3

»Glaubst du, daß ich Unglück bringe?«

Marcian lag erschöpft vom Liebesspiel neben Cindira und starrte die hohe Decke seines Turmgemachs an.

»Mir hast du noch kein Unglück gebracht.«

Der Inquisitor drehte sich um und strich der Südländerin sanft über ihr rabenschwarzes Haar.

»Ich denke, deine Freunde aus der Fuchshöhle reden nicht mehr mit dir. Keine drei Monate lebst du nun mit mir zusammen, und schon stehst du allein in der Welt.«

»Was ist los? Woher diese dunklen Stimmungen?«

Marcian zögerte ... In der Stille war allein das Knistern des Kaminfeuers zu hören. »Ich habe geträumt... ich sterbe, und ich habe immer wieder die Vision von einem Feuer, das Verderben bringt. - Ich will dich nicht mit in den Abgrund reißen. Nicht auch noch dich!«

Cindira nahm ihn in den Arm, und Marcian umklammerte sie mit einer Heftigkeit, daß es beinahe schmerzte.

»Ich bin bei dir«, flüsterte sie leise. »Ich werde immer bei dir sein. - Ich liebe dich.«

»Der einzige Wunsch, den ich noch habe, ist, mit dir in den Süden zu gehen und ein ruhiges Leben auf einem Landhaus oder in einer Villa an der Küste Khunchoms zu führen.«

Marcian atmete schwer. Der Duft von Cindiras langem, dunklem Haar verwirrte und betörte ihn. Wenn diese Nacht doch ewig dauern würde ... Auf immer den Kopf an ihre harten Brüste gepreßt ... das Haupt umspielt von ihrem seidigen Haar, das jetzt in langen Strähnen über sein Gesicht und seine Brust fiel. Oder so zu sterben ... Sie wollte immer bei ihm sein.

»Ich habe Geld. Morgen früh werde ich dir ein Siegel geben ... Das einzige, was ich von meinem Vater besitze. Damit wirst du nach Festum reisen und es dem Handelsherren Stoerrebrandt vorlegen. Er verwaltet mein Geld und ...«

»Gar nichts werde ich ohne dich tun. Wir werden zusammen dorthin reisen.« Zwischen Cindiras Augenbrauen zeigte sich eine steile Falte. »Du wirst mich in diesen Tagen doch nicht alleine nach Norden reisen lassen«, fügte sie dann halb im Scherz hinzu.

»Ich gebe dir Gold. Du sollst mit einer Zofe und Kriegern als Begleitung reisen, wie eine große Dame. Und wenn ich nachkomme, werde ich dir Schmuck und Kleider kaufen, mehr als du tragen kannst. Kostbaren Brokat aus Grangor, Gold- und Silberschmuck aus Unau, dunkle Perlen, wie man sie nur vor der Küste von Jilaskan findet ... Du wirst wie eine Fürstin Hof halten, und ich werde dein erster Diener sein.«

»Mein verliebter Narr.« Cindira strich Marcian durch sein kurzgeschorenes Haar. »Was soll ich damit? Ich will nur dich, und zwar nicht als meinen Diener.« Mit beiden Händen faßte sie sein Gesicht und hob sanft den Kopf des Inquisitors, bis er genau in ihre braunen Augen blickte. »Morgen werden wir zur alten Nana gehen. Sie hat uns bei Lancorian die Kleider gerichtet und manchmal auch gekocht. Nana ist eine weise Frau. Sie soll uns aus der Hand lesen.«

Marcians Blick wurde kalt. »Mit solchem Hexenwerk will ich nichts zu tun haben. Meine Zukunft liegt allein in Praios Hand, und keinem Menschen ist es bestimmt, zu wissen, welches Schicksal seiner harrt.«

Cindira zuckte ein wenig zurück. »Aber ... Ich wollte doch nur wissen, wie viele Kinder wir haben werden. Das ist doch nichts gotteslästerliches.«

Marcian schwieg. Das Gerede von der alten Frau hatte ihn an den nächsten Tag erinnert. Das Gespräch, daß er mit Gordonius zu führen hatte. Noch fiel kein Licht durch den Holzverschlag, der das einzige Fenster des Raums verschloß. Noch gemahnte ihn das Praiosgestirn nicht daran, seine Pflicht zu tun. Würde es nur für immer dunkel sein.

Marcian griff nach Cindiras Handgelenk. Noch immer musterte sie ihn. Er könnte sich selber verfluchen. In solchen Augenblicken hatte er das Gefühl, daß sie Angst vor ihm hatte. Angst vor dem ›lodernden Blick‹, den ihn die Geweihten des Sonnengottes gelehrt hatten. Und Angst vor der Kälte in seinen Worten, hinter der er seine eigenen Gefühle zu verbergen pflegte.

»Bitte, verzeih mir. Wir werden zu dieser Nana gehen. Ich wollte dich nicht verletzen ...«

Cindiras Züge entspannten sich. Sie beugte sich herüber ... lehnte nun ihren Kopf an seine Brust.

»Wann wird dieser Krieg zu Ende sein?« Leise schluchzte sie. »Wann werden wir keine toten Kinder mehr unter Shazars Apfelbäumen beerdigen müssen?«

Marcian spürte ihre Tränen auf seiner Brust.

»Weißt du, daß ich ein Kind von dir unter dem Herzen trage?«

»Was ...«

»Ich wollte es dir nicht sagen ... Ich weiß ja, daß du schon genug Sorgen hast ... aber ich frage mich immer öfter, ob es jemals das Licht des Praios erblicken wird. Ob wir den Winter überleben? Manchmal habe ich sogar die Angst, daß ich ganz alleine sein werde, wenn ich ...«

»Du darfst so nicht reden!« Marcian strich ihr sanft über das Haar. »Im nächsten Frühjahr, noch bevor die Apfelbäume blühen, wird der Prinz vor den Toren der Stadt stehen, und dann sind alle Schrecken vorbei. Ich werde meinen Abschied bei der Inquisition nehmen und ...«

»Du bist ein schlechter Lügner, Marcian.« Cindira hatte ihren Kopf gehoben und starrte ihn jetzt aus tränenroten Augen an. »Wir werden zu Nana gehen, und dann werden wir wissen, was sein wird.«


»Das ist nicht Euer Ernst!« Meister Gordonius war von seinem Sitz aufgesprungen und funkelte Marcian böse an. »Das verbiete ich Euch! In Peraines Namen, Ihr werdet nicht Eure Hand an die Kranken legen.«

»Und wenn ich Euch dafür verhaften muß. Mein Entschluß steht fest. Ich kann weder vor meinem Gewissen noch vor meinem Gott verantworten, daß es so weitergeht. Euch dürfte doch wohl klar sein, was für ein Ende die Sache nimmt, wenn ich nicht eingreife.«

»Nein, das ist mir nicht klar.« Gordonius hob herausfordernd sein Kinn.

