt sein, denn ...« Die Stimme des Geistes wurde immer schwächer.

Lysandra raffte sich auf und schritt weiter auf das Eis hinauf. Bald würde die Sonne im Westen versinken. Der Himmel über dem See war mit violetten Wolken verhangen. Es würde bald einen Schneesturm geben. Lysandra zog ihren Umhang enger um die Schultern und preßte Xarvlesh an ihre Brust. Dabei streifte sie kurz mit der Waffe ihr Kinn. Ein Schauer wohliger Wärme durchlief sie, und für einen kurzen Moment sah sie ein eigenartiges Bild vor sich. Sie stand mitten im Eis und hatte all ihre Kleider abgelegt. Zu ihren Füßen lag der Anführer der Orks. Sie hatte ihn erschlagen und zeichnete nun mit der blutverschmierten Waffe seltsame Muster auf ihren Leib.

Die Amazone biß sich auf die Lippen, und der Schmerz vertrieb das Schrekkensbild. Dann löste sie die löwenköpfige Fibel an ihrer Schulter und schlug den Streitkolben in ihren Umhang ein. Wie Nadeln stachen die Eiskristalle, die der Wind vor sich hintrieb in ihr Gesicht. Es wurde jetzt immer schneller dunkler. Lysandra drehte sich um.

Das Ufer war schon fast in der Abenddämmerung verschwunden. Einer der Orks war ihr auf das Eis gefolgt. Doch mehr als zweihundert Schritt trennten sie. Sobald es richtig dunkel war, würde sie einige Haken schlagen. Dann hätte er schnell ihre Spur verloren. Fast verspürte sie Anerkennung für den Anführer der Schwarzröcke. Sie selbst hatte den ganzen Tag lang überlegt, ob sie sich auf das Eis des Sees hinauswagen sollte. Die Geschichten, die man sich über den Neunaugensee erzählte, waren Legion.

Grünhaarige Klammermolche sollten an seinem Ufer leben und man sagte, daß es in dem Sumpf von Irrlichtern, Nachtalpen und Geistern nur so wimmelte. Lysandra lächelte. An die Gegenwart von Geistern war sie nun ja schon gewohnt.

Allein die Berichte über eine riesige Seeschlange, die in den Tiefen des bodenlosen Gewässers hausen sollte, beunruhigten sie wirklich. Mit allem anderen würde sie schon fertig werden. Und sollte sie hier auf dem See sterben, dann würde die Waffe mit ihr im Wasser verschwinden. Am Grund des Sees war sie genauso sicher wie in irgendeinem Tempel.

Aber wenn der Ork sie fand? Lysandra schob den Gedanken beiseite. Sie würde nicht sterben!

Es war jetzt völlig finster, und das Schneetreiben wurde immer dichter. Ihre Füße fühlten sich an wie Eisklumpen. Der Frost biß durch ihre ledernen Handschuhe. Jeder Schritt war unendlich mühsam geworden. Am liebsten würde sie sich für einen Augenblick hinsetzen und ausruhen. Doch das wäre das Ende. Würde sie erst einmal sitzen, hätte sie nicht mehr die Kraft sich zu erheben. Sie würde erfrieren.

»Hol Xarvlesh aus deinem Umhang! Zieh deine Handschuhe aus und streich über die Waffe. Sie wird dich wärmen und vor dem Tod bewahren. Oder stirb, dann werde ich Rrul’ghargop zu dir fuhren, und er wird die Waffe in seinen Besitz nehmen. Erkenne endlich, daß Tairach auf jeden Fall triumphieren wird, du dummes Weib.«

Lysandra fluchte leise. Sie würde ihre linke Hand dafür geben, der Stimme des Geistes zu entkommen. Jetzt, wo die Sonne untergegangen war, hatte die Stimme sich wieder erhoben, und manchmal konnte sie ein Abbild des Hohepriesters neben sich sehen.

Lysandra stolperte und rutschte. Der eisige Panzer des Sees mußte in diesem Winter schon mehrfach aufgebrochen sein. Wind und Wellen hatten die treibenden Eisschollen übereinandergeschoben und eine bizarre Landschaft geformt. Vielleicht wanderte die Amazone auch geradewegs auf eine dieser Bruchstellen zu? In dem Schneetreiben konnte man kaum die Hand vor Augen sehen. Jeder Schritt mochte den Tod bedeuten. So wie sie vor Momenten gestürzt war, konnte sie auch jeden Augenblick in eine tiefe Spalte abrutschen und ins Wasser fallen.

