3

»Im Namen der Götter«, wiederholte Tanis kummervoll, während er sich zu dem bewußtlosen Krieger beugte. »Caramon...«

»Tanis...« Flußwinds Stimme ließ den Halbelf schnell nach oben schauen. Der Barbar hielt Tika in seinen Armen, er und Dezra versuchten, die aufgewühlte junge Frau zu trösten. Aber Leute drängten sich näher, versuchten, Flußwind Fragen zu stellen, oder baten Crysania um einen Segen. Andere verlangten nach Bier oder standen einfach nur glotzend herum.

Tanis erhob sich schnell. »Das Wirtshaus ist für die Nacht geschlossen«, rief er.

Aus der Menge kam Hohngelächter, abgesehen von vereinzeltem Beifall im hinteren Raum, wo einige Gäste verstanden hatten, er wolle eine Runde ausgeben.

»Nein, es ist mein Ernst«, sagte Tanis fest; seine Stimme übertönte den Lärm. Die Menge kam zur Ruhe. »Ich danke euch allen für diesen Empfang. Ich kann euch gar nicht sagen, was es für mich bedeutet, wieder in meiner Heimat zu sein. Aber meine Freunde und ich wollen jetzt allein sein. Bitte, es ist spät...«

Mitfühlendes Gemurmel und ein gutgemeintes Klatschen setzten ein. Flußwind überließ es Dezra, sich um Tika zu kümmern, und kam nach vorne, um die wenigen Säumigen anzutreiben, die glaubten, Tanis habe die anderen, nur sie selbst nicht gemeint. Der Halbelf hielt bei Caramon Wache, der selig auf dem Fußboden schnarchte, und hinderte die Leute, auf den großen Mann zu treten. Er tauschte mit Flußwind einen Blick, als der Barbar an ihm vorbeiging, aber beide hatten erst Zeit zu sprechen, als das Wirtshaus leer war.

Otik Sandet stand an der Tür, dankte allen für ihr Kommen und versicherte ihnen, daß das Wirtshaus am nächsten Abend wieder geöffnet sein werde. Als alle gegangen waren, trat Tanis zu dem Eigentümer.

Der ältere Mann faßte Tanis am Arm und flüsterte ihm zu: »Ich bin froh, daß du zurückgekehrt bist. Schließ ab, wenn ihr fertig seid.« Er blickte kurz zu Tika, dann gab er ihm einen verschwörerischen Wink. »Tanis«, sagte er flüsternd, »wenn du zufällig siehst, daß Tika etwas aus der Geldkiste nimmt, beachte es nicht. Sie wird es eines Tages zurückgeben. Ich tue einfach so, als ob ich es nicht merke.« Sein Blick ging zu Caramon, und er schüttelte traurig den Kopf. »Ich weiß, du bist in der Lage zu helfen«, murmelte er, dann nickte er und stapfte auf seinen Rohrstock gestützt in die Nacht.

Helfen! dachte Tanis wild. Wir kamen, um seine Hilfe zu suchen. Caramon gab ein besonders lautes Schnarchen von sich, wurde davon wach, rülpste den Geruch von Zwergenspiritus aus und machte es sich wieder bequem. Tanis blickte düster auf Flußwind, dann schüttelte er verzweifelt den Kopf.

Crysania starrte halb mitleidig, halb angewidert auf Caramon. »Armer Mann«, sagte sie leise. Das Medaillon von Paladin glänzte im Kerzenschein. »Vielleicht...«

»Du kannst nichts für ihn tun«, weinte Tika. »Er braucht keine Heilung. Er ist betrunken, siehst du das nicht?«

Crysanias Blick wandte sich erstaunt zu Tika, aber bevor die Klerikerin etwas sagen konnte, trat Tanis zu Caramon. »Hilf mir, Flußwind«, sagte er, während er sich niederbeugte. »Wir bringen ihn nach Hau...«

»Ach, laß ihn liegen!« unterbrach ihn Tika und wischte sich die Augen mit dem Zipfel ihrer Schürze ab. »Er hat schon manche Nacht auf dem Fußboden verbracht. Eine weitere Nacht spielt keine Rolle.« Sie wandte sich zu Tanis. »Ich wollte es dir sagen. Wirklich. Aber ich dachte... Ich habe gehofft... Er war so aufgeregt, als dein Brief ankam. Er war... nun, mehr er selbst, wie ich ihn schon lange Zeit nicht mehr erlebt habe. Ich dachte, damit ist es vielleicht getan. Er würde sich ändern. Darum wollte ich, daß du kommst.« Sie ließ den Kopf hängen. »Es tut mir so leid...«