»Aber ich bin sicher, Ihr werdet es mir erklären.«

»Selbst Ihr dürftet doch wohl mittlerweile erkannt haben, daß die Kranken im Perainetempel an der Duglumspest leiden.«

»Ihr seid jetzt also unter die Heiler gegangen, Kommandant«, höhnte Gordonius. »Ich denke, den Zustand dieser bedauernswerten Kranken zu beurteilen, fällt wohl eher in mein Fach.«

»Nicht in diesem Fall!«

»Was macht Euch denn so sicher in Eurem Urteil? Wenn Ihr so bewandert in der Lehre der Heilkunst seid, dann müßtet Ihr doch auch wissen, daß nach allen Berichten, die über diese Krankheit existieren, die Infizierten am Ende der siebenten Woche sterben. Die meisten sind nun aber schon seit mehr als neun Wochen in meiner Behandlung. Wie erklärt Ihr Euch diese Diskrepanz?«

»Die Kranken liegen im Tempel der Peraine, das mag die Sache hinauszögern. Aber seht sie Euch doch an. Ich war erst vor einer Stunde dort. Bei den meisten hat sich die Haut schon fast ganz vom Körper geschält. Ich mußte Soldaten abstellen, um zu verhindern, daß die verängstigten Bürger den Tempel niederbrennen. Und selbst für meine Kämpfer kann ich nicht mehr garantieren. Die schrecklichen, unmenschlichen Schreie, die die Kranken ausstoßen, zerren auch an ihren Nerven. Es dauert sicher nicht mehr lange, und sie werden diese Kreaturen dort im Tempel nicht mehr verteidigen. Seht sie Euch doch an, Gordonius, wie sie dort liegen, mit ihrer gräßlichen Dämonenhaut. Was haben sie noch Menschliches an sich? Und gestern hat der erste von ihnen sich selbst entleibt ...«

Der grüngewandete Therbunit wich Marcians Blick aus.

»Wollt Ihr ihnen denn wirklich die letzte Möglichkeit nehmen, ihre Seelen in Borons Hallen zu retten? Versteht Ihr das unter der Verantwortung, die ein Medicus trägt? Begreift Ihr denn nicht? Wenn wir dem nicht ein Ende bereiten, dann werden sie zu Dämonen werden!«

»Dummer Aberglaube! Dafür gibt es keinen Beweis.« Gordonius lief in seiner Wut rot an. »Ich werde nicht dulden, daß Ihr Euch aus purem Eigennutz dem Willen der Mehrheit in dieser Stadt beugt. Und wenn ich mich mit den Kranken im Tempel verbarrikadieren muß! Euren abergläubischen Ängsten werde ich mich nicht beugen. Wo habt Ihr diesen Unsinn überhaupt gelesen?«

»Ihr verhöhnt den Praiosspiegel?«

Schlagartig wich Gordonius alle Farbe aus dem Gesicht.

»Nein ...« Seine Stimme hatte ihre Kraft verloren.

»Und wollt Ihr vielleicht behaupten, im Praiosspiegel stünde auch nur ein unwahres Wort?«

Der grauhaarige Therbunit zögerte.

»Unterstellt Ihr vielleicht, daß die Inquisition sich irrt?« Marcian gab seiner Frage absichtlich einen lauernden Unterton.

Gordonius spielte mit der Rechten nervös an der schlichten Schnur, die sein Gewand zusammenhielt.

»Ich erwarte Eure Antwort ...«

»Nein«, murmelte der alte Mann leise.

»Ich habe Euch nicht verstanden.« Marcian maß den Therbuniten mit kaltem Blick.

»Nein ... ich zweifele nicht ... an dem, was im Praiosspiegel steht.« Gordonius’ Stimme klang rauh, und er sprach abgehackt, so als müsse er sich jedes Wort abringen. »Doch seid Ihr überhaupt befugt, nach dem Recht der Inquisition zu urteilen?«

Marcian hielt dem Blick des Therbuniten stand, bis dieser schließlich sein Haupt neigte.

»Kurz vor Sonnenuntergang werde ich kommen. Sorgt dafür, daß die Kranken transportfähig sind.«

Der Inquisitor wandte sich um und ging zur Tür. Unter dem hohen Bogen wandte er sich noch einmal um. Gordonius starrte ihm mit leerem Blick nach.

»Was seid Ihr nur für ein Mann, Marcian? Und was macht Ihr mit den Menschen? Ihr sollt wissen, daß ich zum ersten Mal in meinem Leben gerade darüber nachgedacht habe, ob ich einmal meine Hilfe verweigern werde, wenn sie gebraucht wird. Betet zu Praios, daß Ihr nicht verwundet werdet oder aus einem anderen Grund eines Tages meiner Heilkunst bedürft.«


»Los, los, los. Beeilt Euch!« kommandierte Marcian in scharfem Ton. Er hatte den Nachmittag damit verbracht, dreißig besonders zähe Soldaten auszuwählen. Männer und Frauen, deren Seele sich so weit verhärtet hatte, daß sie für Geld alles taten. Ein Goldstück hatte er jedem von ihnen versprochen. Ein fürstlicher Lohn für nur zwei oder drei Stunden Arbeit. Marcian hatte befohlen, allen Kranken die Hände auf den Rücken zu binden. Nun zerrten die Kriegsknechte sie an den Fesseln aus dem Tempel. Wer nicht mehr die Kraft zu gehen fand, wurde rücksichtslos über den Boden geschleift.

Rund um den Perainetempel hatten sich Dutzende gröhlender Bürger eingefunden. »Ins Feuer mit Ihnen! Vernichtet die Dämonenanbeter!« tönte es aus der Menge.

Die Soldaten versuchten, mit ihren Hellebarden die Bürger zurückzudrängen. Eine Frau durchbrach die Kette der Krieger und warf sich vor einen der beiden Karren, auf die die Kranken gezerrt wurden, in den Schlamm.

»Tötet die Bestie, die meinen Mann besessen hat. Vernichtet den Dämon.«

Hysterisch schreiend riß sie sich ihr Kleid von den Schultern und begann sich mit den Nägeln Brust und Arme blutig zu kratzen. »Sieh mich, o mein Herr, Praios! Ich büße für meinen Mann, damit du ihn in dein Himmelreich aufnimmst. Zerschmettere die Dämonen!«

»Los, schafft sie weg!« befahl Marcian schroff.

Zwei Krieger packten die Frau bei den Schultern und stießen sie in die Menge zurück.

»Es sind alle auf den Wagen«, meldete der magere Weibel, der die Kriegsknechte kommandierte.

»Gut, dann laßt die Wagen anfahren!« Marcian mußte schreien, um das Lärmen der Menge zu übertönen.

»Die Göttin wird dich dafür verfluchen«, raunte es hinter dem Inquisitor. Ruckartig drehte der Kommandant sich um und blickte in das Gesicht von Gordonius.

»Hörst du mich«, raunte der alte Heiler. »Dafür, daß du Kranke von Söldlingen aus ihrem Tempel hast zerren lassen, wird Peraine dich verfluchen.«

Marcian maß den Mann mit eisigem Blick, bevor er antwortete. »Und du kannst gewiß sein, daß das Auge des Praios auf dir ruht. Wer dagegen aufbegehrt, daß ich die Larven vernichte, aus denen schon bald gottlose Dämonen geboren würden, der ist ein Ketzer. Vergiß nicht, daß der Arm der Inquisition eines Tages auch wieder bis Greifenfurt reichen wird, Gordonius. Und dann bete zu Peraine, daß sie dich vor dem Zorn der Diener des Praios bewahren möge.«

Die Ochsenkarren hatten sich bereits in Bewegung gesetzt. Mühsam bahnten die Soldaten ihnen einen Weg durch die aufgebrachte Menge. Marcian schloß mit langen Schritten zu den Söldnern auf.

Hatte Gordonius recht? War er ein Unmensch? Er folgte nur den Vorgaben des Praiosspiegels. Selbst Cindira fand seine Entscheidung richtig. Noch vor wenigen Wochen hatte er die Kranken vor dem Mob beschützt. Und nun war er es, der das Todesurteil über sie sprach. Aber er hatte keine Wahl mehr gehabt. Oder ...

Bis vor ein paar Tagen hatte Marcian noch darauf gehofft, daß sich Peraine der Unglücklichen in ihrem Tempel vielleicht erbarmen würde. Aber jetzt durfte er nicht mehr länger warten.