»Bleib doch einfach liegen«, flüsterte der Geist, »dann kann dir nichts passieren.«

Die Amazone mühte sich auf. Sie würde niemals auf das hören, was ihr die Erscheinung zuraunte. Sie würde niemals aufgeben. Und wenn sie den See hinter sich gelassen hatte, würde sie geradewegs nach Yeshinna gehen und einen Tairachkult gründen ...

Bei allen Göttern! Wurde die Macht, die Xarvlesh über sie hatte, wirklich immer stärker? Wie konnte sie nur so etwas denken!

Sie würde anfangen, die Litaneien über die Taten der Heiligen zu rezitieren. Jahrelang hatte sie auf Burg Yeshinna diese Texte auswendig lernen müssen, bis sie sie schließlich stundenlang aufsagen konnte, ohne auch nur ein einziges Wort dabei zu vertauschen.

Sie würde mit Thalionmel beginnen. Sie galt als die Schirmherrin gegen übermächtige Feinde.

Die Zähne klapperten ihr vor Kälte, und stockend begann sie zu rezitieren:

»Es begab sich zu jener Zeit, da Vinsalt sich gegen das Kaiserreich erhoben hatte und sich den Söhnen von Keft, der falsche Gott Rastullah offenbarte, daß Scheich Tugruk Pascha in seiner Wüstenstadt die neun Sippen vereinte, um sie zu einem Heerzug nach Neetha zu führen. Dort herrschte gar großer Jammer, denn alle Schwerter der Stadt waren gen Norden gezogen, um mit dem Heerbann gegen die Kaiserlichen zu ziehen. Allein Thalionmel vermochte dem Ruf der Waffen nicht zu folgen, da ein starkes Fieber sie niedergeworfen hatte, als die Streiter die Stadt verließen, und so war sie die einzige, die den Söhnen der Wüste auf der Chababbrücke vor Neetha entgegentrat und mutig deren Anführer gebot, das Königreich Vinsalt wieder zu verlassen. Doch die wilden Reiter lachten über die Löwin und bestürmten die Brücke ...«


Lysandra wußte nicht, wie viele Stunden sie durch die Nacht geirrt war. Soeben hatte sie die Litanei von Geron dem Einhändigen, dem Schutzheiligen gegen Ungeheuer beendet. Immer wütender brauste der Sturm gegen sie an, als wollte er verhindern, daß sie weiterging.

»Du brauchst nur Xarvlesh in deine bloßen Hände zu nehmen, und alle Erschöpfung wird von dir weichen«, flüsterte der Geist.

Lysandra ignorierte die Stimme. Wenn sie aß, würde ihr das neue Kräfte geben. In einem Beutel hatte sie noch etwas getrockneten Fisch.

Mit ungelenken, halb erfrorenen Fingern versuchte sie, die Knoten des Beutels zu lösen, doch es wollte ihr nicht gelingen. Schließlich zog sie das Messer aus ihrem Gürtel und zerschnitt ihn. Der Fisch war gefroren. Die Flußfischer hatten ihn in dünne Streifen geschnitten und an der Luft getrocknet. Gefroren waren diese Streifen so zerbrechlich wie Glas. Lysandra brach einen der Streifen in Stücke und steckte eines in den Mund. Sie mußte erst eine Weile darauf lutschen, bevor das Fleisch weich genug wurde, um es zu kauen. Es tat gut, wieder etwas zu essen.

Mittlerweile hatte es aufgehört zu schneien, und im blassen Licht des Madamals konnte die Amazone die eisige Ebene überblicken. Überall türmten sich Platten aus geborstenem Eis. Was sollte sie tun, wenn sie plötzlich vor dem dunklen Wasser des Sees stand?

In der Ferne grollte Donner. Lysandra schirmte das Gesicht mit der Hand gegen den Sturmwind und versuchte zu erkennen wie es weiterging. Am Horizont war ein mattes, rötliches Leuchten zu sehen. Man erzählte sich, daß es in der Mitte des Neunaugensees einen Vulkan gäbe, der immer dann aktiv wurde, wenn Unglück heraufzog.

Wenn sie auf den Vulkan zuging, würde sie den kürzesten Weg nehmen. Vielleicht war der See ja doch ganz zugefroren. Noch einmal blickte sie über das Eis.

