4

»Ob er die Eröffnung mit den beiden Tarnkämpfern macht?« fragte ein Mann.

»Ich wette, er wagt das Cambit der Ärzte«, antwortete ein anderer.«

»Das gäbe aber den Weg frei für die turische Verteidigung«, warf ein dritter ein.

Ich war bei bester Laune. Eine herrliche Nacht lag hinter mir.

Die Sklavin, die zu mir in die Felle gekommen war, hatte sich als eine großartige Bettgenossin erwiesen. Als Zeltsklavin war sie den Weisungen aller Gäste unterworfen, und als ich sie bestieg, hatte sie als Sklavin mit sich geschehen lassen, was ich ihr zudachte. Ich war hocherfreut; ich hatte ihr Wonnen bereitet, die eine Ubara dazu gebracht hätten, den Sklavenkragen zu erflehen. Ich nahm nicht an, daß sie in der Nacht überhaupt ein Auge zugetan hatte. Am Morgen hatte sie mit verweinten Augen zu meinen Füßen gelegen und mich angefleht, sie zu kaufen.

Es war ein kühler Tag, die Luft war hell und klar. Ein guter Tag für das große Spiel.

Ich hatte dafür gesorgt, daß das Mädchen nach Port Kar geschickt wurde. Sie war sicher eine lohnende Erwerbung, kostete sie mich doch nur einen Viertel-Silbertarsk,

»Auf wen hast du gewettet?« fragte ein Mann.

»Auf Scormus aus Ar«, antwortete ich.

»Ich auch.«

Mein Zorn, daß Bertram aus Lydius mir entwischt war, hatte sich etwas gelegt. Ich rechnete nicht damit, den Mann wiederzusehen. Wenn er sich blicken ließ, hatte ich immer noch Zeit, ihn vom Gelände des Jahrmarkts zu schaffen und umzubringen.

Ungeduldig wartete ich darauf, daß die Tore des Amphitheaters sich öffneten. Meinen Platz hatte ich mir bereits in Port Kar reserviert und zwei goldene Tarns dafür bezahlt.

Über den Jahrmarkt schlendernd, fand ich mich in der Nähe des Palisadenzauns wieder. Wissende und viele andere waren hier unterwegs. Zeremonien und Opferungen fanden statt. In einem Winkel wurde ein junger weißer Bosk geschlachtet. Weihrauch brannte, und Glöckchen erklangen, es wurde gesungen.

Schließlich hatte ich die hohen Plattformen am Zaun erreicht.

Die beiden verkauften Sklavinnen von der Erde knieten an einem der Pfosten, die die Plattformen stützten; sie waren nackt und trugen die Hände auf dem Rücken gefesselt. Sie sahen mich verstört an. Sie hatten ihre erste Nacht in der Gewalt eines Mannes hinter sich. Ihre Oberschenkel waren blutverschmiert, der Oberarm der Dunkelhaarigen war blau angelaufen. Die rothäutigen Jäger gehen mit ihren Haustieren nicht gerade sanft um.

Ich erstieg die Treppe zur Plattform, denn ich wollte mir das Sardargebirge im Morgenlicht anschauen. Besonders im Frühling, wenn die Sonne auf den schneebedeckten Gipfeln funkelt, kann das ein sehr schöner Anblick sein.

Ja, das Panorama war in der Tat atemberaubend, noch eindrucksvoller, als ich erwartet hatte. Wortlos stand ich im kühlen, sonnigen Morgen.

Ganz in meiner Nähe hatte sich der rothäutige Jäger aufgestellt. Auch er schien ungemein beeindruckt zu sein.

Plötzlich hob er die nackten Arme den Bergen entgegen.

»Möge die Herde kommen«, sagte er auf Goreanisch. Dann griff er in den Beutel, der zu seinen Füßen lag, und nahm vorsichtig eine kleine Skulptur aus blauem Stein heraus, die einen Nord-Tabuk darstellte. Ich wußte nicht, wie lange es dauerte, eine solche Figur zu machen – sicher viele Nächte im Licht der ovalen Lampen.

Er stellte den winzigen Tabuk auf die Planken zu seinen Füßen und breitete erneut die Arme aus. »Laßt die Herde kommen«, sagte er. »Ich gebe euch diesen Tabuk. Er hat mir gehört, jetzt gehört er euch. Gebt uns jetzt die Herde, die unser ist.«

Dann senkte er die Arme, bückte sich, schloß den Beutel und verließ die Plattform.

Mein Blick fiel auf die Kaissaflagge, rot und gelb kariert, die am oberen Rand des Amphitheaters aufgezogen worden war. Sie wurde von den Standarten Cos’ und Ars flankiert.

Das Amphitheater war geöffnet. Ich eilte die Treppe hinab. Ich würde hundert Gold-Tarn gewinnen. Im weiten Rund herrschte eine ausgelassene Stimmung. Männer standen auf ihren Sitzen, schwenkten die Mützen und brüllten durcheinander.

»Scormus aus Ar!« riefen sie. »Scormus aus Ar!«

Die Hymne Ars wurde gesungen, doch die Melodie ging im allgemeinen Getöse beinahe unter.

Man konnte kaum etwas erkennen.

»Er ist da!« rief der Mann neben mir.

Ich stellte mich auf den Rand unserer Sitzreihe und blickte in die Tiefe. Auf der Bühne entdeckte ich in der Robe der Spieler Scormus aus Ar, den temperamentvollen jungen Champion aus Ar. Er befand sich in Begleitung etlicher Männer aus seiner Heimatstadt. Der Tisch mit dem Kaissabrett stand in der Mitte der Bühne, zu Füßen des riesigen, schräg emporragenden halbkreisförmigen Amphitheaters. Er kam mir winzig vor, so weit entfernt.

Scormus hob der Menge die Hände entgegen, und die weiten Ärmel seiner Robe rutschten ihm über die Arme zurück. Das Cape wurde ihm von zwei anderen Spielern aus Ar abgenommen. Seine Mütze warf er in die Menge. Die Zuschauer rauften darum.

Wieder hob er die Arme.

Im gleichen Augenblick ertönte neues Jubelgeschrei, denn nun trat Centius aus Cos mit seinem Gefolge auf die Bühne. Die Hymne von Cos wurde angestimmt.

Centius aus Cos trat an den Rand der Steinbühne, etwa fünf Fuß über den unteren Reihen, und hob eine Hand. Er lächelte.

Das Amphitheater dient natürlich nicht nur der Präsentation von Kaissaspielen, sondern erlebt auch Dichterlesungen, Konzerte, Theateraufführungen und Opern. Genaugenommen ist so ein großer Rahmen für ein Kaissaspiel eher die Ausnahme. Die meisten Sardarspiele finden auf freiem Feld statt, vor sanft ansteigenden Zuschauerreihen auf den Flanken kleiner Hügel, und viele Kämpfe finden gleichzeitig statt. Hinter jedem Spielbrett steht eine große senkrechte Tafel, auf deren linker Seite die Züge nacheinander mit Kreide vermerkt werden, während der Hauptteil der Tafel die Quadrate des Spielbretts und die Stellung der Spielsteine wiedergibt. Auf diese Weise hat man sowohl eine Liste der bisher gemachten Züge wie auch eine Darstellung des Spielstandes vor Augen. Junge Spieler nehmen diese Eintragungen und die Verschiebungen der Figuren-Nachbildungen vor. Die gültige Registrierung des Spiels obliegt drei Offiziellen, von denen mindestens einer der Kaste der Spieler angehören muß. Diese Männer sitzen an einem Tisch in der Nähe der Gegner. Wenn es nicht zur Eroberung eines Heimsteins kommt, wird über die Spiele von fünf Schiedsrichtern entschieden, die ausnahmslos der Kaste der Spieler angehören und von denen mindestens drei in der Meisterklasse spielen müssen.

»Scormus aus Ar wird ihn am Boden zerstören«, sagte ein Mann.

»Ja!« rief ein anderer.

