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Als Lysandra aus der Fuchshöhle floh, herrschte Chaos in der Stadt. Die Orks waren an mehreren Stellen durch die Verteidigungslinie der Bürger gebrochen. Fast die gesamte Osthälfte Greifenfurts war schon in ihrer Hand. Darrag zog die wenigen noch verbleibenden Truppen auf die alte Stadtmauer zurück, die sich von den Unterkünften der Stadtwache im Norden bis zum Rondratempel im Süden zog.

Die Amazone drängte sich durch das Getümmel in der engen Gasse. Eine Abteilung junger Frauen und Männer, geführt von einem Kürassier kam ihr entgegen. Sie waren mit Sicheln bewaffnet, deren Blätter nun aufrecht standen, so daß man sie wie Speere benutzen konnte.

Die meisten dieser ›Soldaten‹ hatten wahrscheinlich nicht einmal sechzehn Sommer gesehen. Sie waren keine Gegner für die Heerscharen des Sharraz Garthai, auch wenn sie mit dem Mut der Verzweiflung kämpften.

»Wo ist der Kommandant?« Die Stimme des Kürassiers klang heiser. Auch er mochte nicht viel älter als zwanzig sein.

»Das Andergaster Tor kann sich nicht mehr lange halten. Die Orks haben einen Rammbock herangebracht. Wo ist Marcian? Die Schwarzröcke sind an mindestens drei Stellen schon über die Mauer gelangt, und nirgends sind noch Offiziere. Was sollen wir tun?«

»Wenn das Andergaster Tor bedroht ist, wirst du jetzt deine Leute nehmen und den Verteidigern helfen. Darrag muß dann ohne dich auskommen. Los, mach dich auf den Weg!« Die Amazone funkelte den jungen Soldaten böse an. Er war kurz davor, den Kopf zu verlieren, und wenn er in Panik geriet, war sein kleines Häuflein Bewaffneter auch nichts mehr wert.

»Los, macht euch davon, oder ich mach euch Beine!«

»Jawohl!« Der Kürassier salutierte kurz und brüllte dann: »Alles kehrt marsch! Wir sind Entsatz für das Andergaster Tor.«

Seine Kindersoldaten stießen ihre improvisierten Speere in die Luft und gröhlten: »Auf zum Tor.« Dann drehten sie sich und rannten auf der Straße den Weg zurück, den sie gekommen waren.

Einen Augenblick sah Lysandra ihnen nach. Mit ihren hohlwangigen Gesichtern und den ausgemergelten Körpern sahen sie aus wie Marionetten, die Krieg spielten. Sollten die Orks mehr als nur einen Scheinangriff gegen das Andergaster Tor führen, dann würden diese Kinder sie nicht aufhalten können.

Die Stadt war dem Untergang geweiht, und Lysandra stand hier mit der Keule, die einst Tairach seinen blutdurstigen Priestern geschenkt hatte. Sie durfte keine Stunde länger in Greifenfurt bleiben. Doch allein würde sie es nicht schaffen.

Pfeifend zog ein Felsbrocken über ihr durch die Luft und schlug krachend in ein Häuserdach auf der anderen Straßenseite ein. Zersplitterte Schieferschindeln fielen vor ihren Füßen in den Schnee. Sie mußte zu ihren Leuten in den Quartieren der Stadtwache! Marcian hatte vor einer Woche die letzten Pferde dorthin bringen lassen, weil immer mehr Bürger Zuflucht in der Garnison suchten. Neben den Kaltblütern waren das die letzten Pferde der Stadt. Es schien fast, als habe es das Schicksal so gewollt. Ja, sie sollte die Stadt verlassen! Das konnte kein Zufall sein!

Die Amazone begann zu rennen. Links von ihr sammelten sich Bogenschützen auf der alten Stadtmauer.

»Für Brin!« schrie eine Frau, und die anderen nahmen ihren Schlachtruf auf.