Zwischen den Blöcken bewegte sich ein Schatten, der durch das Labyrinth zielstrebig auf sie zukam. Einen Moment verharrte die dunkle Gestalt und blickte in ihre Richtung. Das Licht des Madamais brach sich an einem metallischen Gegenstand auf seiner Brust. Das Amulett! Es war Rrul’ghargop. Der Orkkrieger mußte sie während des Schneesturms überholt haben. Trotz der Strapazen der letzten Stunden bewegte er sich immer noch so kraftvoll und ausdauernd, als habe ihm der Sturm nichts anhaben können.

Lysandra blickte sich um. Sich zu verstecken wäre sinnlos. Rrul’ghargop würde sie finden, und für einen Kampf fehlte ihr die Kraft. Es wäre ein Kinderspiel, ihr die Waffe aus der Hand zu schlagen. Der Ork war einfach besser ausgerüstet. Statt eines Küraß und eines Kettenhemdes, wie sie, trug er wärmende Pelze. Sie hatte verloren ...

»Endlich siehst du es ein. Deine Flucht war sinnlos. Er wird dich schlachten wie ein Tier. Dein Weg endet hier, und Xarvlesh kehrt endlich wieder zu meinem Volk zurück«, höhnte die Stimme des Geistes.

Lysandra weinte vor Wut. War wirklich alles vergebens gewesen? Der Kampf um die Stadt, ihre lange Flucht ...

Nein, sie würde nicht aufgeben! Die Amazone legte die Keule, die noch immer in ihren Umhang eingeschlagen war, vor sich aufs Eis und zog ihren Reitersäbel. Sie würde bis zuletzt kämpfen. Thalionmel hatte sich auch nicht ergeben, obwohl sie allein gegen sechshundert Wüstenreiter stand.

»Rondra schütze mich«, murmelte Lysandra und küßte das Heft ihres Säbels. Wie zur Antwort erklang in der Ferne ein Donnergrollen. Ein Blitz zuckte über den Himmel und tauchte die Wolken für einen Augenblick in einen zugleich majestätischen und unheimlichen Purpurschein.

Breitbeinig stand Lysandra auf dem Eis und wartete auf den Orkkrieger. Kaum mehr als zehn Schritte trennten sie noch, als sie plötzlich von einem Chaos aus Lärm und Licht umgeben war. Das Eis erbebte unter ihren Füßen. Ein Blitz war nicht weit von ihr eingeschlagen und hatte einen riesigen Eisbrocken zertrümmert.

Noch immer schwankte der Boden. Ein bedrohliches Knirschen erklang. Rund um sie klafften Risse im Eis, die sich wie ein Blitz am Himmel schnell weiter verästelten. Der Orkkrieger hatte das Gleichgewicht verloren und war gestürzt. Zwischen ihnen war die Eiskruste aufgebrochen und in dem immer breiter werdenden Spalt schäumte das aufgewühlte Wasser des Sees. Auch Lysandra konnte sich kaum auf den Beinen halten. So weit sie in der Dunkelheit sehen konnte, war die ganze Eisdecke des Sees in Bewegung geraten.

Ihr Verfolger hatte sich mittlerweile wieder aufgerappelt und sprang auf eine benachbarte Eisscholle. Es schien, als wolle er versuchen, doch noch zu ihr zu gelangen.

Knirschend und krachend schlug das Eis aneinander. Alles war in Bewegung, und der Sturmwind trieb das zertrümmerte Eis nach Norden zur Mitte des Sees hin.

Rund um die kleine Insel aus Eis, auf der die Amazone gefangen saß, lag ein breiter Graben dunklen Wassers. Fast schien es, als hätten sich die Elemente verbündet, um sie vor dem Anführer der Orks zu schützen. Rrul’ghargop hatte eingesehen, daß er zumindest im Moment nicht mehr zu ihr gelangen konnte. Er nahm seinen Bogen von der Schulter und legte einen Pfeil ein.

Die Amazone fluchte. Auf der großen Eisscholle stand sie wie auf einem Präsentierteller. Ein auch nur halbwegs geübter Bogenschütze konnte sie auf keinen Fall verfehlen. Schützend hob sie den zusammengeknäulten Umhang vor ihre Brust. Vielleicht würde sich das Geschoß darin verfangen. Im selben Moment, als ihr Verfolger den Pfeil von der Sehne schnellen ließ, erbebte das Eis unter einer mächtigen Welle. Das Geschoß verfehlte sie um weniger als eine Hand breit.

Die Eisschollen tanzten auf dem schäumenden Wasser, als wären sie lebendige Wesen.

