Nofret und Kamose brachen auf, als die ersten Sonnenstrahlen den Garten der Villa in rotes Licht tauchten. Sie verließen das Anwesen durch eine Pforte, deren Wache eingeschlafen war, und wandten sich Richtung Wüste.
Dort befand sich ein großes Jagdareal, wohin Rensi seine Tochter gerne mitnahm, wenn er auf die Antilopen- und Gazellenjagd ging.
Die beiden jungen Leute liefen bis zu einem Palmenhain, in dessen Mitte ein Brunnen gegraben worden war. Selbst zu Zeiten großer Hitze war es an diesem Ort herrlich kühl.
Nofret kam oft hierher, um fern vom Treiben der Villa, die von ihren Verehrern belagert wurde, zu lesen und zu lernen. Es war angenehm, sich im Schatten der großen Palmen aufzuhalten.
Sie saßen nebeneinander und betrachteten die Wüste, die Felder, den Nil. Sie hatten das Glück, im schönsten Land der Erde zu leben. Sie hatten das Glück, sich begegnet zu sein.
Ein Wanderfalke stieg zum Licht empor.
Nofret wandte sich zu dem jungen Mann.
»Ich liebe dich auch, Kamose.«
Das Fest war ein voller Erfolg gewesen. Bevor die Gäste die prachtvolle Villa verließen und an das östliche Ufer zurückkehrten, hatten sie alle Richter Rensi zu dem beeindruckenden Empfang und der unvergleichlichen Schönheit seiner Tochter gratuliert.
»Die Heuchler!«, dachte Rensi. »Nicht einer hat es gewagt, etwas zu der unerwarteten Anwesenheit des jungen Schreibers zu sagen. Bestimmt glauben sie, er sei eine bedeutende Persönlichkeit, der nichts Originelleres eingefallen ist.«
Obwohl er nicht geschlafen hatte, hatte der Richter sich an die Arbeit gemacht. Er musste komplizierte Fälle behandeln und umfangreiche Angelegenheiten untersuchen. Schon seit Jahren gönnte er sich keinen Ruhetag mehr. Gleich am Nachmittag würde er sich ins Gericht begeben, um dort eine Versammlung von Richtern zu leiten.
Kurz vor Mittag empfing er Nofret und ihren Gast.
»Wir sind zum Schlafen in den Palmenhain gegangen«, erklärte sie.
»Ich habe euch aufbrechen sehen«, sagte Rensi. »Ich hielt es für richtig, euch gewähren zu lassen, obwohl ich nicht mein Einverständnis gegeben hatte.«
Nofret küsste ihren Vater.
»Warum so streng, mein Vater? Wünschst du nicht mein Glück?«
Rensi wollte mit seiner Tochter nicht diskutieren. Er kannte ihre gefürchtete Intelligenz nur zu gut.
»Wir sprechen später noch mal darüber, ich habe nur wenig Zeit für den jungen Mann. Wer ist er und was wünscht er?«
»Ich bin der Sohn von Geru und Nedjemet. Das Kataster hat einen Fehler begangen, als es deren Grund und Boden einem Soldaten namens Setek zuteilte. Ich fordere Entschädigung.«
»Du bist recht jung, um zu fordern«, urteilte Rensi, »und es handelt sich um wahrlich schwere Anschuldigungen. Du bist von jugendlichem Ungestüm. Aber ein künftiger Schreiber sollte lernen, seine Worte besser abzuwägen.«
Kamose schätzte die Zurechtweisung nicht, es gelang ihm aber, sich zu beherrschen.
»Kamose spricht mit großer Heftigkeit«, unterbrach Nofret, »aber du musst ihn verstehen, mein Vater. Kann man ihm vorwerfen, dass er seine Eltern liebt? Kann man ihm vorwerfen, dass er ihnen ein Glück zurückgeben will, das ihnen genommen wurde?«
»Fällen wir kein vorschnelles Urteil«, forderte Rensi. »Im Kataster arbeiten gewissenhafte Männer. Sie kennen die Bedeutung ihrer Aufgabe. Noch nie habe ich eine Klage wegen eines solchen Irrtums erhalten.«
»Und doch ist es so«, erklärte Kamose, der sich bemühte, nicht ganz so leidenschaftlich zu sein. »Meine Eltern haben das Recht erhalten, durch hartnäckige Arbeit ihren Grund zu erwerben. Sie genießen das Ansehen des ganzen Dorfes. Ihr Gut ist heute das fruchtbarste und das am besten bestellte von allen. Warum hat Setek, selbst wenn er ein Held ist, das Recht, sich mit Gewalt anzueignen, was ihm nicht gehört?«
Richter Rensi schien verwirrt.