Tanis stand unentschlossen neben dem großen Krieger. »Ich verstehe nicht. Wie lange...«

»Darum konnten wir nicht zu eurer Hochzeit kommen, Tanis«, sagte Tika. »Ich wäre so gern gekommen! Aber...« Sie begann wieder zu weinen.

Dezra legte ihre Arme um sie. »Setz dich, Tika«, murmelte sie und half ihr, auf einer Bank mit hoher Lehne Platz zu nehmen.

Tika sank hinunter, ihre Beine gaben plötzlich nach.

»Laßt uns alle sitzen«, sagte Tanis, »und laßt uns einen klaren Kopf bekommen. Du dort...« Der Halbelf winkte den Gossenzwerg herbei, der sie von der Holztheke anstarrte. »Bring uns einen Krug Bier und einige Becher, Wein für Crysania, Würzkartoffeln...«

Tanis hielt inne. Der verwirrte Gossenzwerg starrte ihn mit kugelrunden Augen an, sein Mund war sperrangelweit geöffnet.

»Ich mache das lieber, Tanis«, bot sich Dezra lächelnd an. »Du wirst höchstwahrscheinlich einen Krug voller Kartoffeln bekommen, wenn Raf sich darum kümmern soll.«

»Ich helfen!« protestierte Raf empört.

»Du bringst den Abfall nach draußen!« fuhr Dezra ihn an.

»Ich große Hilfe...«, murmelte Raf verzweifelt, als er hinausschlurfte.

»Eure Zimmer sind im neuen Teil des Wirtshauses«, murmelte Tika. »Ich zeige sie euch...«

»Wir werden sie später finden«, sagte Flußwind streng, aber als er zu Tika sah, füllten sich seine Augen mit Mitgefühl. »Setz dich und sprich mit Tanis. Er muß bald aufbrechen.«

»Verdammt! Mein Pferd!« sagte Tanis und schreckte plötzlich hoch. »Ich bat den Jungen, es vorbeizubringen...«

»Ich kümmere mich darum«, bot Flußwind an.

»Nein, ich gehe. Es dauert nur einen Augenblick...«

»Mein Freund«, sagte Flußwind leise, als er an ihm vorbeiging, »ich muß an die frische Luft! Ich komme zurück, um dir zu helfen...« Er nickte in Richtung des schnarchenden Caramon.

Tanis lehnte sich erleichtert zurück. Der Mann aus den Ebenen verließ den Raum. Crysania nahm neben Tanis Platz und starrte sprachlos auf Caramon. Tanis sprach weiter zu Tika über kleine, belanglose Dinge, bis sie in der Lage war, sich aufzurichten, und sogar ein wenig lächelte. Als Dezra mit Getränken zurückkehrte, schien Tika entspannter, obgleich ihr Gesicht immer noch abgespannt wirkte. Tanis bemerkte, daß Crysania kaum ihren Wein anrührte. Sie saß einfach da und sah gelegentlich zu Caramon, die dunkle Linie erschien wieder zwischen ihren Brauen. Tanis wußte, er hätte ihr erklären sollen, was sich hier abspielte, aber zuvor wollte er selbst eine Erklärung haben. »Wann hat das...«, begann er zögernd.

