7

Am Abend war Caramon sturzbetrunken.

Tolpan und Bupu hatten den großen Mann eingeholt, als er mitten auf dem Pfad stand und den letzten Schluck Zwergenspiritus aus der Flasche trank. Er neigte den Kopf zurück, um jeden Tropfen zu bekommen. Schließlich senkte er die Flasche, um enttäuscht hineinzuschauen, und schüttelte sie.

»Alles weg«, hörte Tolpan ihn unglücklich murmeln. Das Herz des Kenders sank. »Jetzt ist es um mich geschehen«, sagte er jämmerlich zu sich. »Ich kann ihm nicht sagen, daß das Wirtshaus verschwunden ist. Nicht in seinem jetzigen Zustand! Dann wird alles nur noch schlimmer!« Aber wie schlimm es bereits war, erkannte er erst, als er zu Caramon trat und ihm auf die Schulter klopfte.

Der große Mann in seinem trunkenen Zustand drehte sich um. »Was ist das? Wer ist da?« Er spähte in den schnell dunkel werdenden Wald.

»Ich, hier unten«, sagte Tolpan mit leiser Stimme. »Ich... ich wollte nur sagen, daß es mir leid tut, Caramon, und...«

»Oh...« Caramon taumelte zurück und starrte ihn wütend an, dann grinste er tölpelhaft. »Hallo, kleiner Bursche. Ein Kender« – sein Blick wanderte zu Bupu – »und eine Gossenzwergin«, schloß er eilig. Er verbeugte sich. »Ich heiße Raistlin«, sagte er feierlich mit einer weiteren unsicheren Verbeugung. »Ein großer und mächtiger Zauberkundiger.«

»Hör auf, Caramon!« sagte Tolpan voller Abscheu.

»Caramon?« Der große Mann riß die Augen auf, dann verengten sie sich listig. »Caramon ist tot. Ich habe ihn getötet. Vor langer Zeit im Turm des Erzzauberers.«

»Beim Barte Reorx’!« keuchte Tolpan.

»Er nicht Raistlin!« schnaubte Bupu verächtlich. Dann hielt sie inne, beäugte ihn zweifelnd. »Er ist?«

»Nein! Natürlich nicht«, schnappte Tolpan.

»Kein lustiges Spiel!« entschied Bupu entschlossen. »Ich nicht mögen! Er kein hübscher Mann für mich. Er fetter Trunkenbold. Ich gehen nach Hause.« Sie sah sich um. »Welcher Weg Hause?«

»Nicht jetzt, Bupu!« Was war hier nur los? fragte sich Tolpan düster. Er griff nach seinem Haarzopf und zog kräftig daran. Seine Augen waren vor Schmerz feucht, aber der Kender seufzte erleichtert auf. Einen Augenblick dachte er, er sei eingeschlafen, ohne es zu wissen, und laufe in einem merkwürdigen Traum herum.

»Paßt auf«, sagte Caramon feierlich, während er sich im Zickzack bewegte. »Ich spreche einen Zauberspruch.« Er hob die Hände und stieß eine Reihe unsinniger Worte aus. Dann zeigte er auf einen Baum. »Puh«, flüsterte er und taumelte zurück. »Geh in Flammen auf! Auf! Auf! Brenn, brenn, brenn... wie der arme Caramon.« Er taumelte vorwärts, schwankte den Pfad hinab. »Alle Kellnerinnen lieben dich«, sang er. »Jeder Hund ist dein Freund. Was du auch sagst, es ist dein Ernst...«

Tolpan eilte ihm händeringend nach.

Bupu trottete hinterher. »Baum brennt nicht«, sagte sie.

»Ich weiß!« stöhnte Tolpan. »Es ist nur... er denkt...«

»Er schlechter Magier. Ich dran.« Bupu wühlte in ihrem riesigen Beutel, stieß einen triumphierenden Schrei aus und zog eine tote Ratte hervor.

»Nicht jetzt, Bupu...«, begann Tolpan, der das Gefühl hatte, das bißchen geistige Gesundheit, das noch übriggeblieben war, werde ihm entgleiten.

Caramon, der vor ihnen war, hatte mit dem Singen aufgehört und schrie, daß er den Wald mit Spinnweben bedecken wolle.

