18. Kapitel

»Bei allem, was ich bis jetzt auch erlebt habe… so was wie eine Lappalie ist mir noch nie untergekommen.«

»Der Mondstein«

Wilkie Collins


Ein ausgiebiger Nachtschlaf • Ein Deckname • Ein jäher Aufbruch • Noch mehr Decknamen • Madame Iritoskys Zukunft wird geweissagt • Das Rätsel der Federhalterwischer klärt sich auf • Des Bischofs Vogeltränke als Mordwaffe • Ein Raub • Das Rätsel der verschwundenen Rubine klärt sich auf, ebenso das Rätsel um das Tagebuch • Eine verzögerte Abreise • Im Zug nach Coventry • Ein Rückschlag


Es brauchte gut eine Stunde und eine ganze Flasche Benzin, um Cyrils Fell von Balmain’s Leuchtfarbe zu säubern, wobei Prinzessin Arjumand assistierte. Schließlich mußten die Dämpfe uns umgehauen haben, denn ich kam erst wieder zu mir, als Baine neben meinen Bett stand, mich rüttelte und sagte: »Tut mir leid, daß ich Sie wecken muß, Sir, aber es ist nach sechs, und Colonel Mering bat mich, ihn und Professor Peddick um sieben zu wecken.«

»Hrrrhm«, sagte ich und bemühte mich, wach zu werden. Cyril grub sich tiefer in die Decken.

»Jimmy Slumkin, Sir«, sagte Baine, während er heißes Wasser in die Waschschüssel goß.

»Bitte?«

»Der wahre Name des Count. Jimmy Slumkin. Ich habe seinen Paß gesehen.«

Slumkin. Er konnte also nicht der mysteriöse Mr. C sein, was unter den Umständen sicher auch gut war, aber ich hatte doch gehofft, wenigstenseinen Verdächtigen zu haben. Lord Peter Wimseys und Monsieur Poirots Problem war stets, daß sie zu viele Verdächtige hatten. Ich hatte noch von keinem Kriminalroman gehört, wo der Detektiv überhaupt keine hatte.

Ich setzte mich und schwang die Füße aus dem Bett. »Mit S oder C?«

Baine hielt beim Sortieren der Rasiermesser inne und wandte sich mir mit irritiertem Blick zu. »Wie bitte, Sir?«

»Slumkin. Wird es mit S oder C geschrieben?«

»S«, sagte er. »Warum, Sir?«

»Madame Iritosky sagte Miss Mering, daß sie jemanden heiraten würde, dessen Name mit C beginnt«, erklärte ich, wobei ich die Wahrheit etwas zurechtbog.

Er wandte sich wieder den Rasiermessern zu. »Aha. Vielleicht stand das C für Count.«

»Nein«, erwiderte ich. »Sie sprach ausdrücklich von einem Mr. C. Kennen Sie zufällig einen passenden Gentleman hier aus der Gegend, dessen Name mit C beginnt?«

»Gentleman?« fragte Baine. »Nein, Sir.«

Ich ließ mich rasieren, kleidete mich an und versuchte dann, Cyril aus dem Bett zu scheuchen. »Diesmal, mein Freund, werde ich dich nichttragen.«

»Draußen ist es ziemlich kalt und bewölkt, Sir«, sagte Baine, was mir auch nicht weiterhalf. »Sie ziehen besser einen Mantel an.«

»Bewölkt?« fragte ich und schob Cyril zur Bettkante.

»Ja, Sir. Es sieht nach Regen aus.«

Er hatte nicht übertrieben. Es sah aus, als wollte es jeden Moment anfangen in Strömen zu gießen, und ich hatte das Gefühl, ich sei mit meinem Sprung nicht im Juni, sondern Mitte Dezember gelandet. Cyril streckte die Nase aus der Haustür und machte einen Satz rückwärts. Bevor ich ihn einfangen konnte, war er bereits wieder halb die Treppe oben. Ich trug ihn wieder hinunter. »Im Stall ist es nicht so kalt«, sagte ich, was sich als glatte Lüge herausstellte. Im Stall war es eiskalt und dunkel. Der Stallbursche mußte ebenfalls verschlafen haben.

Ich suchte nach Streichhölzern und einer Lampe. »Hallo«, sagte Verity, als ich Licht machte. Sie saß mit den Beinen wippend auf einem Heuballen. »Wo waren Sie?«

»Was machen Sie denn hier?«

»Madame Iritosky und Count de Vecchio reisten um vier Uhr ab. Sie bestachen den Stallburschen, sie zum Bahnhof zu bringen.«

Cyril, der immer so tat, als könne er ohne Hilfe keine einzige Treppenstufe erklimmen, machte einen Satz ins Heu hoch und auf Veritys Schoß.

»Hallo, Cyril«, sagte Verity. »Ich dachte, vielleicht hätten Sie recht mit Ihrer Vermutung, daß der Count Mr. C sein, und folgte den beiden, um sicher zu gehen, daß er Tossie nicht mitnahm.«

»Er ist nicht Mr. C. Er heißt Jimmy Slumkin.«

»Ich weiß.« Sie kraulte Cyril hinter den Ohren. »Auch bekannt als Tom Higgins, Comte de Fanau und Bob Wexford, das Wiesel. Ich sprang nach Oxford, nachdem sie abgereist waren und überprüfte sie in den Scotland Yard-Archiven. Ich weiß jetzt auch, warum sie hier waren.«

»Um ihr Schäfchen ins Trockene zu bringen?«

»Wahrscheinlich.« Cyril rollte sich seufzend auf die Seite. Verity kraulte seinen Bauch. »Die Nacht, bevor sie hier erschienen, gab Madame Iritosky eine besondere Seance für die Society for Psychical Research,[62] die ihre Authenzität als Medium testen wollte. Man fesselte ihre Hände und Füße und sperrte sie in ihr Kabinett, worauf der Geist von Kleopatra erschien, der Tamburin spielte und um den Tisch herum tanzte, die Anwesenden berührte und sie vor den Gefahren der See warnte.«

Sie grinste mich an. »Unglücklicherweise war ein Mitglied der Gesellschaft so überwältigt von Kleopatras Charme, daß er trotz der Warnung von Madame Iritosky den Geist beim Handgelenk packte und auf seinen Schoß zu ziehen versuchte.«