»Angefangen?« Tika seufzte. »Ungefähr sechs Monate, nachdem wir zurückgekehrt waren.« Ihr Blick ging zu Caramon. »Er war so glücklich – anfangs. Die Stadt war völlig im Chaos, Tanis. Der Winter war für die Überlebenden entsetzlich gewesen. Die meisten waren am Verhungern, die Drakonier und die Goblinsoldaten nahmen ihnen alles weg. Diejenigen, deren Häuser zerstört worden waren, lebten dort, wo sie Schutz finden konnten – in Höhlen, Schuppen. Die Drakonier hatten die Stadt verlassen, als wir zurückkamen, und die Leute waren mit dem Aufbau beschäftigt. Sie begrüßten Caramon als Helden – die Barden waren bereits hier gewesen und hatten ihre Lieder über die Niederlage der Königin gesungen.« Tikas Augen schimmerten von Tränen und Stolz. »Er war so glücklich, Tanis, eine Zeitlang. Die Leute brauchten ihn. Er arbeitete Tag und Nacht – fällte Bäume, schleppte Holz von den Hügeln heran, baute Häuser. Er nahm sogar Schmiedearbeiten an, da Theros ja nicht mehr da war. Oh, er war nicht gut darin.« Tika lächelte traurig. »Aber er war glücklich, und es störte niemanden wirklich. Er stellte Nägel und Hufeisen und Wagenräder her. Das erste Jahr war gut für uns – wirklich gut. Wir heirateten, und Caramon schien zu vergessen...« Tika schluckte.

Tanis streichelte ihre Hand, und nachdem sie schweigend ein wenig gegessen und Wein getrunken hatte, konnte sie weitererzählen. »Jedoch im vergangenen Frühling begann sich alles zu ändern. Irgend etwas geschah mit Caramon. Ich bin mir nicht sicher, was. Es hatte etwas zu tun mit...« Sie brach ab, schüttelte den Kopf. »Die Stadt blühte wieder auf. Ein Schmied, der in Pax Tarkas gefangengehalten worden war, zog hierher und übernahm die Schmiede. Nun, es war immer noch nötig, für die Leute Häuser zu bauen, aber es war nicht mehr so eilig. Ich übernahm das Wirtshaus.« Tika zuckte die Schultern. »Ich vermute, Caramon hatte einfach zu viel Zeit.«

»Niemand brauchte ihn«, sagte Tanis grimmig.

»Nicht einmal ich...«, sagte Tika, schluckte und wischte sich über die Augen. »Vielleicht habe ich Schuld...«

»Nein«, widersprach Tanis. »Es ist nicht deine Schuld, Tika. Ich glaube, wir wissen beide, wer die Schuld trägt.«

»Egal«, Tika holte tief Luft. »Ich versuchte zu helfen, aber ich hatte hier so viel zu tun. Ich schlug alle möglichen Dinge vor, die er tun könnte, und er versuchte es auch. Er half dem örtlichen Wachtmeister, spürte abtrünnige Drakonier auf. Er arbeitete eine Zeitlang als Leibwächter, von Leuten angeheuert, die nach Haven reisten. Aber niemand heuerte ihn ein zweites Mal an.« Ihre Stimme wurde leiser. »Eines Tages im letzten Winter kehrte die Reisegruppe, die er beschützen sollte, mit ihm zurück, sie brachten ihn auf einem Schlitten. Er war völlig betrunken. Seitdem verbringt er seine ganze Zeit mit Schlafen und Essen oder steckt mit einigen Ex-Söldnern im Wirtshaus zum Trog zusammen, dieser Spelunke am anderen Ende der Stadt.«

Tanis wünschte, Laurana wäre hier, um solche Angelegenheiten zu besprechen, und schlug leise vor: »Vielleicht ein Kind?«

»Im letzten Sommer war ich schwanger«, sagte Tika teilnahmslos und stützte den Kopf in die Hand. »Aber nicht lange. Ich hatte eine Fehlgeburt. Caramon wußte überhaupt nichts davon. Seitdem...«, sie starrte auf den Holztisch, »nun schlafen wir nicht mehr im gleichen Zimmer.«

Vor Verlegenheit errötend, konnte Tanis nichts anderes tun, als ihre Hand zu streicheln und eilig das Thema zu wechseln. »Du hast vorhin gesagt, es habe etwas zu tun... womit?«

Tika erschauerte, dann trank sie einen Schluck Wein. »Damals begannen die Gerüchte, Tanis«, sagte sie mit leiser Stimme. »Dunkle Gerüchte. Du kannst dir wohl vorstellen, über wen!«

Tanis nickte.

»Caramon schrieb ihm, Tanis. Ich habe den Brief gesehen. Es war – es riß mein Herz entzwei. Kein Wort des Vorwurfs. Er war von Liebe erfüllt. Caramon bat seinen Bruder, zurückzukommen und bei uns zu leben. Er bat ihn, sich von der Dunkelheit abzuwenden.«

»Und was geschah dann?« fragte Tanis, obwohl er sich die Antwort bereits vorstellen konnte.