»Tod den Dämonenkindern!«

Die Bürger am Straßenrand hatten sich in eine fanatische Raserei hineingesteigert, die fast nicht mehr unter Kontrolle zu halten war. Einige schleuderten Steine nach den Unglücklichen auf dem Wagen. Andere warfen sich beim Anblick der gräßlich entstellten Männer und Frauen auf den Boden, um wimmernd zu den Göttern zu beten.

Die meisten der Kranken in den beiden Karren bekamen wahrscheinlich nicht mehr mit, was um sie herum geschah. Apathisch standen sie auf den Wagen und rührten sich kaum. Obwohl sie bei dem eisigen Wind, der an ihren dünnen, weißen Büßerhemden zerrte, eigentlich erbärmlich frieren mußten. Eine der Gestalten wand sich schreiend in ihren Fesseln. Gellend stieß sie Laute aus, die nicht von dieser Welt zu sein schienen. Dieser Dämon hatte wohl begriffen, daß er mit dem Körper, dessen er sich bemächtigt hatte, bald sterben würde, dachte Marcian grimmig.

Die Wagen hatten die ausgebrannten Vorratshäuser an der nördlichen Mauer passiert und bogen nun scharf ab. Die Straße stieg hier steil an und führte geradewegs auf den Platz der Sonne.

Einige der Soldaten griffen in die Speichen der beiden Leiterwagen, die die Steigung kaum bewältigten. Laut wieherten die ausgemergelten Pferde vor den Wagen, denen das Geschirr tief ins sehnige Fleisch schnitt. Ganz so, als hätten sie begriffen, was die Stunde geschlagen hatte, begannen immer mehr der Kranken aufzuschreien. Einige verdrehten ihre Köpfe in groteskem Winkel, und eitriger Schaum tropfte von ihren schwarz verfärbten, rissigen Lippen. Andere gröhlten mit dunklen Stimmen gotteslästerliche Flüche.

Marcian versuchte die Ohren davor zu verschließen. Kein Zweifel, diese Männer und Frauen waren nicht mehr zu retten.

Jetzt konnte er die Pfähle des gewaltigen Scheiterhaufens vor sich aufragen sehen, der während der Mittagsstunden auf dem Platz der Sonne aufgeschichtet worden war. Bürger und Soldaten hatten Bretter und rußgeschwärzte Balken aus der ganzen Stadt zusammengetragen. Die Trümmer ausgebrannter Häuser. Vor dem Scheiterhaufen hatte sich eine Handvoll Männer und Frauen aufgebaut, die trotz der Kälte nur Lendentücher trugen. Wie in Ekstase schlugen sie sich mit Peitschen und dornendurchwirkten Geißeln auf die nackten Oberkörper, so daß ihnen die Haut in blutigen Fetzen herabhing.

»Praios, erbarme dich!« wiederholten sie in endlos monotonem Singsang. Angeführt wurden die Flagellanten von Glombo Brohm. Der alte Kaufmann war fast nicht mehr wiederzuerkennen. Seit er eines Morgens den abgetrennten Kopf seines Sohnes auf dem Tisch neben seinem Bett gefunden hatte, schien er den Verstand verloren zu haben. Er hatte alle seine Diener entlassen und aß fast nichts mehr. Der feiste Dickwanst von einst war zu einem mageren Gerippe geworden. Mehr Fanatiker hatten sich um ihn gescharrt, um durch Askese und Selbstgeißelung das Unglück von der Stadt zu wenden.

Marcian lächelte zynisch. Es war nicht schwer, in Greifenfurt Asket zu sein. Erst vor drei Tagen hatte er die Lebensmittelrationen wieder kürzen müssen, die an jedem Morgen im Hof der Garnison an die Bewohner der Stadt ausgeteilt wurden. Wohin er auch blickte, überall sah er spitze, hohlwangige Gesichter.

Fast alle Säuglinge waren in den letzten Wochen gestorben, weil die Milch in den Brüsten ihrer Mütter versiegt war. Auch die Ammen waren zu ausgezehrt, um die Kinder retten zu können, und Milchkühe gab es schon lange nicht mehr in Greifenfurt.

Die Wagen hatten den Gipfel des kleinen Hügels erreicht, und die Soldaten begannen damit, die Kranken herunterzuzerren.

»Gebt sie dem Feuer!« erscholl es aus der Menge. »Reinigt die Stadt von dem Bösen!«

Es waren immer mindestens zwei Krieger notwendig, um einen der Gefesselten von den Leiterwagen zu holen. Wie rasend traten sie um sich, versuchten die Männer und Frauen zu beißen, die Hand an sie legen wollten, und spuckten sie an.

Eine Kriegerin mit kurzgeschorenem, schwarzen Haar rammte einem Knaben den Schaft ihrer Hellebarde in den Unterleib. Sich zusammenkrümmend schrie der Junge mit dunkler Stimme.

»Du Buhle des Laraan. Möge dein Meister dich nackt an das Tor der Stadt nageln und glühende Pfähle durch deinen Leib treiben, bevor dir seine Diener mit eisernen Zangen das Fleisch von den Knochen reißen!«

Erschrocken wich die Kriegerin zurück und schlug ein Schutzzeichen des Praios.

»An die Pfähle mit ihnen!« kreischte die Menge.

Ob wohl der Hunger daran schuld war? Die Bürger auf dem Platz schienen genauso ihre menschlichen Züge verloren zu haben wie die Gestalten an den Pfählen.

Sogar vier Kinder waren unter den Delinquenten. Marcian biß sich auf die Lippen. Er durfte keine Gnade gewähren! Hatten die Kranken erst einmal das letzte Stadium der Duglumspest erreicht, so würden ihre Körper zu Asche zerfallen, und für jeden, der starb, würde ein Dämon geboren. Ihre unsterblichen Seelen aber waren für immer verloren. So stand es im Praiosspiegel, dem heiligen Buch der Inquisition.

Er mußte nun seines Amtes walten, ob er wollte oder nicht. So hatte er es dem Boten des Lichtes, dem Obersten aller Praiosgeweihten geschworen, als ihm das Amt des Inquisitors übertragen worden war.

Er mußte diese Unglücklichen erlösen! Allein das Feuer konnte ihre Körper noch läutern. Indem sie unter Qualen auf dem Scheiterhaufen starben, würden die dämonischen Kräfte ausgetrieben, und ihren Seelen würde sich der Weg zur Erlösung öffnen. Das war die letzte Hoffnung, die ihnen noch blieb.

Marcian durfte jetzt nicht zögern! Er würde sie nicht töten. Er würde ihnen Erleichterung in ihren Qualen verschaffen.

Mittlerweile war auch der letzte angebunden worden, und die Waffenknechte stiegen von dem hohen Scheiterhaufen. Dann bildeten sie eine Kette, um die Bürger auf die südliche Hälfte des Platzes zurückzudrängen. Ihr Weibel trat neben Marcian und reichte ihm eine brennende Fackel.

»O Herr des Lichtes und der Gerechtigkeit, erhöre mich!« Die Stimme des Inquisitors hallte über den Platz. Es war ruhig geworden.

»Praios, richte deinen Blick auf uns und jene Unglücklichen, die von dämonischen Klauen ergriffen wurden und die in die Finsternis jenseits Alverans gezerrt werden sollten. Praios erlöse sie, und nimm alles Übel von ihnen durch die reinigende Kraft deines Feuers.«

Mit diesen Worten stieß der Inquisitor die Fackel ins trockene Reisig. Gierig leckten die Flammen nach den Brettern und Bohlen, aus denen der gewaltige Scheiterhaufen geschichtet war. Einige der Gefesselten schrien auf, andere starrten stumm vor sich hin, als sei alle Kraft, sich gegen das Schicksal aufzulehnen, von ihnen gewichen.