Hinter dem Tisch, ein wenig seitlich versetzt, stand der Tisch für die Registratoren des Spiels. Dazu gehörten ein Mann aus Ar und ein Mann aus Cos und ein Spieler aus Turia namens Timor, der angeblich von großer Integrität war und der, so wurde vorausgesetzt, aus einer Stadt stammte, die weit genug von den Problemen von Cos und Ar entfernt war, um sich als echter Unparteiischer zu erweisen. Außerdem gab es natürlich in den Zuschauerreihen Hunderte von Männern, die gleichzeitig und inoffiziell das Spiel für sich aufzeichnen würden. Die Gefahr, daß ein Zug nicht richtig festgehalten wurde, war gering. Hätte ein Offizieller so etwas versucht, wäre er wohl von den Menschenmassen in Stücke gerissen worden. Die Goreaner nehmen ihr Kaissa ernst.

Auf der Bühne erschien Reginald aus Ti, der gewählte Vorsitzende der Kaste der Spieler. Ein Mann in seiner Begleitung trug die Sanduhren. Diese Uhren haben jeweils einen winzigen Sandausfluß, der geöffnet und geschlossen werden kann. Die Uhren sind so miteinander verbunden, daß nur jeweils ein Durchgang geöffnet ist; wenn ein Spieler an dem Hebelchen dreht, beendet der den Durchfluß seines Sandes und öffnet den seines Gegners. Müssen die Uhren angehalten werden, etwa bei einer Spielvertagung oder Unterbrechung, werden sie von dem Oberschiedsrichter des Spiels, in diesem Falle Reginald aus Ti, auf die Seite gelegt. In der Uhr jedes Spielers befindet sich Sand für zwei Ahn. Jeder Spieler muß vierzig Züge gemacht haben, ehe der Sand verbraucht ist, oder er wird als Verlierer gewertet. Die Uhren verbessern das Turnierspiel, das sonst nicht als Kaissawettbewerb, sondern als Geduldsspiel ausgetragen würde: ohne Uhr mochte der Sieg dem Manne zufallen, der länger stillsitzen konnte als sein Gegner. Unter jüngeren Spielern war eine Bestrebung im Gange, den Sand so aufzuteilen, daß jedem Spieler eine Ahn für die ersten zwanzig Züge und eine weitere Ahn für die nächsten zwanzig Züge zustand. Damit sollte erreicht werden, die Qualität des Kaissaspiels in der zweiten Ahn zu verbessern. Es stimmte schon: oft kamen selbst Meister des Spiels in der zweiten Ahn unter Zeitdruck und hatten womöglich nur noch wenige Ehn Sand für acht oder zehn Züge. Andererseits war nicht damit zu rechnen, daß diese Neuerung sehr bald akzeptiert wurde. Zunächst stand die Tradition dagegen. Außerdem hielten es viele für besser, wenn ein Spieler die Dauer seiner Überlegungen ohne ein zweites Zeitlimit bestimmen konnte. Dieser Ansicht war ich auch. Zwar gibt es Präzisions-Chronometer auf Gor, die eine noch genauere Zeitbestimmung möglich gemacht hätten, aber die Sanduhren sind im Turnier-Kaissa ein Traditionsfaktor.

Auch Centius aus Cos schleuderte seine Kopfbedeckung in die Menge, und die Zuschauer rauften darum. Er hob die Arme. Er schien guter Stimmung zu sein.

Er ging quer über die Bühne, vor dem Spieltisch vorbei, um Scormus aus Ar zu begrüßen. Er streckte ihm die Hand entgegen. Scormus aus Ar jedoch wandte sich arrogant ab.

Centius aus Cos schien dieser Affront nichts auszumachen. Er drehte sich um, hob noch einmal beide Hände dem Publikum entgegen und kehrte auf seine Seite zurück.

Zornig schritt Scormus aus Ar über die Bühne. Er wischte sich die Hände an seiner Robe ab.

Er vermied es, Centius aus Cos mit einer freundlichen Geste zu begegnen oder ihn auch nur anzuschauen. Das hätte die Intensität seiner Einstimmung, seines Hasses, seine Kampfbereitschaft schwächen können. Seine Geisteskraft, sein Können, sein Kampfgeist mußten auf dem Höhepunkt stehen. Scormus aus Ar erinnerte mich an die Angehörigen der Kaste der Attentäter; auch sie gebärden sich manchmal so, ehe sie auf die Jagd gehen. Ablenkung darf es nicht geben.

Die beiden Männer näherten sich dem Tisch.

Hinter ihnen erhob sich ein senkrechtes Brett, das gut vierzig Fuß hoch und fünfzig Fuß breit war. Der größte Teil der Fläche war von einer riesigen Nachbildung des Kaissaspielfelds eingenommen. Auf den Quadraten hingen an Pflöcken die Spielsteine in ihren Ausgangsstellungen. Das Publikum würde den Kampf auf dieser Anzeigetafel verfolgen. Auf der linken Seite der Tafel waren zwei Spalten eingezeichnet, die eine gelb, die andere rot; hier würden die einzelnen Züge notiert werden. Ähnliche, wenn auch kleinere Tafeln standen überall auf dem Jahrmarkt, damit auch die Leute, die sich das Eintrittsgeld für das Amphitheater nicht leisten konnten, dem Spiel zu folgen vermochten. Die einzelnen Züge wurden durch Boten auf dem Jahrmarktsgelände bekanntgemacht.

Es wurde still in der Menge.

Wir setzten uns.

Der Schiedsrichter, hinter dem sich vier weitere Angehörige der Spielerkaste versammelt hatten, wandte sich von Scormus und Centius und den Registraturen ab.

Kein Laut war aus der Zuschauermenge zu hören.

Centius aus Cos und Scormus aus Ar nahmen ihre Plätze am Tisch ein.

Die Stille in dem weiten Rund war beinahe furchteinflößend.

Scormus aus Ar neigte leicht den Kopf. Reginald aus Ti drehte das Knöpfchen an Centius’ Uhr, woraufhin in Scormus’ Uhr der Sand zu fließen begann.

Scormus hob die Hand. Er zögerte nicht. Der Zug wurde gemacht. Dann drehte er den Knopf an seiner Uhr, unterbrach den Sandstrom, gleichzeitig strömten die Sandkörner in Centius’ Uhr.

Der Zug war natürlich Ubaras Speerträger auf Ubara fünf.

In der Menge wurde Jubelgeschrei laut.

»Das Ubara-Gambit!« rief ein Mann in meiner Nähe.

Wir sahen zu, wie die große gelbe Scheibe, die den Ubara-Speerträger darstellte, vor Ubara fünf auf den Pflock gehängt wurde. Dies wurde von zwei jungen Männern, Lehrlingen in der Spielerkaste, erledigt, die sich auf einer Art Gerüst bewegten. Ein dritter Jüngling verzeichnete den Zug mit roter Kreide links an der Tafel.

Viele hundert Männer im Publikum machten sich ebenfalls eine Notiz. Einige hatten sogar kleine Pflockbretter bei sich, auf denen sie das Spiel verfolgen wollten. Sie hatten natürlich den Vorteil, daß sie Variationen und mögliche Fortführungen des Spiels viel anschaulicher durchdenken konnten.

Das Ubara-Gambit gehört zu den bösesten und gnadenlosesten im Repertoire des Spiels. Von Turniermeistern wird es oft gespielt Man kann ihm schwer begegnen, weil es keine klar definierte Gegenwehr gibt; man kann darauf eingehen oder sich zu wehren versuchen. Rot mußte die Hoffnung haben, diesen Angriff im mittleren Teil des Spiels zu neutralisieren; wenn es Rot gelang, um den zwanzigsten Zug den Gleichstand herzustellen, konnte er sich glücklich schätzen. Scormus aus Ar war zwar generell ein vielseitiger und sogar genialer Spieler, doch mit dieser Eröffnung zeigte er sich als besonders erfolgreich; im neunten Jahr des Ubarats von Phanias Thurmus hatte er damit bei den Turischen Turnieren gewonnen, ebenso bei den Wettbewerben von Anango, Helmutsport, Tharna, Tyros und Ko-ro-ba, und das alles im Verlauf der letzten fünf Jahre, außerdem hatte das Gambit ihm bei den letzten Winterspielen am Sardar sowie bei der Stadtmeisterschaft von Ar Erfolg gebracht, die knapp sechs Wochen zurücklag. Als Scormus in Ar den Heimstein seines Gegners eroberte, hatte Marlenus, Ubar dieser Stadt, das Spielbrett mit Gold überschüttet. Viele hielten die Stadtmeisterschaft von Ar für den zweitwichtigsten Kaissatitel auf Gor – nur die Meisterschaft auf dem Jahrmarkt von En’Kara war mehr.

