Kamoses erste Arbeit bestand darin, das Büro des Alten auszufegen und selbst kleinste Staubspuren daraus zu entfernen. Der junge Mann musste seine Aufgabe völlig geräuschlos erledigen und durfte den Alten dabei keinesfalls stören.
Es war eine harte Prüfung. Sie lehrte Kamose, wie wichtig peinliche Sorgfalt ist, und zwang ihn, die Wutanfälle, die ihn zu überkommen drohten, im Keim zu ersticken.
Nach einer Woche dieses Frondienstes rief der Alte den jungen Mann zu sich.
»Du hast bereits Hieroglyphen in Stein gemeißelt. Welche waren das?«
»Eine Biene und ein Schilfrohr.«
»Kennst du deren Bedeutung?«
»Nein.«
»Das Schilfrohr ist das Symbol des Pharao als König von Oberägypten. Diese Hieroglyphe spielt mit der Wurzel, die ›er‹ bedeutet. Der König ist kein ›ich‹, kein Individuum, das nur nach seinem Vergnügen regiert. Er ist derjenige, in dem das gesamte Volk vereint ist, um mit den Göttern in Verbindung zu treten.«
»Und… die Biene?«
»Die Biene ist das Symbol des Pharao als König von Unterägypten«, erklärte der Alte. »Die Biene ist der Geometer, der dank seiner Kenntnisse über die Proportionen die Stätte errichtet, an der der Honig gemacht wird, das flüssige Gold, die königliche Nahrung. Der Pharao ist der Baumeister des Königreichs, das er mit seinen Wohltaten nähren muss.«
Vor Kamose öffnete sich eine bisher ungeahnte, unermessliche Welt.
»Besteht in diesen Kenntnissen die Wissenschaft der Schreiber?«
»Die meisten von ihnen sind nur Beamte ohne innere Überzeugung«, erwiderte der Alte. »Sie sind mit Verwaltungsaufgaben betraut, die ihr Leben ausfüllen. Was ich dich lehre, ist das Geheimnis der Hieroglyphen. Es reicht nicht aus, lesen und schreiben zu können. Man muss die Bedeutung der Worte verstehen, die uns die Götter offenbart haben. Unsere Sprache ist heilig. Sie ähnelt keiner anderen. Wer sie zu handhaben weiß, hat Macht über die Lebewesen und Dinge. Aber diese Macht darf er nicht missbrauchen. Sonst löst er den Zorn des Thot aus, des Gottes der Schrift.«
»Birgt jede Hieroglyphe ein Geheimnis?«
»Jede Hieroglyphe ist ein Symbol, das du mit dem Herzen verstehen lernen musst. Durch das Lesen kann sie zu einem Klang werden. Durch das Schreiben bildet sie deine Hand und macht sie klug.«
»Wenn ich es schaffe, Euch zufrieden zu stellen, werde ich dann in den geschlossenen Tempel eintreten?«
»Mich zufrieden zu stellen hat keinerlei Bedeutung«, erklärte der Alte ungehalten. »Beginne damit, das Alphabet zu lernen und es von rechts nach links, von links nach rechts und von oben nach unten zu schreiben.«
Kamose erhielt von dem Alten etwa hundert kleine Kalksplitter, auf denen er übte.
Die ersten Versuche waren katastrophal, doch der junge Mann machte verbissen weiter. Die Eule hatte zu lange Füße, der Falke einen zu stark gespaltenen Schnabel, das Wachtelküken einen zu schmalen Kopf. Der Alte überließ ihn einen ganzen Tag seinen Fehlern. Dann verbesserte er hier und da einen Strich, ohne den geringsten Kommentar abzugeben.
Kamoses Geist begriff allmählich, seine Hand mühte sich. Dann begann sie, alleine zu arbeiten. Sie wurde verständig. Nicht über den Verstand, über das Herz hatte sie begreifen gelernt.
Als Kamose dem Alten ein tadellos gezeichnetes Alphabet zeigte, strahlte er mit berechtigtem Stolz.