»Ich werden geheimes Zauberwort sagen«, erklärte Bupu. »Du nicht zuhören. Verdirbst Geheimnis.«

»Ich höre nicht zu«, sagte Tolpan ungeduldig und versuchte Caramon einzuholen, der sich trotz seines schwankenden Ganges schnell vorwärts bewegte.

»Du zuhören?« fragte Bupu, die hinter ihm keuchte.

»Nein«, sagt Tolpan seufzend.

»Warum nicht?«

»Du hast es mir nicht erlaubt!« schrie Tolpan aufgebracht.

»Aber woher du wissen, wenn nicht zuhören?« verlangte Bupu wütend zu wissen. »Du versuchen stehlen geheimes Zauberwort! Ich gehen nach Hause.« Sie blieb unvermittelt stehen, drehte sich um und trottete den Weg zurück.

Tolpan bremste sofort ab. Er konnte jetzt Caramon sehen, der sich an einem Baum festhielt und offensichtlich eine Drachenschar heraufbeschwor. Es hatte den Anschein, als ob der große Mann zumindest eine Weile dort stehen bliebe.

Leise fluchend drehte sich der Kender um und lief hinter der Gossenzwergin her. »Halt, Bupu!« schrie er und ergriff eine Handvoll schmutziger Fetzen, die er für ihre Schulter hielt. »Ich schwöre, ich habe niemals dein geheimes Zauberwort gestohlen!«

»Du es gestohlen!« kreischte sie und fuchtelte mit der toten Ratte herum. »Du es sagen!«

»Was gesagt?« fragte Tolpan völlig verblüfft.

»Geheimes Zauberwort! Du sagen!« schrie Bupu zornig auf. »Hier! Guck!« Sie zeigte auf den vor ihnen liegenden Pfad und kreischte: »Ich sagen geheimes Zauberwort. Dort. Jetzt wir sehen heißen Zauber.«

Tolpan legte die Hand auf sein Gesicht. Ihm war schwindelig.

»Guck! Guck!« schrie Bupu triumphierend, während sie mit einem schmuddeligen Finger zeigte. »Siehst du? Ich fangen Feuer an. Geheimes Zauberwort versagt nie. Pah. Ein schlechter Zauberkundiger – er.«

Als Tolpan den Pfad hinuntersah, blinzelte er. Vor ihnen auf dem Weg waren Flammen sichtbar.

Ich gehe endgültig zurück nach Kenderheim, sinnierte Tolpan insgeheim. Ich kaufe mir ein kleines Haus... oder vielleicht ziehe ich ein paar Monate zu meinen Leuten, bis ich mich besser fühle.

»Wer ist dort?« rief eine helle, kristallklare Stimme.

Tolpan wurde von Erleichterung überflutet. »Es ist ein Lagerfeuer!« rief er vor Freude fast hysterisch. Und die Stimme! Er lief durch die Dunkelheit auf das Licht zu. »Ich bin es – Tolpan Barfuß. Ich habe – huch!«

Caramon riß den Kender vom Boden und hob ihn in seinen starken Armen in die Höhe.

»Pst«, flüsterte Caramon dicht an Tolpans Ohr. Der mit Schnaps vermischte Atem ließ den Kopf des Kenders schwimmen. »Da ist jemand!«

Tolpan zappelte hektisch, versuchte sich aus Caramons Griff zu lösen. Eine von dessen Händen legte sich ihm auf den Mund.

Tolpan begann blaue Sterne zu sehen. Er kämpfte verzweifelt, riß mit seiner ganzen Kraft an Caramons Hand, aber es wäre um das kurze Leben des Kenders geschehen gewesen, wenn nicht plötzlich Bupu vor Caramons Füßen aufgetaucht wäre.

»Geheimes Zauberwort«, kreischte sie und schleuderte die tote Ratte in Caramons Gesicht. Der entfernte Schein des Feuers spiegelte sich in den schwarzen Augen des Kadavers wider.

»Iiih!« kreischte Caramon und ließ den Kender fallen.

Tolpan fiel schwer auf den Boden und japste nach Luft.

»Was ist da los?« fragte eine kalte Stimme.

»Wir sind gekommen... um dich zu retten...«, erklärte Tolpan und erhob sich benommen.

Eine weißgekleidete, in Felle gehüllte Gestalt erschien vor ihnen auf dem Weg. Bupu sah in tiefem Argwohn zu ihr auf.

