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»Eindrucksvoll, nicht wahr?« fragte sie.

Wir standen auf einer hohen Plattform und schauten an der Mauer aus Pfählen entlang. Sie erstreckte sich links und rechts bis zum Horizont.

»Sie ist über siebzig Pasangs lang«, sagte sie. »Zwei- bis dreihundert Mann haben zwei Jahre lang daran gebaut.«

Hinter der Mauer liefen viele tausend Tabuk durcheinander – denn die Mauer stand genau im Weg der Herde auf ihrem Wanderzug nach Norden. Weidend bewegten sich die Tiere viele Pasangs weit in den Süden.

Auf unserer Seite der Mauer befanden sich die Unterkünfte, mit dem Haus des Kommandeurs, den langen Häusern der Wächter und Jäger und den überdachten Holzgehegen der Arbeiter. Es gab einen Küchenschuppen, ein Lager, eine Schmiede und andere Hilfsbauten. Männer gingen ihrer Arbeit nach.

»Was befindet sich in den Lagerschuppen?« fragte ich.

»Tierhäute«, sagte sie. »Viele tausend, die noch nicht in den Süden geschickt worden sind. Das Abschlachten findet im wesentlichen an den Enden der Mauern statt, um zu verhindern, daß Tiere nach Norden durchkommen.«

»Eigentlich müßten viele entkommen«, meinte ich.

»Nein«, sagte sie. »Die Enden der Mauern sind gekrümmt, um die Tiere auf den falschen Weg zu bringen. Während sie dann noch im Kreis laufen, machen sich die Jäger über sie her. Wir töten am Tag mehrere hundert.«

»Könnt ihr denn so viele abhäuten?«

»Nein. Wir beschränken uns auf erstklassiges Material. Die meisten Tiere lassen wir für die Larts und Sleen und Jards liegen.«

Der Jard ist ein kleines Aastier, das in großen Schwärmen unterwegs ist. So ein Vogelschwarm kann ein Tabukskelett innerhalb weniger Minuten freilegen.

»Selbst die Jards sterben, so sehr überfressen sie sich«, sagte der bei uns stehende Mann auf der Plattform.

»Darf ich dir meinen Kollegen Sorgus vorstellen?« sagte meine hübsche Bewacherin.

»Der Fellräuber?«

»Ja.«

Der Mann sagte nichts; er blickte mich auch nicht an.

»Solche Helfer sind sehr nützlich für uns gewesen«, sagte sie. »Sie sind nicht mehr darauf angewiesen, ehrlichen Jägern die Felle abzujagen. Wir bieten ihnen Erträge, die sie in hundert Diebesjahren nicht hätten zusammentragen können.«

»Aber wie ich sehe, beschäftigt ihr auch Helfer von höherem Stande«, sagte ich und wandte mich an den anderen Mann auf der Plattform.

»So sehen wir uns wieder«, bemerkte er.

»In der Tat«, sagte ich. »Vielleicht gelingt es dir jetzt, mich mit deinem Dolch zu treffen.«

»Laß ihn frei«, sagte er zu meiner Bewacherin, »damit ich ihn im ehrlichen Kampf besiegen kann!«

»Der dumme Stolz der Männer ist lächerlich«, sagte sie. »Nein, ich gebe ihn nicht frei. Er ist mein Gefangener. Es steht dir nicht zu, ihn zu töten.«

»Es sieht so aus, als dürftest du noch einige Ahn länger leben«, sagte er zu mir.

»Vielleicht ist es dein Leben, das auf diese Weise verlängert wird«, gab ich zurück.

Er drehte mir den Rücken zu und blickte über das Geländer der Plattform, über die hohe Mauer auf die vielen tausend Tiere, die dort wie zahme Rinder grasten.

»Kannst du deine Mordtaten wirklich selbst begehen?« fragte ich. »Oder brauchst du wie in meinem Haus die Hilfe einer Sklavin?« Ich dachte an Vella, die ihm meine Jacke gegeben hatte, mit der er den Sleen auf meine Fährte setzen konnte.

