In Karnak hatte der Pharao gerade die Riten des Sonnenaufgangs vollzogen. Er war allein in den geheimsten Teil des geschlossenen Tempels gegangen und hatte die Türen des letzten Heiligtums geöffnet, das die Statue enthielt, in der sich die göttliche Macht verkörperte.
Er beugte sich vor ihr nieder und bat sie, in Frieden zu erwachen, er kleidete sie an, parfümierte sie und gab ihr zu essen. Er bot dieser verborgenen Macht nicht den materiellen Aspekt der Dinge, sondern das den Menschen unzugängliche feinstoffliche Wesen einer jeder Sache dar.
Nachdem er die Riten vollzogen hatte, war Ramses der Große wieder in seinen Palast gegangen, um dort wie jeden Morgen den Rat der Weisen einzuberufen, in dessen Gesellschaft er die großen Entscheidungen fällte, die Ägyptens Wohlstand und Zukunft sicherten.
Unter ihnen war auch der Alte. Der Pharao bezeugte ihm größten Respekt, denn er äußerte seine Meinung zwar selten, aber sie war von größtem Einfluss.
An diesem Morgen hatte der Rat der Weisen den Bau eines neuen Tempels im Nildelta beschlossen. Der Alte hatte nichts dagegen gehabt. Als die Würdenträger den Saal verließen, stützte sich der Alte auf einen Stock und hatte anscheinend Mühe, ihnen zu folgen. Trotz seines hohen Alters hatte er jedoch keinerlei Schwierigkeiten mit dem Gehen. Es handelte sich um einen Code zwischen dem Pharao und ihm. Es gab keine bessere Methode, unauffällig um eine Unterredung zu bitten. Der Pharao näherte sich seinem alten Lehrer, stützte ihn und führte ihn zu einem Büro des Palastes, in dem es angenehm kühl war. Dienerinnen brachten Bier und Obst. Die beiden Männer nahmen auf wunderbar vergoldeten Holzstühlen Platz.
»Ich höre Euch zu, Meister«, sagte Ramses der Große. »Was habt Ihr für ein Anliegen?«
»Keines, Majestät. In meinem Alter wartet man ruhig darauf, dass der Tod einen vor Osiris’ Gericht führt.«
»Keine Annäherungsversuche an Osiris«, befahl der Herrscher. »Ägypten braucht Euch noch.«
»Ihr habt nicht die Angewohnheit, Euren Freunden zu schmeicheln, Majestät. Fangt nicht damit an. Sonst fühle ich mich verpflichtet, streng zu werden.«
»Mögen die Götter mir Euren Zorn ersparen! Wenn Ihr kein Anliegen habt, so wollt Ihr mir gewiss Kritik an meinem Verhalten vortragen.«
Der Alte hatte die Hände um seinen Stock gefaltet und nickte.
»Das wird auch noch kommen, Majestät. Vorerst beschäftigt mich meine Schreiberschule.«
»Seit zehn Jahren wünsche ich nun, dass Ihr Euch in einem Flügel des Palastes einrichtet, aber Ihr weigert Euch hartnäckig. Ihr zieht es vor, Euer schlichtes Büro zu behalten.«
»Ich möchte keine neuen Räume. Die vorhandenen sind vollkommen ausreichend. Die jungen Leute dürfen nicht in Luxus und Bequemlichkeit erzogen werden, das verdirbt nur die Seele.«
Ramses der Große lächelte. Der Alte hatte sich nicht verändert. Er verkörperte das ewige Ägypten, das Ägypten der Erbauer und der Schriftsteller für die Ewigkeit, das aufrechte Männer ausbildete, die fähig waren, ihr Leben zu gestalten und jeglicher Gegnerschaft zu trotzen.