»Und dann?«

»Der Geist riß an seinen Haaren und biß ihn. Er schrie auf, und daraufhin machte ein anderes Mitglied Licht, schloß das Kabinett auf…«

»Das seltsamerweise leer war.«

»Und zog die Schleier von Kleopatra, die natürlich niemand anderes als Madame Iritosky war. Drei Tage später segelten sie und ihr Komplize nach Frankreich, wo sie von Richet, der sonst jedem glaubt, entlarvt wurden, und danach nach Kalkutta, wo Madame Iritosky sich von einem Fakir weitere Tricks beibringen ließ. 1922 ging sie nach Amerika, wo Houdini sie als Scharlatanin entlarvte, und dann nach Oxford, wo Arthur Conan Doyle sie als ›das größte Medium, das ich je sah‹ bezeichnete und meinte, es gäbe nicht den geringsten Zweifel an ihren medialen Fähigkeiten.«

Verity schaute Cyril liebevoll an. »Wenn wir Tossie sicher mit Mr. C zusammengebracht haben«, sagte sie und kratzte ihn hinter den Ohren, »werde ich dich mit mir nehmen.« Sie warf mir einen schelmischen Blick zu. »Ist nur Spaß. Ich habe genug von Inkonsequenzen. Obwohl ich gern eine Bulldogge hätte.«

»Ich auch«, sagte ich.

Verity schaute unter sich. »Sie haben Carruthers immer noch nicht rausbekommen. Das Netz will sich einfach nicht öffnen. Miss Warder meint, es sei nur eine vorübergehende Blockade. Sie hat ein erweitertes Vier-Stunden-Intermittent eingerichtet, um die Blockade zu durchbrechen.«

»Hat T. J. das Rätsel gelöst, warum die Inkonsequenz trotz der Netzsicherungen passieren konnte?«

»Nein. Aber er hat herausbekommen, warum Napoleon die Schlacht bei Waterloo verlor.« Sie grinste wieder und setzte dann ernsthafter hinzu: »Und er war endlich imstande, eine Inkonsequenz zu erzeugen.«

»Eine Inkonsequenz?« fragte ich. »Warum erzählen Sie mir das erst jetzt?«

»Sie war nur simuliert. Und nicht von der richtigen Art. Sie war Teil einer Selbstkorrektur, bei einer Simulationen, wo er Wellington von einem Historiker umbringen lassen wollte. Als er einen zweiten Historiker einführte, war dieser in der Lage, das Gewehr zu entwenden, mit dem der erste Historiker Wellington erschießen sollte, und es mit durchs Netz zu bringen, womit aber eher eine Inkonsequenz verhindert als verursacht wurde. Ich soll Ihnen aber sagen, daß damit wenigstens bewiesen sei, daß es theoretisch möglich ist, etwas durchs Netz mitzubringen, selbst wenn es nichts mit unserem Fall hier zu tun hat.«

Theoretisch möglich. Das erklärte aber immer noch nicht, wieso es überhaupt möglich war, den ersten Historiker, der Wellington umbringen wollte, durchs Netz zu bringen.

»Sonst noch etwas?« fragte ich.

»Nein. T. J. und Dunworthy waren überglücklich, daß wir Tossie dazu gebracht hatten, heute nach Coventry zu fahren. Daß sie deshalb um das Gebiet des ursprünglichen Vorfalls herum keinen erhöhten Schlupfverlust festgestellt haben, bedeutet ihres Erachtens, daß die Inkonsequenz nur kurzfristiger Art ist und sich umgehend selbst korrigiert, wenn es uns gelingt, Tossie rechtzeitig nach Coventry zu schaffen.«

Sie zog wieder den Kopf ein. »Und falls dem so ist, wäre unsere Arbeit hier beendet, und wir müssen uns wieder mit Lady Schrapnell auseinandersetzen. Ich habe versprochen, Ihnen bei der Suche nach des Bischofs Vogeltränke zu helfen. Deshalb habe ich auf Sie gewartet.«

Sie schob Cyril vom Schoß herunter, holte einen Federhalter, ein Fläschchen Tinte und ein paar Blätter aus ihrer Tasche und legte alles auf den Heuballen.

»Wozu brauchen Sie das?« fragte ich.

»Ich will aufschreiben, was alles mit des Bischofs Vogeltränke hätte passiert sein können. Lord Peter Wimsey und Harriet Vane machten inDas Gerippe auch eine Liste.«

»Man kann nicht alle Möglichkeiten aufschreiben«, sagte ich. »Sie wissen doch, es handelt sich ein chaotisches System.«

Sie beachtete mich nicht. »In den Romanen von Agatha Christie gibt es stets eine Möglichkeit, die keiner in Betracht gezogen hat, und das ist dann des Rätsels Lösung. Also gut!« Sie tauchte den Federhalter in die Tinte. »Erstens — des Bischofs Vogeltränke befand sich während des Luftangriffs in der Kathedrale und wurde dabei Opfer der Flammen. Zweitens — sie überstand das Feuer und wurde in den Trümmern gefunden.« Sie schrieb eifrig. »Drittens — sie wurde während des Angriffs gerettet.«

Ich schüttelte den Kopf. »Das einzige, was sie retten konnten, waren eine Fahne, zwei Kerzenleuchter, ein hölzernes Kruzifix und die Altarbücher. Es gibt eine Liste davon.«

»Wir schreiben alle Möglichkeiten auf«, sagte sie. »Später streichen wir diejenigen, die unwahrscheinlich sind.«

Also die ersten drei auf jeden Fall, dachte ich.