»Der Fall ist seltsam… Ein Stück Land wird nur mit Zustimmung des Pharao, der seine Befehle an das Katasteramt leitet, zu Privatbesitz. Wurden deine Eltern wegen etwas verurteilt?«
»Aber niemals«, entgegnete Kamose, empört über eine solche Unterstellung. »Sie sind die rechtschaffensten Menschen, die ich kenne.«
»Ich hoffe, ich muss dich nicht enttäuschen«, entgegnete der Richter.
»Was hast du vor?«, fragte Nofret ängstlich.
»Ich will den wichtigsten Mann des Katasters befragen«, antwortete Richter Rensi. »Die betreffende Person ist nicht sehr zugänglich und verlässt den geschlossenen Tempel nur sehr ungern. Ich werde meine ganze Autorität einsetzen müssen.«
»Werden Abschriften der Archive nicht in einem Ministerium aufbewahrt?«
»Ich will die Originale sehen«, erklärte der Richter. »Das ist die einzige Möglichkeit, Gewissheit zu erlangen.«
»Wann kannst du handeln?«
»Ich brauche mindestens drei Tage. Ich habe andere laufende Geschäfte, darunter einige dringende. Ihr werdet hier auf mich warten. Ich dulde keinerlei Initiative von eurer Seite.«
Nofret verbarg ihre Freude. So gute Nachrichten hatte sie nicht erhofft.
Nofret und Kamose verbrachten die meiste Zeit im Palmenhain und gingen nur in die Villa, um dort ihre Mahlzeiten einzunehmen. Kamose war überzeugt, Recht zu erhalten, und erging sich in Lobreden auf die Rechtschaffenheit des Richters. Er sah seine Fehler ein und bedauerte seine Kritik gegenüber den hohen Würdenträgern. Von einer schweren Last befreit, konnte er seiner Liebe freien Lauf lassen.
Nofret erwiderte Kamoses Leidenschaft mit der gleichen Intensität wie er. Er war ihre erste Liebe und würde ihre letzte sein. Sie war davon überzeugt, dass sie nie einen anderen Mann lieben würde, wie Kamose überzeugt davon war, nie eine andere Frau zu lieben.
Und so schenkten sie sich ihre Körper und ihre Seelen.
»Ich möchte dein Mann sein«, erklärte er.
»Ich möchte deine Frau sein«, erwiderte sie.
Auf die Begeisterung folgte Sorge. Nofret war sich im Klaren darüber, dass es schwierig werden würde, ihren Vater davon zu überzeugen, einen Schwiegersohn zu akzeptieren, der nicht aus einer adligen Familie stammte. Kamose wusste, dass er ein Haus bauen müsste, um seine Frau aufnehmen zu können. Sobald er sie in seine Arme schließen würde und sie vereint die Schwelle ihres Hauses überschreiten würden, würde man sie als Mann und Frau ansehen – ohne irgendeine andere Zeremonie.
Beide beschlossen, die Zukunft erst einmal zu vergessen und sich an der Gegenwart zu berauschen. Sie hatten so viel gemeinsam zu entdecken: Nofret erteilte Kamose seinen ersten Reitunterricht. Sie schwammen gemeinsam in den Wasserbecken, und er half ihr, ihre Technik zu vervollkommnen. Sie stiegen auf einen Wagen, fuhren kilometerweit in die Wüste und genossen ihre Einsamkeit. Sie lasen gemeinsam Liebesgedichte und erkannten sich in den Beschreibungen der Dichter wieder, die von Liebenden erzählten, die sich in einem irdischen Paradies bewegten, in dem allein die Stärke ihrer Gefühle zählte.
Trunken vor Glück versuchten sie, in einem fischreichen Kanal zu angeln, hatten kein Glück und lachten schallend über ihr Ungeschick. Die Fische kümmerten sie nicht viel. Alles war Vorwand, sich zu umschlingen und zu küssen. Aber beide bewahrten dabei eine erstaunliche Klarsicht. Ihr Wesen hatte sich durch die Erkenntnis ihrer gegenseitigen Leidenschaft grundlegend verändert. Nofret und Kamose spielten nicht, sich zu lieben. Sie liebten sich.
Als die Sonne unterging, legten sich die beiden jungen Leute ans Ufer. Aneinander geschmiegt, ließen sie die letzten Strahlen des Tages in ihre Augen dringen. Sie nahmen die friedliche Stimmung auf wie Nahrung, wie eine Gabe des Himmels, die sie wie ein kostbares Gut bewahren mussten. Als sie gerade innig verbunden dalagen, kam der Verwalter sie holen.