»Geheimes Zauberwort«, sagte die Gossenzwergin und wedelte mit der toten Ratte vor der Verehrten Tochter Paladins.

»Verzeih mir, wenn ich nicht besonders dankbar bin«, sagte Crysania zu Tolpan, als sie später am Abend um das Feuer saßen.

»Ich weiß. Es tut mir leid«, sagte Tolpan, der jämmerlich zusammengekrümmt auf dem Boden saß. »Ich habe ein Durcheinander angerichtet. Das mache ich öfter«, fuhr er kläglich fort. »Da kannst du alle fragen. Man hat mir schon oft gesagt, daß ich die Leute in den Wahnsinn treibe – aber es ist jetzt das erste Mal, daß ich es wirklich getan habe!« Die Nase hochziehend, warf er Caramon einen ängstlichen Blick zu.

Der große Mann saß in seinem Umhang am Feuer zusammengekauert. Immer noch unter dem Einfluß des starken Zwergenspiritus, war er manchmal Caramon und manchmal Raistlin. Als Caramon aß er gierig, stopfte mit Appetit das Essen in seinen Mund. Dann ergötzte er die anderen mit einigen obszönen Balladen – zum Entzücken von Bupu, die die ganze Zeit applaudierte und heftig einfiel. Tolpan war hin- und hergerissen zwischen dem starken Verlangen, wild zu kichern und sich hinter einem Felsen zu verkriechen und vor Scham zu sterben.

Aber der Kender entschied mit einem Schaudern, daß er Caramon über Caramon-Raistlin stellen würde. Die Verwandlung setzte plötzlich ein, mitten in einem Lied. Die Gestalt des großen Mannes brach zusammen, er begann zu husten, dann befahl er sich selbst, den Mund zu halten.

»Das hast du ihm nicht angetan«, sagte Crysania, die Caramon mit kühlem Blick musterte, zu Tolpan. »Es ist der Alkohol. Er ist unanständig, dickköpfig und offensichtlich ohne jegliche Selbstbeherrschung. Er läßt sich von seinen Gelüsten beherrsehen. Merkwürdig, nicht wahr, daß er und Raistlin Zwillinge sind. Sein Bruder ist so beherrscht, intelligent und kultiviert.« Sie zuckte die Schultern. »Oh, es besteht kein Zweifel, daß dieser arme Mann großes Mitleid verdient.« Sie erhob sich, ging hinüber, wo ihr Pferd angebunden stand, und schnallte ihre Bettrolle hinter dem Sattel los. »Ich werde ihn in meine Gebete zu Paladin einschließen.«

»Sicherlich schaden Gebete nicht«, sagte Tolpan zweifelnd, »aber ich denke, ein starker tarbäischer Tee würde gerade jetzt gut tun.«

Crysania drehte sich um und musterte den Kender mißbilligend. »Ich bin sicher, du wolltest keine Gotteslästerung begehen. Darum will ich deine Aussage so nehmen, wie sie geäußert wurde. Jedoch solltest du danach streben, die Dinge mit einer ernsthafteren Einstellung zu betrachten.«

»Ich war ernsthaft«, protestierte Tolpan. »Alles, was Caramon braucht, sind einige Kannen guten, starken tarbäischen Tees...«

Crysanias dunkle Augenbrauen zogen sich so eng zusammen, daß Tolpan in Schweigen verfiel, obgleich er nicht die leiseste Ahnung hatte, warum sie so ungehalten war. Er packte seine eigenen Decken aus. Er konnte sich nicht erinnern, jemals in einer so bedrückten Stimmung gewesen zu sein. Er fühlte sich fast genauso wie damals, als er mit Flint während der Schlacht in den Ebenen der Ostwildnis auf dem Drachen geritten war. Der Drache hatte sich in die Wolken erhoben, dann hatte er einen Sturzflug gemacht. Kurze Zeit war der Himmel unten gewesen, der Boden oben, und dann verlor sich alles im Nebel.