Die Bürger gröhlten. Dann begannen einige den Choral ›Praios, mein Licht, meine Hoffnung‹ anzustimmen. Immer mehr fielen in den Gesang ein, beugten ihr Knie und schauten mit entblößtem Haupt zum dunklen, wolkenverhangenen Himmel empor.

Auch Marcian murmelte geistesabwesend die Worte des Chorals, den er in den Tagen seiner Ausbildung wohl Hunderte von Malen gesungen hatte. Doch seine Gedanken hingen nicht an jenen längst vergangenen Jahren, in denen er von gestrengen Geweihten gemeinsam mit anderen jungen Männern in den Regeln des Glaubens unterwiesen worden war.

Er dachte an einen längst vergangenen Wintertag. Wieder sah er die kleine Gruppe von Männern mit wehenden Umhängen vor sich. Den Gerichtsplatz der Stadt des Lichtes, mit seinen unheimlichen, dunklen Flecken in dem weißen Sand und den Scheiterhaufen, auf dem seine Geliebte stand. Als sie in den Flammen gestorben war, hatte er sich geschworen, nie wieder in seinem Leben die Fackel in einen Scheiterhaufen zu stoßen ... und jetzt stand er hier.

Immer lauter erscholl der Gesang der Bürger.

... Praios dein Licht ist das Leben,

deine Gnade ist Gerechtigkeit.

Laß meine Feinde erbeben,

Besieger der Schlechtigkeit ...

War es gerecht, wenn Kinder starben? Marcian blickte auf den Scheiterhaufen. Das Büßerkleid eines Mädchens hatte Feuer gefangen. Schreiend wand sie sich in ihren Fesseln. Die schwarze Dämonenhaut hatte ihr Gesicht entstellt, und doch konnte er in dem Kind jetzt keine Verkörperung des Bösen mehr sehen.

Nicht die fluchbeladene Rede eines Versuchers klang über ihre Lippen. Es waren die Schreie eines kleinen Mädchens in Todesangst. Und er hatte ihr den Tod gebracht!

Hatte Gordonius am Ende vielleicht doch recht gehabt? Hätte es noch einen anderen Weg gegeben? Wäre es möglich gewesen, die Todkranken vor dem Scheiterhaufen zu retten?

Eine hohe Feuerwand versperrte nun den Blick auf die Gemarterten, doch immer noch waren ihre Schreie zu hören.

Die Bürger hatten aufgehört zu singen, und auch die Stimmen hinter dem Feuer erstarben zu leisem Wimmern, bis schließlich nichts mehr zu hören war, außer dem Knistern der Flammen.

Der würgende Gestank nach verbranntem Menschenfleisch zog mit dem Rauch über den Platz. Die Menge löste sich langsam auf, und es wurde leer auf dem Platz der Sonne. Allein Marcian stand noch immer dicht vor dem Feuer. Lauschte dem unheimlichen Gesang der Flammen, die ihm eine Botschaft aus lange vergangener Zeit zuzuflüstern schienen. Begann er wahnsinnig zu werden, oder hörte er wirklich die Worte »Ich weine um dich«?

Ein Arm legte sich sanft um seine Schultern. »Laß uns von diesem schrecklichen Ort fortgehen«, flüsterte Cindira.


Seit Tagen lebte Himgi wieder in einer Welt, die so weit hinter ihm gelegen hatte, daß seine Erinnerungen an diese Vergangenheit nicht einmal mehr wehmütig gewesen waren. Der Zwergenhauptmann stand in dem Tunnel, der geradewegs auf das Herz der zerstörten Kultanlage der Orks weisen mußte. Trockener Staub füllte seinen Mund; im Schein unstet flakkernder Fackeln arbeiteten fast ein Dutzend Zwerge unter seinem Kommando.

Sie räumten das Geröll aus dem verschütteten Tunnel und schafften es in großen Körben in den Turm. Nachts wurden Erde, Gesteinsbrocken und morsche Knochen auf Karren geladen, die zum Fluß fuhren, wo man den Abraum heimlich in den Fluten versenkte, damit die Bürger nicht bemerkten, was unter der Fuchshöhle vor sich ging.

Im Moment beaufsichtigte er zwei Zwergenkrieger, die fluchend einen neuen Stützpfeiler aufrichteten, als vom vorderen Ende des Tunnels einige streitende Stimmen erklangen und jemand rief:

»Himgi! Himgi, schnell kommt. Hier ist etwas Merkwürdiges ...«

Himgi warf seine Spitzhacke beiseite und humpelte vorwärts. Die Schmerzen in seinem Bein waren in den letzten Wochen immer stärker geworden. Es war die Kälte, die der alten Wunde zu schaffen machte und ihn manchmal morgens glauben ließ, daß er nicht mehr die Kraft finden würde, sich von seinem Lager zu erheben.

Endlich erreichte er den Ort des Streites. Die drei Zwerge, die vorne im Stollen arbeiteten, hatten ihre Werkzeuge beiseite gelegt. Im Schein einer Blendlaterne war zwischen dem Geröll, das den Gang an seinem Ende ausfüllte, ein schwarzer Felsen zu erkennen.

»Seht, Hauptmann, dieser Stein ist nicht natürlichen Ursprungs.«

Grotho, ein uralter Zwerg mit einer breiten Narbe über der linken Augenbraue, hatte gesprochen. »Ich habe drei Jahrzehnte in den Gruben bei Angbar gearbeitet, habe den tiefen Süden gesehen und in den Uhdenberger Minen nach Gold geschürft, doch ein solcher Fels ist mir noch nie untergekommen. Kein Stahl vermag ihn auch nur zu ritzen.«

»Dein Arm ist doch schwächer als der einer alten Goblinvettel«, höhnte ein jüngerer Angroschim.

»Schweig!« gebot Himgi barsch. »Es ziemt sich nicht, das Alter zu lästern.«

Dann beugte sich der Hauptmann vor, um über die glatte Oberfläche des Steins zu streichen. Nicht die feinste Schramme war zu entdecken.

»Räumt das Geröll hier weg«, befahl er schließlich, bevor der Streit wieder aufflammen konnte. »Wir wollen sehen, ob es einen Weg gibt, um diesen Stein herumzugraben.«


Nur vier Fackeln erhellten den kleinen Saal, in dem Marcian sich abends mit seinen Offizieren beriet. Selbst die dicken Mauern des Palas durchdrang der monotone Rhythmus der Kriegspauken, die in den Lagern der Orks geschlagen wurden. In den letzten Tagen waren etliche Kontingente aus dem Süden zur Armee des Sharraz Garthai gestoßen, und um sein prächtiges Feldherrenzelt stand ein Wald blutroter Kriegsbanner.

Allen Anwesenden war klar, daß für den nächsten Morgen ein Angriff der Orks bevorstand. Und dann auch noch der desillusionierende Bericht des Zwergenhauptmanns! Es schien, als hätten die Himmlischen den Untergang der Stadt beschlossen.

»Ich weiß nicht mehr, was noch zu tun ist.« Das waren die letzten Worte Himgis gewesen, und ohnmächtiges Schweigen lag über dem kalten Saal. Der Zwerg hatte berichtet, daß eine große, schwarze Steinplatte bei den Räumarbeiten freigelegt worden war.

Unverrückbar stand sie aufrecht im Gang. Weder Stahl noch Magie vermochten ihr etwas anzuhaben, und selbst die Wände um sie herum, die augenscheinlich nur aus einfachem Erdreich bestanden, hatten sich als undurchdringlich erwiesen.

Die Grabungen hatten allerdings noch etwas anderes ans Licht gebracht. Unmittelbar vor der Steinplatte, die als einzigen Schmuck eine stilisierte Schlange trug, die ein S zu bilden schien, mündete ein zweiter Gang in den Tunnel.