Natürlich war auch Centius aus Cos ein Meister des Ubara-Gambits. Er war sogar so gut darauf eingestellt, sowohl aus der Perspektive des gelben als auch des roten Spielers, daß er jetzt zweifellos auf Patt spielen würde. Aber ich nahm nicht an, daß es ihm gelingen konnte. Die Meisterspieler kennen diese Eröffnung in hundert verschiedenen Variationen auf mehrere Züge im voraus.

»Warum reagiert Centius nicht?« fragte der Mann neben mir.

»Keine. Ahnung«, antwortete ich.

»Vielleicht will er aufgeben.«

»Jemand hat gesagt, Scormus würde die Eröffnung mit den beiden Tarnkämpfern wählen«, meinte ein anderer Mann.

»Dazu ist Centius aber zu stark«, meinte ein dritter.

»Er geht kein Risiko ein«, urteilte ein vierter.

Meine Überlegungen bewegten sich in ähnlichen Bahnen. Scormus aus Ar war kein Dummkopf; er wußte, daß er einen Meister vor sich hatte, einen der sieben oder acht besten Spieler auf dem Planeten. Centius aus Cos hatte seine beste Zeit zweifellos hinter sich. In den letzten Jahren hatten seine Spiele weniger wie Kämpfe ausgesehen, weniger wie zielstrebig geführte, brutale Duelle. Vielmehr schien darin ein vages Bemühen zum Ausdruck zu kommen, auf dem Kaissabrett etwas zu erreichen, aber selbst die höchsten Mitglieder der Spielerkaste wußten nicht genau, was es war. Es gab sogar Spieler auf Gor, die höher eingeschätzt wurden als Centius aus Cos, doch irgendwie führte für Scormus aus Ar kein Weg an diesem Mann vorbei, wenn er an die Spitze wollte. Für viele war Centius aus Cos trotz seiner Siege oder Niederlagen oder Pattspiele der beste Kaissaspieler aller Zeiten. Und vor diesem strahlenden Ruf war Scormus’ Stern doch ein wenig verblaßt. »Ich werde ihn vernichten«, hatte Scormus gesagt. Trotzdem würde er mit Vorsicht spielen. Daß er das Ubara-Gambit gewählt hatte, zeigte den Respekt, den er vor Centius aus Cos empfand, und die Ernsthaftigkeit, mit dem er dieses Spiel anging.

Scormus würde wie ein Attentäter spielen. Er würde gnadenlos agieren und kein Risiko eingehen.

Centius aus Cos betrachtete das Spielfeld. Er schien in Gedanken versunken, als beschäftige ihn irgend etwas, das gar nichts mit dem Spiel zu tun hatte. Er hatte die rechte Hand über seinen Ubara-Speerträger gehoben, sie dann aber wieder zurückgezogen.

»Warum zieht er nicht?« fragte jemand.

Die angemessene Reaktion bestand darin, den eigenen Ubara-Speerträger auf Ubara fünf zu ziehen. Damit ist der Kampf um die Mitte des Spielfeldes eröffnet, und der gegnerische Speerträger kann nicht weiter vorrücken. Daraufhin rückt Gelb seinen Ubaras Tarnkämpfer Speerträger auf Ubara-Tarnkämpfer fünf und greift damit den roten Speerträger an. Danach muß sich Rot entscheiden, ob er das Gambit akzeptiert oder abwehrt – er akzeptiert, indem er den Ubaras Tarnkämpfer Speerträger schlägt, damit aber die Mitte freigibt; oder die Eröffnung abwehrt, indem er seinen Speerträger verteidigt und auf diese Weise einengen läßt. Das Gambit läßt sich auf beide Arten spielen, doch ohne Hoffnung, den eingeschlossenen Speerträger noch zum eigenen Vorteil einsetzen zu können. Wir wünschten uns, Centius möge seinen Ubara-Speerträger auf Ubara fünf vorrücken, damit Scormus den Ubaras Tarnkämpfer Speerträger auf Ubara-Tarnkämpfer fünf ziehen konnte. Und dann wollten wir sehen, wie Centius auf das Gambit reagierte.

»Weiß er nicht, daß seine Uhr offen ist?« fragte ein Mann.

Es schien mir seltsam, daß Centius in dieser Phase des Spiels nicht schneller reagierte. Wahrscheinlich brauchte er die Zeit; später viel dringender, wenn er sich im mittleren Teil des Spiels: der Angriffe und Kombinationen Scormus’ erwehren mußte oder in der Schlußphase, wenn der Ausgang vielleicht von einem einzigen raffinierten Zug auf einem von Spielsteinen beinahe freien Feld abhing.

Aus Centius’ Uhr strömte der Sand.

Hätte Centius seinen Ubaras Speerträger berührt, hätte er die Figur ziehen müssen. Und hatte er die Figur bewegt und losgelassen, mußte er sie dort stehenlassen – vorausgesetzt, der Zug paßte zu den Regeln des Spiels. Aber Centius aus Cos hatte den Ubaras Speerträger noch nicht berührt.

Eine Zeitlang musterte er das Spielbrett und bewegte dann einen Stein, ohne Scormus anzusehen.

Ich sah einen der Registraturen aufstehen. Scormus aus Ar musterte seinen Gegner. Die beiden jungen Männer, die bereits die Scheibe des Ubaras Speerträgers zur Hand genommen hatten, sahen sich verwirrt an. Dann legten sie die Plakette fort.

Centius aus Cos drehte den Knopf an seiner Uhr, womit er das Ventil in Scormus’ Uhr öffnete.

Auf der großen Tafel wurde nicht der Ubaras Speerträger gezogen, sondern der Ubaras Speerträger auf Ubar fünf.

Diese Figur konnte nun vom gelben Ubaras Speerträger geschlagen werden.

Lähmendes Schweigen herrschte in der Arena.

»Will er gegen einen Mann wie Scormus die Mittelverteidigung spielen?« fragte jemand.

Das kam mir unglaublich vor. Ein Kind konnte die Mittelverteidigung einrennen. Seit Jahrhunderten waren die Schwächen dieser Taktik bekannt.

Mit der Mittelverteidigung soll der gelbe Speerträger aus der Mitte gelockt werden. Gelb kann den Angriff natürlich ignorieren und tiefer in das Gebiet der Roten eindringen. Andererseits läßt sich Gelb oft darauf ein, seitlich zuzuschlagen und den roten Speerträger zu schlagen. Daraufhin greift Rot mit seinem Ubar an. Leider wird dadurch der Ubar, eine sehr wertvolle Figur, die wie die Ubara mit neun Punkte bewertet wird, zu früh in die Mitte gezogen. Gelb rückt nun den Ubaras Tharlarionreiter vor, womit der vorgerückte Ubar dem Angriff des Wissenden auf Wissenden eins ausgesetzt ist. Der Ubar muß zurückweichen und verliert Zeit. Inzwischen hält sich der gelbe Wissende zum Angriff bereit. Außerdem hat der Zug, der zum Schlagen des roten Speerträgers führte, den Weg für die gelbe Ubara freigemacht.

Nein, die Mittelverteidigung ist wirklich nicht zu empfehlen. Aber Centius aus Cos spielte sie.

Ich fand dies interessant. Zuweilen geschieht es, daß ein Meister aus alten, vernachlässigten Eröffnungen neue Variationen entwickelt. Alte Bergwerke bringen manchmal neues Gold hervor. So etwas belebt das Spiel. Oft genug sind Meisterspiele kaum mehr als Routine, besonders in den ersten zwanzig Zügen. Das liegt natürlich an der unglaublich detaillierten Analyse, denen alle Eröffnungen unterworfen worden sind. Auf eine Weise beginnen solche Spiele mit dem zwanzigsten Zug erst richtig.