Der Mann antwortete nicht, obwohl ich ihm ansah, daß er am liebsten zornig aufgebraust wäre.

»Du bist nicht Bertram aus Lydius«, fuhr ich fort. »Wer bist du?«

»Ich spreche nicht mit Sklaven!« sagte er.

Ich ballte die Fäuste.

»Sag ihm deinen Namen!« befahl meine Bewacherin dem Mann. Ich bemerkte seinen Blick und mußte unwillkürlich lächeln. Offensichtlich war er der Mann, dem sie, sobald ihr Werk getan war, als Sklavin versprochen worden war.

»Sag ihm deinen Namen!« wiederholte sie.

Aber er machte nur kehrt und stieg die Treppe hinab.

»Er heißt Drusus«, sagte sie. »Er gehört zur Kaste der Metallarbeiter.«

»Aber das stimmt nicht«, sagte ich. »Er ist Attentäter!«

»Nein.«

»Ich habe gesehen, wie er mit dem Messer umgehen kann. Außerdem hat er dir nicht gehorcht.«

Sie blickte mich zornig an.

»Deine Tage auf diesem Posten sind gezählt«, sagte ich.

»Ich befehle hier!« sagte sie scharf.

»Im Augenblick trifft das wohl zu«, sagte ich und blickte zur Herde hinaus.

Es waren Nord-Tabuk, kräftige braune Tiere, schnell und hochgewachsen, manche Wesen zehn Hand hoch, eine Spezies, die sich von dem kleinen gelbhaarigen, antilopenartigen Vierbeiner des Südens weitgehend unterschied. Andererseits besaßen auch diese Tiere das einzelne gewundene Horn auf der Stirn, das bei diesen Tieren am Ansatz zweieinhalb Zoll dick und gut einen Meter lang war. Ein angreifender Tabuk ist aufgrund seiner schnellen Reflexe ein sehr gefährliches Tier. Normalerweise werden diese Wesen aus sicherer Entfernung mit Pfeilen erlegt, meist aus der Deckung von Schilden.

Meine Gedanken verweilten bei Vella, der früheren Elizabeth Cardwell von der Erde. Anscheinend hatte sie Drusus nur unwissentlich in die Hände gespielt, als er sich damals Bertram aus Lydius nannte. Er hatte sie mit dem Sleen getäuscht. Ich schlug mir das Mädchen aus dem Kopf; sie war nur eine Sklavin.

»Es kann nicht einfach sein, die Pfähle einzuschlagen«, sagte ich. »Wegen des Permafrostbodens.«

»Wie schwierig das ist, wirst du erfahren.« Es ärgerte sie noch immer, daß ihre Autorität in meiner Gegenwart in Frage gestellt worden war.

In diesen Breitengraden taut der Boden nur etwa zwei Fuß tief auf. Darunter trifft man auf Permafrost, der nahezu steinhart ist. Spitzhacken und Hämmer treffen klirrend auf.

Auf eine Weise stellte die Mauer eine hervorragende technische Leistung dar. Daß diese Leistung von Menschen mit einfachen Werkzeugen erbracht worden war, sagte einiges über die Entschlossenheit der Kurii und den Druck, der von den Wächtern auf die Arbeiter ausgeübt werden konnte.

»Du wirst schon sehen, wer hier das Kommando führt!« sagte sie zornig und zerrte energisch an meiner Fessel. Ich begleitete sie die Treppe hinab.

»Wächter!« rief sie. Vier Mann eilten herbei.

»Bringt mir Drusus!« sagte sie. »Notfalls in Ketten!«

Sie eilten los. Kurze Zeit später kehrten sie mit Drusus zurück. Arrogant deutete sie auf den Boden vor sich. »Knie nieder!« befahl sie.

Er gehorchte zornig.

