11

Lysandra schlug sich den Schnee aus den Kleidern und weckte ihre Gefährten. Es war bitterkalt und die Ausrüstung, die sie bei ihrem überstürzten Aufbruch mitgenommen hatten, reichte bei weitem nicht, um bei dieser Witterung im Freien zu übernachten. Der kleine Wald, in dem sie gelagert hatten, schützte zwar ein wenig vor dem Wind, doch war es hier nicht wärmer als in den Hügeln. Murrend erhoben sich die Männer und Frauen um sie herum aus dem Schnee.

»Laßt uns ein Feuer machen«, brummte der schwarzbärtige Movert, während er seine tauben Finger knetete. »Zwei Tage sind wir jetzt schon unterwegs, und nicht einmal haben wir uns aufwärmen können.«

»Du willst also die Schwarzpelze zu uns einladen!« versetzte Lysandra scharf. »Wahrscheinlich möchtest du erst gemütlich mit ihnen frühstücken und ihnen dann Xarvlesh ausliefern und ...«

»Er hat es nicht so gemeint«, unterbrach die blonde Perdia Lysandra.

»Ist das eine Verschwörung?« Die Amazone stand breitbeinig vor ihren Gefährten. In der Rechten hielt sie die unheimliche Waffe aus dem verschütteten Heiligtum unter der Stadt.

»Entweder ihr greift mich jetzt an, oder ihr sattelt die Pferde. Es ist an der Zeit, daß wir von hier fortkommen. Wir sind schon viel zu lange an einem Ort geblieben.«

Murrend begannen die neun Männer und Frauen ihre Reittiere zu versorgen. Lysandra kaute indessen auf einem Stück Trockenfleisch und behielt sie im Auge. Jede Rebellion würde sie im Keim ersticken. Die lange Zeit in Greifenfurt hatte ihrer Disziplin geschadet. Früher hatte es niemand je gewagt, einen Befehl von ihr in Frage zu stellen.

Unsicher schweifte Lysandras Blick über die Bäume am Rand der verborgenen Lichtung. Nichts war zu sehen. Nicht die große Gestalt, von der sie auch in dieser Nacht wieder geträumt hatte und auch sonst nichts. Außer dem unruhigen Schnauben der Pferde und dem unterdrückten Fluchen ihrer Leute war nur das Pfeifen des eisigen Windes zwischen den kahlen Ästen zu hören. Die Landschaft schien wie erstarrt. Der Schnee war zum Leichentuch geworden.


Lysandra hatte kein gutes Gefühl dabei, an der Spitze der kleinen Kolonne zu reiten. Ihre Freischärler waren Härten aller Art gewohnt, doch irgend etwas ging vor sich. Den ganzen Tag über tuschelten sie miteinander, um jedesmal, wenn sie näher kam, abrupt zu verstummen.

Gerade überquerte der kleine Trupp einen langgezogenen Hügel, als vor ihnen in der Ebene ein Dorf auftauchte. Mißtrauisch musterte die Amazone den dunklen Tannenwald auf dem Hügelkamm, dann spähte sie zum Dorf hinab. Nirgends war ein Lebenszeichen zu sehen. Nicht einmal Rauch stieg aus den Schornsteinen der verschneiten Hütten. Ob Orks in der Nähe waren? Lysandra zügelte ihr Pferd. Sie war sich sicher, daß man sie verfolgte. Aber wie nahe mochten die Schwarzröcke ihnen schon sein? Ihre Ponies würden in dem hohen Schnee nur schlecht vorankommen.

Wieder blickte die Amazone zum Dorf hinab. Vielleicht waren bereits andere Truppen informiert? Was wußte sie schon, welche Möglichkeiten einem Orkschamanen zur Verfügung standen. Womöglich wußten schon längst alle Schwarzröcke diesseits des Finsterkamms von ihrer Flucht gen Osten.