»Viertens«, fuhr Verity fort, »sie überstand den Angriff, tauchte aus unerfindlichen Gründen nicht auf der Liste auf und wurde danach irgendwo verstaut.«

»Nein«, entgegnete ich. »Mrs. Bittner sah alles durch, als sie die Kathedrale verkauften, und des Bischofs Vogeltränke war nicht dabei.«

»Lord Peter widersprach Harriet nicht ständig, als sie sich bemühte, eine Liste zu schreiben«, sagte Verity. »Fünftens — des Bischofs Vogeltränke war während des Angriffs nicht in der Kirche. Sie wurde irgendwann zwischen dem zehnten und vierzehnten November entfernt.«

»Warum?«

»Vorsorglich. Wie die Ostfenster.«

Ich schüttelte den Kopf. »Ich war in Lucy Hampton. Das einzige, was sie aus Coventry dort im Pfarrhaus lagerten, waren die Fenster.«

»Aha. Nun gut, was ist, wenn jemand vom Kirchenvorstand das Ding vorsorglich mit zu sich nach Hause genommen hat? Vielleicht wollte er sie auch polieren oder so etwas, und sie befand sich aus diesem Grund in der Nacht des Angriffs nicht in der Kirche.«

»Warum hat diese Person sie hinterher nicht zurückgebracht?«

Verity nagte an ihrer Lippe. »Ich weiß es nicht. Vielleicht kam sie während des Angriffs ums Leben, durch eine Sprengbombe, und wer immer das Ding von ihr geerbt hat, wußte nicht, daß es der Kathedrale gehörte.«

»Vielleicht sagte diese Person auch zu sich selbst: ›Das kann ich den Einwohnern von Coventry nicht antun. Sie haben durch den Verlust ihrer Kathedrale schon genug mitgemacht. Des Bischofs Vogeltränke kann ich ihnen nicht auch noch zumuten.‹«

»Bleiben Sie bitte ernsthaft«, sagte Verity. »Möglicherweise brachte man sie nicht zurück, weil sie während des Angriffs zerstört wurde, durch eine Bombe vielleicht.«

Ich schüttelte den Kopf. »Sogar eine Sprengbombe könnte sie nicht zerstört haben.«

Sie warf den Federhalter hin. »Ich bin wirklich froh, daß wir heute nach Coventry fahren, damit ich dieses Ding endlich einmal sehen kann. Es kann doch unmöglich so scheußlich sein, wie Sie sagen.« Ihr Gesicht war nachdenklich. »Was, wenn des Bischofs Vogeltränke in ein Verbrechen verwickelt wurde? Als Mordwaffe vielleicht, an der Blut klebte, so daß sie sie fortschaffen mußten, damit niemand durch sie herausfinden konnte, wer der Mörder ist?«

»Sie haben zu viele Detektivromane gelesen«, sagte ich.

Verity tauchte die Feder wieder ins Tintenfaß. »Was, wenn sie zwar in der Kathedrale gelagert wurde, aber in etwas anderem steckte, wie inDer entwendete Brief von Poe?« Sie begann zu schreiben, hielt dann inne und schaute stirnrunzelnd auf den Federhalter. Dann zog sie einen orangefarbenen Federhalterwischer in Dahlienform aus der Tasche.

»Was machen Sie da?« fragte ich.

»Ich säubere den Federhalter«, erwiderte Verity. Sie schob die Feder in die Dahlie und wischte sie zwischen den Stofflagen sauber.

»Es ist ein Federhalterwischer«, sagte ich. »Ein Federhalterwischer! Man benutzt ihn, um Federhalter abzuwischen!«

»Natürlich.« Verity beäugte mich argwöhnisch. »An der Spitze war Tinte. Damit hätte ich das ganze Papier bekleckst.«

»Na klar! Also wischten Sie die Feder an einem Federhalterwischer ab!«

»Wie viele Sprünge haben Sie hinter sich, Ned?« fragte Verity.

»Sie sind ein wunderbares Mädchen, wissen Sie das?« Ich nahm sie bei den Schultern. »Sie haben ein Rätsel gelöst, das mich seit 1940 plagte. Ich könnte Sie…«

Vom Haus her ertönte ein Schrei, der uns das Blut in den Adern gefrieren ließ. Cyril vergrub sein Gesicht in den Pfoten.

»Was ist jetzt los?« fragte Verity mit enttäuschter Miene.

Ich ließ ihre Schultern los. »Die tägliche Ohnmacht?«

Sie stand auf und säuberte ihren Rock von Strohhalmen. »Hoffentlich nichts, was uns davon abhält, nach Coventry zu fahren«, sagte sie. »Gehen Sie vor. Ich komme durch die Küche nach.«

»Mesiel!« kreischte Mrs. Mering. »Oh, Mesiel!«

Ich sprintete zum Haus in der Erwartung, Mrs. Mering ohnmächtig inmitten des Nippes liegen zu sehen, aber sie stand, das Geländer umklammernd, im Morgenmantel in der Mitte der Treppe, die Haare in zwei opernhafte Zöpfe geflochten, in der Hand eine leere, mit Samt ausgeschlagene Schatulle schwenkend.

»Meine Rubine!« weinte sie dem Colonel entgegen, der offenbar gerade aus dem Frühstücksraum gekommen war. Er trug noch die Serviette in der Hand. »Man hat sie gestohlen!«

»Ich wußte es!« Der Colonel gebrauchte vor Schock sogar das Subjekt. »Hätte niemals erlauben sollen, daß dieses sogenannte Medium mein Haus betritt!« Er schleuderte die Serviette zu Boden. »Diebe!«

»Oh, Mesiel!« Mrs. Mering preßte die Schmuckschatulle an ihren Busen. »Du denkst doch nicht etwa, Madame Iritosky habe damit etwas zu tun?«

Tossie erschien. »Was ist passiert, Mama?«

»Tocelyn, schau schnell nach, ob von deinem Schmuck etwas fehlt!«

»Mein Tagebuch!« schrie Tossie und rannte hoch, wobei sie oben beinahe mit Verity zusammenstieß, welche die Hintertreppe benutzt haben mußte.

»Was ist los?« fragte sie. »Was ist passiert?«

»Ausgeraubt!« erklärte der Colonel kurz und bündig. »Sagen Sie dieser Madame-wie-auch-immer und diesem sogenannten Count, daß sie sofort herunterkommen sollen!«

»Sie sind fort«, sagte Verity.

»Fort?« japste Mrs. Mering, und ich befürchtete schon, sie würde vor Schreck die Treppe hinunterstürzen. Deshalb rannte ich hoch und Verity herunter, und gemeinsam halfen wir Mrs. Mering die Treppe hinunter in den Salon, wo wir die Schluchzende auf das Roßhaarsofa setzten.