Himgi war der Überzeugung, daß es sich dabei um »den gewundenen Weg der Krieger und Häuptlinge« handelte, von dem die Inschriften in Xorlosch berichteten. Seinen Anfang hatten sie ja bereits bei der Öffnung des vermauerten Ganges gefunden. Dieser Weg war zwar verschüttet, doch legte man sein Ohr an das Geröll, so konnte man von Ferne das unregelmäßige Geräusch von Grabungsarbeiten vernehmen. Die Orks waren ihnen nahe, und nach Himgis Meinung würde es vermutlich nur noch wenige Stunden dauern, bis sie zu dem Tunnel vor der Steinplatte durchstoßen würden.

»Also, was ist zu tun? Ich bin mit meiner Weisheit am Ende.« Marcian richtete sich vom Grafen-Thron des Shazar auf und blickte mit vor der Brust verschränkten Armen in die Runde.

»Wir sollten uns für einen Kampf bereit machen.« Lysandras Linke spielte nervös an ihrem Schwertknauf. »Das Getrommel und die Scharmützel der letzten Tage, das alles deutet darauf hin, daß wir stündlich mit einem neuen Angriff zu rechnen haben. Auch wenn viele Geschütze aus den Belagerungsschanzen der Orks abgezogen wurden, so hat Sharraz mehr als genug Krieger zur Verstärkung bekommen, um diesen Verlust auszugleichen.«

»Dann sollten wir uns aber auch auf einen Kampf im Tunnel vorbereiten«, meldete sich Himgi zu Wort. »Es muß die Orks Wochen gekostet haben, diesen Gang unter unseren Stadtmauern hindurchzutreiben. So kurz vor dem Ziel werden sie nicht ihre Strategie ändern. Vielleicht wissen sie sogar, wie die Steinplatte beiseite zu schaffen ist? Ich rechne damit, daß sie beide Angriffe gleichzeitig vortragen.«

Marcian blickte zu Lancorian, der schweigend etwas abseits der Offiziere stand. Noch immer hatte der Magier ihm nicht verziehen, daß er die Fuchshöhle hatte beschlagnahmen lassen. Als Lancorian den Blick des Inquisitors spürte, erhob er stolz sein Haupt und blickte ihn mit vor Zorn sprühenden Augen an.

»Habt ihr alle denn immer noch nicht begriffen, worum es hier geht? Glaubt ihr wirklich, wir würden hier nur um eine magische Waffe kämpfen? Einen Streitkolben, den die Orks von ihrem Gott persönlich erhalten haben? Nein. Es geht hier um sehr viel mehr. Glaubt ihr eine Waffe wäre es wert, daß die Orks noch nach mehr als zweitausend Jahren nach ihr forschen? Daß sie jahrhundertelang immer wieder versuchen, diese Stadt dem Erdboden gleichzumachen? Erinnert euch an das, was uns Arthag erzählt hat. Die Orks waren bereits geschlagen, doch den Elfen und Zwergen gelang es nicht, das Heiligtum unter dem Hügel zu erobern. Eine Gestalt stieg vom Himmel herab, und die drei tapfersten Helden aus den Völkern der Zwerge, der Menschen und der Elfen stiegen in die Tunnel, um das zu holen, was dort verborgen lag. Keiner kehrte zurück! Erst das Eingreifen eines Gottes verschüttete diese unselige Höhle. Was wäre geschehen, hätte Ingerimm nicht Summs’ Leib erbeben lassen? Hätten die Orks am Ende gar triumphiert? Und ihr setzt alles daran, diese Höhle zu öffnen, ihr seid Narren!«

»Wenn wir es nicht tun, werden es die Orks tun.« Lysandra blickte Lancorian voller Verachtung an. »Ihr seid ein gescheiterter Magier und Besitzer eines Bordells. Von Euch erwartet keiner, daß Ihr heldisch denkt.«

»Die, die heldisch dachten und vor über zweitausend Jahren unter den Hügel gezogen sind, hat niemals wieder jemand lebend zu Gesicht bekommen.«

Der Magier drehte sich zu Marcian. »Vielleicht ist es sogar ein Fehler, dem Schicksal die Stirn bieten zu wollen. Seit du in dieser Stadt bist, um sie zu befreien, sind Hunderte Bürger vertrieben worden oder haben den Tod gefunden. Ich muß sagen, zu Zeiten der Orkbesatzung ging es uns besser. Und ...«

»Elender Verräter!« Lysandra hatte ihr Schwert gezogen und setzte dem Magier die Klinge an die Kehle, doch Lancorian stockte nur einen kurzen Augenblick in seiner Rede.

»Sieh, was hier geschieht, Marcian! Gestern starben mehr als zwanzig Bürger dieser Stadt in den Flammen eines Scheiterhaufens. Ich wohne hier seit Jahren. Ich habe sie alle gekannt. Einem Fremden wie dir fällt es sicherlich leichter, solche Urteile zu fällen. Erinnerst du dich zum Beispiel an das kleine Mädchen, das dort oben gestanden hat? Sie hatte gerade erst sechs Sommer gesehen. Sie war die Tochter des Hundezüchters Wingolf. Ihre Mutter starb bei der Geburt, und das Mädchen war das einzige, was der Mann in diesem Leben noch liebte. Oder Glombo Brohm. Bevor du in diese Stadt kamst, war er ein angesehener Handelsherr. Einer der reichsten Patrizier. Jetzt ist er wahnsinnig. Täglich geißelt er sich bis zur Bewußtlosigkeit, und täglich findet er mehr Anhänger, die es ihm gleichtun.«

»Sag ein Wort, Kommandant, und der Kopf dieses Hurensohns liegt zu deinen Füßen«, zischte Lysandra.

Schon hatte den Zauberer die Klinge der Amazone geritzt. Ein dünner Faden Blut rann von Lancorians Kehle.

»Haltet ein!« Marcian stieg die Stufen von seinem erhöhten Sitz herab und fiel Lysandra in den Arm. »Die Trauer hat ihm die Sinne verwirrt. Er weiß nicht mehr, was er sagt.«

»Ich weiß sehr wohl, was ich sage.« Lancorian spie dem Inquisitor ins Gesicht. »Ihr habt Tod und Wahnsinn in diese Stadt gebracht. Dämonen wandern unsichtbar durch unsere Straßen. Wie sonst hätte sogar Kinder die Duglumspest befallen können? Die Hälfte von Greifenfurt liegt in Trümmern. Selbst die Krieger sind vor Hunger so geschwächt, daß sie kaum noch ihre Schwerte heben können, und vor den Toren rüsten die Orks zu einem neuen Sturm. Jede Nacht habe ich Alpträume und sehe, wie diese Stadt in einem Feuersturm vergehen wird. Kein Jahr wird es dauern, und von Greifenfurt wird noch weniger übrig sein als von Ysilia, wo einst die Oger gehaust haben. Befreit nur das, was ich unter der Erde gesehen habe, und ihr stoßt euch , selber die Pforten zu Boron auf!«

»Und was hast du gesehen?« Marcians Stimme klang wie ein Knurren. Doch Lancorian schwieg.