Und dann begann der mächtige Eisbrocken zu zerbrechen, der ihr bislang Zuflucht gewährt hatte. Lysandra stürzte nach hinten. Umhang und Keule entglitten ihren Fingern und fielen auf das Eis. Um sie herum schlug eisiges Wasser zusammen.

Den ersten Augenblick lang glaubte sie, sie könne nicht mehr atmen und würde auf der Stelle erfrieren, so kalt war das Wasser. Dann drohte sie das Gewicht ihrer Rüstung immer weiter in die Tiefe zu ziehen.

»Du mußt die Keule an dich nehmen. Sie wird dich retten«, heulte die Stimme des Geistes durch den Sturm.

Mit Mühe gelang es der Amazone noch einmal, den Kopf über Wasser zu bekommen. Aus dem Eisblock vor ihr ragte ein armdicker Ast. Er gehörte zu einem Baumstamm, der in einem Panzer von Eis gefangen war.

Lysandra griff nach dem Ast. »Nicht aufgeben«, murmelte sie vor sich hin.

»Nicht aufgeben!«

Die Kälte raubte ihr fast die Sinne. Bei jedem Atemzug konnte sie spüren, wie sie immer mehr die Wärme des Lebens verließ. Mit letzter Kraft zog sie sich auf die Eisscholle. Wenige Schritt vor ihr lag Xarvlesh.

»Nimm die Keule, sie wird dich wärmen!« raunte die quälende Stimme. Die Amazone robbte vorwärts. Sie hatte nicht mehr die Kraft, sich aufzurichten. Der eisige Wind ließ ihre nassen Kleider zu Eis erstarren, und ihre Sinne gaukelten ihr Bilder aus ihrer Kindheit vor, als sie zusammen mit ihrer Fechtlehrerin durch sonnendurchflutete Bergwälder geritten war. Lysandras Finger waren so kalt, daß sie sie nicht mehr zu bewegen vermochte. Wie Krallen schlug sie die erfrorenen Hände in den Umhang und zog ihn zu sich heran. Ganz dicht an ihre Brust drückte sie den Stoff. Jetzt wollte sie schlafen. Sie war so unendlich erschöpft. Nur für einen kurzen Moment die Augen schließen ...

»Wenn du schläfst, wirst du sterben. Wickle Xarvlesh aus der Decke. Die Waffe wird dich retten.« Die Stimme des Geistes war zu einem Kreischen geworden.

Nein! Sie würde dem Versucher widerstehen. Sie konnte doch nicht auf diese Art sterben! Sie war Kriegerin und Amazone. Sie würde ihr Ende in einem Kampf finden.

Und wenn sie doch erfrieren sollte?

»Nimm Xarvlesh. Preß die Waffe gegen dein Fleisch ... Sie wird dich ... wärmen.« Die Stimme in ihrem Kopf wurde immer schwächer.

Sie hatte doch noch gewonnen. Selbst wenn sie sterben sollte, dann würde es den Schwarzpelzen nicht mehr gelingen, an die Waffe zu gelangen. Sie würde auf einer Eisscholle mitten auf dem verfluchten See treiben. Das Eis würde tauen, und ihre Leiche würde mit Xarvlesh in den bodenlosen Tiefen des Neunaugensees versinken. Niemand würde dann jemals mehr diese Keule besitzen. Sie wäre auf alle Zeiten verloren.

Lysandra war zufrieden. Ja, sie durfte sich jetzt eine Pause gönnen. Nur für ein oder zwei Stunden würde sie schlafen, um die beißende Kälte zu vergessen. Sie war schon so müde, daß sie sich nicht mehr rühren konnte. Nach ein paar Stunden Schlaf würde sie aufstehen und nach einem Ausweg suchen.

Sicher würde der Wind sie ans Ufer treiben, und von dort aus konnte sie dann den Weg zu ihrer Burg fortsetzen. Rondra war ihr wieder gewogen. Das wußte Lysandra ganz sicher. Wer sonst, als die Göttin des Sturmes und des Krieges, sollte den Blitz vom Himmel geschleudert haben, der das Eis zerbrechen ließ.

Es hatte wieder begonnen zu schneien, und der Wind trieb die Eiskristalle wie kleine, weiße Pfeile gegen ihre Wangen. Zwischen den tanzenden Schneeflocken bewegte sich etwas. Doch es war nicht Rrul’ghargop. Den Anführer der Orks hatte sie nicht mehr gesehen, seit ihre Eisscholle zerbrochen war.