Tossie erschien atemlos oben auf dem Treppenabsatz. »Mein Granatkollier ist weg!« rief sie und trippelte die Stufen herab. »Und meine Perlen und mein Amethystring!« Aber anstatt in den Salon zu kommen, verschwand sie im Korridor. Einen Moment später tauchte sie wieder auf, ihr Tagebuch in der Hand. »Gott sei Dank habe ich mein Tagebuch in der Bibliothek versteckt, zwischen all den anderen Büchern, wo es niemand auffällt!«

Verity und ich warfen uns einen Blick zu.

»Wußte, daß bei diesem Quatsch mit dem Tischerücken nichts Gutes rauskommen würde«, schnaubte der Colonel. »Wo steckt Baine? Läute nach ihm!«

Verity wollte gerade zur Klingel gehen, da erschien Baine bereits, in der Hand einen angeschlagenen Tonkrug.

»Stellen Sie das ab«, befahl Colonel Mering, »und holen Sie den Schutzmann. Mrs. Mering vermißt ihre Rubine.«

»Und ich meinen Amethystring«, sagte Tossie.

»Ich habe Mrs. Merings Rubinen sowie den übrigen Schmuck letzte Nacht zum Säubern mitgenommen«, erklärte Baine. »Als die Damen die Schmuckstücke das letzte Mal trugen, erschienen sie mir etwas trübe.« Er griff in den Krug. »Ich habe sie über Nacht in eine Lösung aus Essig und kohlensaurem Natron gelegt.« Er zog die Rubinkette heraus und reichte sie Colonel Mering. »Ich wollte die Stücke gerade in die Schatullen zurücklegen. Ich hätte es Mrs. Mering gegenüber erwähnt, aber sie hatte soviel mit ihren Gästen zu tun.«

»Ich wußte es!« sagte Mrs. Mering vom Sofa her. »Mesiel, wie konntest du unsere liebe Madame Iritosky bloß so verdächtigen?«

»Baine, sehen Sie nach, ob das Silber noch da ist«, sagte der Colonel. »Und der Rubens.«

»Ja, Sir. Wann soll ich die Kutschen vorfahren lassen?«

»Die Kutschen?« fragte der Colonel. »Wozu?«

»Wegen Coventry«, erklärte Tossie. »Wir wollen uns die St. Michaelskirche anschauen.«

»Quatsch!« sagte Colonel Mering. »Nicht der richtige Zeitpunkt, um irgendwo hinzufahren. Diebe in der Nachbarschaft! Kommen vielleicht zurück!«

»Aber wir müssen hin«, wandte Verity ein.

»Die Geister haben es so befohlen«, sagte Tossie.

»Quatsch und nochmals Quatsch!« blaffte Colonel Mering. »Haben das Ganze wahrscheinlich ausgeheckt, damit alle aus dem Haus sind und sie zurückkommen und uns ausplündern können!«

»Ausgeheckt!« Mrs. Mering erhob sich majestätisch vom Sofa. »Willst du damit etwa andeuten, daß die Nachricht, die wir gestern von dem Geist erhielten, nicht echt sei?«

Colonel Mering beachtete sie nicht. »Wir brauchen die Kutschen nicht. Baine, sehen Sie besser nach, ob die Pferde noch da sind. Und ob sonst noch etwas…« Er wurde plötzlich aschfahl. »Mein schwarzer Maure!«

Ich hielt es für ziemlich unwahrscheinlich, daß Madame Iritosky des Colonels Goldfisch stehlen würde, selbst wenn ihr der Zugriff auf die Rubine versperrt worden war, fand es aber gescheiter, Colonel Mering nicht mit meiner Meinung zu konfrontieren. Statt dessen trat ich einen Schritt zurück, damit er an mir vorbei zur Tür hinausschießen konnte.

Mrs. Mering ließ sich aufs Sofa zurücksinken. »Oh, Tossie! Daß dein Vater Madame Iritoskys Ehrlichkeit anzweifelt! Welch eine Gnade, daß sie nicht mehr hier ist und sich diese gemeinen Anschuldigungen anhören muß!« Da fiel ihr etwas ein. »Welchen Grund hat sie für ihre plötzliche Abreise angegeben, Baine?«

»Ich habe von der Abreise erst heute morgen erfahren«, sagte Baine. »Anscheinend sind sie mitten in der Nacht aufgebrochen. Ich war äußerst überrascht. Ich hatte Madame Iritosky erzählt, daß ich mir sicher sei, Sie würden heute morgen der ›Society of Physical Research‹ schreiben und sie bitten, bei der kommenden Manifestation anwesend zu sein, und ich nahm natürlich an, daß Madame Iritosky auf jeden Fall deshalb hier bleiben würde, aber vielleicht hat sie anderswo dringende Geschäfte.«

»Ohne Zweifel«, sagte Mrs. Mering. »Der Aufforderung der Geister muß unbedingt Folge geleistet werden. Aber die ›Society of Physical Research‹ — hier bei uns! Wie aufregend wäre das gewesen!«

Colonel Mering kam, Prinzessin Arjumand unterm Arm, mit grimmigem Gesicht wieder.

»Geht es Ihrem Schwarzen Mauren gut, Sir?« fragte ich.

»Im Moment ja«, erwiderte er und ließ die Katze zu Boden plumpsen. Tossie hob sie auf.

»Kein Zufall, daß sie gerade jetzt hierher kamen, am Tag, bevor mein rotgepunkteter Silbertancho eintreffen wird«, sagte Colonel Mering. »Baine! Will, daß Sie den ganzen Tag am Fischteich Wache stehen! Wer weiß, wann sie zurückkommen!«

»Baine fährt mit mir«, sagte Mrs. Mering und erhob sich vom Sofa, mit ihren Zöpfen und dem Kampfesfunkeln in den Augen einer Walküre ähnelnd. »Und wir fahren nach Coventry.«

»Humbug! Fahre nirgendwo hin. Bleibe hier und verteidige die Linien!«

»Dann fahren wir eben ohne dich«, sagte sie. »Den Geistern muß unbedingt gehorcht werden. Baine, wann geht der nächste Zug nach Coventry?«

»Neun Uhr vier, Madame«, erwiderte Baine wie aus der Pistole geschossen.