Die anderen Reiter hatten aufgeschlossen und hinter ihr einen weiten Halbkreis gebildet. Lysandra tastete nach der dunklen Keule, die von ihrem Sattelknauf hing. Dann zog sie ihren schweren Reitersäbel. Sie wollte die Waffe der Orks nicht im Kampf benutzen, wer mochte schon wissen, was geschah, wenn der Streitkolben mit Blut benetzt wurde. Er war dem Tairach geweiht gewesen. Lysandra versuchte, die Gedanken an die Waffe zu verdrängen.

»Wer meldet sich freiwillig, um das Dorf auszukundschaften?« Die Amazone blickte in die Runde. »Nun?«

Schweigen. Die Krieger wichen ihren Blicken aus.

»Na schön, dann werde ich also selber reiten. Ich hatte allerdings gedacht, daß ihr ein wenig begeistert sein würdet, wenn ihr ein warmes Quartier für die nächsten paar Stunden vor Augen habt.« Lysandra riß ihr Pferd herum.

»Halt«, rief Movert ihr nach. »Hast du denn das Zeichen im Schnee nicht gesehen?«

»Was?« Die Amazone zügelte ihren unruhigen Hengst.

»Das.« Der bärtige Krieger wies mit ausgestreckter Lanze den Hang hinab. Dort lagen auf einem kleinen Tuch eine Vogelkralle, Knochen und Amulette. Ein Lederband war wie ein Schutzkreis um das Tuch gelegt.

»Was ist das?« In der Stimme der Amazone schwang ein Zittern.

»Orkmagie!« erklang es vom Waldrand. Zwischen den Bäumen tauchte ein eigenartiger Mann auf. Eine Fellkrone mit den Hörnern eines Auerochsen schmückte sein Haupt. Er trug einen Umhang aus dunklem Fell über den Schultern, doch Brust und Arme waren nackt, so als würde ihm die klirrende Kälte nichts anhaben können.

Ein mit Amuletten und bunten Stoffbändchen geschmückter Gürtel hielt seine Hose zusammen. Die Füße des Fremden steckten in abgewetzten Stiefeln.

Langsam kam er vom Waldrand die Hügelflanke hinab. Er schien keine Angst vor ihnen zu haben.

»Wer bist du?« Lysandra hatte Schwierigkeiten, ihr unruhiges Pferd unter Kontrolle zu halten.

Der Mann grinste, und sein bärtiges, wettergegerbtes Gesicht wurde zu einer Maske, durchfurcht von Hunderten kleinen Fältchen. Obwohl sein Bart nicht ein einziges graues Haar zeigte, wirkte er plötzlich sehr alt.

»Was für eine philosophische Frage! Wer bin ich? Was bin ich? Die Antwort darauf suche ich selber schon ein Leben lang.«

»Bist du gekommen, um deine Späße mit uns zu treiben?«

Der Mann zuckte mit den Schultern. »Spaße ich?«

»Was ist das, was da im Schnee liegt?« Lysandra zeigte mit ihrem Säbel auf das Tuch.

»Kurz vor Morgengrauen hat ein Orkschamane hier mit den Geistern gesprochen.«

Lysandra spürte, wie sich sämtliche Härchen an ihrem Körper aufrichteten. Sie mußte wieder an die Gestalt aus ihren Träumen denken.

»Was hat er denn von den Geistern erfahren?« höhnte sie. »Vielleicht wo es ein halb verhungertes Rotbüschel zu jagen gibt?« Ihre Leute lachten. Doch es klang nicht wirklich fröhlich.

Wieder zuckte der Fremde mit den Schultern. »Ich weiß nicht, was er dabei erfahren hat. Es ist unhöflich, sich in so etwas einzumischen.«

»Du bist ja mehr auf Etikette bedacht als ein Garether Höfling. Das sollte man bei deinem Äußeren gar nicht vermuten. Wie heißt du eigentlich?«

»Meine Freunde nannten mich früher einmal Gutfolg, aber das ist lange her. Seit ich den Schneebringer verlassen habe, rede ich nur noch mit den Stimmen im Wind und den Tieren des Waldes.«

Robak, der Krieger mit den langen blonden Zöpfen lenkte sein Pferd dichter zur Amazone.

»Der Kerl ist verrückt. Laßt ihn in Ruhe!« raunte er leise.

