15

Tolpan, Bupu und Caramon hatten ihr Mahl beendet.

»Nun«, sagte Tolpan fröhlich. Er schob seinen leeren Teller zurück. »Mir geht es viel besser. Wie steht es mit dir, Caramon? Laß uns auf Erkundung gehen!«

»Erkundung!« Caramon warf ihm einen so entsetzten Blick zu, daß Tolpan überrascht war. »Bist du verrückt? Ich würde nicht für den ganzen Reichtum auf Krynn meinen Fuß vor die Tür setzen!«

»Wirklich?« fragte Tolpan eifrig. »Warum nicht? Was ist denn draußen?«

»Ich weiß nicht.« Der große Mann schauderte. »Aber es muß furchtbar sein.«

»Ich habe keine Wachen gesehen...«

»Nein, und dafür gibt es auch einen Grund«, knurrte Caramon. »Wachen sind hier nicht notwendig. Wenn du hinausgehst, läufst du wahrscheinlich in die Arme eines Leichnams!«

Tolpans Augen öffneten sich weit. Er sah auf seine Schuhe und murmelte: »Ja, ich glaube, du hast recht, Caramon. Ich habe vergessen, wo wir sind.«

»Das hast du wohl«, sagte Caramon streng. Er rieb seine schmerzenden Schultern und stöhnte. »Ich bin todmüde. Ich muß ein wenig schlafen. Du und Bupu legt euch auch hin. Alles klar?«

»Ja«, sagte Tolpan.

Bupu, die zufrieden rülpste, hatte sich vor dem Feuer in einen Teppich eingerollt.

Caramon beäugte den Kender argwöhnisch. »Versprich mir, daß du diesen Raum nicht verläßt, Tolpan Barfuß. Versprich es mir so, wie du es Tanis versprechen würdest, wenn er hier wäre.«

»Ich verspreche es so, wie ich es Tanis versprechen würde, wenn er hier wäre«, sagte Tolpan feierlich.

»Gut.« Caramon seufzte. Die Matratze des Bettes, auf das er sich gelegt hatte, sackte unter dem Gewicht des großen Mannes auf den Boden. »Ich vermute, sie werden uns wecken, wenn sie entschieden haben, was sie tun wollen.«

»Willst du wirklich in die Zeit zurück, Caramon?« fragte Tolpan, setzte sich auf sein eigenes Bett und tat so, als schnüre er seine Stiefel auf.

»Ja sicher. Keine große Sache«, murmelte Caramon schläfrig. »Jetzt schlaf ein bißchen und... danke, Tolpan. Du warst... eine große Hilfe...« Seine Worte gingen in ein Schnarchen über.

Tolpan verhielt sich vollkommen still und wartete, bis Caramons Atem regelmäßig wurde. Das dauerte nicht lange, weil der große Mann seelisch und körperlich erschöpft war. Als der Kender auf Caramons blasses Gesicht sah, plagten ihn einen Augenblick Gewissensbisse.

»Er wird nie erfahren, daß ich gegangen bin«, sagte Tolpan zu sich, während er an Caramons Bett vorbeischlich. »Und ich habe ihm nicht wirklich versprochen, nirgendwohin zu gehen. Ich habe es Tanis versprochen. Und Tanis ist nicht da, darum zählt dieses Versprechen nicht. Außerdem bin ich überzeugt, er wäre gern auf Erkundung mitgegangen, wenn er nicht so müde gewesen wäre.« Er öffnete die Tür und streckte seinen Kopf aus dem Türrahmen. Er sah den Korridor hinunter, dann hinauf. Nichts. Kein Leichnam in Sicht. Ein wenig enttäuscht seufzte er, dann glitt er aus der Tür und schloß sie leise hinter sich.

Der Gang war kalt und leer. Andere Türen gingen von ihm ab, alle waren verschlossen. Es gab kein Licht. Offensichtlich mußten sich die Magier selbst darum kümmern, wenn sie nach Einbruch der Dunkelheit umherwanderten.