Er fühlte sich genauso wie damals. Crysania bewunderte Raistlin und bemitleidete Caramon. Tolpan war sich nicht sicher, aber es schien alles verkehrt. Dann war da Caramon, der Caramon und dann nicht Caramon war. Wirtshäuser, die in einer Minute da waren und in der anderen verschwanden. Ein geheimes Zauberwort, das er hören sollte, damit er wußte, wann er es nicht hören durfte. Dann machte er einen auf dem gesunden Menschenverstand fußenden Vorschlag betreffend tabäischen Tee und wurde wegen Gotteslästerung gemaßregelt! »Immerhin«, murmelte er, während er an seinen Decken riß, »sind Paladin und ich enge persönliche Freunde. Er weiß schon, wie ich es meine.«

Seufzend legte der Kender seinen Kopf auf einen aufgerollten Umhang. Bupu, die inzwischen fast überzeugt war, daß Caramon Raistlin war, schlief fest, sie hatte sich zusammengerollt, ihr Kopf ruhte am Fuß des großen Mannes. Caramon saß still da, ein Lied summend. Gelegentlich hustete er, und einmal verlangte er mit lauter Stimme, daß Tolpan ihm sein Zauberbuch bringe, damit er seine Magie studieren könne.

Crysania breitete ihre Decken auf einem Bett aus Tannennadeln aus, die sie gesammelt hatte, um die Feuchtigkeit fernzuhalten. Tolpan gähnte. Sie kam sicherlich besser klar, als er erwartet hatte. Sie hatte einen guten, vernünftigen Platz zum Übernachten ausgewählt – neben dem Pfad; ein Bach mit klarem Wasser floß in der Nähe, so brauchte man nicht zu tief in diesen düsteren und gespenstischen Wald zu gehen...

Gespenstischer Wald... woran erinnerte ihn das? Tolpan schreckte auf, als er gerade in den Schlaf gleiten wollte. Etwas Wichtiges. Gespenstischer Wald. Gespenster... Gespräche mit Gespenstern... »Düsterwald!« rief er beunruhigt aus und setzte sich kerzengerade auf.

»Was?« fragte Crysania, die sich gerade hinlegen wollte.

»Düsterwald!« wiederholte Tolpan beunruhigt. Er war jetzt hellwach. »Wir sind in der Nähe von Düsterwald. Wir sind gekommen, um dich zu warnen! Es ist ein entsetzlicher Ort. Du hättest da blindlings hineinstolpern können. Vielleicht sind wir schon drin...«

»Düsterwald?« Caramons Augen leuchteten auf. Er starrte mit einem verschwommenen Blick um sich.

»Unsinn«, sagte Crysania, die unter ihrem Kopf ein kleines Reisekissen zurechtrückte. »Wir sind nicht in Düsterwald, noch nicht. Es ist ungefähr fünf Meilen entfernt. Morgen werden wir auf einen Pfad stoßen, der uns dorthin führt.«

»Du – du willst dorthin?« keuchte Tolpan.

»Natürlich«, gab Crysania kalt zurück. »Ich werde den Herrn der Wälder um Hilfe bitten. Es würde viele lange Monate dauern, von hier zum Wald von Wayreth zu reisen, selbst zu Pferd. In Düsterwald bei dem Herrn der Wälder leben silberne Drachen. Sie werden mich zu meinem Ziel fliegen.«

»Aber die Geister, der uralte tote König und seine Anhänger...«

»...wurden von ihrer entsetzlichen Knechtschaft erlöst, als sie dem Ruf, gegen die Drachenfürsten zu kämpfen, folgten«, sagte Crysania mit nun etwas scharfer Stimme. »Du solltest wirklich die Kriegsgeschichte studieren, Tolpan. Als die menschlichen und elfischen Streitkräfte Qualinesti zurückeroberten, kämpften die Geister von Düsterwald mit ihnen, und damit wurden sie von der dunklen Verzauberung erlöst, die sie zu diesem fürchterlichen Leben verdammt hatte. Sie verließen diese Welt und wurden nicht mehr gesehen.«

»Oh«, sagte Tolpan dümmlich. Nachdem er sich umgeschaut hatte, legte er sich wieder zurück. »Ich habe mit ihnen geredet«, erzählte er sehnsüchtig. »Sie waren sehr höflich – ein bißchen plötzlich mit ihrem Kommen und Gehen, aber sehr höflich. Es ist irgendwie traurig zu denken...«

»Ich bin ziemlich müde«, unterbrach Crysania. »Und ich habe morgen eine weite Reise vor mir. Ich werde die Gossenzwergin mitnehmen und meinen Weg nach Düsterwald fortsetzen. Du kannst deinen betrunkenen Freund nach Hause bringen, wo er hoffentlich die Hilfe findet, die er braucht. Schlaf jetzt.«

»Sollte nicht einer von uns... Wache halten?« fragte Tolpan. »Diese Waldhüter sagten...« Er hielt plötzlich inne. Die »Waldhüter« waren in einem Wirtshaus gewesen, das später nicht mehr da gewesen war.