»Ausgezeichnet«, sagte Mrs. Mering und drehte dem Colonel den Rücken zu. »Machen Sie die Kutsche für viertel nach acht bereit. Um halb neun fahren wir zum Bahnhof.«

Baine war rechtzeitig bereit, aber wir nicht. Und um halb zehn auch nicht. Und um zehn ebensowenig. Glücklicherweise fuhren um neun Uhr neunundvierzig, zehn Uhr siebzehn und elf Uhr fünf auch noch Züge, welche Baine, das wandelnde Kursbuch, bei jeder Verzögerung, die eintrat, prompt herunterratterte.

Und an Verzögerungen gab es einiges. Mrs. Mering erklärte, durch die morgendliche Aufregung fühle sie sich ganz schwach, und sie könne nicht fahren, ohne vorher ein stärkendes Frühstück bestehend aus Blutwurst, Kedgeree und gefüllter Hühnerleber gegessen zu haben. Tossie konnte ihre lavendelfarbenen Handschuhe nicht finden, und Jane brachte den falschen Schal. »Nein, nein, der Kaschmirschal ist zu warm für Juni«, meinte Mrs. Mering. »Holen Sie den Schal mit dem Schottenmuster, den aus Dunfermline.«

»Wir werden Mr. C verpassen«, sagte Verity, die in der Halle wartete, während Mrs. Mering zum wiederholten Male den Hut wechselte.

»Nein, bestimmt nicht«, sagte ich. »In einer halben Stunde brechen wir auf und erreichen noch den Zug um elf Uhr sechsundzwanzig. Das Tagebuch sagte nichts über die Uhrzeit. Beruhigen Sie sich.«

Verity nickte. »Ich habe über des Bischofs Vogeltränke nachgedacht«, sagte sie. »Was, wenn jemand etwas darin verbarg, um jemand anderen davon abzuhalten, es zu stehlen? Und zurückkam, um es wieder zu entfernen, aber keine Zeit dazu hatte und deshalb einfach das ganze Ding mitnahm?« Sie schaute die Treppe hoch. »Wozu um alles in der Welt brauchen die so lange? Es ist beinahe elf Uhr.«

Tossie kam die Stufen heruntergetrippelt, in lavendelfarbenen Handschuhen und einem Potpourri fliederfarbener Rüschen. Sie schaute aus der Haustür.

»Es sieht nach Regen aus«, sagte sie stirnrunzelnd zu Mrs. Mering, die auch gerade die Treppe herunterkam. »Wenn es regnet, werden wir gar nichts besichtigen können. Vielleicht sollten wir bis morgen warten, Mama.«

»Nein!« sagte Verity entschieden. »Vielleicht will Lady Godiva uns etwas äußerst Wichtiges mitteilen.«

»Es sieht nach Regen aus«, bestätigte Mrs. Mering. »Hat Baine die Schirme eingepackt?«

»Ja«, sagte ich. Ebenso die Reiseführer, den Picknickkorb, das Riechsalz, eine Spirituslampe, Mrs. Merings Stickerei, Tossies Roman, Terences Tennyson-Ausgabe, einige Hefte des wöchentlichen Spiritismus-Magazins »Das Licht« und eine Anzahl Reisedecken, was er alles so gut verstaute, daß in den zwei Kutschen auch noch Raum für Fahrgäste blieb, obwohl es wahrscheinlich besser war, daß Professor Peddick sich entschieden hatte, bei Colonel Mering zu bleiben.

»Ich möchte einige Dinge über die Schlacht von Thermopylae mit ihm diskutieren«, sagte er zu Mrs. Mering.

»Na gut. Passen Sie aber auf, daß er bei Regen nicht draußen bleibt«, sagte sie, ihrem Gatten gegenüber offenbar wieder etwas versöhnlicher gestimmt. »Er holt sich sonst den Tod.«

Terence brachte Cyril herbei und hievte ihn aufs Trittbrett.

»Mr. St. Trewes«, sagte Mrs. Mering in wagnerianischem Ton. »Sie wollen doch nicht etwa diese Kreatur mitnehmen!«

Terence hielt inne, so daß Cyrils Hinterbeine in der Luft baumelten. »Cyril ist der perfekte Gentleman, wenn’s um Bahnfahren geht«, erklärte er. »Er war schon überall mit der Bahn — London, Sussex, Oxford. Er liebt es nämlich, aus dem Fenster zu schauen, nach Katzen und allem möglichen. Und er kam immer ausgezeichnet mit den Schaffnern aus.«

Aber nicht mit Mrs. Mering.

»Ein Eisenbahnabteil ist kein Aufenthaltsort für ein Tier«, sagte sie.

»Und ich habe mein neues Reisekleid an.« Tossie strich mit einem lavendelfarbenen Handschuh über die Rüschen.

»Er wird furchtbar enttäuscht sein.« Terence setzte Cyril zögernd wieder auf den Boden.

»Unsinn!« sagte Mrs. Mering. »Hunde haben keine Gefühle.«

»Mach dir nichts draus, Cyril«, sagte Professor Peddick. »Du kannst mit mir zum Fischteich kommen. Ich habe Hunde schon immer außerordentlich gern gemocht. Wie Maud, meine Nichte, auch. Füttert sie sogar bei Tisch mit Essen.« Die beiden trabten davon.

»Steigen Sie ein, Mr. St. Trewes«, bat Mrs. Mering. »Sonst verpassen wir Ihretwegen noch den Zug. Baine, haben Sie mein Lorgnon eingepackt?«

Um halb elf brachen wir endlich zum Bahnhof auf. »Denken Sie dran«, sagte Verity, als ich ihr in die Kutsche half, »in Tossies Tagebuch stand nur ›während des Ausflugs nach Coventry‹. Wann genau, erwähnte sie nicht. Mr. C kann also auch jemand im Zug oder auf dem Bahnsteig sein.«

Wir erreichten den Bahnhof um elf Uhr neun. Der Zug war gerade abgefahren, was insofern kein Problem war, da wir sowieso fast zehn Minuten brauchten, um alles und jeden aus der Kutsche auszuladen. Als wir auf dem Bahnsteig ankamen, lag er verlassen.