»Sag ihm deinen Namen!« ordnete sie an.

Wutschnaubend hob der Mann den Kopf. »Ich bin Drusus«, sagte er.

»Und jetzt kümmerst du dich wieder um deine Pflichten, Drusus!« sagte sie.

Er stand auf und ging. Diese Szene bewies mir, daß sie tatsächlich die Macht in diesem Lager hatte. Sie sah mich an und warf arrogant den Kopf in den Nacken. Sie war die Anführerin dieser Männer.

»Drusus hat mich auf dich aufmerksam gemacht und dich identifiziert«, sagte sie. »Ich verstehe.«

»Drei Gefangene sind gemacht worden«, meldete ein Mann.

»Bringt sie her!« befahl sie.

Den drei Gefangenen hatte man die Hände auf dem Rücken gefesselt. Einer war ein Mann, die beiden anderen Sklavinnen. Der Mann war der rothäutige Jäger, den ich auf dem Jahrmarkt mehrfach beobachtet hatte. Seinen Bogen und seine anderen Habseligkeiten war er los. Die beiden Mädchen hatte er auf dem Jahrmarkt erstanden, das blonde und das dunkelhaarige Mädchen, das vorher den zerrissenen roten Pullover getragen hatte. Die beiden trugen ein Stück Fell um die Füße und kurze Felltuniken gegen die Kälte. Das Haar hatten sie im Nacken mit roter Schnur zusammengebunden. Um den Hals trugen sie Lederschnüre, die in vier Enden ausliefen, an denen sich kompliziert aussehende Knotenfolgen befanden. Damit identifizierten die rothäutigen Jäger ihre Tiere. Aus den Knoten läßt sich auf den Eigentümer schließen.

»Kniet nieder!« sagte ein Wächter.

Die beiden Sklavinnen gehorchten sofort. Meine hübsche Bewacherin musterte sie verächtlich.

Der rothäutige Jäger war stehengeblieben. Vielleicht verstand er das Goreanische nicht gut. »Nein«, sagte er dann in dieser Sprache.

Speerschäfte trafen ihn an den Knien. Er hob zornig den Kopf. »Gebt unsere Tabuk frei!« rief er.

»Bringt ihn fort! Er soll an der Mauer arbeiten«, befahl die Anführerin.

Der Mann wurde fortgezerrt.

»Wen haben wir denn da?« fragte Sidney Anderson und wandte sich den beiden Mädchen zu.

»Polarsklavinnen, Vieh der rothäutigen Jäger«, sagte ein Mann.

»Ihr seht mir wie Mädchen von der Erde aus«, sagte meine Bewacherin auf englisch.

»Ja! Ja!« rief das blonde Mädchen. »Ja!«

Anscheinend war Sidney Anderson auf Gor die erste Person, die die Mädchen in ihrer Muttersprache ansprach.

»Wer seid ihr?« fragte Sidney Anderson.

»Sklavinnen, Herrin«, sagte das blonde Mädchen.

»Und wie heißt ihr?«

»Barbara Benson«, antwortete das blonde Mädchen. »Audrey Brewster«, sagte die Dunkelhaarige.

»Ich kann mir kaum vorstellen, daß der Indianer euch diese Namen gegeben hat.«

Den rothäutigen Jäger hatte ich mir noch nicht als Indianer vorgestellt, aber im Grunde mochte der Begriff stimmen, wenn man rassische Vergleiche zu Entwicklungen auf der Erde ziehen wollte. Die Frage der Rasse ist auf Gor im Grunde kein Thema. Viel wichtiger sind den Goreanern Sprache und Stadt und Kaste, die eine ausreichende Grundlage bilden für jene Abstufungen, ohne die die Menschen anscheinend nicht auskommen.

Das blonde Mädchen blickte zu Sidney Anderson auf. »Ich bin Fingerhut«, sagte sie.

»Und ich Distel«, sagte das andere Mädchen.

