Das Abendessen verlief in gedrückter Stimmung. Kamoses Vater blieb liegen und dämmerte dahin. Die sanfte Nedjemet hatte gebratenes Lamm und Honigkekse zubereitet, rührte das Essen aber nicht an.
Die Nacht brach herein, es war warm und ruhig, eine Öllampe verbreitete schwaches Licht. Der Hund der Familie hatte sich der Länge nach auf der Schwelle des Hauses niedergelassen. Das Dorf sank in Schlaf. Am nächsten Tag würden die Vorbereitungen für das Erntefest beginnen, bei dem eine Priesterin des Tempels von Karnak dem göttlichen Fluss die schönste Garbe des schönsten Feldes darbieten würde – »die Braut des Nil«, wie sie genannt wurde.
Kamose hatte seiner Mutter alle Einzelheiten des enttäuschenden Gesprächs mit dem Bürgermeister geschildert. Sie hatte nicht die geringste Empörung geäußert.
»Finde dich damit ab, mein Sohn. Ein brennendes Herz ist eine Beleidigung der Götter.«
Der junge Mann verspürte kein Verlangen nach einer Auseinandersetzung. Er war mit seiner Mutter nicht einer Meinung, liebte sie aber zu sehr, um ihr zu widersprechen.
»Der Bürgermeister hat vom Katasteramt gesprochen«, sagte er. »Wo befindet sich das?«
»Nicht hier. Im Tempel von Karnak.«
»Und wenn sie sich dort getäuscht haben? Wenn das Katasteramt vielleicht einen Fehler begangen hat?«
»Es wird von den königlichen Schreibern geleitet, mein Sohn. Sie sind sehr genau.«
»Trotzdem will ich dieses Kataster konsultieren, das uns unseren Besitz wegnimmt. Ich breche morgen nach Karnak auf!«
»Das ist eine Torheit«, wandte Nedjemet ein. »Wir kennen dort niemanden. Du weißt nicht einmal, an wen du dich wenden sollst.«
»Ich werde es herausfinden. Ich werde den Lauf des Schicksals ändern.«
»Nur die Zauberpriester sind dazu in der Lage, mein Sohn. Du bist nur ein Bauer wie wir.«
Kamose brach im Morgengrauen in einem Fischerboot auf, das einem Freund seiner Eltern gehörte.
So musste er nicht mit ansehen, wie Setek die sanfte Nedjemet und den schweigsamen Geru rücksichtslos aus ihrem Haus vertrieb. Geru, der sich kaum auf den Beinen halten konnte, war von Nachbarn zu dem kleinen Haus gebracht worden, das der Bürgermeister ihnen zugeteilt hatte. Nedjemet war in die Bäckerei, Geru in die Speicher versetzt worden.
Keiner von beiden hatte protestiert. Sie würden sich schon an ihr neues Leben gewöhnen.
Kamose wusste, dass jegliche Diskussion mit den Eltern aussichtslos war. Ihr Gehorsam wandte sich nun gegen sie selbst. Nur er konnte sie aus der Sklaverei retten, die der Bürgermeister ihnen auferlegte. Und so hatte er sich geschworen, nicht ins Dorf zurückzukehren, bis er Gerechtigkeit erlangt hatte.
Der Fischer hisste das Segel und fand mit großem Geschick rasch den Wind. Schnell glitt das leichte Boot über den Strom, über dem noch Nebelstreifen hingen. Genussvoll zog Kamose die kühle Luft des frühen Morgens ein.
Ein Wanderfalke, das Symbol des Gottes Horus, des Beschützers des Pharao, flog weit oben im hellen Himmel und hielt nach Beute Ausschau, auf die er sich mit atemberaubender Schnelligkeit stürzen würde. An den Ufern des Nil sammelten sich Ibisse in funkelnd weißem Federkleid, bevor sie sich auf die Suche nach Fischen machten.
»Halt das Ruder fest in der Hand, mein Junge!«, forderte der Fischer Kamose auf.
»Aber… das habe ich doch noch nie gemacht!«
»Umso besser. Wenn du Theben entdecken willst, musst du lernen, dich in jeder Situation zurechtzufinden.«
»Ich bin Bauer und kein Matrose.«
»Werde es. Es wird dir von Nutzen sein.«
Kamose hatte sich entschieden, die Reise auf dem Wasserweg und nicht auf der Straße zu machen. Er war zu alt, um auf einen Esel zu steigen, und zu Fuß zu gehen hätte zu lange gedauert. Jetzt bedauerte er seine Entscheidung ein wenig. Das Schiff stampfte, und das Steuerruder entglitt ihm.