»Unsinn. Paladin wird uns bewachen«, sagte Crysania scharf. Sie schloß die Augen und begann leise ein Gebet aufzusagen.

Tolpan schluckte. »Ich frage mich, ob wir den gleichen Paladin meinen«, sagte er und dachte dabei an Fizban; er fühlte sich sehr einsam. Aber er sagte das leise, weil er nicht schon wieder der Gotteslästerung beschuldigt werden wollte. Er legte sich hin und hüllte sich in seine Decken, konnte aber keine behagliche Stellung finden. Schließlich setzte er sich, immer noch hellwach, auf und lehnte sich gegen einen Baumstamm. Die Frühlingsnacht war kühl, aber nicht unangenehm kalt. Der Himmel war klar, und es wehte kein Lüftchen. Tolpan fuhr mit seiner Hand über den Boden und befingerte das neue Gras, das sich unter dem Laub nach oben schob.

Der Kender seufzte. Warum fühlte er sich so unwohl? War da ein Geräusch? Brach ein Zweig? Tolpan zuckte zusammen und sah sich um, hielt den Atem an, um besser hören zu können. Nichts. Schweigen. Als er zum Himmel blickte, sah er Paladin, den Platindrachen, der um Gilean, die Waagschale, kreiste. Paladin gegenüber stand die Königin der Finsternis, Takisis, der fünfköpfige Drache.

»Du bist so schrecklich weit weg da oben«, sagte Tolpan zu dem Platindrachen. »Und du mußt eine ganze Welt bewachen, nicht nur uns. Sicherlich stört es dich nicht, wenn auch ich über unsere Nachtruhe wache. Es ist nur so, daß ich das Gefühl habe, ein anderer dort oben beobachtet uns auch, wenn du verstehst, was ich meine.« Der Kender erbebte. »Ich weiß nicht, warum ich mich plötzlich so komisch fühle. Vielleicht liegt es daran, daß wir so nah an Düsterwald sind und – nun ja, offensichtlich trage ich für alle die Verantwortung!«

Für einen Kender war dies ein unangenehmer Gedanke. Tolpan war daran gewöhnt, für sich selbst verantwortlich zu sein, aber als er mit Tanis und den anderen gereist war, war immer jemand anders für die Gruppe verantwortlich gewesen. Es hatte starke, geübte Krieger gegeben...

Was war das? Dieses Mal hatte er wirklich etwas gehört! Tolpan sprang auf, stand ruhig da, starrte in die Dunkelheit. Es war still, dann ein Rascheln, dann...

Ein Eichhörnchen. Tolpan stieß einen Seufzer aus. »Wenn ich schon stehe, kann ich noch ein Holzscheit aufs Feuer legen«, sagte er sich. Er eilte hinüber, warf Caramon einen Blick zu und spürte einen stechenden Schmerz. Es wäre einfacher gewesen, in der Dunkelheit Wache zu stehen, wenn er gewußt hätte, daß er sich auf Caramons starken Arm verlassen konnte. Aber der Krieger war auf seinen Rücken gefallen, seine Augen waren geschlossen, sein Mund geöffnet, in trunkener Zufriedenheit schnarchend. Ihren Kopf an seinem Fuß, vermischte sich Bupus Schnarchen mit seinem. Ihnen gegenüber, so weit wie möglich entfernt, schlief Crysania friedlich; ihre glatte Wange ruhte auf ihren gefalteten Händen.

Mit einem Seufzer warf Tolpan Holzscheite auf das Feuer. Er machte es sich gemütlich und beobachtete, wie das Feuer aufflammte, dann starrte er aufmerksam auf die nachtumhüllten Bäume. Da war es schon wieder.

»Eichhörnchen!« flüsterte Tolpan.

Bewegte sich da nicht etwas im Schatten? Man hörte ein deutliches Knacken – wie ein Zweig, der entzweibricht. So etwas tat ein Eichhörnchen nicht! Tolpan wühlte in seinem Beutel, bis sich seine Hand um ein kleines Messer schloß.

Der Wald bewegte sich! Die Bäume traten dichter heran!