»Schämt ihr euch nicht, Sklavinnen zu sein?« fragte Sidney Anderson.

»Ja, ja!« sagte das blonde Mädchen verzweifelt. »Willst du uns nicht befreien?«

Sidney Anderson musterte die beiden verächtlich. »Manche Frauen verdienen es nicht besser. Bringt sie fort!«

»Herrin!« protestierte das blonde Mädchen.

»Sollen sie getötet werden?« fragte ein Wächter.

»Wascht und kämmt sie und kettet sie im Schlafhaus für die Wächter an. Sie dürfen sich ihrer bedienen.«

Die beiden wurden fortgeschafft.

»Sicher habt ihr noch andere Mädchen für die Männer.«

»Das sind die einzigen«, antwortete sie. »Ich habe angeordnet, daß es im Lager keine Huren geben darf.«

»Bei meiner Gefangennahme wurde auch eine blonde Sklavin namens Constance festgenommen. Ich dachte, daß sie sich dort befindet.«

»Nein«, sagte meine hübsche Bewacherin.

»Wohin ist sie denn gebracht worden?«

»Ich weiß es nicht.«

Sie griff nach dem Lederzügel, der sich um meinen Hals zog und knöpfte ihn auf. Dann legte sie die Schlinge zusammen und befestigte sie wieder an ihrem Gürtel.

»Die Sonne schimmert hübsch in deinem kastanienbraunen Haar«, sagte ich.

»Ach?«

»Ja«, sagte ich. »Wußtest du, daß Mädchen mit kastanienbraunem Haar bei der Sklavenauktion oft höhere Preise bringen?«

»Nein«, antwortete sie. Dann winkte sie einige Wächter herbei, die sich im Hintergrund gehalten hatten. »Schnallt ihn auf das Gestell und peitscht ihn gründlich mit der Schlange aus! Ich will Blut sehen. Dann wird er im Gehege angekettet! Und morgen soll er an der Mauer arbeiten!«

»Die rothäutigen Jäger sind auf den Tabuk angewiesen«, sagte ich. »Ohne die Herde müssen sie verhungern.«

»Das interessiert mich doch nicht.«

Die Männer packten mich an den Oberarmen.

»Ach«, sagte sie, »du weißt vielleicht von einem Schiff mit Vorräten, das in den Norden wollte.«

»Ja.«

»Das ist versenkt worden. Morgen wirst du bestimmt die Bekanntschaft der Besatzung machen. Die Männer sind ebenfalls an der Mauer eingesetzt.«

»Wie habt ihr das Schiff aufbringen können?«

»Wir haben hier fünf Tarnkämpfer, die im Moment Patrouille fliegen. Die setzten das Schiff aus der Luft in Brand. Die Besatzung sprang über Bord und wurde später aufgefischt. Das Schiff brannte bis zur Wasserlinie nieder, lief auf Felsen auf und wurde dann von den Gezeiten leckgeschlagen. In seinen Laderäumen tummeln sich jetzt die Haie. Ja, wir sind gründlich.«

Ich sah sie an. »Die rothäutigen Jäger werden verhungern«, sagte ich.

»Was scheren mich diese primitiven Rothäute?«

»Warum haltet ihr die Tabuks zurück? Was ist damit zu gewinnen?«

»Das weiß ich nicht«, sagte sie. »Ich führe hier nur meine Befehle aus.«

Die beiden Männer zerrten mich zur Seite und führten mich fort. Ich glaubte zu wissen, warum die Herde aufgehalten worden war. Ihre Rolle in den Plänen der Kurii schien mir klar zu sein. Es verwirrte mich nur, daß das Mädchen die Bedeutung nicht erkannte.

Anscheinend wußte sie nicht mehr, als es wissen mußte. Sie schien kein sonderliches Lichtlein zu sein. Der Sklavenkragen würde ihr besser stehen als die Rolle, die sie sich hier anmaßte.

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