»Ich verstehe überhaupt nicht, warum der Zug nicht auf uns warten konnte!« sagte Mrs. Mering. »Ein paar Minuten früher oder später macht doch keinen Unterschied! Wie rücksichtslos!«

»Ich weiß, es wird regnen, und der Regen wird mein neues Kleid ruinieren«, jammerte Tossie mit einem Blick zum Himmel. »Oh, Terence, ich hoffe nur, es regnet nicht an unserem Hochzeitstag.«

»›Oh, festlicher Tag, so klar, so schön‹«, zitierte Terence pflichtbewußt, doch irgendwie abwesend und schaute in Richtung Muching Ends. »Hoffentlich bringt Professor Peddick Cyril ins Haus, wenn es zu regnen beginnt.«

»Ich hoffe, sie kommen nicht auf die Idee, bei diesem Wetter angeln zu gehen«, sagte Mrs. Mering. »Wo doch Mesiel so empfindlich auf der Brust ist. Im Frühjahr holte er sich eine fürchterliche Erkältung und lag zwei Wochen lang mit einem schrecklichen Husten im Bett! Der Arzt sagte, es war ein Wunder, daß er keine Lungenentzündung bekam. Mr. Henry, schauen Sie doch mal, ob Sie schon etwas von dem Zug sehen.«

Ich ging zum entfernten Ende des Bahnsteigs. Als ich zurückkam, hatte sich Verity etwas abseits von den anderen gestellt. »Ich denke gerade über des Bischofs Vogeltränke nach«, sagte sie. »In Der Mondstein wurde der Edelstein von jemandem entwendet, der gar nicht wußte, daß er der Dieb war. Er schlafwandelte und steckte den Stein irgendwo hinein, und dort stahl ihn eine andere Person. Was, wenn die Person, die des Bischofs Vogeltränke…«

»Schlafwandelte? In der Kathedrale von Coventry?«

»Nein. Nicht wußte, daß sie ein Verbrechen beging.«

»Wie oft genau sind Sie in der letzten Woche gesprungen?« fragte ich.

Baine erschien, einen Gepäckträger im Schlepptau, der mindestens achtzig Jahre alt war, und fing zusammen mit ihm und dem Stallburschen an, unser Gepäck an den Bahnsteigrand zu schaffen. Verity schaute nachdenklich auf den Gepäckträger.

»Vergessen Sie’s«, sagte ich. »Sie war über fünfzig Jahre mit ihm verheiratet. Dazu müßte der da ja einhundertzwanzig Jahre alt werden.«

»Sehen Sie schon etwas vom Zug, Mr. Henry?« fragte Mrs. Mering.

»Ich fürchte, nein.« Ich ging zu ihr.

»Wo bleibt er denn?« fragte sie. »Ich hoffe, es ist kein schlechtes Omen, daß wir so spät dran sind. Mr. Henry, sind die Kutschen schon fortgefahren?«

»Wir müssen heute nach Coventry«, mischte sich Verity ein. »Was würde Madame Iritosky von uns denken, wenn wir die Botschaft der Geister ignorieren?«

»Wo sie doch selbst mitten in der Nacht aufbrach, nur um einer Botschaft zu gehorchen, die sie erhalten hatte«, sagte ich und wünschte, der verdammte Zug würde endlich kommen. »Und ich bin ganz sicher, daß das Wetter prima sein wird, wenn wir Coventry erreicht haben.«

»Und es gibt so viele hübsche Sachen dort«, sagte Verity, aber offenbar fiel ihr keine davon ein.

»Blaue Farbe«, sagte ich. »Coventry ist berühmt für seine blaue Farbe. Und Bänder.«

»Ich könnte welche für meine Aussteuer kaufen«, meinte Tossie.

»Professor Peddick ist manchmal so geistesabwesend«, sagte Terence nachdenklich. »Hoffentlich wandert er nicht einfach davon und läßt Cyril zurück. Was meinst du?«

»Ich meine, azurblaue Bänder paßten ganz gut zu meinem Ausgehhut«, sagte Tossie. »Oder babyblau. Was meinst du, Mama?«

»Warum können diese Züge nicht zu der Zeit kommen, die auf dem Fahrplan steht, statt uns hier stundenlang warten zu lassen«, nörgelte Mrs. Mering.

Und so weiter und so fort. Der Zug donnerte pünktlich um elf Uhr zweiunddreißig mit einem beeindruckenden Dampfstoß in den Bahnhof ein, und Verity drückte und schob jeden von uns rasch hinein, wobei sie ein wachsames Auge auf alle hatte, die Mr. C hätten sein können.

Baine half Mrs. Mering die Stufen hoch und in unser Abteil und rannte zurück, um den Gepäckträger, der unsere Sachen einlud, zu beaufsichtigen. Jane machte es Mrs. Mering in ihrem Sitz bequem, gab ihr das Lorgnon, ihre Stickerei, suchte ihr Taschentuch und den Schal, knickste dann und kletterte wieder aus dem Zug.

»Wo geht sie hin?« fragte ich Verity und beobachtete, wie Jane den Bahnsteig entlang zum Ende des Zug rannte.

»In die zweite Klasse«, erwiderte Verity. »Die Dienstboten reisen nicht im gleichen Abteil wie ihre Arbeitgeber.«

»Kommen die denn ohne sie aus?«

»Das müssen sie nicht.« Sie raffte ihre Röcke und erklomm die Stufen.

Sie mußten es wirklich nicht. Baine erschien, sobald alles im Zug verstaut war, um Mrs. Mering eine Reisedecke zu bringen und zu fragen, ob sie noch etwas wünschte.

»Ein Kissen«, sagte sie. »Diese Eisenbahnsitze sind dermaßen unbequem.«

»Sehr wohl, Madam.« Baine verschwand im Galopp. Innerhalb einer Minute kehrte er zurück, zerzaust und außer Atem, mit einem brokatbestickten Kissen.

»Von Reading aus geht ein Korridorzug, Madam«, japste er. »Dieser hier hat nur Abteile. Ich werde aber bei jedem Aufenthalt zu Ihnen kommen.«

»Gab es keine direkte Verbindung nach Coventry?« wollte sie wissen.