Ich schaute auf die große Tafel.

Wie erwartet, eroberte Scormus den roten Speerträger.

Ja, einige der genialsten Spiele aller Zeiten haben sich aus Eröffnungen entwickelt, die als schwach oder unpassend galten.

Das Publikum war unruhig geworden.

Trotzdem griff Centius nun nicht mit seinem Ubar an.

Verblüfft verfolgten die Zuschauer, wie Centius aus Cos seinen Ubars Tarnkämpfer Speerträger auf Ubars Tarnkämpfer vier vorrückte.

Die Figur war dort wehrlos.

Centius spielte also doch nicht die Mittelverteidigung. Männer sahen sich ratlos an, Centius aus Cos hatte bereits einen Stein verloren, einen Speerträger. Einem Mann vom Kaliber Scormus’ aus Ar opfert man nicht freiwillig seine Figuren.

Die meisten großen Spieler hätten in einer solchen Lage schon ihren Ubar umgeworfen und das Spiel verloren gegeben.

Doch nun war ein zweiter Speerträger dem Angriff des gelben Speerträgers schutzlos preisgegeben.

»Speerträger schlägt Speerträger«, sagte ein Mann in meiner Reihe, Ich verfolgte den Zug an der großen Tafel.

Rot hatte zwei Speerträger verloren.

Rot mußte jetzt seinen Ubars Tharlarionreiter vorrücken lassen, um seinen Ubaras Wissenden freizustellen und gleichzeitig den gelben Speerträger dem Angriff des Wissenden auszusetzen.

»Nein! Nein!« rief ein Kaufmann aus Cos.

Statt des erwarteten Zuges hatte Centius aus Cos seinen Ubars Schriftgelehrten Speerträger auf Ubars Schriftgelehrten drei vorgeschoben.

Ein dritter Stein war dem Gegner wehrlos ausgeliefert.

Es überlief mich kalt vor Zorn, obwohl ich im Begriff war, hundert Gold-Tarns zu gewinnen.

Scormus aus Ar musterte Centius aus Cos verächtlich. Dann richtete er den Blick auf die Registraturen und Schiedsrichter. Sie wandten die Köpfe ab. Die Gruppe aus Cos verließ die Bühne.

Ich fragte mich, wieviel Geld Centius genommen hatte, um das Kaissa und seine Heimatinsel auf solche Weise zu verraten. Er hätte das auch auf raffiniertere Weise tun können, in Form einer komplizierten angeblichen Fehlüberlegung zwischen dem vierzigsten und fünfzigsten Zug, ein so unmerkliches Vorgehen, daß selbst die Mitglieder der Spielerkaste nicht zu sagen wußten, ob er absichtlich gehandelt hatte oder nicht. Doch er hatte sich für ein anderes Vorgehen entschieden. Er hatte sich vorgenommen, seinen Verrat am Spiel und an Cos offensichtlich zu machen.

Scormus aus Ar stand auf und begab sich an den Tisch der Registratoren und Schiedsrichter. Ein zorniger Wortwechsel begann. Anschließend begab sich Scormus zu seinen Begleitern aus Ar. Einer von ihnen, ein Kapitän, suchte nun seinerseits die Schiedsrichter auf. Ich sah, wie Reginald aus Ti den Kopf schüttelte.

»Sie wollen den Sieg zugesprochen bekommen«, meinte der Mann neben mir.

»Ja«, sagte ich. Ich konnte es Scormus aus Ar nicht verdenken, daß er an dieser Farce nicht mehr teilnehmen wollte.

Centius aus Cos saß reglos am Brett und schien von dem Durcheinander keine Notiz zu nehmen. Sein Blick war auf das Spielfeld gerichtet. Er legte die Uhren auf die Seite, damit Scormus’ Zeit nicht weiterlief.

Ich erkannte, daß die Gruppe aus Ar mit ihrer Anrufung der Schiedsrichter nicht durchgekommen war.

Scormus kehrte an seinen Platz zurück.

Reginald aus Ti stellte die Uhren wieder auf. Scormus’ Hand bewegte sich.

»Speerträger schlägt Speerträger«, murmelte mein Sitznachbar. Centius aus Cos hatte nun bereits drei Speerträger verloren.

Jetzt mußte er mindestens den vorrückenden gelben Speerträger schlagen, der bereits tief in sein Gebiet vorgerückt war. Wenn er dazu nicht seinen Ubars Tharlarionreiter nahm, würde auch diese Figur verloren sein.

Centius aus Cos schob seine Ubara auf Ubars Schriftgelehrten vier. Wußte er nicht, daß sein Tharlarionreiter en prise stand?

War er ein Kind, das noch niemals Kaissa gespielt hatte? Wußte er nicht, wie die Figuren bewegt werden mußten?

Nein, die Erklärung war viel einfacher. Ein monumentaler Verrat war dort unten im Gange. Hatte der Mann den Verstand verloren? Wußte er nicht, wie die Goreaner auf so etwas reagierten?

»Tötet Centius aus Cos!« ertönte es. »Tötet ihn!«

Wächter eilten am Bühnenrand entlang und drängten mit Schilden einen Mann zurück, der sich mit gezogenem Messer auf den Spieler stürzen wollte. Centius aus Cos schien von alledem nichts zu merken. Zahlreiche Zuschauer waren aufgesprungen, doch er schien die zornigen Rufe, den Klang der Stimmen gar nicht wahrzunehmen. Fäuste wurden drohend geschüttelt.

»Ich fordere die Rücknahme aller Wetten!« rief ein Mann aus Cos. Vermutlich hatte er auf seinen Meister gesetzt. Doch interessanterweise gehörten Männer aus Ar zu den zornigsten in der Menge. Sie hatten wohl das Gefühl, um den Sieg betrogen zu werden, wenn er ihnen so mühelos serviert wurde.

Ich fragte mich, wer die Ehre Centius’ aus Cos gekauft hatte.

»Tötet Centius!« gellte der Ruf.

Ich nahm nicht an, daß meine hundert Tarns in Gefahr waren, denn kein Buchmacher hätte sich auf eine Annullierung eingelassen. Große Freude würde mir mein Gewinn aber auch nicht machen.

Zwei weitere Männer versuchten die Bühne zu ersteigen und wurden von Wächtern mit Speerschäften zurückgedrängt.

Scormus aus Ar machte einen Zug.

»Speerträger schlägt Tharlarionreiter«, sagte der Mann neben mir verbittert.

Centius aus Cos hatte vier Figuren verloren, ohne auch nur einen Gegenschlag zu landen oder seinerseits auf Beutefang zu gehen. Er lag vier Figuren zurück, drei Speerträger und einen Tharlarionreiter, Seine kleineren Figuren auf der Seite des Ubars waren beinahe völlig erobert Mir fiel jedoch auf, daß er bisher noch keinen wichtigen Stein verloren hatte. Und jetzt reagierte er auf den Verlust seines Tharlarionreiters, indem er mit seinem Ubars Wissenden zuschlug.

Ein zufriedenes Seufzen ging durch die Menge. Centius aus Cos hatte immerhin diesen grundsätzlichen Zug erkannt. Spöttische Bemerkungen wurden laut.

Dieser Zug stellte nun den Ubars Wissenden in Position. Mir fiel dabei zum erstenmal auf, daß der rote Ubars Schriftgelehrte entwickelt worden war – als Folge des früheren Vorrückens des roten Ubars Tarnkämpfer Speerkämpfer. Außerdem war die Ubara, wie erwähnt, auf Ubars Schriftgelehrten vier in Position gebracht worden. Nun erkannte ich auch, daß der Ubar ebenfalls in offener Linie stand. Rot hatte vier wichtige Steine kampfbereit gemacht.