»Ich husche schnell in eines der Zimmer und borge mir eine Kerze aus«, sagte Tolpan zu sich. »Außerdem ist das eine gute Möglichkeit, Leute zu treffen.« Vorsichtig drehte er am nächsten Türgriff. »Oh, verschlossen!« sagte er und holte sein Einbrecherwerkzeug hervor. »Ich hoffe, das Zimmer ist nicht magisch verschlossen«, murmelte er. Magier taten das manchmal, das wußte er – aber hier im Turm der Erzmagier würde man es vielleicht nicht als lohnenswert ansehen.

Tatsächlich ließ sich das Schloß mühelos öffnen. Tolpans Herz klopfte vor Aufregung. Er schob die Tür leise auf und spähte hinein. Der Raum wurde nur vom schwachen Glühen eines sterbenden Feuers erleuchtet. Er lauschte. Er konnte niemanden hören, und so ging er leise hinein. Seine scharfen Augen fanden das Bett. Es war leer.

»Dann wird es sie nicht stören, wenn ich mir ihre Kerze ausborge«, sagte sich der Kender. Er fand einen Kerzenstumpf und zündete ihn an einer glühenden Kohle an. Dann gab er sich dem Entzücken hin, die Besitztümer des Bewohners zu untersuchen.

Ungefähr zwei Stunden später, und nachdem er viele andere Zimmer untersucht hatte, machte sich Tolpan ermüdet auf den Rückweg; seine Beutel platzten fast von den faszinierendsten Gegenständen, die er aber am nächsten Morgen ihren Eigentümern zurückgeben wollte. Er hatte die meisten Dinge von den Tischen aufgehoben, auf die sie offensichtlich sorglos hingeworfen worden waren. Nicht wenige hatte er auf dem Boden gefunden oder aus den Taschen der Roben geborgen, die wahrscheinlich zum Waschen bestimmt waren.

Er erschrak, als er Licht unter ihrer Tür hervorleuchten sah. Er preßte sein Ohr dagegen und lauschte.

Erhörte Stimmen. Eine erkannte er sofort, die Bupus. Die andere schien vertraut... aber wo hatte er sie gehört?

»Ja, ich werde dich zum Großbulp zurückschicken, wenn du dorthin zurück möchtest. Aber zuerst mußt du mir sagen, wo der Großbulp ist.«

Die Stimme klang ein wenig aufgebracht. Tolpan legte sein Auge an das Schlüsselloch. Er konnte Bupu sehen; sie funkelte argwöhnisch die rotgekleidete Gestalt an. Jetzt erinnerte sich Tolpan, wo er die Stimme gehört hatte – das war der Mann in der Versammlung, der Par-Salian ständig angezweifelt hatte!

»Der Großbulp sein zu Hause. Du schicken mich zu Hause.«

»Ja, natürlich. Wo ist denn zu Hause?«

»Wo Großbulp sein.«

»Und wo ist der Großbulp?« fragte der rotgekleidete Magier.

»Zu Hause«, bemerkte Bupu kurz und bündig.

»Nun, wie bezeichnest du dein Zuhause? Wie ist der Name?«

»Die Grubbe. Zwei Bs. Phantastischer Name«, sagte Bupu stolz. »Großbulps Idee.«

»Wie nennen Menschen den Namen deiner Grubbe?«

Tolpan sah Bupu finster blicken. »Dummer Name. Hört sich an wie Xak Tsaroth.«

Vor Erleichterung tief aufseufzend, hielt der rotgekleidete Magier seine Hand über Bupus Kopf. Er ließ etwas wie Staub über sie rieseln, und Bupu nieste heftig. Tolpan hörte den Magier seltsame Worte singen.

»Ich gehen zu Hause jetzt?« fragte Bupu hoffnungsfroh.

Der Magier antwortete nicht, sondern sang weiter.

»Er nicht nett«, murmelte sie und nieste wieder, als der Staub langsam ihr Haar und ihren Körper bedeckte. Der Staub begann in einem schwachen Gelb zu glühen. Das Glühen wurde heller und heller, und plötzlich...

»Bupu!« flüsterte Tolpan.

Die Gossenzwergin war verschwunden!

»Und ich bin der nächste!« erkannte Tolpan entsetzt. Tatsächlich hinkte der rotgekleidete Magier durch den Raum zu dem Bett, wo der achtsame Kender eine Attrappe aufgebaut hatte, damit Caramon sich keine Sorgen machen mußte, falls er wach werden sollte.