Tolpan versuchte, einen Warnschrei auszustoßen, aber ein dünner Ast ergriff seinen Arm...

»Hilfe«, schrie Tolpan, zappelte sich frei und stach mit seinem Messer auf den Zweig ein.

Es folgte ein Fluchen und dann ein Schmerzensschrei. Der Zweig ließ seinen Griff los, und Tolpan atmete schwer. Was immer ihnen gegenüberstand, es lebte, es atmete...

»Angriff!« kreischte der Kender und taumelte nach vorn. »Caramon! Hilfe! Caramon...«

Zwei Jahre zuvor wäre der große Krieger sofort auf den Beinen gewesen, seine Hand um den Schwertknauf geschlossen, hellwach und für die Schlacht bereit. Aber Tolpan, der sich kriechend zum Feuer zurückbewegte, sah Caramons Kopf in trunkener Zufriedenheit auf einer Seite liegen.

»Crysania!« kreischte Tolpan, der nun weitere dunkle Umrisse aus dem Wald kriechen sah. »Wach auf! Bitte, wach auf!«

Er konnte jetzt die Wärme des Feuers spüren. Weiterhin die bedrohlichen Schatten im Auge behaltend, griff Tolpan nach unten und packte ein glühendes Holzscheit. Er hob es hoch und schleuderte es nach vorne.

Eine der Kreaturen setzte zum Sprung auf ihn an. Tolpan schlug mit seinem Messer zu, trieb sie zurück. Aber als sie ins Licht seines Holzscheites trat, konnte er sie erkennen.

»Caramon!« kreischte er. »Drakonier!«

Crysania war nun aufgewacht; Tolpan sah sie sich aufsetzen und sich in verschlafener Verwirrung umsehen.

»Das Feuer!« schrie Tolpan ihr verzweifelt zu. »Geh dicht zum Feuer!« Über Bupu stolpernd, stieß der Kender Caramon an. »Drakonier!« kreischte er wieder.

Ein Auge von Caramon öffnete sich, dann das andere, und beide blickten verschwommen um sich.

»Caramon! Den Göttern sei Dank!« keuchte Tolpan erleichtert.

Caramon setzte sich auf. Er spähte im Lager umher, völlig verwirrt, war aber immer noch Krieger genug, um sich nebelhaft der Gefahr bewußt zu sein. Er erhob sich unsicher, ergriff den Knauf seines Schwertes und rülpste. »Was ist?« murmelte er und versuchte etwas zu erkennen.

»Drakonier!« schrie Tolpan, hüpfte umher und fuchtelte mit dem flammenden Scheit und dem Messer mit solcher Heftigkeit herum, daß er es tatsächlich schaffte, seine Feinde in Schach zu halten.

»Drakonier?« murmelte Caramon und starrte ungläubig um sich. Dann erhaschte er ein Reptiliengesicht im Licht des sterbenden Feuers. Seine Augen öffneten sich weit. »Drakonier!« knurrte er wütend. »Tanis! Sturm! Kommt zu mir! Raistlin, deine Magie! Die knöpfen wir uns vor.« Er riß sein Schwert aus der Scheide, stürzte sich mit einem Kriegsschrei nach vorn – und fiel flach auf sein Gesicht.

Bupu hing an seinem Fuß.

»O nein!« stöhnte Tolpan.

Caramon lag auf dem Boden, blinzelte und schüttelte staunend den Kopf, versuchte zu verstehen, was ihn umgeworfen hatte. Bupu, die so grob geweckt wurde, begann vor Angst und Schmerz zu heulen, dann biß sie Caramon in den Knöchel.

Tolpan machte sich daran, dem gefallenen Krieger zu helfen – zumindest Bupu von ihm wegzuziehen —, als er einen Schrei hörte. Crysania! Verdammt! Er hatte sie vergessen! Er wirbelte herum und sah die Klerikerin im Kampf gegen einen der Drachenmänner.

Tolpan stürzte vor und stach wild auf den Drakonier ein. Kreischend ließ er von Crysania ab und fiel zurück, sein Körper verwandelte sich vor Tolpans Füßen in Stein.

Tolpan zerrte Crysania zu Caramon zurück, der versuchte, die Gossenzwergin von seinem Bein abzuschütteln.