»Doch, Madam. Um zehn Uhr siebzehn. Der Zug fährt gleich ab, Madam. Wünschen Sie noch etwas?«

»Ja, den Baedeker. Und eine Decke, um meine Füße draufzustellen. Diese Böden in den Eisenbahnabteilen sind einfach eine Schande.«

Da hätte sie erst mal Untergrundbahn fahren sollen! Es ist ein universelles Phänomen, daß Menschen nie ihre eigene Zeit genügend zu schätzen wissen, besonders was das Transportwesen betrifft. Im zwanzigsten Jahrhundert beschwerten sie sich über abgesagte Flüge und die Benzinpreise, im achtzehnten Jahrhundert über morastige Straßen und Wegelagerer. Professor Peddicks Griechen hatten ohne Zweifel über widerspenstige Pferde und abgefallene Wagenräder gejammert.

Ich fuhr nicht zum ersten Mal mit dem Zug. Erst kürzlich, in den 1940ern war ich damit nach Lucy Hampton gefahren, um nachzusehen, ob sich des Bischofs Vogeltränke bei den Ostfenstern befand, aber diese Züge waren vollgepfropft mit Soldaten gewesen, die Fenster zugehängt mit schwarzen Vorhängen, und das gesamte Intererieur fehlte, weil es abmontiert und zu Munition verarbeitet worden war. Doch selbst wenn es nicht Kriegszeit gewesen wäre, hätten die Züge keinen Vergleich mit diesem hier ausgehalten. Hier waren die mit hohen Rückenlehnen versehenen gepolsterten Sitze mit grünem Samtstoff überzogen und die Wände darüber aus glänzendem Mahagoni, in das Blumenmuster eingelegt waren. Dicke plüschige Vorhänge hingen an den Fenstern, und zu beiden Seiten steckte in einer Halterung eine Gaslampe mit Kupferschirm. Die Gepäckablage, der Handlauf, die Armstützen, die Vorhangringe, alles war aus poliertem Messing.

Erinnerte wirklich in keiner Weise an die Untergrundbahn. Und gab, als der Zug langsam anfuhr — wobei Baine einen letzten Galopp hinter sich brachte, um den Baedeker und die Decke zu bringen und wieder nach hinten zur zweiten Klasse zu gelangen — und dann schneller und schneller durch die wunderschöne, mit Dunstschleiern verhangene Landschaft dampfte, keinen Grund zur Klage.

Dachte ich. Mrs. Mering sah das anders. Sie klagte über den Ruß, der durchs Fenster ins Abteil wehte, worauf Terence die Fenster schloß, über die stickige Luft im Abteil, worauf Terence das Fenster wieder öffnete und die Vorhänge zuzog, über den bedeckten Himmel, wie unbequem die Reise und wie hart das Kissen sei, das Baine ihr gebracht hatte.

Jedesmal, wenn der Zug hielt, anfuhr oder um eine Kurve dampfte, stieß sie einen kleinen Schrei aus und einen großen, als der Schaffner kam und unsere Fahrkarten verlangte. Er war noch älter als der Gepäckträger, was Verity aber nicht davon abhielt, sich vorzubeugen, um das Namensschild an seiner Uniform zu lesen und sich mit sorgenvoller Miene wieder in ihren Sitz zurückfallen zu lassen, nachdem er das Abteil verlassen hatte.

»Wie hieß er?« fragte ich, als ich ihr in Reading, wo wir umsteigen mußten, aus dem Zug half.

»Edwards«, sagte sie und schaute sich auf dem Bahnsteig um. »Sehen Sie jemanden, der aussieht, als wolle er Tossie heiraten?«

»Vielleicht dieser Crippen hier?« sagte ich und deutete mit dem Kopf zu einem bleichen, verkrampft aussehenden jungen Mann, der unentwegt die Bahnstrecke entlangstierte und sich mit den Fingern nervös im Kragen herumfuhr.

»Keine von Crippens Ehefrauen schaffte es, mit ihm über vierzig Jahre verheiratet zu sein«, entgegnete Verity und beobachte einen großen verärgerten Mann mit Backenbart, der in einem fort: »Gepäckträger! Gepäckträger!« rief, aber ohne Erfolg, denn der tüchtige Baine hatte alle Gepäckträger, bereits bevor der Zug angehalten hatte, zu sich beordert und dirigierte nun das Umladen der Meringschen Habseligkeiten.

»Und der da?« Ich wies auf einen etwa fünfjährigen Jungen im Matrosenanzug.

Ein junger Mann mit Strohhut und einem Schnurrbart kam auf den Bahnsteig gerannt und blickte hektisch um sich. Verity packte mich am Arm. Der Mann sah Tossie mit Jane und Mrs. Mering zusammenstehen und kam lächelnd auf sie zu.

»Horace!« rief ein Mädchen aus einer anderen Gruppe von drei Damen, und Horace rannte zu ihnen und begann sich lebhaft für die Verspätung zu entschuldigen. Ich schaute schuldbewußt zu Terence und dachte an die schicksalhafte Begegnung, die er wegen mir versäumt hatte.

Der junge Mann verschwand mit den drei Damen, der backenbärtige Mann schnappte sein Gepäck selbst und stürmte wütend davon, was nur Crippen übrigließ, der jetzt argwöhnisch den Bahnhofsvorsteher beäugte.

Aber selbst wenn der junge Mann mit dem Strohhut sich auf Anhieb in Tossie verliebt hätte, sie hätte es sowieso nicht bemerkt. Sie war viel zu sehr beschäftigt damit, ihre Hochzeit zu planen.

»Fürs Brautbukett nehme ich am besten Orangenblüten«, sagte sie. »Oder vielleicht weiße Rosen. Was meinst du, Terence?«

»›Zwei Rosen erblühten in süßer Eintracht‹«, zitierte Terence, während sein Blick sehnsüchtig eine Frau verfolgte, die einen Terrier im Arm trug, »›an eines Stammes zierlichem Zweig.‹«[63]

»Allerdings duften Orangenblüten so lieblich.«

»Es gibt viel zu viele Eisenbahnen«, meinte Mrs. Mering. »So viele braucht man doch gar nicht.«

Baine gelang es schließlich, alles und jeden in den Zug und ein geräumigeres Abteil zu verfrachten, und ab ging es mit uns nach Coventry. Nach ein paar Minuten kam ein neuer Schaffer, diesmal jünger und verhältnismäßig gutaussehend, den Gang entlang und lochte unsere Fahrkarten. Tossie, nur mit ihrer Aussteuer beschäftigt, sah nicht einmal hoch. Wie waren wir eigentlich auf die Idee gekommen, daß sie, wenn wir in Coventry angekommen waren, Mr. C überhaupt bemerken würde, so vertieft, wie sie mit Terence in ihre Hochzeitspläne war? Wie waren wir darauf gekommen, daß sie des Bischofs Vogeltränke überhaupt bemerken würde?

