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Bereits seit über einer Stunde waren alle Handwerker des Tempels von Karnak an der Arbeit. Sie hatten den Auftrag für eine bedeutende Grabeinrichtung erhalten, für zahlreiche Statuen und etwa zehn Stelen. Ramses der Große, einer der größten Erbauer der ägyptischen Geschichte, ließ die Tempel vom Norden bis zum Süden des Landes verschönern. Er hatte sogar zwei Heiligtümer auf der nubischen Stätte Abu Simbel errichten lassen, eines für ihn selbst, das andere für die große königliche Gattin Nefertari.

Erregt stürzte der Aufseher in das Büro des Geometermeisters.

»So etwas habe ich noch nicht erlebt!«, rief er heiser. »Seit einer Stunde laufe ich durch alle Werkstätten… Ich habe sogar ein zweites Mal gesucht… er ist unauffindbar!«

»Von wem sprecht Ihr?«, fragte der Meister.

»Von Eurem Lieblingsschüler Kamose natürlich!«

»Ich habe keinen Lieblingsschüler«, berichtigte der Geometer. »Kamose ist einfach der begabteste von allen. Wenn er nicht bei der Arbeit ist, dann ist er krank.«

»Er ist nicht in seinem Zimmer. Das habe ich überprüft.«

»Hat Euch keiner seiner Kameraden Auskunft geben können?«

»Ihr wisst genau, dass Kamose ein scheuer, einzelgängerischer Junge ist. Er hat sich niemandem anvertraut. Aber das ist mir egal. Ich verlange, dass die Vorschriften durchgesetzt werden. Jeder, der zu spät kommt, muss bestraft werden, wenn er keinen triftigen Grund hat, wer immer es auch ist. Der einzige triftige Grund ist Krankheit. Das ist nicht der Fall.«

»Ihr habt Recht«, räumte der Geometer ein. »Bringt ihn zu mir, sobald er in die Werkstatt kommt.«


Kamose konnte nicht mehr schlafen und nicht mehr essen. Er hatte nur noch einen Gedanken im Kopf: die junge Priesterin wiederzusehen, die die Braut des Nil in den Fluss geworfen hatte. Die Liebe, die er für sie empfand, wuchs mit jeder Sekunde und wurde immer mächtiger, umfassender.

Während der drei Festtage hatte Kamose versucht, sie wiederzusehen.

Vergeblich.

Die Hathor-Priesterinnen hatten sich in den Tempel von Deir el-Bahari begeben, der von der berühmten Pharaonin Hatschepsut zu Ehren Hathors errichtet worden war. Zu Recht hatte der Tempel seinen Namen erhalten: Erhabener der Erhabenen. Eine große, breite Rampe stieg hoch zum Felsen auf, kunstvoll ausgearbeitete Reliefs schmückten ihn und riefen die Bewunderung ihrer Betrachter hervor. Ein tiefes Gefühl der Erhebung erfasste jeden, der den Tempel besuchte.

Aber Kamose konnte nicht in die blühenden, mit Weihrauchbäumen bepflanzten Gärten gelangen.

Auch zu diesem Tempel war Laien der Zugang verboten. So war Kamose trotz der brennenden Sonne die Felsen bis zu einem hohen Sporn emporgestiegen, von dem aus er auf den Tempel hinuntersehen konnte. Er hatte gehofft, die Priesterinnen von hier oben entdecken zu können. Aber Säulen und Vorhallen schützten sie vor jedem Blick von außen.

Schließlich zeigten sie sich ihm doch, als die Priesterinnen den Tempel von Deir el-Bahari verließen, um den Fluss zu überqueren und sich wieder nach Karnak zu begeben. Kamose folgte ihnen.

Er konnte sich ihnen aber nicht nähern. Die oberste Priesterin war ganz besonders streng, was den Umgang der jungen Priesterinnen betraf.

Allerdings gelang es Kamose, mit dem Führer der Aufseher zu sprechen, die über ihre Sicherheit wachten. So erfuhr er, dass die, in die er sich unsterblich verliebt hatte, auf den Namen Nofret hörte, »die Schöne«.

Obwohl das Fest beendet war, irrte Kamose die ganze Nacht durch die Straßen Thebens. Seine Schritte führten ihn immer wieder zum Tempel, zu den gewaltigen Bauwerken, deren Größe den Göttern entsprach, und zu jener Umfassungsmauer, die die Geheimnisse vor den Laien verbarg.

Jene Umfassungsmauer, innerhalb derer die Frau lebte, die er liebte.


»Da bist du ja endlich, Kamose. Aber in was für einem Zustand…«

Als Kamose nach wenigen Stunden schweren Schlafs aufgewacht war, stand die Sonne bereits hoch am Himmel. Er hatte den Schutz der Palme verlassen, unter der er trunken vor Müdigkeit niedergesunken war, und sich rasch zu seiner Werkstatt begeben, wo der Aufseher ihn zornig erwartete.