Was sich dort bewegte, schimmerte in einem angenehmen, warmen Rot. Die Gestalt schien auf vier Beinen zu gehen. Ja, jetzt konnte Lysandra sie besser erkennen. Irgend etwas schritt über das Wasser auf sie zu. Ihre Augenlider wurden immer schwerer. Sie mußte jetzt schlafen. Es wäre sinnlos noch länger dagegen anzukämpfen. Nur einen kurzen Augenblick wollte sie noch wach bleiben. Sie mußte wissen, was da auf sie zukam, auch wenn sie intuitiv spürte, daß die Gestalt ihr nicht übel gesinnt war. Jetzt konnte sie es schon besser sehen. Es war eine riesige, rote Löwin, die dort über das Wasser kam. Eine Sendbotin Rondras. Nur wenige Schritte noch, dann würde die Löwin sie erreicht haben und dann ...


Der Wind spielte mit den weißen Waffenröcken und Umhängen der fünf Ritter, die am Seeufer entlang galoppierten, so daß die roten Löwinnen, die sie zu Ehren ihrer Göttin als Wappen trugen, fast lebendig auf dem Stoff wirkten. Vor zwei Stunden hatten sie den verborgenen Tempel in Donnerbach verlassen, um das Seeufer zu erkunden. Ein Jäger, der nur mit Mühe dem schrecklichen Schneesturm entronnen war, der in den letzten Tagen über dem See getobt hatte, hatte Orks am Ufer gesehen. Die Ritter sollten nun erkunden, ob es sich dabei nur um einige verirrte Späher handelte oder ob vielleicht der Schwarze Marschall plante, die Stadt zu überfallen.

Der Sturm hatte das Eis auf dem See in Trümmer geschlagen. Wulf, der jüngste der fünf Ritter, konnte sich nicht erinnern, jemals einen solchen kalten Winter erlebt zu haben. Vielleicht lag das am Krieg, der schon so lange an den Kräften des Landes zehrte. Er hatte mit einigen seiner Ordensbrüder in der Schlacht bei Silkwiesen mitgekämpft und die Erfahrung machen müssen, daß Ritterlichkeit nicht mehr zu zählen schien, wenn zwei gewaltige Schlachtreihen aufeinandertrafen. Vielleicht lag es auch einfach daran, daß so viele Söldner, Bauern und Bürger in den Krieg hineingezogen worden waren.

Wieder schweifte der Blick des Ritters über den See. Das Ufer war in eine wilde Landschaft aus Eisbrocken verwandelt worden. Sogar vor Donnerbach war der Neunaugensee so weit gefroren gewesen, daß man, bevor der Sturm kam, eine halbe Meile weit ohne Gefahr auf das Eis hinausreiten konnte.

Wulf zügelte sein Pferd. Zwischen den bläulich schimmernden Eisschollen war ein sonderbarer Schatten auszumachen. Während die anderen schon weiterritten, trieb er seinen grauen Hengst näher zum Ufer. Dann sprang Wulf aufgeregt aus dem Sattel, löste sein Hörn vom Gürtel und gab den anderen ein Signal umzukehren.

Zwischen den Trümmern lag ein Mensch. Halb kletternd, halb rutschend überquerte der Ritter das Eisfeld und stand schließlich vor einer rothaarigen Frau, die zusammengekrümmt am Boden lag. Die Frau war erfroren. Ihr Gesicht und ihre Rüstung waren von Eis überzogen. Mit beiden Händen preßte sie ein Stoffbündel vor die Brust. Sie mußte während des Sturms versucht haben, den See zu überqueren.

Neugierig musterte Wulf das Stoffbündel, aus dem der Griff einer Waffe herausragte. Es mußte ein Keule oder Axt sein. Das Holz des Griffs war ungewöhnlich dunkel. Es schienen auch Runen oder Symbole in den Schaft eingraviert worden zu sein.

Inzwischen waren die anderen des Trupps eingetroffen. Hildebrand, der Waffenmeister des Tempels und Anführer der kleinen Truppe, beugte sich über die Tote, schreckte aber sofort wieder zurück, als sei er von einer unsichtbaren Kraft abgestoßen worden.

»Hast du sie berührt?« Der alte Mann blickte Wulf streng an.