»Sagt mir nicht, dass es Euch an Paletten und Schreibbinsen mangelt«, brachte der Pharao vor. »Ich werde den Verantwortlichen auf der Stelle züchtigen lassen.«
»Eure Verwaltung funktioniert nicht allzu schlecht, Majestät. Es ist nicht alles vollkommen, aber sie hindert die Schüler nicht am Arbeiten.«
Ramses begann sich Sorgen zu machen. Gewöhnlich sagte der Alte klar, worum es ihm ging.
»Ich habe die Absicht, meine Schreiberschule vorübergehend zu schließen«, kündigte dieser an.
Der Pharao war wie erstarrt.
»Eure Schule schließen? Das ist die schlechteste Nachricht, die ich je gehört habe! Ihr habt die besten Schreiber dieses Landes ausgebildet, mein Meister. Wenn ich über rechtschaffene Richter, kompetente Bauleiter und Leiter des Katasters verfüge, die über jeden Verdacht erhaben sind, dann dank Eurer Arbeit! Warum solltet Ihr Eure Tätigkeit beenden? Ihr seid noch nicht so alt und bei ausgezeichneter Gesundheit!«
»Ihr hört meinen Worten nicht aufmerksam zu, Majestät. Ich habe gesagt: vorübergehend.«
»Was ist der Grund für diese außergewöhnliche Entscheidung?«, fragte der Pharao verwundert.
»Das ist noch schwer zu erklären«, antwortete der Alte rätselhaft.
»Gebt Ihr mir keinen Hinweis?«
»Ich muss mich um einen Taugenichts kümmern.«
»Wollt Ihr damit sagen… dass Ihr zum Privatlehrer eines jungen inkompetenten Schreibers werden wollt?«
»Etwas in dieser Art, in der Tat.«
Ramses der Große war verblüfft.
»So habt Ihr nur zwei Mal reagiert«, erinnerte sich der Pharao. »Ihr wart mein Privatlehrer und der eines meiner Söhne, den ich für den Thron bestimmt habe. Und wir waren keine… Taugenichtse.«
»Niemand weiß, was Ihr ohne den Unterricht des Weisen geworden wärt«, wandte der Alte ein. »Aber Ihr habt verstanden, auf ihn zu hören.«
»Wer ist dieser Ausnahmeschüler?«, fragte der König.
»Ausnahmeschüler?«, wiederholte der Alte unzufrieden. »Ein einfacher Schlingel, störrisch, selbstgefällig, aufbrausend, der hundert Stockschläge verdient hätte!«
»Ich verstehe Euer Vorgehen nicht«, gestand Ramses der Große. »Ihr beschreibt mir tatsächlich einen Taugenichts, und Ihr, der gelehrteste aller Schreiber, wünscht, ihm all Eure Zeit widmen zu können!«
»Es macht mir kein Vergnügen«, räumte der Alte ein. »Ich hätte wahrlich andere Aufgaben zu erfüllen. Aber ich habe in den heiligen Zeichen gelesen, dass dies meine Aufgabe sei.«
Der Pharao wusste, dass niemand, nicht einmal er selbst, den Alten umstimmen konnte.
»Ich vermute, Euer Schüler legt eine nicht geringe Begabung für die Wissenschaft der Schreiber an den Tag.«
»Eine nicht geringe, in der Tat«, räumte der Alte ein.
Aus seinem Mund war das ein gewaltiges Kompliment. Der König selbst hatte von seinem Lehrer nie ein derart positives Urteil erhalten.
»Dieser Junge muss ganz besonders stolz auf Eure Entscheidung sein«, vermutete Ramses der Große.
»Das ist nicht der Fall.«
»Aber warum? Ist er sich ihrer Bedeutung nicht bewusst?«
»Er weiß noch nichts von ihr«, verriet der Alte.
Nofret war nicht in die Villa zurückgekehrt. Sie hatte beschlossen, Kamose in den Tempel von Deir el-Bahari mitzunehmen, wo ein bedeutendes Kollegium von Hathor-Priesterinnen seinen Sitz hatte.