»Du weiß noch nichts«, bemerkte der Alte, »und lernst eher langsam. Wenn du weiterhin nichts tust, kehrst du wieder aufs Land zurück. Hier ist eine Liste mit Hieroglyphen, die du zeichnen und auswendig lernen sollst. Stell dir beim Zeichnen Fragen zu ihrer Bedeutung. Es gibt keinen anderen Weg, als sie über das Herz zu lernen.«
Gekränkt und wütend sank Kamose in der Ecke des Büros in sich zusammen, wo er über eine einfache Matte zum Schlafen verfügte. Er ging nur zwei Stunden am Tag hinaus, um sich ein wenig Bewegung zu verschaffen und sich kärglich von Brot, Obst und Wasser zu ernähren.
Die Aufgabe, die ihm der Alte aufzwang, war fast übermenschlich. Sie erforderte beträchtliche Konzentrations- und Gedächtnisanstrengungen.
Als er einen Krampf in der Hand bekam, wurde Kamose bewusst, dass er keine Zeit mehr hatte, an Nofret oder seine Eltern zu denken. Und doch blieben seine Gefühle bestehen. Weder seine Liebe noch sein Kummer hatten an Stärke verloren.
Plötzlich aber durchzog ihn ein schrecklicher Zweifel.
Wenn dieser ganze Aufwand an Energie nutzlos wäre? Führte der Weg, den er eingeschlagen hatte, nicht in eine Sackgasse? Der Alte hatte ihm nichts versprochen. Vielleicht würde es ihm nie gelingen, in den geschlossenen Tempel vorzudringen. War er nicht zum Sklaven eines Tyrannen geworden, der aus ihm einen blind ergebenen Sekretär machen würde, der sein Leben lang nur Texte abschreibt, von denen er nicht das Geringste versteht?
»Anstatt dich von stumpfsinnigen Gedanken ablenken zu lassen, tätest du besser daran, weiterzulernen«, unterbrach der Alte sein Grübeln. »Ich habe den Eindruck, du hast vergessen, deine Gefühle außen vor zu lassen.«
»Das ist nicht möglich… Irgendwann kommen sie wieder. Was Ihr verlangt, ist unmenschlich!«
»Die Hieroglyphen sind die Sprache der Götter, nicht der Menschen. Sonst gäbe es Ägypten schon lange nicht mehr. Unsere Kultur existiert nur durch ihre heilige Sprache, Kamose. Alles ist Hieroglyphe, alles ist lebendes Symbol, vom Tempel als Ganzem bis zum Insekt. Wenn du eine Heuschrecke zeichnest, stellst du die Seele des Pharao dar, die zum Himmel springt und die Entfernung zwischen Erde und Paradies aufhebt.«
Die Worte des Alten waren einleuchtend. Aber sie vertrieben weder die Liebe noch den Kummer.
»Was hast du auf diesen Kalksplitter gezeichnet?«
»Eine Vase«, antwortete Kamose.
»Du wirst sie häufig in den Texten der Weisen finden. Was glaubst du, warum? Handelt es sich wirklich nur um eine Vase?«
Kamose zögerte.
»Es ist ein Behältnis…«
»Es ist sogar das wichtigste Behältnis«, fügte der Alte hinzu. »Es handelt sich um das Herz, Kamose, um deine Fähigkeit, das Wesentliche und das Wahre zu empfinden. Die Beschaffenheit deines Herzens hängt davon ab, was du in die Vase hineinlässt, die es symbolisiert. Ist es eine bittere Flüssigkeit, so bist du neidisch und habgierig. Ist es der Honig der Biene, so gehörst du zur Rasse der Könige.«
»Der Könige? Aber es gibt doch nur einen Pharao… Und man muss seiner Familie angehören, um ihm nachzufolgen.«
»Wenn unsere Pharaonen aufgrund ihrer Familienzugehörigkeit erwählt worden wären, wäre unsere Kultur schon lange untergegangen. Sieh dir die Schreiber an, die ihr Amt von ihrem Vater ererbt haben! Die meisten sind unfähig. Es stimmt, es gibt nur einen Pharao, aber er ist das Vorbild des Königtums für die, die ihr Leben bewusst leben wollen.«
Kamose empfand eine neue Art Ergriffenheit. Eine bisher unbekannte Klarheit durchdrang ihn.