Lysandra nickte fast unmerklich. »Nun, Meister Gutfolg, womit fristet Ihr denn Euer Leben?«

»Ich lebe von dem, was die Götter mir schenken. Und an den seltenen Tagen, an denen ich auf Menschen oder vernünftige Wesen stoße, sage ich ihnen, was sie nicht hören wollen.«

Der seltsame Mann hatte sich von der Amazone abgewandt und kniete neben dem Kreis im Schnee. Lysandra kam ein wenig näher und beäugte ihn mißtrauisch. »Und was wollen wir nicht hören?«

»Zum Beispiel, daß der Schamane, der hier war, keine Spuren im Schnee zurückgelassen hat.« Gutfolg hielt nun die ausgestreckte Hand über die Vogelkralle und schien sich auf etwas zu konzentrieren. Dann zog er scharf die Luft ein und zuckte zurück.

»Was habt ihr?«

Langsam richtete sich der Fremde aus dem Wald auf und drehte sich wieder um. »Eine Antwort, die Ihr nicht hören wollt.«

»Das müßt Ihr wohl mir überlassen.«

»Muß ich?«

Lysandra musterte die heruntergekommene Gestalt. Sein Blick war von unangenehmer Intensität. Ganz so, wie es manchmal die Augen Marcians waren.

»Ich glaube nicht, daß ich meinem Schicksal entgehen kann.« Lysandra sprach gemessen. »Warum sollte ich es also nicht schon im voraus kennen?«

»Weil Ihr dann die Hoffnung verlieren werdet.«

Lysandra schnaubte verächtlich. »Hoffnung ist der Traum derer, die den Tatsachen nicht ins Auge sehen können. Nun redet.«

»Wenn Ihr meint.« Der Fremde blickte sie ernst an. In ihrem Rücken konnte sie das leise Tuscheln ihrer Krieger hören.

»Der Schamane hat heute morgen denjenigen Eurer Verfolger gerufen, der Euch am nächsten ist. Ich sah einen Mann, der ein Amulett aus Bronze um seinen Hals trägt. Die Orks nennen ihn Rrul’ghargop. In seinen Adern fließt das Blut von Menschen, Orks und Elfen. Noch niemals ist ihm eine Beute entkommen, denn er versteht es, nicht allein die Spuren in Wald und Ebene zu lesen, sondern er spricht auch mit dem Wind und den Geistern. Er ist Euch sehr nahe. Und er hat geschworen, Euer Herz zu essen, Lysandra. Doch ist dies noch der weniger schreckliche Verfolger. Ich habe auch einen ungewöhnlich großen Orkkrieger gesehen. Er konnte sich allerdings sofort wieder meiner Macht entziehen. Ich glaube, Ihr kennt ihn. Auch wenn er Euch nicht mit Schwert und Speer bekämpfen wird, so ist er doch noch viel gefährlicher als Rrul’ghargop. Auch er hat den Ruf des Schamanen heute morgen vernommen.«

»Nun, was Ihr mir da erzählt, ist nicht neu für mich.« Lysandra drehte sich im Sattel um und musterte ihre Leute. »Oder hat vielleicht einer von euch geglaubt, daß uns niemand verfolgen würde?«

Es kam keine Antwort. Die Gesichter der Männer und Frauen wirkten verschlossen, ja ängstlich.

Der Fremde war an die Amazone herangetreten. »Zeigt mir Eure Hand. Vielleicht kann ich Euch dann mehr über Euer Schicksal sagen.«

»Sind wir hier auf einem Jahrmarkt?« spottete Lysandra. »Seht Euch nur meine Hand an. Die Schwielen werden Euch verraten, daß ich es verstehe, ein Schwert zu führen und den Weg der Rondra gehe.« Die Amazone schob ihren Säbel wieder in die Scheide. Dann beugte sie sich im Sattel vor und hielt dem Fremden die Rechte hin.

Bedächtig strich Gutfolg mit seinen Fingerspitzen über die Linien in der Handfläche. Dann preßte er ihre Finger gegen seine Stirn und verharrte einen Augenblick.