Mit seinem sechsten Zug rückte Scormus seinen Ubars Speerträger auf Ubar vier. Ubar fünf kam nicht in Frage, denn dort hätten die rote Ubara und der Ubar zuschlagen können. Scormus hatte nun wieder einen Speerträger in der Mitte. Diesen Stein würde er unterstützen, die Mitte festigen und dann einen massiven Angriff auf die geschwächte Ubarseite des roten Spielers richten. Natürlich würde Scormus seinen Heimstein auf der Ubaraseite plazieren, vermutlich auf Hausbauer eins. Das würde die Zuträgersteine seines Ubars für den Angriff auf die rote Ubarseite freistellen.

Mit seinem sechsten Zug schob Centius aus Cos seinen Ubar auf Ubar vier. Für einen Angriff schien mir der Zug zu kurz zu sein. Allerdings brachte dies seinen Ubar auf die gleiche Höhe mit der Ubara, so daß sie sich gegenseitig verteidigen konnten. Trotzdem kam mir der Zug ein wenig zurückhaltend vor, ein wenig zu defensiv. Im Spiel gegen einen Mann wie Scormus aus Ar war es aber niemandem zu verdenken, wenn er seine Verteidigung vorsichtig formierte.

Mit dem siebenten Zug ließ Scormus seinen Ubars Tarnkämpfer Speerträger auf Ubars Tarnkämpfer fünf vorrücken. Dort war er durch den Speerträger auf Ubar vier geschützt und konnte bald zusammen mit den anderen Steinen den unausweichlichen Angriff entlang der Reihe des Ubars Tarnkämpfer beginnen.

Scormus aus Ar bereitete seine Attacke gründlich vor. Sie würde präzise und gnadenlos ablaufen.

Plötzlich fiel mir auf, daß Gelb seinen Heimstein noch nicht plaziert hatte. Dieser Absonderlichkeit erstaunte mich. Gelb hatte überhaupt noch keinen wichtigen Stein verschoben – keinen Wissenden, keinen Hausbauer, keinen Schriftgelehrten, keinen Tarnkämpfer, keinen Ubar und auch nicht den Ubar oder die Ubara. Keine gelbe Figur war bisher aus der Reihe des Heimsteins verschoben worden.

Mir wurde warm.

Angestrengt starrte ich auf die große Tafel, und meine Befürchtung bewahrheitete sich. Mit dem siebenten Zug schob Centius aus Cos seinen Tharlarionreiter auf Ubaras Hausbauer drei. Dies bereitete den Zug Hausbauer auf Hausbauer zwei vor und mit dem dritten Zug die Plazierung des Heimsteins auf Hausbauer eins.

Es wurde plötzlich still im Amphitheater, Das Publikum begann zu erkennen, was da unten vorging. Besorgte Blicke suchten die Anzeigetafel ab.

Wenn Scormus seinen Heimstein auf Ubars Hausbauer eins oder Ubaras Hausbauer eins plazieren wollte, brauchte er dazu drei Züge. Ebenso, wenn er die Positionen Ubars Wissender eins, Ubaras Schriftgelehrter eins, Ubaras Hausbauer eins oder Ubaras Wissender eins im Auge hatte. Natürlich konnte er den Heimstein in zwei Zügen unterbringen, wenn er ihn für Ubars Tarnkämpfer eins oder Ubars Schriftgelehrten eins, Ubar eins, Ubara eins oder Ubaras Tarnkämpfer eins vorgesehen hatte. Aber diese ihm offenstehenden Zweistufenplazierungen brachten den Heimstein zu sehr in die Mitte, wo er zu ungeschützt war. Es waren keine guten Plazierungen.

Centius aus Cos hatte zwar die roten Steine, doch machte er bereits Anstalten, seinen Heimstein zu plazieren.

Mit dem achten Zug nahm Scormus aus Ar zornig seinen Tharlarionreiter auf Hausbauer drei. Den Angriff mußte er vorübergehend aufschieben.

Mit seinem achten Zug ließ Centius aus Cos seinen Ubaras Hausbauer auf Hausbauer zwei vorrücken und machte Hausbauer eins damit frei für seinen Heimstein.

Mit seinem neunten Zug folgte Scormus aus Ar seinem Beispiel und nahm seinen Ubaras Hausbauer auf Hausbauer zwei, um Hausbauer eins für die Plazierung des Heimsteins mit dem zehnten Zug freizumachen,

Centius aus Cos legte seinen Heimstein auf seinen Ubaras Hausbauer eins. Er tat dies mit dem neunten Zug. Eigentlich hätte er dazu bis zum zehnten Zug Zeit gehabt; diesen zehnten Zug hatte er jetzt frei.

Scormus aus Ar, der trotz seines natürlichen Gelbvorteils einen Zug zurück lag, setzte seinen Heimstein auf Hausbauer eins.

Die beiden Heimsteine lagen sich gegenüber, jeder von mehreren schützenden Figuren umgeben, von Schriftgelehrten und Wissenden, von einem der mittleren Speerträger, einem flankierenden Speerträger, einem Hausbauer, einem Arzt und einem Tharlarionreiter.

Scormus konnte seinen Angriff jetzt fortsetzen.

»Nein!« schrie ich plötzlich auf. »Seht doch!« Ich sprang auf. Tränen stiegen mir in die Augen. »Seht doch!«

Der Mann neben mir sah es ebenfalls, dann ein dritter und vierter. Männer aus Cos fielen sich in die Arme. Selbst Bürger aus Ar schrien vor Freude auf.

Der rote Ubars Wissende beherrschte die Ubars Wissende-Diagonale des Ubars Wissenden; die rote Ubara beherrschte die Diagonale des Ubars Arzt; der rote Ubar gebot über die Diagonale des Ubars Hausbauer; der Ubars Schriftgelehrte kontrollierte die Diagonale des Ubars Schriftgelehrten. Rot beherrschte nicht nur eine, sondern vier benachbarte Diagonalen, unverstellte Diagonalen, die jeweils auf die Zitadelle des gelben Heimsteins gerichtet waren. Die rote Ubara bedrohte den Ubaras Schriftgelehrten Speerträger auf Ubaras Schriftgelehrten zwei; der Wissende bedrohte den Ubaras Hausbauer auf Hausbauer zwei, unmittelbar vor dem gelben Heimstein stehend; der Ubar bedrohte den Tharlarionreiter auf Hausbauer drei, der Schriftgelehrte hatte den flankierenden Ubaras Speerträger auf Ubaras Wissender drei im Visier. Nie zuvor hatte ich gesehen, daß eine solche Angriffsmacht auf so subtile Weise formiert wurde. Dieser Angriff wurde natürlich nicht auf der Seite des Ubars vorgetragen, sondern auf der Ubaraseite, wo Scormus seinen Heimstein plaziert hatte. Züge, die die Position des roten Spielers zu schwächen schienen, hatten in Wahrheit zu einem unglaublichen Vorsprung in der Entwicklung geführt; Züge, die den Zuschauern sinnlos und defensiv erscheinen mußten, waren in Wirklichkeit von äußerster Tücke gewesen. Die schüchterne Finte des roten Spielers mit Ubara und Ubar hatte die Falle vorbereitet, in die Scormus seinen Heimstein legen mußte.

Mit dem zehnten Zug schob Centius aus Cos seinen Tharlarionreiter, der auf Hausbauer drei gestanden hatte, auf Hausbauer vier. Dies machte den Weg frei für den Hausbauer-Stein, dessen Macht, zusammen mit der Kampfkraft des Ubars, auf den gelben Tharlarionreiter gerichtet wurde. Der Angriff hatte begonnen.

Ich werde darauf verzichten, die nachfolgenden Züge im Detail zu beschreiben. Es waren insgesamt elf.

Als Scormus mit seinem zweiundzwanzigsten Zug an der Reihe war, erhob er sich wortlos. Einen Augenblick lang blieb er neben dem Spielbrett stehen, dann legte er mit einem Finger vorsichtig seinen Ubar um. Dann legte er die Uhren um, was den Sandstrom stoppte, machte kehrt und verließ die Bühne.