»Tolpan Barfuß«, rief der rotgekleidete Magier leise. Er war nicht mehr in Tolpans Blickfeld. Der Kender wartete darauf, daß der Magier entdeckte, daß er fehlte. Nicht daß er Angst hatte, erwischt zu werden. Er war daran gewohnt, erwischt zu werden, und war sich recht sicher, daß er sich herausreden konnte. Aber er hatte Angst, nach Hause geschickt zu werden. Sie erwarteten doch nicht wirklich, daß er allein irgendwohin ging!

»Caramon braucht mich!« flüsterte Tolpan. »Sie wissen gar nicht, in welch schlechter Verfassung er sich befindet. Was soll nur passieren, wenn ich nicht bei ihm bin und ihn aus den Tavernen ziehe?«

»Tolpan«, wiederholte die Stimme des rotgekleideten Magiers. Er mußte an das Bett getreten sein.

Eilig steckte Tolpan die Hand in einen seiner Beutel. Er holte einen Ring hervor.

»Caramon!« hörte Tolpan den rotgekleideten Magier streng sagen. Er konnte Caramon brummen und stöhnen hören und stellte sich den Magier vor, wie er Caramon schüttelte. »Caramon, wach auf. Wo ist der Kender?«

Tolpan versuchte zu ignorieren, was in dem Zimmer passierte, und konzentrierte sich darauf, den Ring zu untersuchen. Er war vielleicht magisch. Er hatte ihn im dritten Zimmer zur Linken an sich genommen. Magische Ringe funktionierten normalerweise, indem man sie überstreifte. Es war ein schlichter Ring, aus Ebenholz geschnitzt, mit zwei kleinen rosafarbenen Steinen. Auf der Innenseite befanden sich einige Runen.

»Wa... wa...«, brabbelte Caramon. »Kender? Ich habe zu ihm gesagt, er soll nicht hinausgehen...«

»Verdammt!« Der rotgekleidete Magier steuerte auf die Tür zu.

Tolpan steckte sich den Ring an.

Zuerst geschah nichts. Er konnte die hinkenden Schritte des rotgekleideten Magiers hören, die immer näher zur Tür kamen.

Dann geschah etwas, obgleich es nicht das war, was Tolpan erwartet hatte. Der Gang wurde größer! In den Ohren des Kenders rauschte es, als die Wände an ihm vorbeistürzten und die Decke von ihm wegschwebte. Die Tür wurde immer größer, bis sie eine gewaltige Größe erreichte.

Die riesige Tür öffnete sich mit einem Windstoß, der den Kender fast zu Boden warf. Eine riesenhafte, rotgekleidete Gestalt füllte den Türrahmen.

Aber zu Tolpans Verwunderung schien der rotgekleidete Magier überhaupt nicht beunruhigt wegen seiner plötzlichen Größe. Er spähte nach links und rechts in den Gang und rief: »Tolpan Barfuß!« Er blickte sogar dorthin, wo Tolpan stand – und sah ihn nicht!

Aber jetzt sah der rotgekleidete Magier nach unten. »Und aus welchem Zimmer bist du entflohen, mein kleiner Freund?« fragte er.

Tolpan beobachtete ehrfürchtig, wie eine Riesenhand nach unten griff – sie griff nach ihm! Er war so verblüfft, daß er nicht weglaufen konnte. Alles würde vorbei sein! Sie würden ihn unverzüglich nach Hause schicken!

Die Hand schwebte über ihm, und dann hob sie ihn an seinem Schwanz hoch.

Ein Schwanz! dachte Tolpan wild und krümmte sich zusammen, während die Hand ihn in die Höhe hob. Ich habe doch keinen Schwanz!

Aber da sah er, daß er tatsächlich einen Schwanz hatte! Und nicht nur einen Schwanz, sondern auch vier rosafarbene Füße! Und statt einer leuchtendblauen Hose trug er einen weißen Pelz!

»Nun, nun«, dröhnte die strenge Stimme in seine Ohren, »antworte mir, kleines Nagetier! Wessen Vertrauter bist du?«

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