»Halt fest, halt richtig fest!«
Der Fischer mutete dem jungen Mann einiges zu, um ihn herauszufordern. Kamose verweigerte sich der Anstrengung nicht, und es gelang ihm tatsächlich, das Boot zu steuern, ohne es zum Kentern zu bringen. Als sie in Sichtweite von Theben kamen, verhehlte der Fischer nicht, dass er mit seinem Schüler zufrieden war.
»Du bist noch kein guter Matrose«, urteilte er, »aber du bist bereits kein Bauer mehr. Viel Glück, mein Junge!«
Der Anblick des thebanischen Gebirges faszinierte Kamose. Der mächtige Westgipfel überragte das Tal, in dem die Könige Ägyptens begraben waren. Dort waren die Tempel der Millionen Jahre errichtet worden, in denen die Seelen der mächtigen Herrscher, die den Ruhm des Landes geprägt hatten, für alle Ewigkeit lebten.
Kamose ging am Ostufer ans Land. Hier erstreckte sich die Hauptstadt, das hunderttorige Theben, hier war der gewaltige Tempel von Karnak errichtet worden, der seit mehreren Jahrhunderten von einer Dynastie zur nächsten immer prächtiger ausgestattet wurde.
Durch diese Arbeiten erfreuten die Pharaonen den Herrn des Tempels, Amun-Re, den Herrscher der Götter, der es durch seine Gunst Ägypten ermöglicht hatte, die Eindringlinge zu vertreiben und blühenden Wohlstand zu erlangen.
Auf den Kais herrschte reges Treiben. Die Hafenarbeiter entluden Waren, die von schweren Booten aus Assuan im Süden und Memphis im Norden hergebracht worden waren. Syrische Händler handelten mit Stoffen. Mehrmals wurde Kamose von Händlern angerempelt, die es eilig hatten.
Inmitten dieser bunten Menschenmasse, in der er niemanden kannte, fühlte sich der junge Mann verloren. Natürlich hatte er schon Dorffeste erlebt, aber hier war alles größer, bunter, lauter, schneller… So groß hatte er sich Theben nicht vorgestellt, nicht mit so vielen Menschen und Reichtümern.
Einen Augenblick lang verspürte er das Bedürfnis aufzugeben, nach Hause zurückzufahren und sich in sein Schicksal zu fügen. Doch dann wäre er ein Feigling.
Er wandte sich an einen Korbverkäufer.
»Wo befindet sich der Tempel von Karnak?«
Der Mann lachte.
»Du musst ein Fremder sein!«
»Wie auch immer. Könnt Ihr mir antworten oder nicht?«
»Das kann jeder… Geh dort entlang, mein Junge, und lauf immer geradeaus. Du kannst ihn nicht verfehlen.«
Kamose begriff diesen Satz nur wenig später, als er aus einer Gasse heraustrat und den gigantischen Tempel vor sich sah. Er war geschützt durch eine Umfassungsmauer, sodass er für Außenstehende unerreichbar war. Im Inneren befanden sich die Wohnstätten der Götter, die durch gewaltige Tore, die Pylone, voneinander abgeteilt waren. In den aufeinander folgenden Höfen standen Obelisken, deren Spitzen den Himmel berührten und deren steinerne Leiber schädliche Energien vertrieben.
Der junge Mann betrachtete die im Wind flatternden Wimpel an der Spitze der Masten, die vor dem großen Pylon standen, welcher den Zugang zum überdachten Tempel anzeigte.
Das war alles, was er sehen konnte. Der Rest war verborgen und allein den Eingeweihten vorbehalten. Kamose ging einen Weg entlang, der zur Umfassungsmauer des Tempels führte. Zwei Reihen auf Sockeln liegender Widder säumten ihn und beschützten eine Skulptur des Pharao. Im Widder verkörperte sich der Gott Amun. Sein gewundenes Horn symbolisierte das Wachstum des Lebens und war der Schlüssel für die Proportionen, nach denen sich die Welt organisierte.
Es herrschte ein regelmäßiges Kommen und Gehen von kahl geschorenen Priestern in weißen Leinengewändern, die Papyrusrollen bei sich trugen. Durch eine kleine Tür in der Mauer, die für alle geöffnet zu sein schien, betraten sie den Tempel.
Kamose drängte sich hinein.
An der Schwelle zu einem weitläufigen, nicht überdachten Hof blieb er stehen: Hier standen zahlreiche Statuen hoher Persönlichkeiten, die von den Dargestellten als Opfergaben aufgestellt worden waren. Ihr unvergängliches Abbild ließ sie teilhaben an der Ausstrahlung Amuns.