Nofret kannte die oberste Priesterin, eine sehr schöne Frau, deren Aufgabe darin bestand, die wichtigsten Zeremonien zu leiten. Die Priesterin mochte Nofret seit ihrer Kindheit. Sie hatte sie die Kunst gelehrt, das Sistrum zu spielen, jenes merkwürdige Musikinstrument, das einen metallischen Klang hervorruft, der Dämonen und schlechte Einflüsse abzuwehren vermag.
Dem Tempel vorgelagert war ein weitläufiger Garten, dessen Prunkstück eine Reihe von Weihrauchbäumen war. In ihrem Schatten wandelten Priester. An diesem Ort wurde die Seele der großen Königin Hatschepsut verehrt. Das Heiligtum war Amun-Re geweiht, dem König der Götter, Anubis, dem Schakal, dessen Aufgabe es ist, die Gerechten auf die Wege zum Jenseits zu führen, und der Göttin Hathor, die in Form einer Kuh dargestellt war, die die Königin säugt.
Kamose war hingerissen. Er hätte gerne über die Macht verfügt, die Zeit anzuhalten und hier in diesem von den Weisen geschaffenen Paradies zu bleiben, in Begleitung der Frau, die er heiraten wollte.
Nofret und Kamose gingen langsam und genossen jeden Augenblick ihres unerbittlich fliehenden Glücks.
Am unteren Ende der Rampe, die zu dem in den Berg gegrabenen Heiligtum hinaufführte, wurden die beiden jungen Leute von einem Aufseherpriester angehalten.
»Ich bin Hathor-Priesterin«, erklärte Nofret.
»Wenn du die Wahrheit sagst, so kennst du die Losung.«
»Der Mann ersteht in Osiris wieder auf, die Frau in Hathor.«
Der Wächter ließ die junge Frau vorbei, hielt Kamose aber zurück.
»Warte auf mich und werde nicht ungeduldig«, riet sie ihm.
Die oberste Priesterin arbeitete in Begleitung von etwa zehn jungen Priesterinnen vor den Flachreliefs, die den Gott Anubis mit Menschenkörper und Schakalkopf zeigten.
»Er entledigt die Natur der Kadaver«, erklärte sie ihnen. »Aber er begnügt sich nicht mit dieser Aufgabe. Er kennt die Geheimnisse der Mumifizierung. Wenn der Mensch vom Gericht des Jenseits als gerecht anerkannt wird, vertraut es Anubis seinen Lichtkörper an. Der Gott lehrt ihn die Zaubersprüche, die es ihm erlauben, friedlich auf den schönen Wegen des Jenseits zu wandeln.«
Die Priesterin verstummte, als sie Nofret kommen sah. Sie schickte ihre Schülerinnen weg.
Nofret näherte sich ihr und verneigte sich.
»Wie glücklich ich bin, Euch zu sehen…«
»Ich auch«, antwortete die Priesterin. »Aber es gehört nicht zu deinen Gewohnheiten, den Unterricht zu stören. Du hast hierin häufig deine Unnachsichtigkeit gezeigt, Nofret. Um unsere Ordnung derart zu verletzen und mich zu zwingen, dich unerwartet zu empfangen, musst du wirklich einen sehr guten Grund haben.«
Nofret betrachtete ein Kapitell, das das Gesicht der Göttin Hathor darstellte. Sie hatte ein bezauberndes Lächeln, das vollendete, heitere Gelassenheit ausstrahlte. Die junge Frau flehte die Herrscherin der Sterne an, ihr den Mut zu verleihen, den sie brauchen würde.
»Hathor hat mir die Liebe enthüllt«, sagte Nofret. »Sie hat mein Herz geöffnet und es mit dem größten Glück gefüllt.«
Die Priesterin nahm Nofret in die Arme.
»Ich bin glücklich für dich, mein Kind. Du wirst zur Frau und Eingeweihten. Du wirst die Fülle des Lebens kennen lernen.«
»Hathor hat mir die Liebe enthüllt«, wiederholte Nofret mit erstickter Stimme. »Aber das Glück, das sie mir darbietet, ist unmöglich.«