»Und?«

»Ich habe viele Eurer möglichen Zukünfte gesehen«, murmelte Gutfolg leise. »Das Unglück wird Euch ein ebenso beständiger Begleiter sein, wie Euer Schatten. Egal, wie Ihr Euch entscheidet, Ihr werdet einsam sterben, und das, bevor der Schnee zu tauen beginnt.«

»Macht Euch davon, Ihr Unglücksprophet!« zischte die Amazone. »Bisher ist es mir noch immer gelungen, meine Feinde auf eine Schwertlänge Distanz zu halten«, rief sie so laut, daß es alle hören konnten. »Und jetzt folgt mir! Wir werden das Dorf umgehen. Wie ihr gehört habt, sind uns die Orks dicht auf den Fersen. Für eine Rast bleibt keine Zeit.«

Lysandra ließ ihr Pferd steigen und jagte dann in gestrecktem Galopp den Hang hinab.


Sie waren bislang nach Einbruch der Finsternis geritten, bevor sie erneut in einem kleinen Wald ihr Lager aufschlugen. Wider besseres Wissen hatte Lysandra ihren Leuten erlaubt, ein Feuer zu entfachen und ein warmes Essen zuzubereiten.

Die Amazone saß ein gutes Stück abseits des Feuers und musterte ihre Gefährten. Sie alle hatten sich eng um das Feuer geschart und tuschelten wieder miteinander. Was war nur mit ihnen geschehen? So hatten sie sich früher nie verhalten. Den ganzen Nachmittag hatte keiner ein Wort mit ihr gewechselt. Nicht einmal Movert, der sonst nicht mit seiner Meinung zurückgehalten hatte.

Unruhig musterte sie den dunklen Wald ringsherum. Lysandra lehnte mit dem Rücken gegen einen Baum. Von hinten könnte man sie nicht angreifen.

- Was für ein Unsinn ihr durch den Kopf ging! Wer sollte sie schon angreifen?

Wieder musterte sie die zuckenden Schatten, die das Lagerfeuer auf die Bäume warf. Hatte sich dort drüben zwischen dem Unterholz etwas bewegt? Ein großgewachsener Mann schien dort zu stehen.

Lysandra tastete nach der Keule an ihrer Seite. Die Waffe war noch da. Einen Moment lang hatte sie befürchtet, er habe sie gestohlen. Jetzt war die Gestalt näher gekommen. Es war ein großer Ork. Der größte, den sie jemals gesehen hatte. Langsam trat er in den Lichtkreis des Lagerfeuers, doch die anderen schienen ihn nicht zu bemerken. Jetzt stand er direkt hinter dem blonden Robak.

Lysandra umklammerte den Griff des Streitkolbens. Sofort fühlte sie sich sicherer.

Doch was war das? Die Gestalt des Orks schien nun am selben Platz zu stehen, an dem auch Robak saß. Beide waren eins! Dann war der Ork plötzlich verschwunden.

War sie einer Sinnestäuschung erlegen?

Der blonde Krieger erhob sich und kam auf sie zu.

»Lysandra, die anderen haben mich geschickt, weil wir beide uns immer gut verstanden haben. Sie wollen ein paar Dinge wissen.«

»So?« Die Amazone hatte sich aufgerichtet und lehnte mit dem Rücken am Baumstamm. In der Rechten hielt sie den Streitkolben.

»Warum reiten wir seit drei Tagen nach Nordosten? Wären wir geradewegs nach Osten geritten, hätten wir heute kurz nach Einbruch der Finsternis Wehrheim erreicht und wären jetzt in Sicherheit.«

»So, wären wir das?« Lysandra musterte Robak. Diese Kreatur würde sie nicht täuschen. Sie wußte, wer hier in Wirklichkeit sprach. »Wenn wir nach Osten geritten wären, würde keiner von uns mehr leben. Wir hätten genau das getan, was die Schwarzpelze erwarten. Niemand von uns wäre in Wehrheim angekommen! Aber vielleicht ist es ja das, was du willst?«