Lysandra hatte das Ende der Straße erreicht. Schräg gegenüber lag das hohe Tor der Stadtwache. Unmittelbar daneben hatten die Bürger aus zerbrochenen Möbeln, Erde und festgestampftem Schnee eine Barrikade auf der Straße die in den Osten der Stadt führte, errichtet.

»Macht Platz!« Hinter ihr ertönte dumpfer Huf schlag und das Rasseln eines schweren Wagens. Lysandra preßte sich gegen die Mauer.

Eines der Fuhrwerke, das von Himgis Sappeuren beschlagnahmt worden war, ratterte von zwei mächtigen Kaltblütern gezogen, an ihr vorbei. Auf der Ladefläche des Karrens kauerten einige Soldaten.

Der Wagen ging in die Kurve und bremste. Die Krieger sprangen herab und machten sich an zwei Hornissen zu schaffen, die von Planen bedeckt gewesen waren.

»Los! Beeilt euch ihr Memmen, oder die Orks werden euch noch Beine machen!« erscholl die Stimme eines Weibes.

Lysandra überquerte die Straße und hämmerte mit dem Knauf der Keule gegen das eisenbeschlagene Tor. Hinter ihr ertönten noch immer die Rufe der Soldaten, die die beiden Geschütze in Stellung brachten. Der Wind zerrte mit eisigen Fingern an ihrem Umhang.

Ein Schatten fiel auf das hohe Tor.

Eine dunkle Stimme schien mit dem Wind zu klingen. Eine Stimme, der es schwerfiel, Worte in der Sprache der Menschen zu formen.

Du wirst meinen Weg gehen!

Krachend schlugen die Flügel des Tors zurück. Von innen ertönte ein Alarmruf.

Erschrocken blickte sich Lysandra um, doch auf der Straße waren nur die Soldaten zu sehen, die die Hornissen hinter der Barrikade in Stellung brachten.

Bewaffnete kamen auf den Hof, der hinter dem Tor lag, gelaufen. Lysandra hob die Keule aus dem Heiligtum hoch über ihren Kopf. »Ruhig Leute. Movert! Robak! Sucht die besten aus, die noch übrig sind und macht die Pferde bereit. Wir werden das hier aus der Stadt bringen.«

»Jawohl, Herrin.« Der blonde Robak machte auf dem Absatz kehrt und lief auf den Stall zu.

Movert war näher zu Lysandra getreten. Er war ein dunkler Mann, mit einem kurzgeschorenem Kinnbart und verdrossenem Gesicht. »Was ist mit dem Tor passiert, Lysandra? Es war mit einem Balken versperrt, und niemand war im Hof, um dir zu öffnen?«

»Scher dich nicht um Dinge, die du nicht begreifst! Ich bin dir ...«

»Seht nur! Dort drüben im Lager der Orks! Bei den Göttern ...«

Der Wachtposten auf dem Flachdach des Pferdestalls wies mit ausgestrecktem Arm nach Osten auf das Hauptlager der Schwarzröcke. Lysandra rannte die schmale, steinerne Treppe zum Dach hinauf. Als sie ankam, konnte sie eine eigenartige Erscheinung am Himmel sehen: eine Flamme, die direkt auf das Praiosgestirn zuzufliegen schien und dann verschwand.

»Es muß aus der Erde gekommen sein ... Ein helles Licht ...«, stammelte der Wachtposten. »Es sah aus wie ein Löwe ... aber auch wieder wie ein Adler. Es war aus Licht und Flammen und hat alle Zelte in der Nähe in Brand gesetzt.«

Lysandra blickte zum Lager der Orks. Schwarzer Rauch stieg dort zum Himmel. Zehn oder mehr der großen, ledernen Zelte brannten. Viele Orkkrieger hatten den Angriff auf die Stadt abgebrochen und rannten zum Lager zurück, um ihre Habe zu retten.

»Das war ein Zeichen der Götter!« Die Amazone war auf die andere Seite des Daches gegangen und blickte nun in den Hof, wo mittlerweile fast alle ihrer Gefolgsleute versammelt waren.