Ein alter Priester hinderte Kamose mit ernster Stimme daran, weiterzugehen.
»Was willst du?«
Kamose schluckte. Er war so beeindruckt, dass ihm fast die Stimme versagte.
»Ich… Ich wollte das Kataster einsehen.«
»Wer bist du?«
»Der Sohn von Geru und Nedjemet.«
»Du bist kein Schreiber. Das hätte ich mir bei deiner Aufmachung auch denken können.«
Der alte Schreiber warf einen strengen Blick auf Kamoses abgetragenen, staubigen Lendenschurz. Der junge Mann schämte sich. Aber darauf konnte er keine Rücksicht nehmen. Allein sein Auftrag zählte.
»Wo befindet sich das Katasteramt?«
»Hier in diesem Tempel unter der Aufsicht der königlichen Schreiber.«
»An wen muss ich mich wenden, um dort Zugang zu erhalten?«
»An niemanden, wenn du nicht Schreiber bist.«
»Meine Eltern sind von einem Soldaten von ihrem Land und aus ihrem Haus vertrieben worden«, erklärte Kamose. »Ich bin überzeugt, dass es sich um einen Irrtum des Katasteramtes handelt.«
»Das Katasteramt irrt nicht, mein Junge. Kehr nach Hause zurück. Du hast hier nichts zu suchen.«
»Hört mich an, ich bitte Euch!«
Der alte Priester wandte sich ab.
Zwei mit langen Stöcken bewaffnete Wachen tauchten auf. Eilig verließ Kamose den großen Eingangshof.
Bedrückt saß Kamose da, den Kopf auf die Knie gelegt, und kämpfte gegen Tränen der Wut. Schreiber zu werden war für ihn unmöglich.
Er hatte sich an eine Straßenecke gekauert und achtete nicht darauf, was um ihn herum geschah. Theben interessierte ihn nicht mehr. Die große Stadt wurde für ihn zum Spiegel seines Unglücks.
Eine Hand legte sich auf seine Schulter.
»Was ist mit dir, mein Junge?«
Kamose hob den Blick und sah einen etwa dreißigjährigen Mann von kräftiger Statur und einem Wehrgehänge vor der Brust.
»Lasst mich in Frieden. Ich möchte mit niemandem sprechen.«
»Warum so verzweifelt? Hast du einen lieben Menschen verloren?«
»Das ist meine Sache.«
»Du trägst den Lendenschurz eines Bauern. Du siehst aus, als hättest du dich verirrt. Bist du von zu Hause weggelaufen?«
Kamoses Gesicht verschloss sich. Er verspürte kein Bedürfnis mehr, sich jemandem anzuvertrauen.
»Ich suche Lehrlinge. Bist du bereit zu arbeiten?«
Kamose dachte nach. Er konnte nicht ins Dorf zurückkehren. Wie sollte er in Theben überleben?
»Was für eine Arbeit?«, fragte er nun.
»Bestimmt hast du dich hier in dieser Straße im Viertel der Handwerker hingesetzt, weil du einer von ihnen werden willst. Ich brauche junge Männer, die Stein und Holz kennen lernen wollen.«
Stein und Holz… Kamose hatte von seiner Mutter die Legende vom Baumeister Imhotep gehört, dem größten Weisen Ägyptens, der seine Karriere mit dem Ausbohren von Steinvasen und dem Bearbeiten von verschiedenen Materialien begonnen hatte, bevor er die Menschen regierte.
Kamose stand auf.
»Ich folge Euch.«
»Du bekommst Kost und Logis. Acht Stunden Arbeit täglich. Mehrere Ruhetage in der Woche und freie Zeit an Festtagen. Aber ich achte streng auf die Ausführung deiner Arbeit. Wenn du mich nicht zufrieden stellen kannst, behalte ich dich nicht.«
Kamose biss die Zähne zusammen.
»Ich habe Euch gesagt, ich würde Euch folgen.«
»Starrköpfig und stolz«, bemerkte der Handwerksmeister anerkennend. »Wir werden sehen, ob du deinem großen Ehrgeiz gewachsen bist.«
Er ging los, ohne sich umzusehen. Zu seinem großen Erstaunen bemerkte Kamose, dass sie sich in Richtung Karnak bewegten. Als der Meister den Weg der Widder einschlug, konnte der neue Lehrling es sich nicht verkneifen, eine Frage zu stellen.
»Was machen wir im Tempel?«
»Arbeiten, mein Junge. Dort befindet sich meine Werkstatt.«