»Der Brief kam zurück«, flüsterte Tika. »Ungeöffnet. Das Siegel war nicht einmal gebrochen. Und auf dem Umschlag stand geschrieben: ›Ich habe keinen Bruder. Ich kenne niemanden mit Namen Caramon.‹ Und es war mit ›Raistlin‹ unterschrieben!«

»Raistlin!« Crysania sah Tika an, als sähe sie sie zum ersten Mal. Ihre grauen Augen waren groß und erstaunt, als sie sich von der rothaarigen jungen Frau zu Tanis wandten und dann zu dem riesigen Krieger auf dem Boden, der in seinem trunkenen Schlaf behaglich rülpste. »Caramon... Das ist Caramon Majere? Das ist sein Bruder? Der Zwilling, von dem du mir erzählt hast? Der Mann, der mich führen sollte...«

»Es tut mir leid, Verehrte Tochter«, sagte Tanis und wurde rot. »Ich hatte keine Ahnung, daß er...«

»Aber Raistlin ist so... intelligent, mächtig. Ich dachte, sein Zwillingsbruder müsse genauso sein. Raistlin ist sensibel, er beherrscht sich und jene, die ihm dienen. Er ist ein Perfektionist, während diese«, Crysania machte eine Handbewegung, »diese erbärmliche Kreatur, die zwar unser Mitleid und unsere Gebete verdient...«

»Dein sensibler und intelligenter Perfektionist hatte seine Hand im Spiel, daß diese ›erbärmliche Kreatur‹ so geworden ist, wie du sie jetzt vorfindest, Verehrte Tochter«, sagte Tanis mit beißender Stimme und versuchte angestrengt, seinen Zorn unter Kontrolle zu halten.

»Vielleicht war es genau anders herum«, sagte Crysania, während sie Tanis kalt musterte. »Vielleicht war es mangelnde Liebe, daß Raistlin sich vom Licht abwandte und in die Dunkelheit ging.«

Tika sah zu Crysania auf, in ihren Augen war ein eigenartiger Ausdruck. »Mangelnde Liebe?« wiederholte sie leise.

Caramon stöhnte im Schlaf und begann um sich zu schlagen.

Tika erhob sich schnell. »Wir bringen ihn lieber nach Hause.« Sie blickte hoch und sah Flußwinds große Gestalt in der Tür erscheinen, dann wandte sie sich zu Tanis. »Ich sehe dich morgen früh, nicht wahr? Kannst du nicht bleiben... wenigstens diese Nacht?«

Tanis sah in ihre flehenden Augen. »Es tut mir leid, Tika«, sagte er und ergriff ihre Hände. »Ich wünschte, ich könnte, aber ich muß weiter. Es ist ein langer Ritt von hier nach Qualinost, und ich wage nicht, mich zu verspäten. Das Schicksal von zwei Königreichen hängt vielleicht von meiner Gegenwart ab.«

»Ich verstehe«, sagte Tika leise. »Es ist auch nicht dein Problem. Ich komme schon klar.«

Tanis hätte sich vor Enttäuschung am liebsten den Bart ausgerissen. Er wäre am liebsten geblieben und hätte geholfen, wenn er überhaupt helfen konnte. Zumindest konnte er dann mit Caramon reden, versuchen, in diesen dicken Schädel etwas Vernunft zu bringen. Aber Porthios würde es als persönliche Beleidigung nehmen, wenn Tanis nicht zur Beerdigung erschiene, was sich nicht nur auf seine persönliche Beziehung zu Lauranas Bruder auswirken würde, sondern auch noch auf den Bündnisvertrag, der gerade zwischen Qualinesti und Solamnia verhandelt wurde.

Und dann, als seine Augen zu Crysania wanderten, wurde Tanis klar, daß er auch noch vor einem anderen Problem stand. Er stöhnte innerlich auf. Er konnte sie nicht nach Qualinost mitnehmen. Porthios konnte mit menschlichen Klerikern nichts anfangen.