Einen Augenblick lang herrschte Stille in der Menschenmenge, dann brach die Hölle aus. Männer sprangen sich gegenseitig an, Kissen und Mützen wirbelten durch die Luft. Das gewaltige Rund des Amphitheaters dröhnte vor Gebrüll. Ich konnte kaum noch meine eigene Stimme hören. Zwei Männer fielen hinter mir von ihrer Sitzreihe. In dem Bemühen, die Bühne zu sehen, kletterte ich auf die Verstrebung, wurde aber von links und rechts energisch angestoßen.

Einer der Männer aus der Gruppe, die mit Centius aus Cos angereist war, stand auf dem Spieltisch mitten auf der Bühne, den selben Heimstein in der Hand. Er hob ihn vor der Menge hoch. Gestalten schwärmten über die Bühne; die Wächter konnten dem Druck nicht mehr standhalten. Centius aus Cos wurde von zahlreichen Männern auf die Schultern gehoben. Er schwenkte die Arme, und seine weiten Robenärmel rutschten bis zu den Schultern hoch. Standarten und Wimpel aus Cos erschienen wie aus dem Nichts. Sicher setzte sich das Jubelgeschrei auch außerhalb des Amphitheaters fort, aber es war nicht zu hören. Später wurde berichtet, das ganze Sardargebirge habe vor Lärm gebebt.

»Cos! Cos! Cos!« hörte ich immer wieder, in einem Rhythmus wie mächtiger Trommelschlag, wie Brandungswellen, die sich dröhnend an einer Felsenküste brachen.

Ich mußte aufpassen, nicht von meinem Geländer gestoßen zu werden.

Aus der großen Tafel wurden Stücke herausgebrochen. Centius aus Cos hatte einen seiner Ärmel an die Menge verloren.

»Centius!« brüllten die Männer. »Centius!« Soldaten aus Cos hoben immer wieder ihre Speere, »Centius! Cos!« brüllend.

Der silbrige Haarschopf Centius’ wippte zerstrubbelt über der Menschenmenge. Er streckte dem Mann auf dem Spieltisch Hände entgegen; dieser drückte ihm den gelben Heimstein die Hand. Das Jubelgeschrei wurde noch lauter.

Reginald aus Ti versuchte die Massen zu beruhigen, sah aber schnell ein, daß das absolut sinnlos war. Die Wogen der Emotionen mußten sich von allein beruhigen.

Centius aus Cos hielt den gelben Heimstein in der Hand. sah sich auf der Bühne um, als suche er jemanden, doch ihn umgab lediglich die Menge, die dichtgedrängt hin und her wogte und ihre Erregung hinausschrie: »Cos! Centius! Cos!«

Ich hatte vierzehnhundert Gold-Tarn verloren. Dieser Verlust bekümmerte mich aber nicht im geringsten. Wer würde nicht ein Dutzend solcher Verluste auf sich nehmen, um ein solches Spiel zu sehen!

»Centius! Cos! Centius! Cos!«

Ich hatte mit eigenen Augen Centius aus Cos gegen Scormus aus Ar spielen und gewinnen sehen.

Der strahlende Sieger wurde auf Schultern von der Bühne getragen. Das Amphitheater begann sich schließlich zu leeren, aber nur langsam. Ich arbeitete mich zu einem Ausgang vor. Hinter mir ertönte aus Hunderten von Kehlen die Hymne von Cos. Ich war sehr zufrieden mit meinem Besuch am Sardargebirge,

An diesem Abend wurde über wenig anderes gesprochen als über das große Spiel.

»Es war ein unschönes, grausames Spiel«, sollte Centius aus Cos dazu gesagt haben.

Wie konnte er sich nur so über das Meisterstück äußern, das wir verfolgt hatten? Es gehört zu den genialen Höhepunkten in der Geschichte des Kaissa.

»Ich hatte gehofft, zusammen mit Scormus etwas zu schaffen, das der Schönheit des Kaissa würdig wäre. Statt dessen bin ich der Versuchung des Sieges erlegen.«

Aber man wußte ja, daß Centius aus Cos ein seltsamer Bursche war.

»Es war die Aufregung, der Druck, die Begeisterung der Zuschauer«, fuhr Centius aus Cos fort. »Ich war schwach. Ich hatte mir vorgenommen, dem Kaissa Ehre zu erweisen, doch ich habe das Spiel schon beim ersten Zug verraten. Ich erkannte plötzlich, was zu schaffen sein müßte. Ich erlag der Verlockung. Im Rückblick stimmt mich das traurig. Ich entschied mich nicht für das Kaissa, sondern für eine gnadenlose, brutale Eroberung. Ich bin traurig.«

Niemand sonst jedoch teilte diese Einwände, die der große Meister aus Cos vorbrachte. An diesem Abend wurde überall auf dem Jahrmarkt der Triumph Cos’ gefeiert.

Seine Reaktion auf Ubaras Speerträger auf Ubaras Speerträger fünf und die daraus folgenden Züge wurde bereits die Telnus-Verteidigung genannt, getauft nach Centius’ Geburtsort, der Hauptstadt der Insel Cos. In Dutzenden von Variationen wurde diese Aktion bereits gespielt und analysiert und notiert. Im Zelt der Cos-Anhänger fand ein rauschendes Fest statt, während auf der anderen Seite des Amphitheaters Stille herrschte. Im Lager Ars gab es keinen Grund zum Feiern. Scormus, so hieß es, befand sich gar nicht mehr in der Stadt. Niemand wußte, wo er sich aufhielt. Er hatte ein Kaissabrett, die Figuren und sogar sein Spielergewand zurückgelassen.

Ich wandte meine Gedanken von Centius aus Cos und Scormus aus Ar ab; ich mußte nach Port Kar zurückkehren.

Mich hielt nichts mehr auf diesem Jahrmarkt. Immer wieder sah ich Tarns aufsteigen; viele der Reitvögel waren mit Tarnkörben beschwert – darin Männer und Frauen, die in ihre Heimatstädte zurückkehrten. Mehr als eine Karawane wurde zur Abfahrt vorbereitet. Mein Tarn befand sich in einem Mietstall; es handelte sich um ein braunes Tier aus den Thentis-Bergen, die für ihre Tarnschwärme berühmt waren. Meine Habseligkeiten halte ich bereits während des Tages in den Satteltaschen verstaut. Das Abendessen hatte ich zu mir genommen; nichts hinderte mich daran, den Heimweg noch heute abend anzutreten.

Ich freute mich auf meine Rückkehr nach Port Kar. Es ist wunderschön, bei Nacht über die endlosen Felder zu fliegen, im Schein der drei Monde an einem sternenübersäten schwarzen Himmel. Auf einem solchen Flug ist man mit seinen Gedanken und den Monden und dem Wind allein.

Ich bog in die Straße der Teppichmacher ein.

Ich war mit dem Ausflug zu diesem Jahrmarkt nicht unzufrieden und nahm an, daß es meine Männer auch nicht sein würden.

Ich lächelte vor mich hin. In meinem Gürtelbeutel befanden sich Quittungen und Versandpapiere für fünf Sklavinnen – das Mädchen, das ich im Hotelzelt erworben hatte, dazu vier Sklavinnen, die ich nahe dem großen Zelt auf Plattformen erstanden hatte. Sie waren mir günstig zugefallen, weil ich mich unmittelbar nach dem großen Spiel umgetan hatte, zu einer Zeit, da das Geschäft der Sklavenhändler ausgesprochen schlecht war.

Ich bog in die Straße der Tuchweber ein. Die meisten Stände waren geschlossen.