Die Amazone lächelte. Dieser Orkgeist war geschickt. Er schaffte es sogar, Robak verblüfft aussehen zu lassen. Ganz so, als habe sie dem Krieger etwas unterstellt, woran er nicht im entferntesten gedacht hätte. Robak räusperte sich. »Da ist noch etwas. Wir sollen diese Waffe doch nach Gareth in die Stadt des Lichtes bringen. Aber wir entfernen uns immer weiter von dort. Wir sind Khezzara jetzt näher als Gareth. Wir alle machen uns Sorgen deshalb. Warum tust du das?«

»Nun, ich gebe zu, mein Plan ist vielleicht tollkühn, aber habe ich euch bisher nicht immer zum Sieg geführt?«

»Von welchem Plan sprichst du?«

»Wir werden an Galopp vorbei bis nach Festum reiten. Haben wir erst einmal das Herzogtum Weiden hinter uns gelassen, befinden wir uns auf sicherem Boden. In Festum werden wir uns dann einschiffen und nach Perricum segeln. Dort will ich die Keule im Tempel der Rondra niederlegen, denn sie wird diese Waffe besser schützen können als Praios.«

Robak schaute sie fassungslos an. Ob der Geist in ihm wußte, was sie in Wahrheit plante? Ob er wohl ihre Gedanken lesen konnte? Nein, wahrscheinlich nicht. Wüßte dieses Geschöpf, daß sie in Wirklichkeit zur Burg Yeshinna in den Drachensteinen wollte, dann würde es etwas unternehmen. Hatte sie erst einmal die Ordensburg der Amazonen erreicht, würde nichts und niemand sie daran hindern, die Waffe dort im Tempel der Rondra der Göttin zu opfern.

Dieser Plan war klug. Sie würde die Gunst der Löwin zurückgewinnen und hätte endlich die Schuld gesühnt, die sie auf sich geladen hatte, als sie tatenlos zusah, wie die Schwarzröcke ihre Gefährtinnen geschändet und dann ermordet hatten.

» ... sind aber der Meinung, daß ...« Robak schien schon eine ganze Weile mit ihr zu reden. »Hörst du mich, Lysandra?«

Seine Stimme gefiel ihr nicht. Er klang zornig.

»Wir haben immer gemeinsam besprochen, was wir tun. Wir sind freie Männer und Frauen, und wir werden uns nicht einfach deinem Willen beugen. Alle sind der Meinung, daß es besser ist, nach Süden zu reiten. Dein Plan, mitten im Winter die Wälder zwischen der Roten und der Schwarzen Sichel zu durchqueren, ist Wahnsinn. Jeder weiß, daß dort Oger und Goblins ihr Unwesen treiben, und wenn die uns nicht umbringen, werden wir erfrieren. Wir haben doch , nicht einmal die nötige Ausrüstung, um eine lange Winterreise zu bestehen. Langsam fange ich an zu glauben, daß Movert recht hat, wenn er sagt, daß du verrückt geworden bist.«

»Verrückt nennst du mich? Dann geht doch alleine, wenn ihr glaubt, ich sei verrückt. Ich weiß sehr gut, welcher böse Geist eure Schritte lenkt.«

Robak machte einen Schritt auf sie zu. Lysandra konnte sehen, wie sich an seinem ganzen Körper die Muskeln spannten. Gleich würde er sie angreifen. Er streckte seine linke Hand vor. Ein Ablenkungsmanöver!

»Gib mir die Keule, und wir werden gehen. Ich ...«

Mit einem Aufschrei sprang Lysandra vor. »Dir die Keule geben? Glaubst du, ich weiß nicht, wer du bist? Da könnte ich sie ja gleich Uigar Kai bringen!«

Lysandra spürte wie Xarvlesh in ihrer Hand zuckte. Die Keule wollte zu dem Besessenen. Das würde sie verhindern! Diesmal hatte der Geist einen Fehler gemacht! Mit Schwung holte sie aus und zielte mit der mächtigen Waffe nach dem Kopf des Kriegers. Die Dornen, die aus dem Keulenkopf ragten, begannen rot zu glühen. Robak versuchte auszuweichen und riß gleichzeitig seine Arme zum Schutz hoch über den Kopf.