»Nein, obwohl ich schon gerne die Waffe näher betrachtet hätte.«

»Gut!« Hildebrand strich sich über seinen weißen Bart und musterte die Leiche aus einigem Abstand. Dann wandte er sich zu den drei anderen Rittern um und beauftragte sie, in einem nahegelegenen Birkenwald einige lange Stangen zu schlagen.

»Wir werden eine Pferdebahre bauen und sie mit nach Donnerbach nehmen. Sie war eine Kriegerin und gehört in die Obhut Rondras.«

Als die anderen davongeritten waren, wandte sich Hildebrand wieder an Wulf.

»Hast du die Waffe gesehen, die sie trägt?«

Der junge Ritter nickte stumm.

»Die Waffe muß sehr wichtig sein. Ich glaube, die Kriegerin ist ihretwegen gestorben. Sieh dir an, wie sie den Stoff an ihren Körper gepreßt hat. Was immer sie unter diesem Umhang verbirgt, es wäre unmöglich, es ihr zu entreißen.«

»Seid Ihr denn nicht neugierig zu wissen, was sie bei sich trägt?«

Der Alte schwieg eine Weile und strich sich über den Bart. »Nein«, antwortete er schließlich. »Die Tote hat für dieses Geheimnis ihr Leben gegeben, und das respektiere ich. Vielleicht wäre es falsch, die Waffe auch nur zu berühren. Diese Waffe soll in ihren Händen in den Tempel gelangen. Ich glaube, der Fürst-Erzgeweihte Aldare wird das Orakel befragen, ob die Fremde nach den Tugenden Rondras gelebt hat. Ist sie würdig, im Tempel aufgebahrt zu werden, wird man sie mit Sicherheit in einer der geheimen Grotten bestatten, zu denen nur Hochgeweihte Zutritt haben.«

Wieder schwieg der alte Waffenmeister und musterte die tote Kriegerin. Der Wind spielte mit seinem Umhang. Mit dem wettergegerbten Gesicht, dem wehenden weißen Bart und seinem altertümlichen Kettenpanzer sah Hildebrand wie einer der Helden aus längst vergangenen Tagen aus. Wulf empfand tiefe Ehrfurcht vor dem alten Mann. So wie er wollte er auch eines Tage sein. Hildebrand war für ihn der Inbegriff von Ritterlichkeit. Schließlich brach der Waffenmeister das Schweigen. »Wir werden wohl nie erfahren, wie die Kriegerin gestorben ist und wer sie war. Doch glaube ich, daß sie diese Waffe in die Obhut des Tempels bringen wollte. Rondra selbst muß gewollt haben, daß wir sie finden und hat unsere Schritte zu ihr gelenkt, so daß sie ihr Ziel selbst im Tod noch zu erreichen vermag. Vielleicht wird die selbstlose Aufopferung der Kriegerin eines Tages unseren Knappen zum Ansporn dienen.«

In der Ferne konnten sie ihre drei Gefährten über die verschneite Ebene zum See zurückkommen sehen.

Hildebrand nahm seinen Umhang von den Schultern und deckte ihn über die Tote. Sorgfältig strich er die Falten glatt, so daß deutlich die rote Löwin, das Wappen des Ritterordens, zu erkennen war. Dann wandte er sich an Wulf. »Hilf mir jetzt. Wir wollen ihr einen würdigen Einzug nach Donnerbach bereiten.«

Der junge Ritter war verwirrt. Einen Augenblick lang hatte er eine seltsame Spiegelung in der aufragenden Eisklippe hinter der Toten gesehen. Ganz deutlich war ihm die Gestalt der Kriegerin im Eis erschienen. Sie trug eine Rüstung nach Machart der Amazonen, doch von ihren Schultern wehte der weiße Ordensmantel der Rondrageweihten. Sie winkte einmal und drehte sich dann um. Als sie verschwand, schien neben ihr eine rote Löwin zu schreiten.

»Helft Ihr mir jetzt, Herr Ritter, oder wollt Ihr alle Arbeit einen alten Mann machen lassen?« Beim Klang der Worte war die Vision verschwunden. Wulf beeilte sich, dem Waffenmeister zur Hand zu gehen. Wenn Hildebrand begann, ihn mit Ritter zu titulieren, würde es erfahrungsgemäß nicht mehr lange dauern, bis er ihn anbrüllte wie ein wütender Stier.

Noch einmal blickte Wulf kurz auf das spiegelnde Eis. Heute abend würde er um eine Audienz beim Fürst-Erzgeweihten bitten und ihm berichten, was er gesehen hatte.

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