Sie würde. Sie mußte einfach. Der Ausflug nach Coventry hatte ihr Leben verändert und ihre Urururenkelin dazu inspiriert, das unsrige miserabel zu machen.

Baine erschien nach einiger Zeit, breitete Servietten auf unserem Schoß aus und servierte ein köstliches Mittagessen, das sicher jeden von uns erfreute, außer vielleicht Baine selbst, der annähernd hundertmal zwischen der ersten und zweiten Klasse hin- und herlief, um uns kaltes Roastbeef, Gurkensandwichs und Mrs. Mering ihre anderen Handschuhe, ihre Nähschere und den Fahrplan zu bringen, obwohl sich keiner vorstellen konnte, was sie damit wollte.

Terence schaute aus dem Fenster und verkündete, es klare sich auf und er könne Coventry schon sehen, und noch bevor Jane und Baine Zeit hatten, alles einzusammeln und Mrs. Merings Kniedecke zusammenzufalten, standen wir schon auf dem Bahnsteig in Coventry und warteten, daß Baine das Gepäck entladen und uns eine Kutsche besorgen würde. Der Himmel hatte sich nicht aufgeklart und sah auch nicht aus, als würde er es demnächst tun. Ein feiner Nebel lag in der Luft, und die Silhouette der Stadt war grau und verschwommen. Terence hatte sich ein für die Situation passendes Gedicht überlegt und deklamierte es. »›Ich wartete auf einen Zug in Coventry‹«, zitierte er. »›Stadt der drei Türme‹…«[64] Verdutzt hielt er inne. »Wo sind sie denn? Ich sehe nur zwei.«

Ich schaute in die Richtung, in die er wies. Eins, zwei und eine große schachtelartige Konstruktion hob sich gegen den grauen Himmel ab.

»Der Turm von St. Michael wird gerade repariert«, erklärte Baine, halb unter einem Riesenberg Schals und Decken begraben. »Der Gepäckträger informierte mich darüber, daß die Kirche momentan gerade von Grund auf restauriert wird.«

»Das erklärt, warum Lady Godiva gerade jetzt mit uns Kontakt aufgenommen hat«, sagte Mrs. Mering. »Ihre Ruhe ist offenbar gestört worden.«

Der feine Nebel wurde zum Nieseln, was Tossie zu einem Schreichen veranlaßte. »Mein Reisekleid!«

Baine erschien wieder und spannte Schirme auf. »Ich habe eine geschlossene Kutsche bestellt, Madam«, sagte er zu Mrs. Mering und reichte mir und Terence die Schirme, damit wir sie über die Damen hielten.

Jane wurde mit dem Picknickkorb, den Decken und Schals in eine Mietdroschke verfrachtet. Sie sollte uns an der Kirche treffen. Wir kutschierten in die Innenstadt. Die Pferdehufe klapperten auf dem Kopfsteinpflaster der engen Gassen, deren alte Fachwerkhäuser sich über die Straße beugten. Ein Gasthof im Tudorstil mit einem im Wind schaukelnden bemalten Wirtshausschild, kleine Backsteinläden, die Bänder und Fahrräder verkauften, noch schmalere Häuser mit Sprossenfenstern und hohen Schornsteinen. Das alte Coventry. All das würde in der Novembernacht 1940 in Schutt und Asche versinken, mitsamt der Kathedrale, aber man konnte es sich nur schwer vorstellen, wenn man die dampfenden, nassen Straßen entlangkutschierte.

Der Kutscher zügelte die Pferde an der Ecke St. Mary’s Street, der Straße, die Probst Howard und seine kleine Gruppe mit Kerzenleuchter und Kreuzen und der Regimentsfahne, die sie aus der brennenden Kathedrale gerettet hatten, entlangmarschiert war.

»Kunnetwiter wengde wesch’is sporrn«, sagte der Kutscher in einem unverständlichen Dialekt.

»Er sagt, die Straße zur Kirche ist gesperrt«, erklärte Baine. »Er kann nicht weiterfahren.«

Ich beugte mich vor. »Sagen Sie ihm, er soll zurückfahren bis zur Little Park Street. Dann kommen wir an den Westtüren der Kirche an.«

Baine tat, wie ich geheißen. Der Fahrer schüttelte den Kopf und sagte etwas abermals Unverständliches, wendete aber die Pferde und kutschierte uns zurück zur Earl Street.

»Oh, ich spüre die Geister schon«, sagte Mrs. Mering und krampfte ihre Hände an den Busen. »Etwas wird geschehen. Ich weiß es genau.«

Wir fuhren die Little Park Street zur Kirche hoch. Ich konnte den Turm am Ende der Straße erkennen, und es war kein Wunder, daß wir ihn vom Bahnhof aus nicht hatten erkennen können. Ein hölzernes Gerüst verbarg sein oberes Drittel, und abgesehen davon, daß es grauer Stoff war und kein blaues Plastik, sah er genauso aus, wie ich ihn letzte Woche vom Fußgängereingang beim Mertoncoliege aus gesehen hatte. Lady Schrapnell war authentischer, als sie selbst wußte.

Der Haufen roter Steine und Sand auf dem Kirchplatz sah auch genauso aus, und ich befürchtete schon, der Zugang zur Kirche sei gänzlich blockiert, aber das stimmte nicht. Der Kutscher konnte die Droschke direkt vor das Westportal fahren. Ein großes, handgeschriebenes Schild prangte auf ihm. »Der Kirchenvorsteher von Iffley muß hier gewesen sein«, sagte ich, und dann erkannte ich, was darauf stand:

Vom 1. Juni bis 31. Juli

wegen Reparaturarbeiten geschlossen!

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