Die Drakonier kamen näher. Tolpan sah sich um und erkannte, daß sie von den Kreaturen umzingelt waren. Aber warum griffen sie nicht an? Worauf warteten sie?

»Ist mit dir alles in Ordnung?« fragte er Crysania.

»Ja«, antwortete sie. Trotz ihrer Blässe wirkte sie ruhig. Tolpan sah, wie sich ihre Lippen bewegten – wahrscheinlich in einem stummen Gebet. »Hier«, sagte er und gab ihr das brennende Scheit in die Hand. »Ich vermute, du wirst gleichzeitig kämpfen und beten müssen.«

»Elistan hat es getan. Ich kann es ebenfalls«, erwiderte Crysania; ihre Stimme bebte nur ganz leicht.

Befehle wurden aus dem Schatten geschrien. Die Stimme war nicht die eines Drakoniers. Tolpan konnte sie nicht einordnen. Er wußte nur, daß allein ihr Klang ihn erschauern ließ. Aber ihm blieb keine Zeit, darüber nachzudenken. Die Drakonier mit ihren heraushängenden Zungen setzten zum Sprung an.

Crysania schlug ihnen mit dem Holzscheit unbeholfen entgegen, aber es reichte aus, um die Drakonier zögern zu lassen.

Tolpan versuchte immer noch, Bupu von Caramon wegzureißen. Aber es war ein Drakonier, der ihnen unabsichtlich zu Hilfe eilte. Tolpan zurückschiebend, legte der Drachenmann eine Klauenhand auf Bupu.

Gossenzwerge sind auf ganz Krynn wegen ihrer Feigheit und völligen Unzuverlässigkeit im Kampf bekannt. Aber wenn sie in eine Ecke gedrängt werden, können sie kämpfen wie tollwütige Ratten.

Bupu hörte auf, an Caramons Knöchel zu nagen, und grub ihre Zähne in die Schuppenhaut des Beines des Drakoniers.

Der Drakonier gab einen entsetzlichen Schrei von sich. Er hob sein Schwert, und Bupus Ende schien gekommen zu sein, als Caramon den Arm der Kreatur durchschnitt. Bupu setzte sich zurück, leckte sich die Lippen und sah sich gierig nach einem neuen Opfer um.

»Hurra, Caramon!« jubelte Tolpan wild, sein kleines Messer stieß hier und dort so schnell wie eine Schlange zu. Crysania schlug mit ihrem Holzscheit auf einen Drakonier ein und schrie dabei Paladins Namen. Die Kreatur stürzte zu Boden.

Nun standen nur noch zwei oder drei Drakonier herum, die Tolpan erkennen konnte, und der Kender begann, sich in Hochstimmung zu fühlen. Die Kreaturen direkt außerhalb des Feuerscheins beäugten Caramon, wie er auf die Füße taumelte. Er gab wie in alten Zeiten eine bedrohliche Figur ab. Seine Schwertklinge glänzte in den roten Flammen.

»Mach sie fertig, Caramon!« kreischte Tolpan mit schriller Stimme. »Schlag ihre Köpfe zusammen...« Die Stimme des Kenders erstarb, als sich Caramon langsam zu ihm umwandte; ein seltsamer Blick lag in seinem Gesicht.

»Ich bin nicht Caramon«, sagte er leise. »Ich bin sein Zwillingsbruder Raistlin. Caramon ist tot. Ich habe ihn umgebracht.« Er sah das Schwert in seiner Hand an, dann ließ er es fallen, als ob es ihn gestochen hätte. »Was tue ich hier mit dem kalten Stahl in meinen Händen?« fragte er barsch. »Wie kann ich mit Schwert und Schild zaubern?«

Tolpan würgte, warf den Drakoniern einen beunruhigten Blick zu. Er konnte sehen, wie sie listige Blicke austauschten. »Du bist nicht Raistlin! Du bist Caramon!« schrie er verzweifelt, aber es hatte keinen Sinn. Das Gehirn des Mannes war immer noch in Zwergenspiritus getaucht. Caramon, dessen Geist völlig zerrüttet war, schloß die Augen, hob die Hände und stimmte einen Singsang an.

Das grinsende Gesicht eines Drakoniers tauchte vor Tolpan auf. Stahl blitzte auf, und der Kopf des Kenders schien vor Schmerz zu explodieren...