»Schau«, sagte Tanis, der plötzlich eine Idee hatte. »Ich komme nach der Beerdigung zurück.« Tikas Augen leuchteten auf. Er wandte sich zu Crysania. »Ich lasse dich hier zurück, Verehrte Tochter. In dieser Stadt, in diesem Wirtshaus bist du sicher aufgehoben. Dann kann ich dich zurück nach Palanthas begleiten, da deine Reise fehlgeschlagen ist...«

»Meine Reise ist nicht fehlgeschlagen«, unterbrach ihn Crysania entschlossen. »Ich werde sie weiterführen, so wie ich sie begann. Ich beabsichtige, zum Turm der Erzmagier von Wareth zu reisen, um mich dort mit Par-Salian von den Weißen Roben zu beratschlagen.«

Tanis schüttelte den Kopf. »Ich kann dich nicht dorthin bringen«, sagte er. »Und Caramon ist offensichtlich nicht in der Lage. Darum schlage ich vor...«

»Ja«, unterbrach Crysania selbstgefällig. »Caramon ist eindeutig unfähig. Darum werde ich auf deinen Kenderfreund warten, der mich hier treffen wollte mit der Person, nach der er gesucht hat, und dann werde ich die Reise allein fortsetzen.«

»Nein!« schrie Tanis. Flußwind zog seine Augenbrauen hoch, um Tanis zu erinnern, mit wem er sprach. Mit Mühe gewann der Halbelf seine Beherrschung wieder. »Du kannst dir die Gefahr nicht vorstellen! Außer diesen dunklen Dingen, die uns verfolgt haben – und ich denke, wir wissen alle, wer sie geschickt hat —, kenne ich Caramons Geschichten über den Wald von Wayreth. Er ist noch dunkler! Wir kehren nach Palanthas zurück. Ich werde Ritter finden...«

Zum ersten Mal sah Tanis einen blassen Hauch von Farbe Crysanias Marmorwangen berühren.

Ihre dunklen Brauen zogen sich zusammen, als ob sie nachdächte. Dann klärte sich ihr Gesicht. Lächelnd sah sie zu Tanis auf. »Es gibt keine Gefahr«, sagte sie. »Ich bin in Paladins Händen. Die dunklen Kreaturen hat vielleicht Raistlin geschickt, aber sie haben keine Kraft, mir zu schaden! Sie haben lediglich meinen Entschluß bestärkt.« Als sie sah, daß Tanis’ Gesicht noch grimmiger wurde, seufzte sie. »Ich verspreche dir so viel, daß ich darüber nachdenken werde. Vielleicht hast du recht. Vielleicht ist die Reise zu gefährlich...«

»Und eine Zeitverschwendung!« murmelte Tanis. Kummer und Erschöpfung ließen ihn schonungslos aussprechen, was er die ganze Zeit schon über den verrückten Plan der Frau gedacht hatte. »Wenn Par-Salian Raistlin vernichten könnte, dann hätte er das schon vor langer Zeit getan...«

»Vernichten!« Crysania musterte Tanis schockiert, ihre grauen Augen waren kalt. »Ich trachte nicht nach seiner Vernichtung.«

Tanis starrte sie erstaunt an.

»Ich trachte danach, ihn zu bekehren«, fuhr Crysania fort. »Ich will jetzt in meine Räume, wenn jemand so liebenswürdig ist, mich dorthin zu führen.«

Dezra eilte herbei. Crysania wünschte gelassen allen eine gute Nacht, dann folgte sie Dezra aus dem Zimmer. Tanis starrte ihr hinterher, ihm fehlten die Worte. Er hörte Flußwind etwas auf Que-Shu murmeln. Dann stöhnte Caramon wieder auf. Flußwind stieß Tanis an. Gemeinsam beugten sie sich über den schlummernden Caramon und zogen den großen Mann auf seine Füße.

»Ist der schwer!« keuchte Tanis und taumelte unter dem vollen Gewicht des Mannes, als Caramons schlaffe Arme über seine Schultern fielen. Der Gestank des Zwergenspiritus ließ ihn würgen.

»Wie kann er nur dieses Zeug trinken?« fragte Tanis Flußwind, als sie den betrunkenen Mann zur Tür schafften, während Tika ängstlich folgte.