Ich dachte an die Herde von Tancred, die nicht in den Norden zurückgekehrt war, ich dachte an den Berg, der sich nicht bewegte, den riesigen Eisberg, der aus irgendeinem Grund seine Position zu halten schien, inmitten des unruhigen, dahinströmenden Polarmeeres. Ich hoffte, daß die Nahrungsmittel, die Samos auf mein Geheiß nach Norden geschickt hatte, zur Rettung der rothäutigen Jäger beitragen konnten. Ich dachte außerdem an Tersites’ seltsames Schiff, dessen Form mich irgendwie interessierte. Und an die Botschaft auf dem Wickelband: »Grüße an Tarl Cabot. Ich erwarte dich am Ende der Welt. Zarendargar. Kriegsgeneral des Volkes.«

In diesem Augenblick hörte ich den Schrei. Er wurde von einem Mann ausgestoßen, ein Laut, wie ich ihn im Kampf oft genug gehört hatte. Eine Stahlklinge war in einen menschlichen Körper gedrungen. Ein zweiter Schrei ertönte. Der Angreifer hatte wieder zugestochen. Ich rannte los und zwängte mich zwischen einigen Verkaufsständen hindurch. Ich trat Schachteln und eine Zeltplane zur Seite und erreichte die benachbarte Zeltgasse. »Hilfe!« schrie jemand. Ich befand mich in der Gasse der Kunsthandwerker. »Nein!« hörte ich eine Stimme flehen. Andere Männer eilten wie ich auf den Ausgangspunkt der Schreie zu. Ich erblickte das geschlossene Verkaufszelt in dem die Auseinandersetzung stattfand. Ich riß das festgelaschte Tuch zur Seite, mit dem oberhalb des Verkaufstresens das Zelt verschlossen war. Drinnen beugte sich ein in weite schwarze Roben gekleideter Mann über einen am Boden liegenden Mann, den Inhaber der Bude. In der Hand des Angreifers funkelte ein Dolch. Die Bude wurde durch eine kleine, schwach brennende Tharlarionöllampe erleuchtet, die auf der Seite an einer Deckenstrebe hing. Der Helfer des Kaufmanns, der Schreiber, stand mit blutendem Gesicht und Arm in einer Ecke. Der Angreifer wirbelte zu mir herum. In der linken Hand hielt er einen in Fell eingewickelten Gegenstand, in der rechten den Dolch, mit der Spitze nach oben. Ich blieb stehen und duckte mich zum Sprung. Ein Bauchhieb von unten ist sehr schwer abzuwehren. Ich mußte Vorsicht walten lassen.

»Ich wußte gar nicht, daß du den Kriegern angehörst – du, der du dich Bertram aus Lydius nennst«, sagte ich lächelnd. »Oder bist du Mitglied der Attentäterkaste?«

Der verwundete Kaufmann versuchte von seinem Angreifer fortzurobben.

Der Dunkelgekleidete ließ den Blick hin und her wandern. Weitere Männer waren in Anmarsch. Mit Übeltätern seiner Sorte gehen Goreaner nicht gerade sanft um. Selten leben solche Männer lange genug, um noch auf den Mauern einer Stadt aufgespießt zu werden.

Der Angreifer ließ die Hand mit dem seltsamen Gegenstand – offenbar irgendein kunsthandwerklicher Gegenstand in einer Fell-Verpackung – nach oben zucken. Ich konnte eben noch den Kopf abwenden, ehe brennendes Öl aus der Lampe mich bespritzte. Die Lampe wurde von ihrer dünnen Kette gerissen und wirbelte an mir vorbei. Ich ließ mich in der plötzlichen Dunkelheit zur Seite rollen, doch der Mann griff nicht an. Ich hörte, wie sein Dolch die hintere Zeltplane durchtrennte. Er wollte anscheinend fliehen. Genau wußte ich das nicht, aber das Risiko mußte ich eingehen. Die Dunkelheit wurde mir Deckung bieten. Ich warf mich auf das Geräusch, am Boden dahinrollend, um das Messer zu unterlaufen, mit den Füßen voran, ein möglichst kleines Ziel bietend, die Füße herumreißend. Wenn ich ihn umwerten konnte, mochte es mir trotz der Dunkelheit gelingen, als erster wieder auf die Füße zu kommen, um ihm das Zwerchfell oder den Hals einzutreten oder ihm einen tödlichen Tritt in den Nacken zu versetzen.

Aber er hatte gar nicht fliehen wollen. Das Herumgeschneide am Zeltstoff war nur eine Täuschung gewesen – er reagierte ungemein kaltblütig.

Dafür hatte ich den Schutz der Dunkelheit. Er wartete seitlich und sprang auf mich herab, doch ich drehte und wand mich blitzschnell und erwies mich als schwer zu packen. Die Dolchklinge fuhr mir durch den Kragen meiner Robe; im nächsten Augenblick legten sich meine Finger um sein Handgelenk.

Wir rollten in der Schwärze auf dem Boden des Verkaufsstandes herum. Waren fielen von den Regalen und zerschellten. Ich hörte Männerstimmen von draußen. Die Plane an der Vorderseite der Bude wurde zur Seite gerissen.

Schwankend kamen wir auf die Füße. Er war stark, doch ich spürte, daß ich ihm im Kampf überlegen war.

Er gehörte bestimmt der Kaste der Attentäter an, denn der Trick mit der zerschnittenen Leinwand war nichts anderes als eine Variante der im Fliehen offengelassenen Tür, ein Lockmittel für den Unvorsichtigen, hindurchzustürzen und in das lauernde Messer zu rennen.

Er schrie auf vor Schmerz, und das Messer fiel zu Boden. Verschlungen, miteinander ringend, stolperten wir gegen die Rückseite des Zeltstandes und fielen durch den Schlitz nach draußen. Dort wartete ein Komplize meines Gegners, der mir blitzschnell eine Schlinge um den Hals warf. Ich schleuderte mein Opfer fort und fuhr herum, was zur Folge hatte, daß die tödliche Schnur sich in meinen Nacken grub. Ein dritter Mann hielt sich abseits. Ich ließ beide Hände hochfahren, und der Kopf des Schlingenwerfers ruckte zurück. Die Garrotte baumelte mir lose auf der Brust. Ich machte kehrt. Der erste Mann war geflohen, dichtauf gefolgt von einem der anderen. Ein Bauer bog um die Ecke des Zeltstandes, zwei weitere Männer blickten durch die zerrissene Zeltplane zu uns heraus; sie waren über den Tresen gestiegen. Ich ließ die Schlinge zu Boden fallen. »Nicht«, sagte ich zu dem Bauern. »Schon passiert«, antwortete er und wischte sich das Messer an der Tunika ab. Ich nahm an, daß ich dem Mann mit meinem Hieb das Genick gebrochen hatte, doch er hatte noch gelebt. Jetzt war ihm der Kopf halb abgetrennt, und Blut bedeckte die Sandalen des Bauern. Mit Leuten seines Schlages haben Goreaner wenig Geduld. »Und der andere?« fragte der Mann.

»Es waren noch zwei«, gab ich zurück. »Beide sind geflohen.« Ich schaute in die Dunkelheit zwischen den Zelten.

»Ruft einen Arzt!« rief eine Stimme aus dem Zelt.

»Er muß gleich da sein«, antwortete jemand.

Ich stieg geduckt durch den Riß in der Leinwand. Im Zelt standen zwei Männer mit Fackeln, ein dritter hielt den Kaufmann in den Armen.

Ich zog sein Gewand zur Seite. Er war schwer, aber nicht lebensgefährlich verletzt.

Dann wandte ich mich an den Schreiber. »Du hast deinen Herrn nicht gut verteidigt.«

»Ich hab’s versucht«, antwortete der Mann und deutete auf sein blutendes Gesicht, auf den Schnitt an seinem Arm. »Aber dann konnte ich mich nicht mehr bewegen. Ich hatte Angst.«

Vielleicht hatte er einen Schock erlitten.

Ich wandte mich wieder dem Besitzer des Verkaufsstandes zu. Es interessierte mich zu sehen, wie die Wunden angeordnet waren.

»Muß ich sterben?« fragte er.

»Der Mann, der dich angegriffen hat, war sehr ungeschickt. Du wirst es überleben.« Ich fügte hinzu: »Wenn die Blutung zum Stehen gebracht wird.«

»Bei den Priesterkönigen! Verbindet mich doch!« flehte der Mann.

Darum sollten sich andere kümmern. Ich richtete mich auf und blickte den Schreiber an. »Was hast du zu berichten?«

»Wir kamen ins Zelt und überraschten dabei einen Mann, der bestimmt etwas stehlen wollte. Er griff uns beide an und verwundete dabei meinen Herrn schwer.«

»Wofür interessierte er sich?« In einem solchen Andenkenladen gab es bestimmt keine wertvollen Waren, die einen Dieb anlocken konnten. Würde man seinen Hals riskieren für ein Holzspielzeug oder eine kleine Elfenbeinfigur?