»Sie wollten uns den Weg freimachen. Sattelt die Pferde! Die Besten werden mich nun begleiten, um diese verfluchte Waffe auf heiligen Boden zu bringen. Dorthin, wo sie nie wieder die Hand eines Orks berühren wird. Ihr anderen aber bleibt hier und haltet die Stadt. Und schöpft neuen Mut, denn die Himmlischen haben uns ein Zeichen gegeben, nicht zu verzweifeln. Wenn eure Stunde gekommen ist, werde ich wieder hier sein!«

»Lysandra! Lysandra!« Die Männer und Frauen im Hof wollten nicht aufhören, ihren Namen zu rufen. Sie schlugen mit ihren Waffen auf die Schilde und schrien, bis Robak und Movert die ersten Pferde aus den Ställen führten.

Lysandra kannte jeden einzelnen im Hof so gut, als wäre er von ihrem Blut. Über ein Jahr lang waren sie mit ihr durch die Wälder der Grafschaft gestreift. Hatten die Orks überfallen und waren ihrerseits von den Schwarzpelzen gejagt worden. Viele in der Stadt hielten sie für Strauchdiebe und Halsabschneider, doch in ihren Augen waren es die besten Krieger, die noch auf Greifenfurts Mauern standen. Jeder von ihnen hatte einen ganz persönlichen Grund zur Rache, und niemand würde von den Mauern weichen, solange auch nur ein Ork vor Greifenfurt stand. In diesem fanatischen Haß hatte sie auch ihre ›Löwinnen‹ erzogen. Ehemals brave Bürgerstöchter, die in den letzten Wochen bei ihr das Fechten gelernt hatten und mittlerweile Rondra alle Ehre machten. Lysandra war sich sicher, ihre Freischärler und die ›Löwinnen‹ würden auch ohne sie auskommen. Sie alle trugen etwas im Herzen, das sie in jeder Schlacht mehr beflügeln würde als der tollkühnste Anführer: Haß!


Kurze Zeit später stand Lysandra mit neun anderen Reitern kurz hinter der Bresche in der Ostmauer. Bis hier waren sie auf keinen Widerstand gestoßen. Obwohl auch weiterhin noch am Andergaster Tor gekämpft wurde, hatten die Orks diesen Stadtteil wieder aufgegeben.

Die Amazone strich über den Streitkolben, der von ihrem Sattel herabhing. Dann griff sie wieder nach der Lanze, die sie gegen die Mauer gelehnt hatte.

»Also, zum letzten Mal. Ich will keine unnötigen Kämpfe. Wir wollen allein aus der Stadt heraus! Ist das klar?«

Ihre Kämpen nickten stumm. Fast alle trugen mehr oder weniger vollständige Rüstungen, hatten Köcher mit Bögen an die Sättel geschnallt und hielten in der Rechten eine Lanze. Die letzte Kavallerieattacke Greifenfurts, dachte Lysandra. Gut, daß Marcian im Tunnel zurückgeblieben ist. Dann hob sie die Linke. »Jetzt!«

Die Männer und Frauen gaben ihren Pferden die Sporen und lenkten die Tiere durch die Trümmer des Turmes, der einst diesen Teil der Mauer geschützt hatte. Dann waren sie auf dem freien Feld vor der Stadt. Im Lager der Orks wurde Alarm geblasen.

Lysandra konnte erkennen, wie Krieger zu den Geschützen auf den Erdwällen liefen. Doch die waren keine ernste Gefahr mehr. Die meisten Katapulte und Rotzen waren vor einigen Tagen abgezogen worden. Vermutlich brauchten die Schwarzröcke sie bei einer anderen Belagerung.

In gestrecktem Galopp passierten die Reiter das Feld. Die wenigen Geschosse, die man auf sie abgefeuert hatte, verfehlten ihr Ziel. Ein guter Auftakt, dachte Lysandra und hielt mit ihrem Hengst auf das Hügelland nordöstlich des Orklagers zu. Es scheint wirklich so, als seien die Götter uns gewogen.

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