»Was du ersehnst, ist sehr schwer zu erlangen, mein Junge. Die Zeit ist gekommen, mir zu vertrauen. Warum wünschst du, so schnell in den geschlossenen Tempel zu gelangen?«
Kamose wollte nicht länger schweigen.
»Meine Eltern sind Opfer eines Unrechts geworden. Ein Soldat, der aus Asien zurückgekommen ist, hat uns mit Billigung des Pharao Haus und Besitz gestohlen. Ich bin überzeugt, dass es sich um einen Irrtum des Katasters handelt. Ich möchte Zugang zum Katasteramt erlangen, um das zu beweisen und meinen Eltern zurückzugeben, was ihnen gehört.«
Der Alte kratzte sich am Kinn. Er war unschlüssig.
»Du bist ganz entschieden ein besonderer Fall«, räumte er ein. »Das Kataster ist ein strenges Amt, dem erprobte, höchst gewissenhafte Fachleute angehören. Streitfälle sind selten. Gewöhnlich handelt es sich um unehrliche Bauern, die nach dem Hochwasser Grenzsteine versetzen. Die Wahrheit kommt dann schnell ans Licht. Ich weiß, dass Ramses der Große alte Soldaten, die ihm in Asien treu gedient haben, mit Privilegien ausstattet, aber er bringt nicht die Kleinbauern um ihren Besitz.«
»Was ratet Ihr mir?«
»Geduld und Arbeit. Die Gerechtigkeit setzt sich immer durch.«
»In dieser Zeit leiden meine Eltern. Sie können nur auf mich zählen, um ihrer Sache zum Sieg zu verhelfen. Ich kann nicht mehr… Ich fühle mich schuldig.«
»So kommst du nicht an dein Ziel. Absolviere deine Prüfungen und beantrage, in das Katasteramt aufgenommen zu werden.«
Der junge Mann fuhr auf.
»Ist das möglich?«
»Der Unterricht, den ich erteile, ist der anspruchsvollste von allen. Aber er ermöglicht dir, in einem Jahr zu lernen, was sich gewöhnliche Schüler mühsam in fünf Jahren erarbeiten. In weniger als zwei Monaten werde ich dich zu der ersten Prüfung schicken, die den Kandidaten auferlegt wird. Die anderen werden dich beneiden. Das ist deine einzige Chance.«
»Und danach?«
»Danach wird es weitere Prüfungen geben.«
»Wie viele?«
»Mehr als zehn, bevor du dich um eine Stelle als Fachmann im Katasteramt im geschlossenen Tempel bewerben kannst.«
»Wie viele Jahre muss ich lernen?«
»Das wird von dir abhängen. Außerdem musst du noch Astronomie, Geografie und Vermessungskunde lernen. Bist du dafür begabt? Ich weiß es nicht.«
»Und wenn ich es bin?«
»Wenn du hart arbeitest, brauchst du mindestens drei Jahre.«
Enttäuscht biss sich Kamose auf die Lippen. Die Verzweiflung drohte ihn zu überwältigen. Mindestens drei Jahre… vielleicht fünf, vielleicht zehn, vielleicht scheitern.
Der Alte ließ seinen Schüler allein und kehrte an seine Arbeit zurück. Er schrieb an einem Abschnitt aus dem Totenbuch, der sich mit dem Wiegen der Seele beschäftigt. Die Seele des Gerechten wird unsterblich, die des Ungerechten wird von dem Ungeheuer verschlungen, das Zeit und Materie verkörpert.
Der Alte war sich sicher, dass Kamose ihm nicht alles gesagt hatte. Die Liebe zu seinen Eltern war offensichtlich. Aber er hegte nicht nur diese Liebe allein…
Der Alte hätte eine Verwaltungsuntersuchung im Katasteramt veranlassen können. Aber die Sache schien ihm merkwürdig, fast fragwürdig. Und außerdem würde Kamose nur glauben, was seine Augen sehen würden. Folglich würde man anders vorgehen müssen.
Der Alte sah voraus, dass sich dramatische Ereignisse ankündigten.