»Stundenlang hat er die Schlange auf der großen Steinplatte untersucht und die Erde, in die die Platte eingelassen ist. Dabei hat er ständig irgend etwas vor sich hingemurmelt. Ich glaube, er hat die Platte verhext! Plötzlich schrie er dann laut auf und hat sich die Hände auf das Gesicht gepreßt. Dann kauerte er eine Weile wimmernd vor der Steinplatte und ist schließlich aus dem Gang herausgestürmt, als säßen ihm alle Dämonen der Niederhölle im Nacken.« Dem Zwergenhauptmann war immer noch anzusehen, wie sehr ihn dieser seltsame Zwischenfall beeindruckt haben mußte. Der Magier warf Himgi einen spöttischen Blick zu. »Verhext? Dämonen? Du Narr. Ich weiß um die wirkliche Beschaffenheit der Steinplatte. Ich habe die unendlich verworrenen magischen Muster gesehen, die um diesen Stein gelegt sind. Das ist ein Zauber, wie ihn heute sicherlich nicht einmal eine Handvoll Magier aus ganz Dere noch beherrschen. Doch das war noch nichts im Vergleich zu der Macht, die die Höhle selber schützt. Du närrischer Zwerg glaubst doch noch immer, daß der zweite Zauber verhindern soll, daß man von außen durch das Erdreich in die Höhle gelangt. Blanker Unsinn. Dort, wo du es nicht vermocht hast, eine Spitzhacke in lehmige Erde zu treiben, wirkt die Macht nur noch schwach. Im Inneren der Höhle muß sie so stark sein, daß ein Magier, der versucht, ihr Muster sichtbar zu machen, von der ungeheuren Energie, die in diesem Zauber gebündelt ist, geblendet würde. Die Augen würden ihm aus seinem Schädel brennen!«

Lancorian griff sich mit beiden Händen vors Gesicht, als würde er den Schmerz, den er schilderte, am eigenen Leib erfahren. Speichel rann ihm über die Lippen.

Dann stürzte er vornüber und wand sich in Qualen am Boden. »Bitte nicht! Ich werde dich nicht wieder stören! Bitte nicht!« Lancorian erbebte am ganzen Körper. »Das, was dort liegt, haßt Magier!« schrie er mit gellender Stimme. »Als ich meinen Blick auf die Gestalt wenden wollte, hat sie mich fast geblendet und ...« Lancorians Stimme ging in ein undeutliches Gurgeln über.

»Schnell, holt Gordonius«, befahl Marcian, und Arthag, der der Tür am nächsten gestanden hatte, huschte aus dem Saal.

Die Elfe Nyrilla kniete sich neben Lancorian. Behutsam tastete sie nach seinem Gesicht. Die Hände des Magiers lagen noch immer wie zu Klauen verkrampft über seinen Augen.

»Es spürt, daß ich an das denke, was ich gesehen habe«, flüsterte Lancorian. Dann bäumte er sich wieder unter gellenden Schreien auf. »Rettet mich vor dem Licht! Es brennt mir die Augen aus dem Kopf!«

Plötzlich verfiel der Magier in hysterisches Gelächter, und seine Stimme wurde immer dunkler, bis sich aus dem unheimlichen Lachen Worte formten.

»Marcian, ich warte auf dich. Seit Jahrtausenden ist es uns bestimmt, einander zu begegnen. Dein Schicksal wird sich bald erfüllen. Du aber, Lysandra, wirst meinen Herren verraten.«

Während die Stimme ertönte, erfüllte ein überirdisches Leuchten den Raum, und mit leisem Scharren fuhr Marcians Schwert aus der Scheide, ohne daß der Inquisitor seine Hand an die Waffe gelegt hätte. Mit der Spitze auf Lysandras Herz weisend, schwebte das Schwert durch die Luft. Die Waffe schlug gegen den Brustpanzer der Amazone und fiel ihr dann vor die Füße. Totenstille herrschte in dem kleinen Saal. Niemand konnte sich die eigenartigen Phänomene erklären. Einige schlugen Schutzzeichen gegen böse Geister, andere murmelten leise Gebete.

Lysandra kniete nieder und hob das Schwert auf. Einen Augenblick wog sie die Waffe prüfend in ihren Händen, dann trat sie vor Marcian. »Euer Schwert, Kommandant.«

Die dunkle Stimme, die den Raum hatte erzittern lassen, war verhallt. Lancorian lag leise wimmernd am Boden. Vorsichtig nahm er seine Hände vom Gesicht.

»Meine Augen! Ich kann nicht mehr sehen! Bei allen Göttern, nein. Bitte nicht das.«

Marcian legte dem weinenden Magier die Hand auf die Schultern. »Bitte verzeih mir, mein Freund, das habe ich nicht gewollt. Verzeih mir.«

»Ich kann dir nicht mehr verzeihen. Du bringst Unglück über jeden, der an deiner Seite steht. Doch jetzt, wo ich ohnehin schon bestraft bin ... kann ich dir auch sagen ... was ich ... gesehen ... habe.«

Lancorians Stimme klang immer angespannter, so als würden seine Schmerzen wieder zunehmen. »Der Zauber soll ... nicht verhindern ... daß wir hereinkommen. Er verhindert ... daß er herauskommt. Such deinen ... Weg bei Tag. Nur ... ein ... Wort ... öffnet ... den ...« Stöhnend sank der Zauberer zur Seite.

»Was öffnet ein Wort? Wie meinst du das?« Marcian hatte den Bewußtlosen bei den Schultern ergriffen und schüttelte ihn. »Sag schon. Was für ein Wort!«

»Laßt von ihm ab. Er hört euch nicht mehr.« Gordonius war eingetreten und kniete nun ebenfalls neben dem Magier.

»Was ist mit ihm?« Mühsam hielt sich Marcian so weit unter Kontrolle, daß er den Therbuniten nicht anschrie.

Der graubärtige Mann tastete nach Lancorians Hals. Dann legte er sein Ohr an die Brust des Zauberers. Schließlich richtete er sich auf und blickte Marcian kalt an. »Den habt Ihr noch nicht auf Eurem Gewissen, aber viel hätte nicht gefehlt. Er ist ohnmächtig, und die Götter allein wissen, wann er wieder erwachen wird. Sein Herz schlägt nur noch schwach.«


»Denk nicht einmal daran«, herrschte Nyrilla den Zwergen an. »Ich werde nicht versuchen herauszubekommen, was Lancorian gesehen hat. Ich werde weder mit dir in diesen Tunnel gehen, um dort die merkwürdige Steinplatte zu untersuchen, noch werde ich auch nur den leisesten Versuch unternehmen, auf magischem Wege Zugang zu dieser Kammer zu suchen. Ich will mein Augenlicht behalten!«

Schweigend erklommen sie die Wendeltreppe, die zu den Gastgemächern im Palas der Garnison führte. Erst als Nyrilla schon vor der Tür zu ihrer Kammer stand, sprach Arthag die Elfe noch einmal an.

»Hast du eigentlich noch etwas Rauschkraut?«

»Was soll die Frage?« Nyrilla drehte sich zum Zwerg um. »Ist dir das Premer Feuer ausgegangen? Du wirst mir doch nicht ernsthaft erzählen wollen, daß du ...«

»Nein, nein.« Der Zwerg hob abwehrend die Hände. »Es ist nicht so, wie du denkst. Ich hatte nur eine Idee. Wir haben doch einen Hellseher. Vielleicht weiß der weiter? Nur werden wir ihm helfen müssen. Stoßen wir ihm das Tor auf, durch das er die Zukunft sieht. Alles weitere nimmt dann schon seinen Lauf.« Der Zwerg grinste. »Meinst du nicht, es ist einen Versuch wert?«

»Was du da vorhast, ist nach menschlichem Maßstab zutiefst unmoralisch.«

Der Zwerg zuckte mit den Schultern. »Findest du? Wenn die Orks morgen die Stadt überrennen, ist ohnehin alles vorbei. Warum sollten wir Uriens nicht noch ein paar schöne Stunden bereiten. Wenn das Rauschkraut nicht so wirkt, wie ich hoffe, dann wird es ihm auch nicht schaden. Wenn wir aber von ihm etwas erfahren, daß die Stadt retten könnte, dann war es den großzügigen Umgang mit Moral doch wohl wert.«

Nyrilla zögerte noch immer. Nicht, daß sie so sehr um das Schicksal des Wahnsinnigen besorgt war, doch ihr Vorrat an Rauschkraut war fast erschöpft und bei dem, was nun kommen mochte, wäre es schon angenehm, wenigstens gelegentlich für ein paar Stunden Angst und Verzweiflung hinter sich lassen zu können. Auf der anderen Seite konnte es gut sein, daß sie den nächsten Sonnenuntergang nicht mehr erlebte ...