Er drohte dem jungen Mann mit seinem Stock und führte ihn sofort ins Büro des Geometers.

Mit seinen verquollenen Augen und verknittertem weißen Gewand machte Kamose einen kläglichen Eindruck.

»Äußere dich«, forderte der Geometermeister.

»Ich habe verschlafen… Das ist doch nicht so schlimm. Andere haben diesen Fehler auch schon begangen. Ich werde mit zwei oder drei Tagen Frondienst bestraft und muss die Werkzeuge meiner Kameraden säubern. Das schreckt mich nicht.«

»Du kennst dich in den Vorschriften gut aus«, räumte der Geometer ein. »Sie werden in aller Strenge angewandt.«

»Warum sollte es anders sein? Ich gehe wieder an meine Arbeit. Ich muss mit dem Behauen einer Statue anfangen.«

»Warte einen Augenblick… Hast du mir nichts weiter zu sagen?«

Der junge Mann zog sich in sich zurück.

»Nein, nichts weiter.«

»Du lügst immer noch genauso schlecht, mein Junge. Ich kenne deine fixe Idee: Du willst in den geschlossenen Tempel eindringen. Während der drei Festtage hattest du natürlich Kontakt zu Menschen, die dort leben. Ich vermute, du hast dir schon zu helfen gewusst, um Informationen zu bekommen.«

»Ja und nein… nichts wirklich Interessantes.«

»Nichts… und niemand?«

Kamose zögerte. Fast wollte er sich anvertrauen, zog es aber vor, zu schweigen. In seinem Kopf und seinem Herzen herrschte ein solcher Sturm, dass er sich nicht in der Lage fühlte, seine Gedanken klar auszudrücken.

»Nichts und niemand.«

Der Geometer schwieg eine Weile. Auch er schien zu zögern.

Kamose fragte sich, warum.

»Geh wieder an die Arbeit, Kamose«, befahl der Meister schließlich.


Die Lese hatte eine große Menge Trauben eingebracht. Junge Männer und Frauen hatten sie vergnügt mit den Füßen in großen Bottichen gekeltert. Nachdem die Arbeit beendet war, schenkten die Winzer Wein des vergangenen Jahres aus, der in großen Tonkrügen kühl gehalten worden war.

Kamose hatte den Fischer, der ihn nach Theben gebracht hatte, unter eine Laube eingeladen. Immer wieder äußerte der Mann bewundernd, wie sehr der junge Bauer sich verändert habe.

»Du wirkst stark und gut genährt! Es heißt, du seist ein hervorragender Handwerker geworden, der fähig ist, Statuen zu meißeln.«

»Das stimmt. Wie geht es meinen Eltern?«

»Schlecht. Setek beutet sie aus. Er schläft, isst und trinkt. Nach all den Gefahren, denen er sich ausgesetzt hat, genießt er jetzt das Leben, wie er sagt. Dein Vater ist oft krank. Wenn er zu erschöpft ist, arbeitet deine Mutter für zwei. Aber keiner von beiden beklagt sich. Durch mich wissen sie, dass bei dir alles gut geht. Das erfreut ihr Herz. Sie würden dich so gerne sehen…«

»Ich habe ein Gelübde abgelegt«, erklärte Kamose, »und ich werde es nicht brechen. Ich kehre erst ins Dorf zurück, wenn ich sie vom Joch dieses verfluchten Helden befreien kann.«

»Begrabe deine Illusionen… Hast du eine Möglichkeit gefunden, das Kataster einzusehen?«

Kamose musste seinen Misserfolg einräumen.

»Kehr heim, Kamose, kehr heim… Du hast jetzt einen Beruf. Bei uns wirst du ein berühmter Tischler werden und deine Eltern schon allein durch deine Anwesenheit in ihrer Nähe glücklich machen. Du wirst dir ein Vermögen erwerben und kannst sie so vielleicht Seteks Einfluss entziehen.«

Kamose trank ein Glas kühlen Wein und hielt den Blick gesenkt.

»Nein… Ich kann nicht. Ich habe ein Gelübde abgelegt.«

»Du bist der Einzige, der das weiß. Du hast weder bei deinem Leben noch bei dem deiner Eltern noch in Gegenwart der Götter geschworen.«

Wie konnte Kamose gestehen, dass er Theben wegen einer jungen Frau namens Nofret nicht verlassen konnte, ohne die sein Leben von nun an keinen Sinn mehr hatte? Wie konnte er diese Liebe und die Befreiung seiner Eltern miteinander vereinen?

Auf diese Fragen gab es nur eine Antwort.

Nur eine Antwort, deren Umsetzung unmöglich war: in den geschlossenen Tempel eindringen.

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