Doch Lysandra war schneller. Der gewaltige Schlag fegte die Hände beiseite und zertrümmerte dem blonden Krieger den Schädel. Lysandra konnte sehen, wie der Geist den toten Körper verließ und zu der Gruppe der Krieger am Feuer floh. Sie würde ihn nicht entkommen lassen!

Die anderen zogen ihre Waffen.

Mit einem gewaltigen Sprung setzte die Amazone über das Lagerfeuer hinweg, duckte sich unter einem Schwerthieb weg und schlug einem der Männer in den Unterleib.

Wo mochte der Geist stecken? Wieder parierte sie einen Schwerthieb. Dann sah sie, wie der Ork hinter Perdia Schutz suchte. Nein, er verschmolz mit ihr ... Sie mußte die Kriegerin erschlagen, bevor der Geist sie wieder verlassen konnte. Dann wäre der Unhold in ihrem toten Körper gefangen. Mit einem fast lässigen Keulenschlag tötete sie einen Krieger, der ihr im Weg stand. Es war erstaunlich, wie leicht sich die große Waffe im Kampf führen ließ. Fast so, als würde sie von sich aus reagieren.

Perdia rannte zu den Pferden.

Ha, der Geist hatte gemerkt, was die Stunde geschlagen hatte. Er versuchte zu fliehen. Doch dann stolperte die Kriegerin über eine Baumwurzel. Einen Atemzug später hatte Lysandra sie erreicht.

»Nein!« ertönte hinter ihr eine schrille Stimme.

Aber nichts würde sie jetzt noch aufhalten. Lysandra hob den Streitkolben, der jetzt von einem fremdartigen, rötlichen Glühen umspielt wurde. Perdia versuchte ihr kriechend zu entkommen. Dann zuckte die Waffe herab. Mit dumpfen Krachen zerschmetterte sie den Brustpanzer der Kriegerin. Sie hörte, wie ihr die Rippen brachen. Blut quoll ihr aus Nase und Mund. Sieg! Lysandra atmete erleichtert auf. Endlich war dieses Nachtgeschöpf gebannt.

»Dafür sollst du sterben!«

Die Amazone drehte sich um. Dicht beim Feuer stand der schwarzbärtige Movert, und hinter ihm, direkt in den Flammen des Feuers, war der Geist zu erkennen.

Wie konnte das sein? Wie hatte er vor dem tödlichen Schlag entkommen können?

»Stirb, du Furie!« Movert hatte einen Bogen in der Hand. »Du bist nicht mehr unsere Anführerin!«

Lysandra war wie gelähmt. Warum wollte Movert sie töten? Sie hatte doch nur sich und ihre Gefährten vor dem Geist des Orks bewahren wollen. Der Pfeil zischte durch die Luft. Ohne daß sie es wollte, zuckte ihr rechter Arm hoch und zitternd schlug der Pfeil in den Streitkolben.

Movert ließ die Waffe sinken. »Sie ist von Dämonen besessen. Habt ihr das gesehen? Kein Mensch kann das. Lysandra ist tot! Dort steht ein Dämon! Flieht!« Der Krieger warf den Bogen zur Seite und rannte in den Wald. Die anderen folgten ihm.

Lysandra blickte sich um. Sie hatte drei ihrer Gefolgsleute erschlagen. Verfluchte Waffe! Was für einen unseligen Geist hast du heraufbeschworen? Irgendwo ertönte ein Lachen.

Die Amazone duckte sich hinter eine Baumwurzel und blickte sich um. Niemand war zu sehen, und doch wurde das Lachen immer lauter. Dabei schien es ständig aus einer anderen Richtung zu kommen. Was war das nur?

»Hör auf, nach mir zu suchen«, höhnte die Stimme. »Ich bin in dir!«

Plötzlich erschien die Gestalt des hochgewachsenen Orks neben dem Lagerfeuer. »Hörst du mich, Lysandra?«

Die Amazone sprang auf und versuchte, ihm einen Schlag mit dem Streitkolben zu versetzen. Doch Xarvlesh fuhr ins Leere, und die Amazone stürzte in den Schnee.