»Also gut, laß es uns versuchen.« Nyrilla öffnete die Tür, vor der sie noch immer stand, und holte den kleinen, bestickten Lederbeutel, den sie sorgfältig unter ihrer Matratze verborgen hatte.


»Das war dann wohl nichts!« giftete Nyrilla den Zwerg an. Schon zwei Stunden hatten sie in dem Kerker tief unter der Garnison bei Uriens verbracht, wo der Wahnsinnige zu seinem eigenen Schutz, wie Marcian es nannte, gefangengehalten wurde. Fast die Hälfte ihres ohnehin bescheidenen Rauschkrautvorrats war bei dem Versuch aufgebraucht worden, Uriens zum Sprechen zu bringen. In einem Mörser hatten sie die getrockneten Blätter mit etwas Wasser zu einem zähen Brei verarbeitet und Uriens mit einem Löffel in den Mund gestrichen.

Der grausam Verstümmelte war in einem Zustand, in dem er nicht einmal alleine essen konnte. Schon ohne ihr Zutun schien er in anderen Sphären zu weilen.

Als sie den Kerker betreten hatten, lag Uriens zusammengerollt auf seinem Bett und summte vor sich hin. Selbst als sie ihn mit dem Brei aus Rauschkraut gefüttert hatte, schien er sie nicht wahrgenommen zu haben. Willenlos ließ er alles mit sich geschehen. »Es reicht, hörst du mich, Arthag!«

»Was ...« Der Zwerg hockte in einer Ecke und schien kurz eingeschlafen zu sein. »Was ist, Nyrilla?«

»Ich werde jetzt gehen. Wenn es dir beliebt, hier zu übernachten, werde ich dich nicht weiter stören.«

Warum hatte sie nur auf Arthags dumme Ratschläge gehört? Sie hätte es doch wirklich besser wissen müssen. Elfen und Zwerge, das ging nicht zusammen.

»Warte doch noch einen Moment«, brummte Arthag schlaftrunken und klappte die Wachstafeln zusammen, die er auf seine Knie gelegt hatte, um Uriens Worte mitzuschreiben.

»Nein! Ich bin es leid, euch beiden beim Schlafen zuzusehen.« Nyrilla griff nach der Laterne neben sich und ging auf die Kerkertür zu.

Uriens lallte im Schlaf.

»Hörst du?« Arthag hatte seine Wachstafeln wieder aufgeklappt. »Gleich wird er zu uns sprechen.«

Nyrilla warf dem Zwerg einen mitleidigen Blick zu. »Diesen Prophezeiungen hab ich heute schon genug gelauscht. Schlag du dir nur ruhig die Nacht um die Ohren. Ich geh jetzt. Vielleicht muß man ja auch ein trinkfester Zwerg sein, um aus diesem Gelalle etwas zu verstehen.«

Ohne sich noch einmal umzudrehen, verließ die Elfe die Zelle. Ihre letzten Worte taten ihr leid, aber sie war es müde, mit dem Zwerg zu debattieren, und das sicherste Mittel ihn zum Schweigen zu bringen war ihn zu beleidigen.

»Nyrilla, wach doch endlich auf!«

Wieder wurde sie durchgeschüttelt. Nur schwer fand die Elfe in diese Welt zurück. Vor dem Schlafengehen hatte sie selbst einige Blätter Rauschkraut zerkaut.

Jetzt konnte sie verschwommen die Gestalt des Zwergs erkennen.

»Was ist? Greifen die Orks schon an?« Nyrilla hatte von einer langen Reise durch eine Feenwelt geträumt, in der immer Frühling war, und die Kälte in ihrer Kammer wurde ihr jetzt um so deutlicher bewußt.

»Nyrilla, er hat gesprochen ...«

»Na und ...« Es war noch völlig dunkel in ihrer Kammer. Nicht ein Lichtstrahl fiel durch die hölzernen Läden, die das Fenster zum Hof der Garnison verschlossen. Undeutlich wurde ihr bewußt, daß sie noch nicht lange geschlafen haben konnte.

»Hörst du denn nicht?« Wieder schüttelte der Zwerg sie durch. »Uriens hat gesprochen! Die ganze Zelle war plötzlich voller Licht, und er hat mit so erhabener Stimme seine Prophezeiung verkündet, daß mir ganz warm ums Herz wurde. Es schien auch, als seien alle seine Wunden verheilt und...«

Langsam wurde Nyrilla etwas klarer. »Und was hat er gesagt?«

Der Zwerg zögerte.

»Na los, rede schon! Was hat er gesagt? So schlimm kann es ja wohl nicht gewesen sein, oder?« Die Elfe richtete sich im Bett auf und blinzelte durch die dunkle Kammer. Es war unmöglich, Arthags Gesichtsausdruck zu erkennen. Noch immer gab der Zwerg keine Antwort.

»Wenn du mir nichts zu sagen hast, warum bist du dann hier?«

»Weil ich deine Hilfe brauche«, eröffnete Himgi schließlich zerknirscht.

»Ich hab kein Wort verstanden, von dem, was Uriens gesagt hat. - Aber ich habe alles aufgeschrieben!«

»Dann laß mal hören.«

Wieder zögerte Arthag. »Ich glaube, es ist besser, wenn wir noch einmal alle Offiziere zusammenrufen. Was ich niedergeschrieben habe, ist wirklich nicht leicht zu verstehen, aber es scheint sehr wichtig zu sein. Ich habe nur halt bei dir angefangen. Würdest du jetzt Marcian wecken? Ich hole dann die anderen.«

Ohne ihr Gelegenheit zu einer Antwort zu geben, verschwand der Zwerg aus dem dunklen Zimmer.

Nyrilla seufzte. Dann schwang sie sich aus dem Bett und tauchte ihren Kopf in die Schüssel mit kaltem Wasser, die auf dem Tisch unter dem Fenster stand.

»Zwerge«, murmelte sie immer wieder mißmutig vor sich hin. »Zwerge!«


Die Stimmung im Thronsaal war gereizt. Auch wenn die meisten der dort Versammelten, in Erwartung des Angriffs im Morgengrauen, nicht geschlafen hatten, so hatte es doch des ausdrücklichen Befehls Marcians bedurft, sie hier zusammenzubringen. Mancher wäre jetzt lieber alleine gewesen, um sich im stillen und auf seine Art, auf das, was da kommen würde, vorzubereiten.

Arthag blickte in die Rune. Gordonius, Himgi, Lysandra, Darrag und fast ein Dutzend Offiziere der verschiedenen Bürgerwehreinheiten waren versammelt, und alle starrten zu ihm herüber. Die einen ärgerlich, andere neugierig und manche fast teilnahmslos, so als hätten sie sich schon in ihr Schicksal ergeben.

»Nun, Arthag, was hast du uns so dringendes zu berichten?« Marcian hatte sich vom Thronsaal erhoben, und alle Gespräche verstummten.