»Ich kannte einmal einen Krieger, der diesem Fluch zum Opfer gefallen war«, grunzte Flußwind. »Er verunglückte, als er über einen Felsen sprang, von Kreaturen verfolgt, die nur in seinem Kopf existierten.«

»Ich sollte bleiben...«, murmelte Tanis.

»Du kannst nicht in der Schlacht für einen anderen kämpfen, mein Freund«, sagte Flußwind bestimmt. »Insbesondere, wenn es eine Schlacht zwischen einem Mann und seiner eigenen Seele ist.«

Es war nach Mitternacht, als Tanis und Flußwind Caramon sicher nach Hause gebracht und ihn auf seinem Bett abgeladen hatten. Tanis war in seinem ganzen Leben noch nie so müde gewesen. Seine Schultern schmerzten vom Gewicht des riesigen Kriegers. Er war völlig erschöpft, seine Erinnerungen an die Vergangenheit – einst angenehm – waren jetzt wie eine alte Wunde, offen und blutend. Und vor ihm lag noch ein stundenlanger Ritt. »Ich wünschte, ich könnte bleiben«, wiederholte er zu Tika, als sie zusammen mit Flußwind vor ihrer Tür standen und über die schlafende, friedliche Stadt Solace blickten. »Ich fühle mich verantwortlich...«

»Nein, Tanis«, sagte Tika ruhig. »Flußwind hat recht. Du kannst seinen Krieg nicht führen. Du führst jetzt dein eigenes Leben. Außerdem kannst du nichts tun. Du könntest die Dinge höchstens verschlimmern.«

»Vermutlich.« Tanis runzelte die Stirn. »Auf jeden Fall bin ich in ungefähr einer Woche wieder zurück. Ich werde dann mit Caramon sprechen.«

»Das wäre schön.« Tika seufzte, dann wechselte sie das Thema. »Nebenbei, was meinte Crysania damit, als sie über einen Kender sprach, der kommen soll? Tolpan?«

»Ja«, antwortete Tanis und kratzte sich am Bart. »Es hat etwas mit Raistlin zu tun, aber ich weiß nicht genau, was. Wir trafen Tolpan zufällig in Palanthas. Er fing wieder mit seinen Geschichten an. Ich warnte sie, daß nur die Hälfte von dem, was er sagt, wahr ist, und selbst diese Hälfte ist unsinnig, aber er hat sie vermutlich überredet, ihn nach einer Person suchen zu lassen, von der sie meint, daß sie ihr helfen kann, Raistlin zu bekehren!«

»Diese Frau ist wohl eine heilige Klerikerin von Paladin«, sagte Flußwind streng. »Mögen die Götter mir verzeihen, wenn ich über eine von ihnen Auserwählte schlecht spreche. Aber ich glaube, sie ist verrückt.« Nach dieser Erklärung warf er seinen Bogen über die Schulter und machte sich zum Aufbruch bereit.

Tanis schüttelte den Kopf. Er legte seinen Arm um Tika und küßte sie. »Ich befürchte, Flußwind hat recht«, sagte er leise zu ihr. »Halte ein Auge auf Crysania, solange sie hier ist. Ich werde mit Elistan über sie reden müssen, wenn wir zurückkehren. Ich frage mich, wieviel er von ihrem verrückten Plan weiß. Wenn Tolpan hier aufkreuzt, halte ihn fest, ja? Ich will nicht, daß er nach Qualinost kommt! Wie es aussieht, werde ich genug Ärger mit Porthios und den Elfen haben!«

»Sicher, Tanis«, sagte Tika sanft. Einen Augenblick schmiegte sie sich eng an ihn, ließ sich von seiner Kraft und dem Mitgefühl trösten, das sie in seiner Berührung und seiner Stimme spürte.

Tanis zögerte. »Tika...«, begann er.

Aber sie schob ihn von sich weg. »Geh, Tanis«, sagte sie bestimmt. »Du hast einen langen Ritt vor dir.«

»Tika. Ich wünschte...« Aber es gab nichts, was er ihr sagen konnte, was helfen konnte, und beide wußten es.

Er drehte sich langsam um und ging Flußwind nach.

Während sie beiden nachschaute, lächelte Tika. »Du bist sehr klug, Tanis. Aber dieses Mal irrst du dich«, sagte sie zu sich. »Crysania ist nicht verrückt. Sie ist verliebt.«

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