»Dafür – und nur dafür«, sagte der Kaufmann und deutete auf den Gegenstand, den der Dieb umklammert und bei unserem Kampf verloren hatte. Das Ding lag in ein kleines Fell gewickelt auf dem Boden des Verkaufsstandes. Männer drückten Tücher auf die Wunden des Kaufmanns.

»Das Ding ist so gut wie wertlos«, sagte der Schreiber.

»Warum hat er es dann nicht gekauft?« fragte der Kaufmann. »Es ist nicht teuer.«

»Vielleicht wollte er nicht als Käufer identifiziert werden«, meinte ich, »denn hättest du dich an den Verkauf erinnert, hätte man ihn vielleicht aufspüren können.«

Einer der Männer reichte mir den Gegenstand.

Ein Arzt betrat das Zelt; er war in eine grüne Robe gekleidet und trug seine Instrumente und Medikamente in einem Beutel über der Schulter. Er begann sich um den Verwundeten zu kümmern.

»Du wirst es überleben«, beruhigte er den Liegenden.

Ich erinnerte mich an den Angreifer. Ich dachte daran, wie er die Klinge umgedreht hatte. Ich erinnerte mich an die Kaltblütigkeit, mit der er mich zu täuschen versuchte. Ohne das Fell zu öffnen, wußte ich, was ich da in der Hand hielt.

Als der Arzt die Wunden gereinigt, sterilisiert und verbunden hatte, entfernte er sich wieder, gefolgt von der Mehrzahl der Zuschauer. Der Schreiber hatte den Arzt aus einem kleinen Eisenkasten für seine Dienste bezahlt – eine Tarsk-Münze wechselte den Besitzer.

Ein Mann hatte die winzige Lampe gefüllt und wieder angezündet. Schließlich war ich mit dem verwundeten Händler und seinem Schreiber allein. Die beiden musterten mich.

»Die Falle ist nicht zugeschnappt«, sagte ich.

»Falle?« fragte der Schreiber.

»Du gehörst nicht der Kaste der Schriftgelehrten an«, sagte ich. »Schau dir doch mal deine Hände an!« Das Zischen der winzigen Flamme war in der nun eintretenden Stille deutlich zu hören.

Die Hände des Mannes waren größer als die eines Schreibers und narbig und aufgerauht. Die Finger waren kurz und wiesen keine Tintenflecke auf.

»Du machst Witze«, sagte der Mann in der Robe des Schreibers.

Ich deutete auf den Kaufmann. »Schau dir seine Wunden an«, sagte ich. »Der Mann, gegen den ich gekämpft habe, war ein Meister seines Fachs, ein geübter Kämpfer, entweder ein Angehöriger der Kriegerkaste oder der Attentäterkaste. Er hat genau das getan, was er wollte – der tödliche Angriff war nur vorgetäuscht.«

»Du hast selbst gesagt, er war ungeschickt«, sagte der Mann in der blauen Robe der Schriftgelehrten.

»Verzeih meinem Kollegen«, sagte der Händler. »Er ist dumm. Er hat nicht erkannt, daß deine Worte ironisch gemeint waren.«

»Du arbeitest für die Kurii«, behauptete ich.

»Nur für einen«, antwortete der andere.

Vorsichtig wickelte ich den Gegenstand aus, den ich in der Hand hielt. Es war eine Schnitzarbeit aus einem bläulichen Steinmaterial, ziemlich rund gestaltet und ungefähr zwei Pfund schwer. Der Stil erinnerte mich an die Kunstwerke der rothäutigen Jäger, die Darstellung eines Tierkopfs. Natürlich handelte es sich um den Kopf eines großgewachsenen Kur. Die Gestaltung war erschreckend realistisch, bis hin zu dem zottigen Haar, den hochgezogenen Lippen und den gebleckten Reißzähnen. Das linke Ohr des Unwesens schien halb abgerissen zu sein.

»Grüße von Zarendargar«, sagte der Händler.

»Er erwartet dich«, fuhr der blaugekleidete Mann fort, »am Ende der Welt.«

Natürlich! dachte ich. Die Kurii haben für Wasser nichts übrig. Für sie, die nicht auf Gor geboren waren, konnte das Ende der Welt nur an einem der Pole liegen.

»Er hat gleich gewußt, daß die Falle nicht klappen würde«, sagte der Händler. »Damit behielt er recht.«

»Das gleiche gilt für die erste Falle, die mit dem Sleen.«

»Damit hatte Zarendargar nichts zu tun«, sagte der Budenbesitzer.

»Er war damit nicht einverstanden«, meinte der andere.

»Er wollte nicht um die Begegnung mit dir betrogen werden«, fuhr der Händler fort. »Es freute ihn, daß der Anschlag mißlang.«

»Im Oberkommando der Kurii gibt es also Spannungen«, stellte ich fest.

»Ja.«

»Aber ihr – ihr arbeitet nur für Zarendargar?«

»Ja«, antwortete der Händler. »Das entspricht seinem Willen. Er braucht seine eigenen Leute.«

»Der Angreifer von vorhin und seine Gefährten?«

»Die Männer gehören zu einem anderen Kommando«, sagte der Händler, »zu einer Gruppierung, die auf den Schiffen wirkt. Auch Zarendargar ist diesem Kommando unterstellt.«

»Ich verstehe«, sagte ich und hob den Kur-Kopf hoch.

»Ihr habt dieses Kunstwerk von einem rothäutigen Jäger erworben, einem Mann mit nacktem Oberkörper und einem Bogen und einem Seil über der Schulter. Das stimmt doch?«

»Ja. Aber er hatte das Stück von einem anderen Mann. Er war aufgefordert worden, uns den Kopf zu bringen, zum Kauf anzubieten.«

»Ich verstehe«, sagte ich. »Wenn ich nicht in die Falle gegangen wäre, hätte ich vermutlich auch nichts gemerkt. Ihr hättet mir diese Schnitzerei geschenkt – aus Dankbarkeit dafür, daß ich den Angreifer vertrieben hätte. Ich hätte dann Vermutungen über die Bedeutung des Kopfes angestellt und wäre nach Norden geeilt, in der Annahme, Halb-Ohr dort überraschen zu können.«

»Ja.«

»Dabei hätte er mich erwartet.«

»Ja«, sagte der Händler.

»Einen Aspekt des Plans habt ihr allerdings alle noch nicht begriffen«, sagte ich.

»Und der wäre?« Der Händler biß die Zahne zusammen; seine Wunden schmerzten.

»Halb-Ohr hatte von vornherein kalkuliert, daß mir klar war, er würde mich erwarten.«

Der Händler blickte mich verwirrt an.

»Andernfalls hätte er Befehl gegeben, euch beide zu töten.«

Die Männer sahen sich erschrocken an. Der Unbekannte gegen den ich gekämpft hatte, der Mann, der sich Bertram aus Lydius nannte, wäre ohne weiteres in der Lage gewesen, die beiden Zeugen zu beseitigen.

»Das hätte meinen ›zufälligen‹ Fund der Figur wirklich echt aussehen lassen«, fuhr ich fort. »Daß der gefährliche Kämpfer euch nicht getötet hat, zeigt mir klar, daß ihr nicht sterben solltet. Und warum nicht? Weil ihr im Dienste der Kurii steht. Hier zeigt sich also nicht nur eine Falle, sondern auch ein Lockruf, eine Art Einladung an«, fuhr ich fort.

»Wirst du uns nicht töten?« fragte der Kaufmann.

Ich ergriff die Figur, die ich wieder in das Fell gewickelt hatte. »Die darf ich mitnehmen?« fragte ich.

»Sie ist für dich«, sagte der Händler.

»Wirst du uns nicht töten?« wollte der Blaugekleidete wissen.

»Nein – ihr seid nur Botenjungen. Und ihr habt gute Arbeit geleistet.« Ich warf ihnen zwei goldene Tarnscheiben hin und grinste sie an. »Außerdem ist Gewalt während des Jahrmarkts verboten.«

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