Der Zwerg räusperte sich verlegen. Immer wenn er vor so vielen Leuten reden mußte, fühlte er sich unwohl. Dann erzählte er die Geschichte von dem Besuch in Uriens Kerker, wobei er alle Details in bezug auf das Rauschkraut und den Streit mit Nyrilla aussparte. Dann zog er unter seinem Wams die Wachstafeln hervor, auf denen er den Orakelspruch des Wahnsinnigen niedergeschrieben hatte und las laut vor:

Geh’, siehe diesen Stein so kalt!

Bedenk dann, das Wort ist alt.

Die verborgne Macht zu kennen,

mußt’ laut der Kerze Opfer nennen.

Doch Vorsicht vor der Worte Spiel,

der Tempel Glanz führt nicht zum Ziel.

Der Peraine Frühlingswort

hilft dir an dem finstren Ort.

Doch formen muß die Menschenlunge

der Göttin Ruf nach Elfenzunge.

Denn es ist ein Elfenstein,

der dort steht in dem Gebein.

Ist’s mit Bedacht zurück gesprochen,

dann ist die Zaubermacht gebrochen.

Einen Moment war es still. Dann platzte ein Bürgerwehroffizier heraus.

»Blanker Unsinn ist das! Und deswegen zieht ihr mich von meinem Posten ab. Ich hab das Andergaster Tor auf den Angriff der Orks vorzubereiten. Für alberne Kinderreime bleibt mir keine Zeit.«

»Hüte deine Zunge, du Wurm!« Gordonius hatten die Worte zutiefst bewegt, und der alte Therbunit hätte dem Soldaten am liebsten eine Tracht Prügel verabreicht. »Erkennst du nicht, daß durch Uriens ein höheres Wesen gesprochen hat?«

»Und wer sagt, daß dieses höhere Wesen mit uns Gutes im Schilde führt?«

Lysandra lehnte an der Wand neben der Tür und blickte zynisch lächelnd zu dem grauhaarigen Therbuniten herüber.

»Recht hat sie!« mischte sich wieder der Offizier ein. »Vielleicht sollen wir durch dieses Orakel nur von der Verteidigung der Stadt abgelenkt werden?«

»Ruhe. Offensichtlich ist hier doch wohl die Rede von der Steinplatte, die den Zugang zur Kultstätte unter dem Platz der Sonne verschließt. Was sonst sollte gemeint sein, wenn in dem Orakelspruch von einem Elfenstein, der im Gebein steht, die Rede ist. Ihr habt doch ungeheure Mengen von Knochen dort aus dem Gang geräumt, oder?« Marcian blickte zu Himgi.

»Das stimmt«, bestätigte dieser. »Und wenn man die Steinplatte anfaßt, so fühlt sie sich kalt an, ganz so, wie sie im Orakelspruch beschrieben wird.«

»Wiederhole das zweite Reimpaar!« forderte Marcian Arthag auf.

Die verborgene Macht zu kennen,

mußt laut der Kerze Opfer nennen.

»Damit kann doch wohl nur Wachs gemeint sein«, fügte Arthag hinzu.

»Dieser Teil des Rätsels ist leicht.«

»Ist er das?« Nyrillas Stimme war noch nicht ganz klar. Die Wirkung des Rauschkrauts steckte ihr noch in den Knochen. Diese Lösung erschien ihr gar zu simpel. Als Elfe, die von Kindesbeinen an mit Wortspielen und Rätselfragen vertraut war, konnte sie an eine so einfache Lösung nicht glauben.

»Warum heißt es dann gleich im nächsten Reimpaar: Doch Vorsicht vor der Worte Spiel, der Tempel Glanz führt nicht zum Ziel. Nein, Wachs kann nicht die Lösung sein. Das ist ein Wortspiel, das uns verwirren soll.«

»Wortspiele, Doppelsinn, Verwirrung. Das ist doch eine Falle. Wenn die Zwölfgötter auf unserer Seite stehen, warum helfen sie uns dann nicht? Wozu dieses Rätsel? Das hat sich der Namenlose ausgedacht!« Lysandra redete sich immer mehr in Rage, und etliche der Offiziere dachten offensichtlich ähnlich wie die Amazone.

»Laßt lieber unsere Schwerter sprechen!« rief jemand, den Arthag nicht sehen konnte.

»Die Schwerter werden noch früh genug sprechen«, brummte Gordonius.

»Und was eure Mutmaßungen über den Namenlosen angeht, glaubt ihr vielleicht, er oder einer seiner Diener würde es wagen, Peraines Namen in sein schändliches Spiel zu verstricken? Nein! Das Orakel ist wahrhaftig! Und gerade weil die Botschaft verschlüsselt und vieldeutig ist, sehe ich in ihr einen himmlischen Fingerzeig, uns vor einem grausigen Schicksal zu bewahren. Töricht ist, wer glaubt, daß ein göttliches Orakel so klar und unmißverständlich wie das Geschrei eines Marktweibes ist.«

»Dann weißt du doch sicher auch, was mit Peraines Frühlingswort gemeint ist, Meister Siebenschlau«, höhnte ein blonder Bürgersohn.

Gordonius ignorierte den Spott in dessen Stimme und antwortete ruhig.

»Natürlich. Ein altes Priesterwort sagt, daß keine Pflanze ohne den Wunsch der Göttin gedeihen kann. So befiehlt sie also im Frühling Gräsern und Bäumen von neuem auszutreiben. Der Peraine Frühlingswort, so wie es nach dem Sinn dieses Rätsels gemeint ist, kann also nur der Befehl WACHS sein.«

»Und damit ist das Rätsel gelöst?« Arthag blieb skeptisch. Das war doch nicht allzu schwer? Konnte das stimmen?

»Ihr vergeßt die letzten Verse des Rätsels. Schließlich steht dort ein Elfenstein, wenn euer Götterwort stimmt. Und der wird sich niemals von der Stelle bewegen, wenn ihr euch davor aufbaut und WACHS ruft.« Nyrilla saß an die Wand gelehnt und hielt sich den Kopf, so als habe sie Schmerzen.

»Ihr müßt euch schon bemühen, daß elfische Wort dafür über eure Zungen zu bringen, denn sonst wird gar nichts passieren.«

»Und wie heißt das?« Marcians Stimme klang langsam ungeduldig.

Arthag versuchte zu schätzen, wieviel Zeit noch bis Sonnenaufgang bleiben mochte. Lange konnte es nicht mehr dauern, dann würde der Angriff der Orks beginnen. Noch immer hallten ihre Kriegstrommeln durch die Finsternis, und der Zwerg hatte das Gefühl, daß der Rhythmus schneller geworden war.

Plötzlich erdröhnten die Mauern des Palas. Der Boden zitterte unter ihren Füßen, und feine Staubfäden rieselten von der Decke. Gleich eine ganze Salve von Katapultgeschossen mußte das Hauptgebäude der Garnison getroffen haben!

Ob die Orks wohl wußten, daß sich hier alle Offiziere der Stadt aufhielten?

»Alle auf ihre Posten!« kommandierte Marcian scharf. »Die Versammlung ist aufgelöst!«

Die Pforte zum Thronsaal wurde aufgerissen. Atemlos stürmte eine Kriegerin herein.

»Die Orks ... Sie kommen von ... allen Seiten. ... Die ersten scheinen sogar schon ... in der Stadt zu sein.«

Arthag wog prüfend seine Streitaxt. Wie die meisten anderen Offiziere war er bereits in Rüstung erschienen und hatte seine Waffen griffbereit gehalten.

Fluchend drängten die Männer und Frauen durch die schmale Pforte des Thronsaals, um in Stadt und Burg ihre Posten zu beziehen.

»Halt!« schrie Marcian und packte gleichzeitig Lysandra an der Schulter.

»Du kommt mit mir. - Himgi, Arthag und Nyrilla! Ihr folgt mir auch. Auf uns wartet eine ganz besondere Aufgabe.«

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