»Gib auf, Menschenfrau. Du kannst nicht töten, was schon tot ist.«

»Wer bist du?« Lysandra hatte sich aufgeplagt und blickte sich um. Jetzt stand der Geist einige Schritte vom Feuer entfernt, direkt neben der Leiche Perdias.

»Mein Name würde dir nichts sagen. Ich bin der, der vor dir Xarvlesh besessen hat. Ein Hohepriester des Tairach und einst die Hoffnung meines Volkes, doch ich habe gefehlt, und nun muß ich büßen. Mein Name wurde von den Schamanen aus dem Gedächtnis meines Volkes getilgt. Nie wurde mir die Gnade zuteil, den Weg zu gehen, den andere tote Krieger nehmen. Ich bin verdammt, zwischen dem Reich der Lebenden und dem der Toten zu existieren, bis Xarvlesh wieder in den Händen eines Tairachpriesters liegt.«

»Das wird niemals geschehen.«

»Nein? Ich glaube, ich kenne deine Zukunft besser, Menschenfrau.« Eine Windböe ließ das Lagerfeuer auflodern. »Du kannst deinem Schicksal nicht mehr entkommen, Lysandra.«

»So? Wenn es in deiner Macht stünde, mir etwas anzutun, warum hast du Xarvlesh dann nicht schon an dich genommen. Du bist körperlos. Du hast keine Macht über die Lebenden!«

»Habe ich das nicht? Sieh dich doch um.«

Lysandra blickte auf die erstarrten Gestalten im Schnee. Seit zwei Jahren hatten sie zusammen gekämpft, und nun hatte sie ihnen den Tod gebracht.

»Siehst du, wie wenig Macht ich über die Lebenden habe? Du hast deine eigenen Gefährten erschlagen. Du bist ausgestoßen! Die, die entkommen sind, werden die Geschichte von deiner Besessenheit im ganzen Nordland verbreiten. Du wirst dich niemals mehr unter Menschen wagen können.«

Lysandra begann zu zittern. Die Worte des Geistes klangen überzeugend.

»Und wie willst du verhindern, daß ich Xarvlesh in den Tempel eines meiner Götter bringe? Dort wird Tairach keine Macht mehr haben.«

Der Geist schien zu lächeln. »Das wird die Waffe selber zu verhindern wissen. Niemand, der sie in Händen hält, kann mehr einen Tempel betreten. Ja, er würde sogar jeden töten, der versucht, ihn dorthin zu bringen. Gib auf, Lysandra. Du wirst sterben, und mein Volk wird triumphieren. Bleib hier bei dem Feuer und warte. In ein paar Stunden wird Rrul’ghargop hier sein und dir einen schnellen Tod schenken.«

Diese Erscheinung versuchte, sie zu täuschen! Warum sonst sollte er versuchen, sie zu überreden, hier zu bleiben. Noch war nicht alles verloren. Sie mußte sich nur dazu aufraffen, von hier zu fliehen. Sie konnte ihm entkommen. Dessen war sie sich sicher.

Mühsam plagte die Amazone sich auf. Ihre Glieder schmerzten von der Kälte der Nacht.

»Wohin willst du? Willst du deine Qual noch etwas verlängern?«

Lysandra versuchte die Worte des Nachtgeschöpfes zu ignorieren. Sie nahm sich die Umhänge der Toten, plünderte die Satteltaschen und suchte sich geräuchertes Fleisch und trockenes Brot zusammen.