Richter Rensi war zurückgekehrt.
»Ich werde mit ihm sprechen«, erklärte Kamose.
»Nein. Das ist meine Aufgabe. Ich werde ihn überzeugen können. Mein Vater will mein Glück. Er wird unser Glück wollen.«
»Und wenn er dagegen ist?«
Nofret antwortete nicht. Sie weigerte sich, die Möglichkeit des Scheiterns ins Auge zu fassen. Zwischen ihr und ihrem Vater hatte immer vollkommenes Einverständnis geherrscht. Er spürte ihre tiefsten Wünsche, erlaubte ihr, sie zu äußern und ihr Leben danach zu führen. Warum sollte es heute anders sein?
Richter Rensi studierte Verwaltungsdokumente, als Nofret und Kamose in sein Büro traten.
»Einen Augenblick«, forderte er abweisend. »Ich beende noch die Prüfung dieses Berichts.«
Die beiden jungen Leute sahen sich an. In ihren Blicken leuchtete dieselbe Flamme. Sie hatten die Stärke der Liebe auf ihrer Seite, die über alle Hindernisse siegen würde.
»Ich habe in meinem Büro in Theben den leitenden Priester des Katasteramtes getroffen«, begann Richter Rensi. »Es war ein heikles Unterfangen. Ich habe ihm den Fall erklärt, der zu meinem Vorgehen führte. Er schien mir höchst unzufrieden, aber angesichts meiner Stellung hat er eingewilligt, mich in den geschlossenen Tempel zu führen und mich das Kataster einsehen zu lassen.«
Nofret legte ihre rechte Hand auf Kamoses Arm. Der junge Mann zitterte vor Ungeduld.
»Es ist jetzt alles klar«, fuhr Richter Rensi fort. »Das Land, auf dem Geru und Nedjemet gearbeitet haben, hat ihnen nie gehört. Es handelte sich um eine einfache Verpachtung. Tatsächlich ist das Land durch ein königliches Dekret zum Besitz des Helden Setek geworden, eines Veteranen, der an den Asienfeldzügen teilgenommen und großen Ruhm erworben hat.«
Kamose war wie gelähmt.
»Das ist unmöglich… Der Bürgermeister hat meinen Eltern vor mehreren Jahren persönlich die Besitzurkunde gezeigt.«
»Er hat sich getäuscht. Die meisten örtlichen Beamten kennen sich in rechtlichen Dingen nicht aus. Ich kann dir versichern, dass alles in Ordnung ist. Als Ramses der Große, unser innig geliebter Herrscher, den Helden Setek gefragt hat, welches Gelände ihm genehm wäre, hat er jenes benannt, das deine Eltern bestellten. Der Bürgermeister deines Dorfes hat die Akte an das Kataster weitergeleitet. Dem gibt es nichts hinzuzufügen.«
»Aber natürlich!«, wandte Kamose ein. »Das ist doch ein Gespinst von Lügen!«
Der Tonfall von Richter Rensi wurde schneidend.
»Es reicht jetzt, mein Junge! Du bist nichts weiter als ein Schreiberlehrling, der sich seiner künftigen Aufgabe als unwürdig erweist. Aus Gründen, die ich nicht kenne und die ich nicht zu kennen wünsche, hast du eine unglaubliche Geschichte erfunden. Um meiner Tochter einen Gefallen zu tun, habe ich mich lächerlich gemacht. Das wird mir eine Lehre sein. Ein hoher Richter hat nicht das Recht, irgendjemanden zu begünstigen, nicht einmal die, die er liebt. Ich werde nicht zweimal denselben Fehler begehen. Was dich betrifft: Verlasse dieses Haus und kehre niemals wieder!«
»Mein Vater«, unterbrach Nofret, »du hast kein Recht…«
Der Richter wandte sich seiner Tochter zu und sah sie zärtlich an.
»Ich liebe dich mehr als alles andere auf der Welt, das weißt du, Nofret. Deshalb befehle ich dir, diesen Jungen zu vergessen. Diese Trennung ist hart, ich weiß. Du wirst leiden, aber rasch darüber hinwegkommen und verstehen, wie richtig meine Entscheidung ist.«
Nofret drückte Kamoses Handgelenk, um ihn zu hindern, heftig zu werden.
»Ich werde dir gehorchen, mein Vater«, sagte sie mit fester Stimme.