Tolpan lag auf dem Boden. Warme Flüssigkeit lief über sein Gesicht, ließ ihn auf einem Auge nichts mehr sehen, tröpfelte in seinen Mund. Er schmeckte Blut. Er war müde... sehr müde...

Aber der Schmerz war furchtbar. Er würde ihn nicht schlafen lassen. Er hatte Angst, seinen Kopf zu bewegen, und so lag er ganz still da und beobachtete die Welt mit einem Auge.

Er hörte die Gossenzwergin wie ein gequältes Tier schreien, und dann hörten die Schreie plötzlich auf. Er hörte einen tiefen Schmerzensschrei, ein ersticktes Aufstöhnen, und ein riesiger Körper stürzte neben ihm zu Boden. Es war Caramon, Blut strömte aus seinem Mund, seine Augen waren weit aufgerissen und starr.

Tolpan konnte keine Traurigkeit empfinden. Er konnte überhaupt nichts empfinden, nur diesen fürchterlichen Schmerz in seinem Kopf. Ein großer Drakonier stand über ihm mit dem Schwert in der Hand. Er wußte, daß die Kreatur ihn töten wollte. Tolpan kümmerte es nicht. Mach mit dem Schmerz ein Ende, bat er. Mach es schnell.

Dann wirbelten weiße Roben auf, und eine klare Stimme rief Paladin. Der Drakonier verschwand, das Geräusch von Klauenfüßen, die durch das Gebüsch scharrten, war zu hören. Die weißen Roben knieten sich neben ihn, er spürte die Berührung einer sanften Hand auf seinem Kopf und hörte wieder den Namen Paladin. Der Schmerz verschwand. Als er aufschaute, sah er die Hand der Klerikerin Caramon berühren, sah die Lider des großen Mannes zittern und sich zu einem friedlichen Schlaf schließen.

Es ist alles in Ordnung! dachte Tolpan in Hochstimmung. Sie sind verschwunden! Wir werden schon wieder auf die Beine kommen! Dann merkte er, daß seine Hand zitterte. Durch die Heilkräfte der Klerikerin wieder zur Besinnung kommend, die durch seinen Körper strömten, hob der Kender den Kopf.

Irgend etwas kam. Etwas hatte die Drakonier zurückgerufen. Etwas bewegte sich zum Feuer. Tolpan versuchte, eine Warnung zu schreien, aber seine Kehle war wie zugeschnürt.

Er sah, wie Crysania sich erhob, ihre weißen Roben fegten über sein schmutziges Gesicht. Langsam begann sie, vor dem Ding zurückzuweichen, das auf sie zuschritt. Tolpan hörte sie zu Paladin rufen, aber die Worte kamen aus Lippen, die vor Entsetzen starr waren.

Tolpan wollte verzweifelt seine Augen schließen. Angst und Neugierde tobten in seinem Körper. Die Neugierde trug den Sieg davon. Er spähte mit seinem guten Auge und beobachtete die entsetzliche Gestalt, die auf die Klerikerin zuging. Die Gestalt war in die Rüstung eines solamnischen Ritters gekleidet. Als sie sich Crysania näherte, streckte sie einen Arm aus, der nicht in eine Hand überging. Sie sprach Worte, die nicht aus einem Mund kamen. Ihre Augen flackerten orangefarben auf, ihre durchsichtigen Beine schritten durch die glühende Asche des Feuers. Die Eiseskälte der Regionen, in denen sie zum ewigen Leben gezwungen war, strömte von ihrem Körper, ließ das Mark in Tolpans Knochen einfrieren.

Voller Angst hob Tolpan den Kopf. Er sah Crysania zurückweichen. Er sah den toten Ritter mit langsamen, festen Schritten auf sie zugehen.

Der Ritter hob seine rechte Hand und zeigte mit einem blassen, schimmernden Finger auf Crysania. »Stirb!«

In diesem Augenblick sah Tolpan Crysania ihre Hand erheben und das Medaillon umgreifen, das sie um den Hals trug. Er sah einen hellen Blitz reinen weißen Lichtes aus ihren Fingern schießen, und dann fiel sie auf den Boden, als ob sie von dem fleischlosen Finger erstochen worden wäre.

»Nein!« hörte Tolpan sich schreien. Er sah, wie sich die orangefarbenen, flackernden Augen auf ihn richteten, und eine eisige Dunkelheit, wie die Dunkelheit eines Grabes, versiegelte seine Augen und seinen Mund...

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