Die ganze Zeit über klang ihr die Stimme des Geistes in den Ohren. »Weißt du, was passieren wird, wenn du jetzt gehst und wenn es dir gelingt, Rrul’ghargop zu entkommen? Dann wird dich die Macht des Streitkolbens verändern. Am Ende wirst du nur äußerlich noch anders sein als ich. Xarvlesh ist nicht von dieser Welt, und diese Waffe besitzt Kräfte, die du dir nicht vorzustellen vermagst. Glaub mir, am Ende wirst du Tairach huldigen. Dann wirst du nach Khezzara reiten und vielleicht sogar Uigar Kai ermorden, aber nur, um dann seinen Platz einzunehmen. Vielleicht wird die Keule sogar dein Äußeres verändern, denn meine Brüder würden niemals eine Menschenfrau als Hohepriesterin dulden.«

»Schweig!« Lysandra versuchte, noch einmal nach dem Geist zu schlagen, doch wieder glitt die Waffe durch die Erscheinung hindurch, ohne den geringsten Schaden anzurichten.

»Mir kannst du nicht entkommen, und vor der Wahrheit kannst du nicht die Ohren verschließen. Meine Stimme ertönt in deinem Innern. Ich bin sogar dann bei dir, wenn du schläfst, und vermag deine Träume zu formen.«

Die Amazone begann ihr Pferd zu satteln. Leise murmelte sie ein Gebet zu Rondra, doch selbst das vermochte den Geist nicht zu bannen.

»Törichtes Menschenkind«, zischelte die Stimme. »Hast du dich noch nicht gefragt, warum du nach Nordosten reitest? Auch wenn du es nicht willst, wird dich dein Weg nach Khezzara führen. Hattest du Marcian nicht versprochen, die Waffe in die Stadt des Lichtes zu bringen? Und doch entfernst du dich mit jedem Schritt weiter von Gareth. Begreife endlich, daß dein Handeln nicht mehr deinem Willen unterliegt. Du bist in der Hand des Blutgottes, seit du Xarvlesh an dich genommen hast, und ganz egal wohin du reitest, du wirst ihm niemals mehr entkommen.«

»Ich glaube dir nicht!« Lysandra sprang in den Sattel und trieb ihren Hengst in den verschneiten Wald. Einen Augenblick war sie allein mit sich und dem Heulen des Windes im Geäst. Silbrig glänzte das Licht des Madamals auf dem Schnee und wies ihr den Weg nach Norden.

Sie würde sich niemals beugen! Den Worten der Geistergestalt zu glauben, das hieße, aufgegeben zu haben. Sie würde widerstehen, auch wenn das die schwerste Prüfung ihres Lebens war. Doch am Ende würde sie die Gnade Rondras empfangen.


Kurz vor Morgengrauen fand Lysandra die Leiche Moverts. Er lag mitten auf einem weiten Feld. Ein Pfeil hatte ihn im Nacken getroffen. Das Blut, das aus der Wunde getreten war, war bereits gefroren.

Sie mußte sich im Wald verirrt haben, dachte Lysandra. Anders war es nicht zu erklären, daß Movert zu Fuß viel weiter gekommen war, als sie mit dem Pferd.

Von seinen Mördern war weit und breit nichts zu sehen. Doch hatte sie das Gefühl, daß sie ganz in der Nähe waren. Sie wurde gehetzt, wie ein Rudel Wölfe ihre Beute hetzten.

»Gib auf Lysandra«, erklang die Geisterstimme. »Wenn du jetzt aufgibst, hast du vielleicht noch das Glück, so zu sterben wie dein Kamerad. Entscheidest du dich, Xarvlesh zu behalten, wirst du eine von uns. Du solltest dich sehen. Das Blut deiner Gefährten klebt noch an deinen Kleidern. Die Menschen werden ihre Türen vor dir verschließen. Haß und Verzweiflung haben dein Gesicht entstellt.«

Lysandra stieg wieder auf ihr Pferd und versuchte der Stimme zu entkommen. Vergebens!

»Nimmst du dir dein Leben«, klang es in ihren Ohren, »bekommen deine Verfolger die Waffe. Es gibt keinen Ort hier in der Wildnis, wo du sie vor uns verstecken könntest. Rrul’ghargop würde Xarvlesh selbst vom Grund eines Sees holen.«

Es begann zu schneien. Gnadenlos hieb die Amazone dem Hengst ihre Sporen in die Flanken. Sie wollte fort. Weg von dieser Stimme. Ihre Verfolger hinter sich lassen. Allein sein.

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